Die Schaukel des Eremiten Viktor Kolupajew Die Handlung dieser sieben phantastischen Geschichten spielt in Gegenwart und Zukunft, auf der Erde und im Weltraum. Die Helden sind ein kleines Mädchen, das aus dem Kosmos auf die Erde kommt, um das allergrößte Haus zu suchen; eine Zeitungsverkäuferin, die die Zukunft nicht nur voraussehen, sondern auch beeinflussen kann; ein Architekt, der eine undankbare Stadt verlassen will und es dennoch nicht vermag; ein Schriftsteller, dessen Geschichten gegen seinen Willen von anderen geschrieben werden; ein Mann, dem sich eine Parallelwelt auftut, in der er glücklicher wäre und die tödlich für ihn ist, und die Besatzung eines Raumschiffes, die auf einem fernen Planeten geheimnisvolle Maschinen unirdischer Herkunft vorfindet und sich mit unerklärlichen, gespenstischen Vorgängen konfrontiert sieht. Viktor Kolupajew Die Schaukel des Eremiten Phantastische Erzählungen Verlag Das Neue Berlin Zusammengestellt aus den bei „Molodaja gwardija“ erschienenen Bänden „Was einem doch alles passieren kann“, 1972, und „Die Schaukel des Eremiten“, 1974 Aus dem Russischen von Dr. Eva-Maria Pietsch 1. Auflage dieser Ausgabe Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1985 (1977) (deutschsprachige Ausgabe) Umschlagentwurf: Schulz/Labowski Printed in the German Democratic Republic INHALT Der Zeitungskiosk Du meine Stadt Das Juwel Das allergrößte Haus Wofür hat der Mensch gelebt? September Die Schaukel des Eremiten Der Zeitungskiosk 1 Es war so neblig, daß man kaum zwanzig Schritte weit sehen konnte. Nur elektrische Beleuchtungen und dämmrig-trübe Scheinwerfer der Autos blinkten hin und wieder wie verwa-schene gelbe Punkte. Ein volles halbes Hundert unter Null! Vereinzelt knirschende Schritte im Schnee, anhaltendes Hupen der Autos und sonst nur Kälte, Kälte… in Ust-Mansk, in seinen Vorstädten und Tausende von Kilometern im Umkreis. Ich eilte vom Hotel zum Klub des Elektromotorenwerkes, wo um zwölf Uhr die Eröffnung einer Konferenz stattfinden sollte. Kein Mensch überholte mich, denn ich lief sehr rasch, weil ich nur Sommerhosen und einen Herbstmantel trug. Die von nur ausgeatmete Luft gefror noch im selben Moment auf meinem Gesicht, die Nase war bereits völlig erstarrt, und ich wünschte, sie mit der Hand einzuhüllen. Hoffentlich würde der Frost nicht so bösartig bleiben, damit ich mein Ust-Mansk eingehend betrachten könne; ich wollte seine neuen Wohnviertel sehen, jemanden von den alten Freunden besuchen, ein Gläschen Wein trinken und im Stadtpark schlendern, um dort, wie der-einst, von den Hügeln hinunterzuschlittern, dabei die Mütze verlieren, sie dann schneebedeckt wiederfinden, dazu lachen und juchzen, mit Schneebällen werfen und allerhand Unsinn treiben. Mich verlangte nach alledem; denn ich war zehn Jahre nicht in Ust-Mansk gewesen, und vordem hatte ich dort zwanzig Jahre lang gelebt. Mir blieben noch anderthalb Stunden. Ich wollte als erster an Ort und Stelle sein, mich aufwärmen, um dann dastehen und zuschauen zu können, wie die mit Eiszapfen behängten Menschen aus der eisigen Lufthülle ins Foyer strömen, sich die Füße abtreten, warm klopfen und sich gegenseitig die Wangen reiben würden. „Nie kann man an diesem Kiosk eine aktuelle Zeitung bekommen“, sagte jemand, der von Kopf bis Fuß fest eingewik-kelt war, erregt, und fast hätte er mich dabei umgerannt. „Par-don!“ Ich war zur Seite gesprungen und erblickte vor mir einen Zeitungskiosk aus Glas und Plast, an dem Rauhreif-Ornamente und Spitzen glitzerten. Der ganze Kiosk leuchtete und strahlte von innen heraus und wirkte dadurch märchenhaft. Aber wie kann das die alte Frau, die hier Zeitungen verkauft, nur aushalten? Angenommen, es ist im Innern zehn Grad wärmer, dann sind das immerhin noch minus vierzig. Brrr! Wie hält sie das bloß aus? Vielleicht ist sie schon längst erfroren? Ich beschloß, eine Zeitung zu kaufen, um später nicht bei bestimmten Vorträgen die Zeit totschlagen zu müssen. Auf mein dumpfverkrampftes Klopfen hin öffnete sich das kleine Kiosk-Fenster sofort. „Gute Alte!“ rief ich. „Fünf Zeitungen von heute, davon eine Lokal-Ausgabe.“ „Ich bin keine gute Alte. Ich bin Katja-Katjuscha“, entgegnete mir die Stimme eines Mädchens. „Katja-Katjuscha? Das ist ja ausgezeichnet, Katja-Katjuscha! Nun, wie steht es mit Zeitungen, Katja-Katjuscha?“ Meine Lippen konnten das Wort „Katjuscha“ nur mit Mühe formen, aber ich wiederholte es absichtlich etliche Male. „Ich habe niemals Zeitungen von heute.“ „Das hörte ich bereits. Und was nützen mir wohl die gestrigen? Die hab’ ich bereits gelesen.“ „Die von gestern sind auch nie da.“ „Wozu sitzen Sie dann eigentlich hier?“ „Ich verkaufe ausschließlich Zeitungen von morgen“, antwortete das Mädchen, und im Fensterchen erschien ihr Gesicht mit einer warmen Strickmütze. „Um Gottes willen! Ihre Wangen sind ja erfroren! Man muß sie sofort reiben! Haben Sie’s noch weit?“ „Bis zum Klub des Elektromotore…“ „Das schaffen Sie nicht.“ Dann ein wenig zögernd: „Kommen Sie zu mir herein. Hier ist es wann.“ „Darf man das?“ „Nun kommen Sie schon, was gibt es denn da noch zu…“ Ich drückte die Türklinke des Kiosks herunter, aber wahrscheinlich nicht kräftig genug, denn die Tür ging nicht auf. Unentwegt hüpfte ich dabei hin und her und beklopfte meine Wangen, Ellbogen und Knie; meine Zehen waren ohnehin gefühllos geworden. „Stärker!“ rief das Mädchen. Ich drückte mit aller Kraft, zwängte mich mit dem sich sofort bildenden Atemdampf in das Innere des Kiosks — dort war kaum für einen Menschen Platz genug —, und dann stand ich, zum Fragezeichen gekrümmt, unentschlossen da. „Setzen Sie sich.“ Das Mädchen wies auf einen Zeitungsstoß. Ich ließ mich nieder und streckte meine Füße sofort den beiden elektrischen Heizkörpern entgegen. Innen im Kiosk war es hell, warm und trocken; überdies sehr sauber und gemütlich. „Die Wangen werden schwarz, da werden die Mädchen nicht in Liebe entflammen“, sagte sie und brach in Lachen aus. „Reiben Sie, daß wieder Leben hineinkommt!“ Ich zog mit den Zähnen meine Handschuhe herunter und versuchte, die Finger auszustrecken. Das gelang nicht. „Das sieht ja nicht gut aus“, meinte das Mädchen, zog ihre Fausthandschuhe aus und berührte vorsichtig mit ihren warmen Handflächen meine Wangen. Ich wehrte nicht ab. Sie fragte: „Sind Sie ein Fremder, oder gehören Sie zu den seltenen Vögeln, die absichtlich keine Winterkleidung tragen und dann jahrelang im Krankenhaus liegen?“ „Ich bin ein Fremder, Katja-Katjuscha. Eile vom Hotel zu einer Konferenz… Über die Ausbreitung von Radiowellen.“ „Aha. Darüber habe ich bereits in der Zeitung gelesen.“ Sie ließ ihre warmen Handflächen noch einige Male über meine Wangen gleiten. „Jetzt wird alles in Ordnung kommen.“ „Schönen Dank, Katja. Ich möchte mich vorstellen“, dabei hielt ich ihr meine noch nicht völlig erwärmten fünf Finger entgegen. „Dmitri Jegorow.“ Sie gab mir ebenfalls die Hand und lachte derart fröhlich, daß es auf mich ansteckend wirkte. „Also Sie sind das, den sie auf der Konferenz in Grund und Boden kritisiert haben?“ Ich verstand nicht sofort den Sinn ihrer Worte. „Ich habe mir noch überlegt, welche Zeitung ich zurückbehalten soll. Doch überall war dasselbe. Sie sind demnach Dmitri Jegorow, der Phantast, der vollkommen den Boden unter den Füßen verloren hat?“ „Katja, ich bin doch kein Phantast, der den Boden unter den Füßen verloren hat, sondern ich stehe ganz im Gegenteil mit beiden Beinen fest auf der Erde! Haben Sie eine Vorstellung, wie die Radiowellen in den Boden eindringen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Na, dann werde ich es kurz erklären. Ich suche nützliche Minerale und Wasser mit Hilfe von Radiowellen, die in das Erdreich eindringen. Ohne Bohrtürme und Gesteinsproben. Von Phantasterei kann hier nicht im mindesten die Rede sein. Ist das für Sie von Interesse?“ fragte ich. „Freilich“, entgegnete sie. „Erzählen Sie noch ein bißchen davon. Die Konferenz fängt sowieso erst um zwölf an.“ Ich berichtete ihr, wie unsere Expedition im vergangenen Sommer in den Wasjugansker Sümpfen im Norden des Bezirkes Tomsk gearbeitet hatte. Alle Arten von Mücken hatten sich auf uns gestürzt, die Apparaturen dröhnten, die Kumpel waren verstimmt und einsilbig, aber Goschka, unser Leiter, hatte laut und lange gesungen. Man hatte ihm bedeutet, still zu sein, sich zu verziehen, ihm die Fäuste gezeigt, doch er hatte nicht aufgehört und seiner Kehle Töne entlockt, die einem durch Mark und Bein fuhren. Um das Maß voll zu machen, hatte er noch zu uns gesagt, wir seien richtige Baby-Nahrung, wackliger, pappiger Grießbrei! Aber mit diesem „Grießbrei“ waren wir nicht einzuschüchtern gewesen. Doch seine Trällerei hatte keiner mehr länger ertragen können. Irgend jemand war nach kurzem Herumdrucksen in schallendes Gelächter ausgebrochen. Da hatten es auch die anderen nicht mehr länger ausgehalten; alle hatten sie in dieses Gelächter eingestimmt und sich dabei ihre Bäuche gehalten. „Soll ich noch eins singen?“ hatte Goschka gefragt und dann hinzugefügt: „Schon richtig, es stimmt, eben einfach richtiger Grießbrei!“ Die Mücken hatten nicht aufgehört, uns zu piesacken, die Apparaturen funktionierten nicht, und in uns war der Zorn auf uns selbst hochgestiegen, auf unsere Hilflosigkeit. Wir wollten nicht mehr „Grießbrei“ genannt werden, und wir blieben in der Taiga, obwohl man uns dreimal zurückgerufen hatte. Unsere Apparaturen arbeiteten nach wie vor nicht so, wie man es eigentlich von ihnen erwarten mußte. Darüber wunderte sich aber auch niemand besonders. Obwohl es elektrische, magnetische, gravimetrische und Strahlenmeßmethoden zur Erkundung von Lagerstätten gibt, wollten wir etwas völlig anderes: Wir wollten durch den Erdboden hindurchsehen, wie durch eine blankgeputzte Glasfläche. Die Expedition war natürlich zum Scheitern verurteilt. „Und trotzdem ist das alles interessant gewesen“, schloß ich, „und notwendig…“ Mir schien, als ob in ihren Augen einen Augenblick lang so etwas wie Neid aufleuchtete. Letztlich war es ja so, daß ich wenigstens etwas tat, nach etwas strebte, gescheitert war, mich wieder aufgerafft hatte und weitermachte. Sie aber saß wahrscheinlich schon das soundsovielte Jahr hier in diesem kleinen Kiosk, verkaufte Zeitungen und Ansichtskarten, rechnete ab und sah dabei immer nur die Hände von Menschen, die in ihr kleines Fenster hineingriffen, und sie versuchte nicht einmal, etwas an ihrem Los zu ändern. Ich reckte mich und machte den Vorschlag: „Katja-Katjuscha, wollen wir zusammen auf Expedition gehen?“ „Als Köchin, ja?“ fragte sie völlig ernst zurück. „Warum denn ausgerechnet als Köchin?“ Sie hatte mich verlegen gemacht. „Als was denn sonst?“ „Nun, zum Beispiel als…“ „Gut, ich bin einverstanden“, sagte sie. „Ist das wahr?“ „Natürlich. Sie nehmen mich ja sowieso nicht mit. Sie machen doch nur Spaß. Außerdem ist Zeitungen verkaufen auch interessant.“ „Wahrscheinlich sogar noch weit interessanter“, entgegnete ich, wie mir schien, allzu sarkastisch. „Das ganze Leben hier herumsitzen…“ Sie war nicht gekränkt und funkelte mich mit ihren großen Augen an, aus denen der Neid verschwunden und nur Heiterkeit und Ironie geblieben waren. Ich war bereits vollkommen durchgewärmt, hatte jedoch keine Lust zu gehen. Nicht ein einziges Mal hatte während dieser Zeit jemand ans Fensterchen geklopft. Offensichtlich verspürte bei dieser schneidenden Kälte kein Mensch Lust, Zeitungen zu kaufen. Insgeheim tastete ich Katja mit Blicken ab. Sie war nicht groß, hatte schwarzes, unter der Mütze hervorquellendes Haar. Ihre Augen waren ebenfalls schwarz, die Wangen ein wenig überhöht, als ob sie diese leicht und sacht aufgeblasen hätte. An den Füßen trug sie Lederstiefelchen mit hohem Absatz, hinter dem Stuhl in der Ecke bemerkte ich ihre Filzstiefel. Ein leichter Wintermantel mit kleinem Kragen war bis zur Hälfte herumgeschlagen, in ihm steckte ein hellblauer, flauschiger Wollschal. „Und jetzt haben Sie sich wieder in den Kampf gestürzt?“ fragte Katja lachend. „Wollen beweisen, daß Sie im Recht waren?“ „Das will ich“, entgegnete ich. „Damit werden Sie kein Glück haben. Man wird Sie wieder als Phantasten bezeichnen, der den Boden unter den Füßen verloren hat.“ „Ach, Katja-Katjuscha“, sagte ich betrübt. „Weshalb müssen ausgerechnet Sie das sagen? Sie können das doch bestimmt nicht wissen. Es ist doch gar nicht bekannt, wer…“ Ich konnte den Satz nicht beenden, weil sie mir plötzlich eine Zeitung in die Hand schob und sagte: „Lesen Sie das.“ Flüchtig glitten meine Augen über die erste Seite. Nichts Außergewöhnliches, alles, wie es sich gehörte: gute Leistungen von Forstarbeitern und Melkerinnen, Initiativen, Wettbewerbe. „Auf der dritten Seite“, sagte Katja. Ich schlug die Zeitung auf und las: „In Ust-Mansk tagt eine Allunionskonferenz zur Ausbreitung von Radiowellen.“ Katja kicherte still und leise in ihren Ärmel hinein. Wahrscheinlich stand auf meinem Gesicht allzu deutlich Verwunderung geschrieben. „Am vierundzwanzigsten Dezember um zwölf Uhr wurde im Kulturhaus des Elektromotorenwerkes die Allunionskonferenz eröffnet…“ „Welches Datum haben wir heute?“ fragte ich nervös, weil ich mit Schrecken eine Erklärung dafür suchte, wo ich einen vollen Tag verloren haben konnte. „Den Vierundzwanzigsten“, entgegnete Katja vollkommen ernst. „Warum wird dann hier von der Konferenz-Eröffnung in der Vergangenheit gesprochen? Schließlich beginnt sie ja erst in einer Stunde!“ „Es handelt sich ja auch um die Zeitung von morgen.“ Ich drehte das Zeitungsblatt um. „Rotes Banner“, 25. Dezember. „Ich verstehe überhaupt nichts mehr… Was für ein Datum ist heute?“ „Der Vierundzwanzigste. Was wohl sonst?“ „Gut, Katja. Verzeihen Sie mir. Mit meinem Kopf ist wahrscheinlich irgend etwas nicht in Ordnung. Möglicherweise unterkühlt.“ „Nein, keinerlei Unterkühlung. Ihr Kopf ist völlig in Ordnung. Dies ist die morgige Zeitung! Ich verkaufe fortwährend die von morgen. Nur schlecht los werde ich sie eben. Alle wollen immer die heutige. Doch Zeitungen von heute werden überhaupt nicht angeliefert.“ „Das kann nicht sein!“ Aber der Artikel vor mir handelte von unserer Konferenz. Mein Vortrag wurde darin als Phantasiegebilde bezeichnet. „Seltsam“, sagte ich. „Jetzt weiß ich, was mit mir in den nächsten Stunden geschieht. Wenn ich aber nun alles anders mache, als es hier geschrieben steht? Einfach nicht zur Konferenz hingehe?“ „Das ändert an der Sache gar nichts“, erwiderte Katja. „Sie haben keinen Grund dazu. Schließlich geht es nicht allein um Ihren Vortrag, nicht wahr?“ „Das stimmt.“ Für einen Augenblick stellte ich mir Goschkas verzerrte Physiognomie vor und schüttelte mich. „Es ist sicher richtig, daß man hier gar nichts ändern kann; höchstens unbedeutende Details, die in der Zeitung sowieso weggelassen werden. Das ist recht ordentlich ausgeklügelt hier bei Ihnen, Katja. Die morgigen Zeitungen verkaufen ist eben etwas anderes als die heutigen. Interessant.“ „Das soll heißen, daß Sie mich nun nicht mit auf die Expedition nehmen?“ fragte Katja spöttisch. „Folgendes, Katja“, erwiderte ich, ohne auf ihre Frage einzugehen. „Wann schließen Sie den Kiosk?“ „Um acht.“ „Ich werde Sie um halb acht abholen. Abgemacht?“ „Ja. Nur, was werden wir dann tun? Auf der Straße können wir uns nicht lange aufhalten, Sie würden erfrieren.“ „Es wird uns schon irgendwas einfallen. Ich muß mich jetzt beeilen, Katja-Katjuscha. Alles will ich tun, damit man mich einen Phantasten nennt, der den Boden unter den Füßen verloren hat. Das will ich!“ „Alles Gute“, nickte sie. „Und ich will auf Sie warten.“ Wie angewurzelt blieb ich in der Tür stehen und wußte nicht, was ich sagen sollte. Abermals machte sie sich über mich lustig! „Laufen Sie zu. Gut, daß sich alles so ergibt. Ich werde hier warten!“ 2 Ich lief hinaus in den Frost von fünfzig Grad, eingehüllt in eine Säule von Atemluft, den Prospekt hinauf, vorbei am Internat der Universität, an der Denkmalsgestalt Kirows, der mit erhobener Hand dasteht, vorbei am Polytechnischen Institut. In dem geräumigen, aber wenig eleganten Foyer des Kultur-Palastes mit seinen Kandelabern, Lüstern und Ledersofas waren bereits viele Menschen versammelt. Meinen rein symbolischen Mantel gab ich in der Garderobe ab, eilte ins obere Stockwerk, und blickte von dort aus, über die Brüstung gelehnt, hinunter, in der Hoffnung, in der Menge ein bekanntes Gesicht zu entdecken. Ich hatte Glück, bereits zehn Minuten später unterhielt ich mich mit einem meiner ehemaligen Kommilitonen. Das Fragen begann: Wo? Wann? Durch wen? Verheiratet? Kinder? Wieviel? Dissertation? Semjon Fjodorow, natürlich erinnere ich mich an ihn! Die Hundekälte? Bei uns hier gibt es zur Zeit nur noch Hundekälte! An Bekannten traf ich niemand weiter, und mein einstiger Kommilitone verließ mich rasch. Er gehörte zu den Organisatoren der Konferenz, ich konnte ihn verstehen. Solche Konferenzen halten einen in Trab. Pünktlich um zwölf ertönte das Klingelzeichen des Vorsitzenden. Die einführenden Worte sprach ein bekanntes Akademiemitglied. Danach wurde die Aufteilung der Arbeit in Sektionen und Untersektionen, in Komitees und Kommissionen bekanntgegeben. Die Konferenz nahm ihre Arbeit auf. Ich hatte die Zeitung aus Katjas Kiosk nicht mitgenommen. Weshalb, wußte ich selbst nicht zu sagen. Möglicherweise aus Zerstreutheit oder aus Eile. Nun mußte ich lange, als Überblick abgefaßte Referate über mich ergehen lassen. In der Pause stürzte sich alles auf das Büfett, um Bier zu trinken und belegte Brote zu essen. Danach setzte die Arbeit der Sektionen ein. Zu meiner Verwunderung waren vierzig Mann in unserer Sektion. Ich hingegen hatte angenommen, alle Radiophysiker hätten sich zur Erforschung der Ionosphäre gedrängt oder des Plasmas und ähnlicher Gebiete, die in engem Zusammenhang mit der Raumfahrt stehen. Die Hälfte aller Vorträge war von der Art, die von Doktoranden gebraucht wird, damit sie sechs Veröffentlichungen vorweisen können. Jeder beliebige Vortrag, auch der allerdürftigste, wurde nämlich als Veröffentlichung gewertet. Die Vortragenden selbst gaben sich alle Mühe, das Ganze so schnell wie möglich herunterzuschnurren, atmeten dann erleichtert auf und ließen sich bescheiden auf ihrem Platz nieder. Fragen und Diskussionsbeiträge zu derartigen Vorträgen sind im allgemeinen nicht üblich. Danach setzten die ernsthafteren Vorträge ein. Einige davon waren einfach hervorragend. Erst gegen sechs Uhr kam auch ich an die Reihe. Ich sprach beherrscht und überzeugt, man hörte mir zu, ohne mich zu unterbrechen. Ich hatte sogar den Eindruck, daß der morgige Artikel über „den Phantasten, der den Boden unter den Füßen verloren hat“, nicht erscheinen würde. Es wurden denkbar einfache Fragen gestellt, und ich hoffte bereits, mit heiler Haut davonzukommen, aber das war lediglich das Vorgeplänkel gewesen. Eine halbe Stunde später hatte man meinen Vortrag vollkommen auseinandergenommen, und es war nichts mehr davon übriggeblieben. Dabei hatten sich besonders die Formalisten und „Beckmesser“ des Polytechnischen Instituts von Ust-Mansk hervorgetan. Wie zum Hohn betrat auch noch urplötzlich ein Reporter das Zimmer und ließ das Blitzlicht aufleuchten. Mich berührte das alles nicht sonderlich. Freilich, Goschka würde mir tüchtig die Leviten lesen, und für die Expedition im Sommer würde es auch nur ein Drittel der erforderlichen Summe geben. Doch ich hatte alles getan, was ich konnte. Die Berichterstattung in der morgen erscheinenden Zeitung hatte ich verändern wollen, verändern um jeden Preis. Es hatte nichts genützt. Jetzt war mir klar, daß die Zeitung so aussehen würde, wie ich sie bereits gelesen hatte. Das hieß also, das Mädchen aus dem gläsernen Kiosk verkaufte in der Tat die Zeitungen von morgen! 3 Zwanzig vor acht war ich bei ihr, um sie abzuholen. Früher hatte ich mich nicht frei machen können. Die zwanzig Minuten vor Schließung des Kioskes würden genügen, um mich ein wenig aufzuwärmen. „Nun, wie war’s?“ fragte Katja, und ihre Augen lachten listig. „Hat alles gestimmt“, entgegnete ich. „Der Vortrag ist ein Phantasiegebilde. Das ist alles sehr seltsam. Woher bekommst du eigentlich die morgigen Zeitungen?“ „Aus der Druckerei“, sagte sie. „Nehmen denn alle in Ust-Mansk das so einfach hin, daß du die Zeitungen von morgen verkaufst?“ Mir schien, daß sie ein wenig traurig wurde. „Schließlich weiß kaum jemand, daß es die morgigen Zeitungen sind. Alle halten sie für die heutigen.“ „Nun mal schön langsam. Demnach ist es für dich die morgige Zeitung und für alle anderen die ganz gewöhnliche heutige?“ „Für dich ist es auch die morgige“, sagte Katja. „Na gut, auch für mich. Und wie ist es mit den anderen?“ „Für alle anderen ist es die heutige.“ „Gibt es häufig Leute, für die es die morgige ist?“ „Kaum.“ „Immerhin gibt es das?“ „Du bist der erste.“ Sie lächelte und kräuselte die Nase. „Ich hab’ mir gleich gedacht, daß du sie sehen wirst.“ Es war an der Zeit, den Kiosk zu schließen. Katja wechselte die Stiefel, löschte das Licht und schloß den Kiosk ab. Wir hatten Glück, schon eine Minute später stoppten wir ein Taxi. Es war bei dieser schneidenden Kälte unmöglich, draußen umherzulaufen, insbesondere für mich. Ich lud sie ein, mit zu einem Institutskollegen zu kommen, und sie war einverstanden. Mein Kollege bewohnte eine Zweizimmerwohnung. Seine Frau war eben von der Arbeit heimgekommen und hatte sofort begonnen, Kartoffeln zu braten. Die drei Kinder, zwischen sechs und neun Jahren, fingen mit uns ein Gespräch über Tom Sawyer an. Ein Treffen oder eine Begegnung kann nicht, so ist es gang und gäbe, ohne eine Flasche Wein stattfinden. Selbstverständlich haben wir sie bis zum Grunde geleert. Gegen dreiundzwanzig Uhr verabschiedeten wir uns. Ich begleitete Katja bis zum Wohnheim und ging sogar mit auf den Korridor. Fast eine Stunde lang redeten wir noch über dies und jenes, doch ich forderte sie kein zweites Mal auf, mit mir gemeinsam auf eine Expedition zu kommen. Ich selbst wäre gern bereit gewesen, Zeitungen von morgen zu verkaufen. Schon von jeher hatte ich die Angewohnheit, über eine Sache alles in Erfahrung zu bringen. Deshalb fragte ich Katja: „Was haben diese morgigen Zeitungen überhaupt für einen Sinn, wenn es ohnehin niemand weiß?“ „Aber ich weiß es doch“, antwortete sie. „Du kannst sowieso nichts ausrichten!“ „Wer weiß“, entgegnete sie geheimnisvoll. „Die Zeitungen von morgen kommen unterschiedlich heraus, nicht in ihrem wesentlichen Inhalt natürlich, sondern im Detail. Das Wetter ist mal ein bißchen wärmer oder kühler; jemand ist krank oder wieder gesund geworden, irgend etwas Erfreuliches oder Trauriges. Die Zeitungen weichen nur in Nuancen voneinander ab, und ich wähle unter ihnen eine ganz bestimmte aus; sie ist dann die echte, die richtige, diesen Tag betreffende Ausgabe.“ Sie zog impulsiv meinen Kopf zu sich herunter, küßte mich auf den Mund, rannte weg und rief mir zu: „Morgen um neun!“ Ich aber blieb stehen, verwirrt und glücklich. 4 Am nächsten Morgen stand ich gegen sieben auf. Mein Zimmergenosse schlief noch, seine virtuosen Schnarchtöne waren meilenweit zu hören. Er hatte mir bereits nachts das Schlafen verwehrt, aber auch jetzt hatte ich in wachem Zustand nicht die Kraft, sein Gedröhne zu ertragen. Ich zog mich an, ging zum Büfett und aß Bockwurst. Dann kehrte ich ins Zimmer zurück, nahm Aktentasche und Mantel und ging ins Foyer. Im Zimmer konnte ich mich nach wie vor nicht aufhalten. Im Foyer saß ich etwa eine Stunde herum. Zu Katja sollte ich um neun kommen, es war jedoch erst acht Uhr. Gegen halb neun hielt ich es nicht mehr länger aus und lief mit eingezogenem Kopf in den Morgenfrost hinaus. Draußen war es keine Spur milder als am Vortage, ich rannte die Straßen entlang, eingedenk meiner bitteren Erfahrung. Der Zeitungskiosk glitzerte, als wäre er mit Diamanten besetzt, genau wie am Vortage. Ich klopfte an das Fensterchen, und statt der Begrüßung rief ich laut: „Katja-Katjuscha, ich erfriere!“ Sie antwortete mir nicht, eine zusammengeknüllte Zeitung raschelte im Innern des Kiosks, ich drückte die Türklinke hinunter und zwängte mich hinein. Katja saß da, ihren Körper mir zugewendet, und drückte einen Stoß Zeitungen, der nach Druckerschwärze roch, an ihre Brust. „Bin ich pünktlich? Habe ich mich nicht verspätet?“ „Keine Ahnung, schon möglich“, sagte sie kaum hörbar. Darüber war ich ein wenig verwundert und betroffen. Sie wirkte irgendwie verstört und schien keine Lust zu haben, sich mit mir zu unterhalten. Ich fragte: „Ist etwas passiert?“ „Ja“, sagte sie. „Ich muß gleich weg.“ Ich begriff überhaupt nichts. „Verzeih, Dmitri. Um zehn Uhr ist im Kinderheim auf der Werschininstraße ein Brand gewesen… wird ein Brand sein. Ich muß sie warnen.“ Flüchtig blickte ich auf die Uhr. Über eine Stunde blieb noch Zeit. Bis zur Werschininstraße, wo sich das Kinderheim befand, lief man etwa zehn Minuten. „Gibt es hier irgendwo in der Nähe ein Telefon? Man kann sie doch einfach anrufen.“ „Telefon ist im Institut für Radioelektronik. Aber vielleicht glauben sie nichts, wenn ein Anruf ankommt. Man muß hingehen.“ „Das schaffen wir noch“, sagte ich. „Hast du das schon länger gelesen?“ „Eben jetzt, als du an das Fenster geklopft hast.“ „Komm, los!“ sagte ich. „Geh nicht mit mir mit. Das muß ich allein machen.“ „Unsinn. Sind Einzelheiten bekannt?“ „Alles bekannt“, entgegnete sie, jedoch irgendwie mit Widerwillen, als ob sie nicht antworten wollte oder etwas Unwahres spräche. „Sind alle Kinder unversehrt?“ „Alle… Eins wäre beinahe verbrannt.“ Ich zwängte mich aus dem Kiosk, hinter mir kam Katja. Sie schloß mit dem Vorhängeschloß ab und steckte mir den Schlüssel in die Tasche. Ich war ein bißchen durcheinander und spürte den Frost nicht so stark wie fünf Minuten vorher. Sie ergriff meine Hand, und wir rannten los. Die ersten hundert Meter schwiegen wir, dann wandte sie ihren Kopf und sah mich prüfend an. Ich versuchte zu lächeln, doch meine Lippen waren angefroren. „Ich würde mit dir mitfahren, auch als Köchin“, sagte sie. „Dann fahren wir! Entscheide dich!“ Diese Worte waren zwar kühn, aber in ihnen schwang etwas absolut Unheroisches mit. „Es wär’ schön“, erwiderte sie. „Wir fahren.“ Ich hielt sie für einen Augenblick zurück. „Es gibt gar keinen Grund, erst den Sommer abzuwarten. Wir fahren in drei Tagen los, wenn die Konferenz zu Ende ist, ja?“ Sie rümpfte auf komische Weise ihr Naschen, nickte und zog mich wieder mit sich vorwärts. Wir rannten den Kirow-Prospekt entlang. Beim Filmtheater „Oktober“ kürzten wir den Weg ab und befanden uns auf der Werschininstraße, genau gegenüber dem Kinderheim. Es war ein neuer, zweigeschossiger Ziegelbau. Die Fenster waren beleuchtet, und nichts ließ auf das bevorstehende Feuer schließen. Ich hatte sogar plötzlich den Eindruck, Katja habe sich einen Scherz mit mir erlaubt, vielleicht hatte sie mich aus irgendeinem Grunde nur prüfen wollen. Jeder Zweifel wich jedoch von mir, als sie entschlossen am Gartentor des kaum meterhohen Zaunes zog. Das kleine Tor öffnete sich sofort mit quietschendem Ton, aber am Haupteingang hatten wir kein Glück; entweder war die Klingel nicht intakt, oder niemand hatte sie gehört. Erst als uns der Einfall kam, um das Haus herumzulaufen, überlegten wir uns, daß der Haupteingang sicherlich mit allerhand altem Kram verstellt war und man nur durch den Nebeneingang eintreten konnte. Die Tür war nicht verschlossen, das Licht natürlich, aus Sparsamkeitsgründen, ausgeschaltet. Wir stießen uns aneinander und an den Stufen, aber wir gelangten auf den Korridor. Dort war es hell. Den Haupteingang auf der gegenüberliegenden Seite konnte man nur erraten, da er durch Gerümpelhaufen verdeckt war. Links lag die Küche. Aus dieser Richtung kam angenehmer Duft. Daneben war ein Zimmer, eine Art Speiseraum. Dort saßen auch die Kinder, langhaarig, kurzgeschoren, mit Zöpfen und mit Bubiköpfen. Zwei Erzieherinnen gingen mit Tabletts um die Tische herum. Rechts befand sich der Schlafraum. Wie es im ersten Stockwerk aussah, wußte ich natürlich nicht. Katja steuerte sofort auf die Tür zu, wo die Kinder saßen, winkte den Frauen mit der Hand zu und fragte: „Kann ich Sie mal einen Augenblick sprechen?“ Die Erzieherinnen schauten sie verwundert an, eine von ihnen kam, nachdem sie ihr Tablett auf einem Schränkchen abgestellt hatte, zur Tür. „Guten Tag“, sagte Katja und bat sie hinaus auf den Korridor. „Guten Tag“, sagte auch die Frau und trat über die Schwelle. „Bitte fragen Sie nicht, woher ich es weiß“, begann Katja. „Ich kann es nicht vernünftig erklären… Gegen zehn Uhr wird in diesem Gebäude ein Feuer ausbrechen.“ „O weh!“ Die Frau schlug die Hände an die Brust. „Sie müssen die Kinder anziehen und den Nachbarhäusern Bescheid geben, damit sie dort aufgenommen werden.“ „O weh“, wiederholte die Frau und rief der anderen zu: „Maria Pawlowna!“ Die Kinder hatten mit Interesse den Vorfall aufgenommen, sofort begannen sie natürlich mit Unsinn, Albernheiten und Lärm. „Maria Pawlowna, bei uns brennt’s“, jammerte die Frau. „Was ist los?“ fragte Maria Pawlowna streng. „Wer sind Sie denn?“ „Ich verkaufe Zeitungen, er ist Ingenieur. Um zehn Uhr wird bei Ihnen ein Feuer ausbrechen. Die Kinder müssen weggebracht werden.“ „In dieser Kälte sollen wir sie hinausführen?“ entgegnete Maria Pawlowna, abermals in strengem Ton. „Aber es brennt doch“, flüsterte die erste Frau. „Man muß etwas tun.“ Ich entschloß mich, ins Gespräch einzugreifen. „Haben Sie hier Telefon?“ „Haben wir“, antwortete Maria Pawlowna und machte eine Handbewegung. Das Telefon stand hinter mir. „Er ruft die Feuerwehr, und Sie ziehen die Kinder an“, sagte Katja ruhig und mit normaler Lautstärke. Sie gab sich Mühe, überzeugend zu sprechen, damit man ihr glaubte. Die erste Erzieherin lief unter Wehklagen in die erste Etage hinauf. Aus der Küche kam die Köchin herbei, von der Straße der Hausmeister, fast bis an die Stirn in einen Schal gehüllt. Er klopfte mit einem hölzernen Schneeschieber auf den Fußboden. Heute hatte er auf der Straße mit dem Holzgerät absolut nichts ausrichten können. Ich wählte die Telefonnummer und sprach in den Hörer, als sich am anderen Ende jemand meldete: „Ein Wagen der Feuerwehr muß zum Kinderheim in der Werschinistraße geschickt werden.“ „Brennt es dort schon lange?“ erkundigte sich mein unsichtbarer Gesprächspartner geschäftsmäßig und rief jemandem zu: „Fahr mit dem Wagen Nummer sieben hin! Was brennt eigentlich?“ Das war wieder an mich gerichtet. „Im Moment brennt es noch nicht, aber um zehn wird’s brennen.“ „Wieder mal Witzbolde“, meinte die Stimme unzufrieden, und der Hörer wurde aufgelegt. Ich wählte die Nummer zum zweiten Male, aber mein Gespräch endete ebenso erfolglos. Man glaubte mir nicht. Aus der ersten Etage kamen drei Frauen herunter. Eine von ihnen war die Leiterin des Kinderheimes. „Der Brandschutz ist bei uns in Ordnung“, sagte sie zu uns. „Sie kommen überprüfen?“ Katja mußte noch einmal alles erklären, doch die Leiterin zog uns an eine Wand und zwang uns, die „Ordnung für die Evakuierung der Kinder bei Ausbruch eines Feuers“ durchzulesen. Die „Ordnung“ war einfach fabelhaft, es war direkt schade, daß sie in diesem Gebäude noch nie in Aktion zu treten brauchte. „Haben Sie wenigstens Feuerlöscher?“ fragte ich und schaute auf die Uhr. Es war kurz vor zehn. „Ja“, sagte die Leiterin. „Das heißt, wir hatten. Hier haben sie gehangen.“ Dabei zeigte sie auf drei Stellen an der Wand, die noch dunkler waren als die übrige Fläche. „Einer davon ist mal runtergestürzt und hätte beinahe Tanjetschka Solnzewa erschlagen. Daraufhin waren wir gezwungen, die Feuerlöscher in der Scheune unterzubringen.“ Die Zeit drängte, man mußte etwas in die Wege leiten. „Die Feuerlöscher gehören an ihren festen Platz. Weshalb sind sie nicht dort?“ murrte ich. Das jagte der Leiterin einen Schreck ein. Wer konnte sicher sein, daß es sich hier nicht doch um eine Kontrollkommission handelte? „Anikeitsch!“ rief sie. „Rasch, bring die Feuerlöscher her!“ Der Hausmeister stürzte nach draußen, kehrte jedoch sofort zurück, weil er keine Schlüssel bei sich hatte. Die Frauen begannen nervös herumzutüfteln, wer die Schlüssel wohl haben könnte. Anikeitsch fand sie schließlich bei sich selbst und stürzte wieder hinaus. „Ziehen Sie die Kinder an!“ befahl Katja. Die Erzieherinnen gehorchten ihr zögernd. Sie ließen die Kinder vom Tisch aufstehen und führten sie auf den Korridor. Aber das geschah so mißtrauisch, als warteten alle nur darauf, daß dieser blinde Alarm im nächsten Augenblick abgeblasen würde. Es handelte sich um etwa fünfzig Kinder; erst später wurde mir klar, daß sich im ersten Stock noch weitere hundertzwanzig befanden. Ich machte mich daran, das Gerümpel vom Haupteingang wegzuräumen. Die Schlitten warf ich gleich in den Schlafsaal, die Büchsen mit Sauerkrautresten ließ ich in die Küche rollen. Jemand versuchte, mir dabei zu helfen, aber ich schrie, man solle lieber die Kinder schneller ankleiden und sofort auf die Straße hinausbringen. Katja rief nochmals die Feuerwehr an, und ihr glaubte man anscheinend. Unterdessen hatte ich die Hälfte des Gerümpels beiseite geräumt, jetzt mußte ich nur noch bis zur Tür gelangen, damit ich das übrige direkt auf die Straße hinauswerfen konnte. Es handelte sich dabei um Rechen, Spaten, alte Fußmatten und Eimer mit defekten Böden. Die Köchin löschte den Küchenherd mit Wasser. Jemand versuchte, die elektrischen Heizöfen abzuschalten; sie erhielten ihren Strom allerdings von schwer zugänglichen Stellen, und die Steckdosen waren deshalb nicht sofort erreichbar. Eine Erzieherin eilte in das Kino, um zu vereinbaren, daß die Kinder dort im Foyer untergebracht werden konnten. Die Leiterin wollte uns immer noch nicht glauben. Was würde sie wohl mit uns machen, falls sich herausstellen sollte, daß diese wenn auch unorganisierten Vorbereitungen umsonst gewesen waren! Die Tür vom Nebeneingang öffnete sich, in den Korridor stürzte der Hausmeister mit zwei Feuerlöschern in der Hand. Er schnaufte und nieste ein paarmal, wobei er versuchte, etwas zu sagen. Schließlich gelang es ihm. „Es brennt!“ rief er, ließ noch einige deftige Worte folgen und klopfte mit einem Feuerlöscher auf den Boden. Die Feuerlöscher hatten allerdings wenig Sinn. Die Dampfwolke, die der Hausmeister in den Korridor gebracht hatte, löste sich nicht auf. Es war überhaupt kein Dampf, sondern Rauch, der mir beißend in die Augen stieg. Der Hausmeister sprang herzu, um mir beim Wegräumen zu helfen. Als der Haupteingang frei war, brannte die hölzerne Trennwand bereits. Zwanzig Minuten später kam die Feuerwehr. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die Kinder bereits im Kino. Der Feuerwehr-Einsatzleiter war dabei, die Gründe für das ausgebrochene Feuer zu ermitteln. Die Erzieherinnen hatten sich, nach allem, was sie eben miterlebt hatten, noch nicht wieder voll in der Gewalt. Und ich raste mit einem Krankenwagen durch die Straßen und hielt Katjas kalte, feuchte Hand. Katja hatte versucht, die umfallende hölzerne Trennwand zwischen zwei Zimmern zu halten, damit man die letzten Kinder hinausbringen konnte. Es war gelungen, sie durch den Notausgang über eine Metalltreppe auf den Hof zu schaffen. Alle hatte man hinunterbringen können, doch ihr war es nicht geglückt, rechtzeitig beiseite zu springen, die brennende Holzwand hatte sie zu Boden gedrückt. Kurz zuvor hatte sie mir noch ein halb angezogenes kleines Mädchen in die Hand gedrückt und mir zugerufen, ich solle von der Straße her zum Fenster kommen, weil man wahrscheinlich die Kinder durch das Fenster hinausgeben müsse. Ich hatte nicht einmal kleinste Brandwunden. Aber ihr Gesicht durfte ich nicht sehen, es war mit etwas Weißem verdeckt. 5 Ich saß in der Halle einer Klinik, deprimiert und ratlos. Sie hatten gesagt, es würde alles getan, was in ihren Kräften stünde. Ich machte mir klar, in welchen Fällen man so etwas sagt. Wohl dreimal legte man mir nahe wegzugehen, weil ich absolut nicht helfen konnte und die Ärzte mit meinen Fragen nur nervös machte. Als man mich zum vierten Male aufforderte und ich trotzdem noch Argumente anbrachte, um bleiben zu können, sagte einer von den jungen Ärzten plötzlich: „Soll er etwas versuchen, wenn er helfen will. Morgen wird in den Zeitungen ein Aufruf erscheinen, heute abend wird es im Radio durchgegeben, doch vielleicht ist es schon zu spät. Sie wohnen… wo?“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich bin fremd hier.“ „Schade. Sie haben demnach hier keine Bekannten?“ „Schon, aber sehr wenige.“ „Eine Hauttransplantation ist erforderlich. Freiwillige werden gebraucht. Etwa fünfzig Menschen. Vielleicht auch mehr.“ „Das kann ich übernehmen!“ rief ich und eilte hinaus. Die Konferenz hatte ihre Arbeit bereits aufgenommen. Ich war beherrscht genug, keine Panik entstehen zu lassen, und suchte meinen Institutskollegen auf. Er hörte mich schweigend an und sagte: „Kaum zu glauben. Gestern war sie noch so fröhlich.“ Er fuhr fort: „Das war richtig von dir, dich an mich zu wenden. Es wird alles getan werden. Eure Sektion werden wir gleich als erste losschicken.“ Gemeinsam mit ihm betrat ich den Raum, wo die Radiophysiker für Bodenkunde arbeiteten, und ließ mich auf den ersten besten Stuhl nieder. Mein Kollege flüsterte etwas mit dem Vorsitzenden der Kommission, dieser wartete ab, bis der Vortragende sein Referat beendet hatte, und gab daraufhin allen bekannt: „Kollegen! In der Stadt hat sich ein Unglück ereignet. Für eine Transplantation wird Haut gebraucht. Ich denke, wir machen eine Pause und gehen gemeinsam in die Klinik. Es ist hier in der Nähe, nur zwei Straßenecken entfernt… Das Mädchen ist in Lebensgefahr.“ In einzelnen Gruppen kam nach und nach die gesamte Konferenz zur Klinik. Gegen ein Uhr mittags erlaubte man mir immerhin, das Zimmer zu betreten, in dem Katja lag. Ein weißes Kopfkissen, eine weiße Bettdecke und statt eines Gesichtes ein Knäuel Binden; nur die schwarzen Pünktchen der Augen mit abgebrannten Wimpern und die Lippen, kaum wahrnehmbar. Ich setzte mich auf den Hocker neben dem Bett. Katja betrachtete mich ohne die geringste Bewegung. Mir blieb jedes Wort in der Kehle stecken. Gern hätte ich ihr Haar und ihre Wange gestreichelt, aber das durfte ich nicht. Ich nickte ihr nur zu und versuchte ermunternd zu lächeln. Ich weiß nicht, was sie meinem Lächeln entnahm, aber ihre Lippen bewegten sich sacht, und ich vermochte den Bewegungen abzulesen: „Die Wangen werden schwarz werden, das wird dir nicht gefallen…“ „Doch, doch“, sagte ich. „Katja, ich werde dich von Ust-Mansk wegbringen. Im Sommer fahren wir dann in die Wasjugansker Sümpfe und lassen uns von den Mücken auffressen.“ Ich mußte das Zimmer verlassen. Katja ging es wieder schlechter. „Sie können hier nicht helfen“, sagte man zu mir. „Gehen Sie ins Hotel. Informieren Sie Katjas Arbeitsstelle über das Vorge-fallene. Tun Sie etwas, machen Sie schon. Morgen früh können Sie wiederkommen.“ Ich trat auf den Prospekt hinaus. 6 Ich befand mich in einer seelischen Erstarrung, mein Kopf war gedankenleer. Sogar der Frost konnte mir nichts anhaben. In dieser Verfassung gelangte ich bis zu Katjas Zeitungskiosk und erinnerte mich, daß sich der Schlüssel in meiner Tasche befand. Ich schloß auf, betrat das Innere und schaltete das Licht ein. Eine Zeitung lag mit der vierten Seite nach oben. Sofort fand ich eine kleine Notiz in der Spalte „Aus dem Alltag“. Darin stand, daß gestern um zehn Uhr morgens im Kinderheim in der Werschininstraße infolge einer mangelhaften elektrischen Leitung ein Feuer ausgebrochen sei. Bei der Rettung der Kinder sei Jekaterina Smirnowa ums Leben gekommen. Katja Smirnowa. Ich hatte nicht einmal gewußt, daß ihr Familienname Smirnowa war. Nur Katja-Katjuscha. Die Mitteilung in der Zeitung stimmte doch nicht! Sie war ja gar nicht umgekommen bei der Rettung der Kinder! Sie lebte doch! Zufällig fiel mein Blick auf ein zerknülltes Zeitungsblatt neben mir und erinnerte mich, daß Katja am morgen, als ich zu ihr in den Kiosk kam, eine Zeitung zusammengeknüllt hatte und auf die blickte, die vor mir lag; erst dann hatte sie gesagt, es werde ein Feuer ausbrechen. Demnach hatte sie also gewußt, was mit ihr passierte, und sie war trotzdem gegangen. Ich glättete die zusammengeknüllte Zeitung. Es war gleichfalls eine von morgen, sie enthielt auch die Notiz über den Brand. Nur wurde darin gesagt, daß Dmitri Jegorow ums Leben gekommen sei. In meinen Schläfen hämmerte es dumpf. Jetzt kam mir klar zum Bewußtsein, was sie gemeint hatte, als sie sagte, daß sie morgens die Zeitung auswählt. Sie erhielt stets etliche unterschiedliche Ausgaben. Heute hatte sie ihren eigenen Tod nur deshalb ausgewählt, weil es sonst mich getroffen hätte. Ich hätte die brennende niederstürzende Wand aufhalten müssen, doch sie hatte mich mit einem Auftrag auf die Straße geschickt, den jeder andere ebensogut hätte ausführen können. Mir wäre es beschieden gewesen, von den brennenden Brettern zu Boden geworfen zu werden. Ich nahm von dem Stoß noch eine Zeitung: Dmitri Jegorow kam ums Leben. Die dritte: das gleiche. Hartnäckig suchte ich nach der Zeitung, die ich brauchte. Es mußte eine dritte Variante geben! Unbedingt! Katja hatte nur keine Zeit mehr gehabt, sie herauszufinden. Sie hatte sich so beeilt und war so froh gewesen, die zweite Variante gefunden zu haben, daß ich am Leben bliebe… Heute habe ich die morgige Zeitung auszuwählen. Ich fand ein Exemplar, es war das richtige. Hunderte von Menschen hatten schließlich alles getan, daß sie am Leben bleibt, Hunderte waren bemüht gewesen, ohne es zu ahnen, den Inhalt der Notiz abzuändern. Ich beschloß, zu sortieren und nur diese Zeitung zu verkaufen, denn alle sollten wissen, daß Katja lebt, daß sie sich zwar fürchterliche Brandwunden zuzog, aber am Leben bleiben wird, unbedingt, auf jeden Fall. Das werde ich allen Menschen sagen, die hier am Kiosk vorbeischauen. Es war jedoch so eiskalt, daß kein Mensch am Kiosk stehenblieb. Deshalb ging ich mit einem Zeitungsstoß auf den Fußweg hinaus und verteilte die Zeitungen an die Vorübergehenden. „Lest bitte über Katja Smirnowa! Sie wird leben! Leben! Lest das, Katja wird leben! Denkt daran!“ Zunächst fürchtete ich, man würde mich wie einen Geisteskranken anschauen. Aber nichts dergleichen geschah. Die Vorübergehenden nahmen die Zeitung, blieben stehen, erkundigten sich bei mir, zeigten Teilnahme und sprachen die Hoffnung aus, daß sie selbstverständlich am Leben bleiben werde. „Ihr müßt das von ganzem Herzen wünschen!“ sprach ich „Sie ist es, Katja, die euch die kleinen und die großen Freuden verschafft. Ihr habt davon keine Ahnung, weil ihr nicht wissen könnt, daß es ohne sie für uns keine Freuden gäbe. Sie ist es, die das schöne Wetter herbeiwünscht, und ihr könnt in den Wald gehen, euch erholen und euch freuen. Sie wendet Katastrophen auf den Straßen ab. Sie hat es bewerkstelligt, daß neunzig Mädchen ihre Burschen gefunden haben. Ohne sie hätten sie sich vielleicht nie kennengelernt. Es stimmt natürlich, daß sie nicht einmal den Plan eines sehr kleinen Betriebes oder einer Fabrik erfüllt. Das ist aber nicht schlimm! Das können andere tun. Lest die Zeitung! Katja soll leben!“ „Das ist ja die Königin von Ust-Mansk“, sagte irgendwer. Man glaubte mir, und nun wußte ich: Katja würde am Leben bleiben, weil alle es wollten. Ich lief zum Hauptpostamt und gab dort die Schlüssel für den Kiosk ab. Danach ging ich in die Konferenz. Dort sagten mir die „Beckmesser“ des Polytechnischen Instituts von Ust-Mansk, daß ich vorübergehend in ihren Laboratorien arbeiten solle, meine Phantastereien seien nicht so ganz ohne, an mein Institut hatten sie bereits ein Telegramm geschickt wegen Verlängerung meiner Dienstreise. Sie hatten begriffen, daß ich jetzt nicht imstande war, diese Stadt zu verlassen. Ich werde hier in Ust-Mansk bleiben, bis ich ihnen bewiesen habe, daß man durch den Erdboden hindurchsehen kann, bis Katja geheilt ist, bis die Vorbereitung auf die Expedition beginnt, bis ich zusammen mit ihr in den Norden fliegen kann, in die Sümpfe, in den Schlamm, hinein in Regentage und Liedersingen. Ich eilte in die Klinik. Es war so neblig, daß man kaum zwanzig Schritte weit sehen konnte. Ein volles halbes Hundert unter Null! Vereinzelt knirschende Schritte im Schnee, anhaltendes Hupen der Autos und sonst nur Kälte, Kälte… in Ust-Mansk, in seinen Vorstädten und Tausende von Kilometern im Umkreis… Ich eilte zu Katja, weil sie auf mich wartete. Du meine Stadt Aus der Vogelperspektive ähnelte die Stadt dem Ladentisch eines sehr großen Schuhgeschäftes, auf dem graue, genormte Kartons streng symmetrisch aufgestellt waren. Abends, wenn sich die staubgeschwängerte Dämmerung auf sie herabsenkte und die Straßen leer wurden, schienen sich die Menschen in die Beton-Verpackungen zurückzuziehen; die funkelnden Linien der Straßenbeleuchtung erinnerten an eine endlose Schnur, die an vielen Stellen durch einander zublinkende Kreuzungen zu festen Knoten geknüpft war. Am Morgen erloschen die hauchdünnen, leuchtenden Straßenfaden allmählich und verschwanden; die großflächigen Verpackungen ließen wie mit einem erleichterten Aufatmen unter ihren Dächern Tausende zur Arbeit eilende Städter hervorströmen, geschäftige Hausfrauen mit Milchkrügen und Einkaufsnetzen, ewig wilde Kinderscharen und Gruppen schlanker junger Mädchen. In diesen kühlen Morgenstunden erhob sich die Stadt, besonders wenn des Nachts erfrischender Regen gefallen war, gleichsam auf die Zehenspitzen und streckte der Sonne die grünen Zweige ihrer noch jungen Plätze, Boulevards und Parkanlagen entgegen. In solchen Augenblicken verschwand der Eindruck ihres in Grau und Grau getauchten häßlichen Daseins, und sie lächelte. Mitunter schwang in diesem Lächeln sieghafter Triumph mit, als ob sie sich stark und schön fühlte und den Menschen gefiele. Doch schon bald bedeckten die Schornsteine von Fabriken, Betrieben und Elektrizitätswerken den blauen Himmel mit weißlichen Rauch- und Staubwolken, die Stadt ließ den Kopf sinken und die staubig gewordenen hageren Arme herabhängen, blickte finster auf den Asphalt, zerfiel in ihre zahllosen grauen Beton-Verpackungen; sie schämte sich ihrer Unansehnlichkeit und konnte nicht begreifen, was die Menschen dazu zwang, diese genormten, eintönigen Stadtviertel zu schaffen. Die Stadt wußte, daß sie häßlich und unförmig war. Aber sie war bequem: In den Wohnungen gab es Wasser und Gas, Einkaufsmöglichkeiten in der Nachbarschaft, zwei Straßenekken entfernt das Kino, nur zwanzig Minuten mußte man fahren, um ins Schauspielhaus oder in die Philharmonie zu gelangen, ungefähr fünfzehn Kilometer weit befand sich die Taiga, inzwischen ein einziger Wald aus Blech, Glasbruch, eingeritzten Baumrinden, Getränkekiosken und Ausleihstationen, dafür aber auch mit Blumen, zottigem Astwerk von Zedern und kapriziös geschwungenen Birkenzweigen. Das Bewußtsein der eigenen Unzulänglichkeit und Unvollkommenheit quälte die Stadt, doch in gewissem Maße beruhigte es sie, daß sie trotz allem von den Menschen gebraucht wurde. Witali Perepelkin nahm Abschied von Margrad. Er hatte sich mit ihm verfeindet. Sie verstanden einander nicht, Witali Perepelkin war der Stadt böse. „Auf allen vieren krieche ich hier davon, mit geschlossenen Augen“, sagte er nun schon zum soundsovielten Male zu seiner Frau. „Reg dich aber nicht auf, Soja. Ust-Mansk ist keinen Deut schlechter als Margrad, sogar hundertmal besser. Dort werde ich die ›Aufprallende Welle‹ bauen und noch vieles andere. Kannst du dir vorstellen, wie schön das werden wird?“ „Kann ich mir schon vorstellen“, antwortete Soja einsilbig. „Ach richtig, man soll sich doch vor einer Reise einen Moment still hinsetzen“, erinnerte sich Witali und ließ sich auf die Stuhlkante nieder. „Aber es hilft nichts, es ist Zeit. In einem Monat habe ich in Ust-Mansk eine Wohnung, und dann hole ich euch.“ Aus dem Schlafzimmer kam ein etwa zweijähriger Knirps und sagte: „Papa fährt fo-o-ort…“ Witali faßte seinen Sohn mit beiden Händen, drehte ihn in der Luft, stellte ihn auf den Boden zurück, küßte seine Frau flüchtig aufs Ohr und sagte bestimmt: „Da gehe ich also jetzt“, machte sich noch im Korridor zu schaffen, nahm den Koffer, öffnete entschlossen die Tür und trat über die Schwelle. Pro Treppenabsatz zehn Stufen, insgesamt neunzig, die zerkratzte, bekritzelte Haustür mit Namen in ungelenker Kinderschrift; eine Kinderschar, die tief im Sand eine Autostraße anlegte; das Klappern von Dominosteinen, die „Klassiker“ des grauen Asphalts; im ersten Stock ein heulendes Saxophon; alte Frauen, die ernsthaft ein Problem der Enkel erörterten; Wäscheleinen mit weißem Bettzeug; sorgfältig gegossene, fingerstarke junge Birken… An der Hausecke blieb Perepelkin stehen. Es konnte nicht schaden, ein paar Zigaretten zu kaufen, am Bahnhofsstand gab es immer eine Menge Leute. Er bog um das Haus, dessen grünen Anstrich der Regen zur Hälfte so weit abgewaschen hatte, daß der graue Beton durchschimmerte, und ging ein paar Schritte in die dem Bahnhof entgegengesetzte Richtung. Dort befand sich ein Feinkostgeschäft. Froh, daß er keinen Bekannten getroffen hatte und keine Erklärungen abgeben mußte wegen des Koffers, den er bei sich hatte, verließ er den Laden und machte sich ohne Eile auf den Weg zum Bahnhof. Bis zur Abfahrt des Zuges war noch fast eine Stunde Zeit. Er hatte auf der Schwellenholzstraße drei Kreuzungen zu überqueren und mußte sich dann nach rechts zum Bahnhofsvorplatz wenden. Er gab sich Mühe, unterwegs nicht an die Stadt zu denken. Die monotone Straße mit den eintönigen Häusern, deren einheitliche Bauweise durch den verschiedenfarbigen Putz nur noch stärker hervorgehoben wurde, hatte er gründlich satt; sie war für ihn ohne Interesse! Einzig und allein der Bierausschank an der Ecke brachte etwas Abwechslung in die Bebauung der Straße. Als er dort angelangt war, wandte er sich nach rechts zum Prospekt der Rationalisatoren, lief noch etwa fünfzig Meter und stellte dann etwas fest, was ihm unbegreiflich war: Der Bahnhofsvorplatz war nicht da. Statt dessen hatte er das Haus mit dem Feinkostgeschäft vor sich, aus dem er gerade erst vor sieben Minuten herausgekommen war, und die Schwellenholzstraße mit seinem Wohnhaus, den anderen Häusern und dem drei Straßenecken entfernten Bierausschank. „Ganz schön getrant“, sagte er leise vor sich hin, schaute auf die Uhr und beruhigte sich — es blieb noch genügend Zeit. „So im Kreis zu laufen! Kaum zu glauben!“ Er ging nun wieder geradeaus, betrachtete aber jetzt mit Interesse die Straße, die er wohl an die tausendmal schon gesehen hatte, und überdachte seine soeben konstatierte Fehlleistung. Mit der Straße hatte alles angefangen, als er sie projektiert und den üblichen fünfgeschossigen Wohntyp Nr. 93 durch den Typ „Geöffnete Hand“ ersetzt hatte. Bereits auf dem Institut für Bauwesen war ihm die Idee für die „Geöffnete Hand“ gekommen, bei dieser Straße hatte es ihn nun nicht mehr länger gehalten, und er hatte sie in den Entwurf genommen. Er war ihm mit lautem Tadel zurückgereicht worden, obwohl sich die „Geöffnete Hand“ aus genormten Betonteilen herstellen ließ. Als er sich jetzt an der Stelle des Wohntyps Nr. 93 sein Haus vorstellte, sah er ein, daß die „Geöffnete Hand“ nicht zwischen diese fünfgeschossigen Blöcke gepaßt hätte. Und trotzdem war er nicht völlig im Unrecht gewesen. Damals hatte er noch nicht gewußt, daß dies bereits die ersten Schritte auf seinem heutigen Weg zum Bahnhof waren. Er brannte sich am Bierausschank eine Zigarette an, bog um die Ecke, blickte auf und sah das Feinkostgeschäft vor sich! Mit der Stadt war irgend etwas Merkwürdiges geschehen. Erst jetzt wurde Perepelkin klar, daß er keineswegs im Kreis gelaufen war. Er blieb ein paar Minuten stehen, blickte verwirrt um sich und schaute rückwärts. Um die Ecke beim Feinkostgeschäft wußte er die Schwellenholzstraße, aber drei Ecken weiter war schon wieder das Feinkostgeschäft aufgetaucht… Was für ein Teufelskreis! Wohin man auch ging, überall traf man auf die Schwellenholzstraße. Perepelkin entschied, daß es keinen Sinn hatte zurückzugehen, und bog am Bierausschank rechts ein. Er hatte das Feinkostgeschäft und die Schwellenholzstraße vor sich, und drei Straßenecken weiter standen am Bierausschank eine Menge Leute. Bis zur Abfahrt des Zuges verblieben noch vierzig Minuten. Am Geschäft wimmelte es von Menschen, und Perepelkin wäre beinahe mit Ingenieur Sidorow aus seiner Projektierungsgruppe zusammengestoßen. Sidorow war etwa fünf Jahre älter als Witali und hatte so manche Straße in Margrad projektiert. Sie begrüßten einander, Perepelkin erschrocken, Sidorow befremdet, weil er soeben aus Witalis Wohnung kam. Er hatte nicht gewußt, daß Perepelkin heute wegfuhr, und war gekommen, ihn zur Rückkehr in die Abteilung des Chefarchitekten zu bewegen. „Du gehst also weg?“ brachte Sidorow endlich heraus. „Ja, ich gehe weg!“ antwortete Perepelkin trotzig. „Ich habe diesen langweiligen Kram satt. Wer nicht will, läßt es eben bleiben…“ „Wer will denn nicht?“ „Na wer schon! Die Stadt! Sie will nicht schön werden, nun soll sie auch so bleiben.“ „Die Stadt will schon. Man muß es nur dem Chefarchitekten und dem Stadtausschuß beweisen.“ „Wir beweisen doch nun schon fünf Jahre lang!“ sagte Perepelkin, und als ihm bewußt wurde, daß er nicht das richtige Wort gewählt hatte, korrigierte er sich: „Das heißt, wir haben es bewiesen.“ „Nein, wir haben es eben nicht bewiesen!“ brauste Sidorow auf. „Wir sind erst dabei, es zu beweisen! Jetzt und in Zukunft! Margrad wird schön werden!“ Perepelkin antwortete nichts und nahm den Koffer aus einer Hand in die andere. „Es bleibt also dabei: du gehst weg?“ fragte Sidorow nochmals. „Ich bin nämlich soeben bei dir gewesen. Konnte ja nicht wissen, daß du es so eilig hast.“ „Übrigens habe ich mir heute überlegt“, sagte Perepelkin, „daß uns im Wohntyp ›Ahornblatt‹ die Projektierung des zwölften Stockwerks trotz allem noch nicht so richtig geglückt ist. Man müßte die Decke um fünf Zentimeter heben und ›fliegende‹ Zwischenwände einsetzen.“ „Das hat doch schon jemand vorgeschlagen…“ „Jemand! Du bist es gewesen. Es muß so gemacht werden, und dann wird auch das ›Ahornblatt‹ voll zur Geltung kommen!“ „Geht dich das jetzt noch was an?“ „Auch wahr! Entschuldige. Ich komme sonst zu spät.“ „Du wirst nicht zurückkommen?“ „Um keinen Preis!“ Aber seine Stimme klang nicht sehr überzeugt. „Margrad soll ruhig so bleiben, wenn es ihm gefällt.“ „Falls du trotzdem zurückkommst, werde ich bei mir keine Arbeit für dich haben. Denk dran“, warnte Sidorow seinen ehemaligen Vorgesetzten und ging weiter, ohne sich zu verabschieden. Perepelkin nahm seinen Koffer wieder in die andere Hand. Er war noch keine zehn Schritte gegangen, als aus dem Geschäft sein Vetter Smetannikow leicht angeheitert herauskam. „He, Witalka, zum Teufel!“ rief er. „Komm, auf ein Gläschen!“ „Weißt du, Petja“, antwortete Perepelkin, „ich muß zum Bahnhof. Es ist nicht mehr viel Zeit.“ Beide standen da und wußten nicht, was sie einander noch sagen sollten. Da hatte Perepelkin plötzlich einen Einfall. „Hör mal zu, Petja. Wie wär’s, wenn du mit zum Bahnhof kämst?“ Smetannikow überlegte einen Augenblick, holte Kleingeld aus seiner Tasche, zählte es und sagte entschlossen: „Ich komme mit.“ Perepelkin begriff allmählich, daß es ihm allein nicht gelingen würde, um diese unglückselige Ecke herumzukommen. Er beschloß deshalb, sobald sie an diese Stelle kämen, sich bei seinem Vetter am Arm festzuhalten, die Augen zu schließen und auf diese Weise doch noch zum Bahnhof zu gelangen. Smetannikow hatte begonnen, Perepelkin irgend etwas zu erzählen, aber der hörte ihm äußerst unaufmerksam zu, nur hin und wieder gab er an unpassenden Stellen ein „Jaja, hm“ von sich. Nächtelang hatten sie mit der ganzen Gruppe zusammengesessen, Margrad auf dem Papier rekonstruiert und neue Stadtviertel erbaut. Sie hatten eine sehr schöne Stadt entworfen. Sogar in Moskau hatte man darüber gestaunt. In Margrad selbst waren Worte der Anerkennung gefallen, aber weiter war man nicht gegangen. Jede Wohnung in einem Haus vom Typ „Geöffnete Hand“, „Gleitende Fläche“, „Himmelblaue Kerze“, „Ahornblatt“, „Aufprallende Welle“ war um fünf Prozent teurer als die allgemein übliche Standardwohnung. Woher aber sollten diese fünf Prozent genommen werden? In Margrad war ein neues Dieselmotorenwerk im Bau, und Tausende von Wohnungen wurden gebraucht. Schnell und termingemäß. Da war überhaupt nicht an „Ahornblatt“ zu denken. Das war immer so. Erst wenigstens irgend etwas, später dann etwas Besseres, das aber gerade dieses „Irgend etwas“ verdrängte. Perepelkin hatte den Beweis angetreten, daß man nach zehn Jahren diese grauen Ungetüme sowieso abreißen müsse, dann aber würde der Staat nicht mehr mit nur fünf Prozent davonkommen. Man hatte ihm zugestimmt, jedoch eingewendet, daß dies immerhin erst in zehn Jahren eintreten werde und nicht jetzt. Die Wohnungen jedoch wurden sofort gebraucht. Und was war mit den fünftausend Familien, die in Margrad in Kellern und kellerähnlichen Räumen wohnten? Ihnen war im Moment ganz und gar nicht nach „Gleitender Fläche“ zumute! Fünf Jahre lang hatte sich Perepelkin herumgeschlagen und Beweise angetreten. Nun aber ging er fort nach Ust-Mansk, weil dort ein neues Wohngebiet aus Häusern vom Typ „Turm“ und „Messer“ geplant war. Natürlich kein „Ahornblatt“, aber immerhin etwas Verwandtes. Vielleicht würde es später auch gelingen, die „Geöffnete Hand“ zu bauen. Perepelkin war es müde geworden, weiter zu überzeugen, und nun ging er fort aus Margrad, so wie man zornig und gekränkt von einem Menschen weggeht, der einen nicht versteht, um sich jedoch im nächsten Augenblick anders zu besinnen und wehmütig zu erkennen, daß eine Rückkehr bereits unmöglich geworden ist. Bis zum Bierausschank waren es noch ungefähr dreißig Schritte. Perepelkin klammerte sich mit eisernem Griff an seinen Vetter, der etwas vor sich hin trällerte und gelegentlich Erläuterungen dazu gab. Bis zur Ecke waren es noch zwanzig Schritte, fünfzehn. Aber in diesem Moment erblickte Smetannikow seine Frau. Auch Perepelkin sah sie. Und sie hatte sie beide erkannt, aber bedeutend eher, denn sie stand wie ein Feldherr da mit gespreizten Beinen, die schweren Fäuste in die Hüften gestemmt. Smetannikow hatte nur leise gepfiffen, sich von Perepelkin losgerissen und war blitzschnell in die entgegengesetzte Richtung verschwunden. Seine Frau war ebenfalls losgestürmt. Ein scharfer Wind hätte Witali fast zu Boden geworfen. Bedächtig, wie im Halbschlaf, gelangte er an die Ecke. Dahinter lagen das Feinkostgeschäft und die Schwellenholzstraße. Perepelkin biß die Zähne zusammen. Bis zur Abfahrt des Zuges verblieben noch zwanzig Minuten. Wie der Blitz eilten Smetannikow und seine Frau an ihm vorüber. Schon mit halbem Blick wurde klar, daß Smetannikow auch nicht eine Sekunde mehr bereit war, sich als Lotse zur Verfügung zu stellen. Perepelkin erspähte ein freies Taxi und trat auf die Fahrbahn. „Zum Bahnhof, ich komme zu spät!“ flehte er eindringlich. „Einsteigen.“ Der Taxifahrer öffnete den Wagenschlag. Der Wagen wendete hastig. Perepelkin war außer Atem und holte mehrmals tief Luft. Nun könnte ihn die Kreuzung bestimmt nicht mehr aufhalten. Ein Taxi war doch eine ganz andere Sache. Auf welche Weise ihm das Taxi helfen sollte, war ihm allerdings nicht klar, aber jedenfalls war er davon überzeugt, daß dieses Mal alles gut gehen würde. Der Fahrer bog nach rechts ab. Perepelkin kniff die Augen zusammen. Die Bremsklötze quietschten laut, der Fahrer fluchte. Witali öffnete voller Schrecken die Augen. Das Taxi stand am Feinkostgeschäft. „Es ist schiefgegangen“, murmelte Witali vor sich hin. „So ein Mist“, fluchte der Chauffeur. „Ich bin doch schließlich nüchtern!“ „Versuchen Sie es noch mal“, flehte Perepelkin. Das Taxi kehrte auf die Fahrbahn zurück und raste zur Kreuzung. Vor der Kurve senkte der Fahrer die Geschwindigkeit. Erneutes Quietschen der Bremsen. Der Wagen stand vor dem Feinkostgeschäft. „Können Sie das verstehen?“ fragte der Chauffeur erschrocken. „Ich verstehe es“, antwortete Perepelkin, „jetzt verstehe ich alles.“ Er bezahlte und stieg aus. Der Chauffeur saß mit bleichem Gesicht da und lehnte es gleich darauf ab, einen anderen Fahrgast zum Flughafen zu fahren. Perepelkin begriff alles. Die Stadt wollte ihn nicht freigeben. Aber warum wohl? Jahrelang hatte er versucht, die Stadt schöner zu machen, und nur Tadel und Rügen dafür einstecken müssen. Er ging jetzt wieder geradeaus. Wenn er sich beeilte, konnte er den Zug noch erreichen. Beim Laufen überlegte er, daß die Stadt vergeblich versuche, ihn zu halten. Er war müde, hatte alles gründlich satt, doch in Ust-Mansk würde er zumindest ein Quentchen seines Traumes von der Stadt in Weiß und Hellblau verwirklichen können. Gib mich frei! Sidorow und die gesamte Gruppe waren schließlich auch noch da. Sollten sie jetzt mal Klinken putzen und Beweise liefern. Gib mich frei! Zurückkehren konnte er ja sowieso nicht mehr, nachdem er sich in der Abteilung des Chef-Architekten einen donnernden Abgang verschafft hatte. Selbst wenn er bliebe, konnte er nichts mehr ausrichten. Als was sollte man ihn denn beschäftigen? Als Techniker? Als Ingenieur? Sogar als Bereichsleiter würde er nichts mehr schaffen können. Gib mich frei! Perepelkin hatte beinahe Tränen in den Augen, als er um die Ecke bog. Auf dem Bahnhofsvorplatz wimmelte es von Menschen. Auf dem Prospekt der Rationalisatoren klingelten Straßenbahnen, alte Frauen boten prächtige Blumensträuße an. Reisende wurden abgeholt oder zum Zug begleitet, Koffer transportiert, Körbe mit Gemüse und Früchten geschleppt; überall war Lärm und Tumult. Perepelkin hatte starkes Herzklopfen. Der Weg war frei. Er gab der Schaffnerin seine Fahrkarte, holte eine Zigarette aus der Tasche und brannte sie an. „Genosse, steigen Sie ein“, sagte die Schaffnerin. „Wir werden gleich abfahren.“ Er schüttelte den Kopf. „Gehen Sie hinein“, sagte er. „Höchstwahrscheinlich fahre ich nicht mit.“ „Das hätten Sie sich früher überlegen sollen“, entgegnete die Schaffnerin vorwurfsvoll. „Nehmen Sie nun die Fahrkarte – oder was?“ Aber er hatte bereits abgewinkt und ging zum Ausgang. Er beruhigte sich selbst damit, daß er am nächsten Tag fahren werde; schließlich müsse er zuvor noch Sidorow mitteilen, daß im „Ahornblatt“ unbedingt die „fliegenden“ Zwischenwände eingefügt werden sollten, weil sonst nicht das entstehen würde, was sie sich vorgestellt hatten… Ihm war bereits entfallen, daß er Sidorow davon schon unterrichtet hatte, und er überlegte nun, daß man die Kosten für das Gebäude wenigstens um ein halbes Prozent senken müsse. Das bedeutete abermals schlaflose Nächte und wochenlanges Kopfzerbrechen, bis die Idee schließlich mit klaren Linien auf das Reißbrett gebannt sein würde. Dann dachte er daran, daß er gezwungen sein werde, ins Ministerium zu fahren, auf Konferenzen zu beweisen, daß er im Recht war, Modelle zu bauen und Verweise für nicht planmäßig aufgewendete Arbeitszeit einzustecken. Man würde die Gruppe wieder zusammenschweißen müssen; denn die alte taugte nichts mehr. Lediglich Sidorow hielt sich tapfer. Außerdem mußte der Asphalt in der Stadt nicht grau, sondern braun sein in verschiedenen Schattierungen, die Häuser sollten im Grün versinken, in einem üppigen, saftigen Grün und nicht im sonst üblichen dürftigen, spärlichen. Für die lieben Kleinen mußte ein Taiga-Gelände gleich bei den Häusern angelegt werden, mit Windbruch, struppigen Sträuchern, Brennesseln, Beeren und Blumen, die man pflücken und der Mutter mit nach Hause nehmen durfte. Und für die Erwachsenen stille, gemütliche kleine Restaurants, wohin man sich des Abends zurückziehen und ein Gläschen trinken konnte, falls einem der Sinn danach stand. Rauchende Schornsteine würde es nicht geben, alles mußte so eingerichtet werden, daß man von jedem Fenster aus in ein endloses Meer von Grün blickte, daß die Stadt von Sonnenlicht überflutet wäre und absolut saubere Luft atmete; zu jeder beliebigen Stunde müßte man auf ruhigen, freundlichen Boulevards und Prospekten entlangschlendern können, ohne sich an den Kreuzungen nach allen Seiten umschauen zu müssen. Einen Prospekt des Lichtes sollte es geben, eine kleine Straße der Kamille und einen Boulevard der Rosen! Er war an seinem Haus angekommen. Es begann bereits dunkel zu werden. Mütter riefen die Kinder heim. Auf dem Tisch klapperten noch immer die Dominosteine, obwohl schon gar nichts mehr zu erkennen war. Die alten Frauen verabschiedeten sich voneinander und konnten sich doch nicht trennen. Der bekritzelte Hauseingang. Neunzig Stufen nach oben. Perepelkin schloß die Tür auf und trat über die Schwelle. Seine Frau kam in den Flur hinaus und sagte: „Ich habe Wurst für dich gebraten. Soll ich Gurken aufschneiden?“ Er konnte nichts antworten, weil sie ihre Arme um seinen Hals legte und kaum hörbar vor sich hin lachte. Sie hatte es doch gewußt, daß er Margrad nicht verlassen und in einen anderen Ort gehen würde! In den Häusern verlöschten die Lichter. Die Stadt legte sich schlafen, nur die funkelnden Linien der Straßenbeleuchtungen knüpften gleich einer endlosen Schnur die Stadt an vielen Stellen mit den festen Knotenpunkten der Kreuzungen. Die Stadt vergrub sich in die Nacht, zitterte ein wenig im Halbschlaf, holte tief Luft, flüsterte etwas vor sich hin, lächelte still und erwartete die Morgendämmerung. Gegen Morgen ging auf die Straßen von Margrad ein ruhiger, sanfter Regen nieder… Das Juwel „Jetzt darfst du die Augen öffnen“, sagte ER IHR leis ins Ohr. SIE hörte auf IHN, öffnete die ohnehin riesengroßen schwarzen Augen und geriet schier außer sich vor freudigem Staunen, das völlig von IHR Besitz ergriff. Unmittelbar über IHREM Kopf funkelte eine spiralförmige Galaxis mit zahlreichen elegant geschwungenen Seitenarmen. SIE drehte sich um hundertachtzig Grad, und die Spirale befand sich nun zu IHREN Füßen. Dafür hatte SIE jetzt zwei kugelförmige Gebilde vor sich, in denen Myriaden von Sternen funkelten und glitzerten. SIE drehte sich noch ein wenig weiter, und vor IHR tauchte die flache Scheibe der vierten Galaxis auf. Noch ein bißchen weiter nach rechts. So war es also! Sie befanden sich am Rande der fünften Galaxis. Die riesenhafte, den halben Himmel einnehmende Milchstraße! SIE hielt den Atem an und blickte verzaubert in diese glitzernde, funkelnde Welt, die ihre eigenen, seltsamen Lebensgesetze besitzt. Hin und wieder war auch ER einen neugierigen Blick nach der Seite, doch all SEINE Aufmerksamkeit wurde völlig von IHREM Gesicht mit der schwarzen Haarwolke in Anspruch genommen, in dem offen das Empfinden all der Pracht und Schönheit geschrieben stand, auch der traurige Gedanke daran, daß alles bald zu Ende sein würde. Aus dem Dickicht der Wimpern heraus versuchten IHRE Augen, alles mit einem Male zu erfassen und sich für ewig einzuprägen. Was dann kam, war wie ein leichter Rausch. SIE erhöben die Arme, und die Welt gehorchte IHREM Willen. SIE spielten mit den Galaxen, woben im Raum verschlungene Kurven. SIE konnten deren Plätze vertauschen, so daß sie sich zu einem anmutigen Reigen zusammenfügten. SIE entfachten Supernovae, ließen Welten aufeinanderprallen, riefen unversiegbare Funkenregen darin hervor, löschten dann das Bild dieser Weltschöpfung mit einem Schlag, indem SIE für eine Sekunde die Augen schlossen. So verging eine Stunde. Behutsam berührte ER IHRE Schulter und sagte: „Wir haben unsere Wahl noch nicht getroffen. Wollen wir losfliegen?“ „Gut, fliegen wir!“ erwiderte SIE, und SIE machten sich auf in das Meer der Sterne, die bei IHRER Annäherung vorsichtig zur Seite wichen. SIE war schwächer als Er und blieb zurück. ER bemerkte es sofort, hielt an und rief nach IHR, doch ER erhielt keine Antwort. Aber SIE hatte IHN gehört. Es war IHR nur so in den Kopf gekommen, sich vorzustellen, SIE befände sich allein im Kosmos und kenne den Weg nicht zur Sonne und zur Erde (so war es in der Tat). Der süße Schreck eines Abenteuers ließ IHR Herz rascher schlagen. SEINE Stimme klang jedoch inzwischen so beunruhigt, daß SIE das Spiel nicht länger fortsetzen konnte. SIE kam geschwind aus der schwarzen Leere heraus und schlang IHRE kleinen, kräftigen Arme um IHN. ER zog die Augenbrauen zusammen und sagte etwas Ernsthaftes, was nach Moralpredigt klang. SIE quittierte mit einem Lachen. Daraufhin faßte ER SIE bei der Hand und ließ SIE nicht wieder los. „Aber wie werden wir ihn mitnehmen?“ fragte SIE. „Oh!“ entgegnete ER unklar und rätselhaft. „Wie gefällt dir denn dieser hier?“ SIE flogen an dem Stern Beteigeuze vorbei und verweilten dort ein wenig. „Nein“, meinte SIE. „Von weitem sieht er gut aus, aber aus der Nähe gesehen, wirkt er doch schon recht morsch. Außerdem ist er viel zu groß. So etwas können wir in unserem Zimmer gar nicht unterbringen.“ „Also gut“, stimmte ER zu, und SIE suchten weiter. Algol schreckte SIE ab durch sein rötliches Licht. Mit Deneb hatte SIE förmlich Mitleid. Es wäre ja zu schade gewesen um das Auge des schönen Vogels! Mizar hätte man zusammen mit Alkor nehmen müssen, aber was sollten SIE gleich mit zwei Sternen? SIE konnten nur einen einzigen gebrauchen. Sirius mußte auf seinem Platz bleiben, weil in den südlichen Breiten wundervolles Wetter herrschte, und das Fehlen des hellsten Sterns am irdischen Himmel wäre sofort entdeckt worden. Warum sollte man die Menschen unnütz aufregen? Die Schönheit der Wega hatte SIE derart beeindruckt, daß SIE schon sagen wollte: Den nehmen wir! doch ER zog SIE am Arm und sprach: „Ich weiß, was du brauchst! Laß uns hinfliegen!“ Abermals entfernten sie sich von der Sonne. Ihre elastischen Körper durchschnitten die Kälte des Nichts, in dem es Myriaden glitzernder kleiner Strahlen gab. „Möchtest du das Juwel aus der Krone?“ fragte ER. „Meinst du?“ SIE freute sich. „Natürlich möchte ich!“ Ein Parsek von dem Stern entfernt hielten sie an. Der Stern strahlte angenehme Wärme aus, und ER bemerkte auf dem Gesicht der Freundin ein Aufglänzen von Begeisterung und höchster Verwunderung. Es war dies der Widerschein des Sternes, dem sie entgegensteuerten. „Das ist wirklich das Juwel“, sagte SIE leise. „Ich sehe, es ist Gemma!“ „Ja, die Gemma“, entgegnete ER schlicht. „Die werden wir mit zu uns nehmen!“ Inzwischen waren SIE dicht an das Juwel der Nördlichen Krone herangekommen. IHRE Augen wurden groß und weiteten sich vor Schreck beim Anblick dieser glühenden Masse von Materie. ER flog noch näher an den Stern heran, und bald darauf hielt ER ihn auf SEINEN emporgestreckten Händen. „Du verbrennst dich ja!“ rief SIE. „Wir hätten wenigstens Handschuhe einstecken können!“ „Was für ein Unsinn“, meinte ER lachend und stieß die Gemma aus ihrer seit ewigen Zeiten bestehenden Umlaufbahn heraus. „Sie ist aber für unser Zimmer wohl doch etwas zu groß!“ „In unserem Zimmer läßt sich eine ganze Galaxis unterbringen“, sagte ER lachend und drückte dabei den Stern zu einer kleinen Kugel zusammen. „Ohne ihn ist es hier gar nicht schön“, sagte SIE traurig. „Wir bringen ihn morgen früh zurück. Es ist ja nur für eine einzige Nacht.“ „Ja, nur für eine Nacht“, stimmte SIE betrübt zu. Auf der ausgestreckten linken Hand hielt ER das glühende Juwel, die Rechte umschloß fest IHRE Hand. Den Rückweg zur Erde legten SIE in fünfzehn Minuten zurück. Über Sibirien lag eine klirrende Kälte von vierzig Grad, Nebel hatte das Gebiet auf Tausende von Kilometern eingehüllt. Unmittelbar aus dem Nebel waren sie von oben direkt vor ihrem Hauseingang aufgetaucht. Sie konnten nicht bremsen und kamen einem Mann in die Quere, der in Pelzstiefel, Pelzpaletot und Fellmütze eingemummt war. Der Mann fiel hin; eine Wodkaflasche, Marke „Stolitschnaja“, und eine Flasche Sekt rollten mit verräterischem Klirren auf dem festgetretenen Schnee. „Das neue Jahr hat noch gar nicht angefangen, und die laufen schon betrunken umher“, brummte der Mann im Halbpelz und sammelte seine Flaschen wieder ein. Zum Glück waren sie unbeschädigt. Das flammende und glühende Juwel hatte er keines Blickes gewürdigt, obwohl sein Hirn rein mechanisch registrierte, daß es vor dem Hauseingang ungewöhnlich hell war. SIE eilten in IHR Stockwerk hinauf — der Fahrstuhl war wegen des Feiertages außer Betrieb — und schlossen die Wohnungstür auf. ER legte den Stern vorsichtig auf die Waschmaschine, die im Korridor stand, und fing an, die vom Frost bleichen Wangen SEINER Frau zu reiben. SIE schüttelte bis zur Erschöpfung den Kopf, lachte und rannte ins Badezimmer, um dort heiß zu duschen, bevor die Gäste kamen. Dann berieten SIE lange darüber, auf welchem Zweig das Juwel placiert werden sollte. SIE entschlossen sich, ihm unmittelbar an der Baumspitze einen Platz zu geben, und zwar so, daß man es noch mit der Hand berühren konnte. In ihrer winzigen, wenig geräumigen Wohnung konnte man mit der Hand bis zur Decke reichen; jedenfalls ER vermochte dies. Rasch deckte SIE den Tisch; eine Viertelstunde vor zwölf kamen die Gäste: ein junger, talentierter Astronom mit seiner rundlichen, schmiegsamen Frau; der Nachbar, ein pensionierter Feuerwehrmann; ein Physik-Theoretiker mit seiner Frau, die gleichfalls Physik-Theoretiker war. An die zehn Minuten standen sie alle in dem kleinen Flur herum, halfen sich gegenseitig aus den Mänteln, überreichten ihre Geschenke und Glückwunschkarten, umarmten sich und tauschten Küsse. Dann ließ sich der Feuerwehrmann vernehmen: „Es sind nur noch fünf Minuten Zeit…“ Er ächzte. Alle wurden von Aufregung erfaßt, die Frauen waren besorgt um ihre noch nicht in Ordnung gebrachten Frisuren, doch die Zeit drängte, und sie beeilten sich, ihre Plätze am Tisch einzunehmen. ER holte ein paar mit Rauhreif beschlagene Sektflaschen aus dem Kühlschrank. Der junge Astronom führte an ihnen so geschickt alle notwendigen Handgriffe aus, daß alle bereits ihr gefülltes Glas in der Hand hielten, als die Stimme des Ansagers im Radio den Beginn des neuen Jahres verkündete und die Glocken zu läuten begannen. Die Gläser begegneten sich in hohem Bogen in der Mitte des Tisches, mit einem langgezogenen, singenden Klang. Nachdem sie auf das alte und das neue Jahr angestoßen, auf ihre Erfolge, auf den Gastgeber und seine Frau getrunken hatten, war eine Stunde vergangen, und sie wollten tanzen. SIE trank wenig und betrachtete immerzu das sich langsam drehende, leuchtende Juwel, und ER lächelte still, wenn ER es sah. „Ich wünsche mir den Walzer ›Verlöschende Lichter‹“, sagte die Frau des Astronomen mit tiefer Stimme. „Ich tanze gern im Finstern.“ Es stimmte jedoch nicht, daß sie gern im Finstern tanzte, sie mochte die Dunkelheit grundsätzlich nicht, weil sie glaubte, im Finstern müßte es unbedingt Ratten geben. „Einen Walzer im Dunkeln!“ riefen die anderen. Der alte Nachbar, der zu wissen schien, daß man von ihm keine Beteiligung am Tanz erwartete, noch dazu an einem Walzer und überdies im Dunkeln, schenkte sich ein halbes Gläschen Wodka ein, trank es und langte nach einem Stück farcierter Artischocke, wobei er sich den Lärm zunutze machte. Alle loben diese Artischocken so, alle essen sie. Also muß man es auch mal probieren. Er kostete und schüttelte den Kopf, als wollte er ausdrücken: „Ach, diese Jugend…“, dann biß er geräuschvoll in eine kleine Salzgurke. Der Walzer „Verlöschende Lichter“ befand sich nicht in der Phonothek des Physik-Theoretikers, der das Tonbandgerät mitgebracht hatte. Walzer hatte er überhaupt nicht dabei. Der Feuerwehrmann a. D. ächzte ein wenig, ging in seine Wohnung und brachte eine uralte Schallplatte mit dem Titel „Amurwellen“. Die Musiktruhe wurde eingeschaltet und das Licht gelöscht. „Ich tanze schrecklich gern im Dunkeln“, wiederholte die Frau des Astronomen, ohne im mindesten Anstalten zu machen, sich vom Stuhl zu erheben. Mein Gott, dachte der ehemalige Feuerwehrmann erschrocken. Ins Hippodrom gehört die. Hier werden sie im Suff alles kurz und klein schlagen. Im Zimmer war es immer noch so hell wie zuvor. „Macht doch die Baumbeleuchtung aus“, schlug jemand vor. Die Baumkerzen wurden ausgeschaltet. In der Wohnung blieb es hell. „Es ist der lumineszierende Baumbehang“, konstatierte der Physik-Theoretiker den Tatbestand der Helligkeit. „Seine Intensität ist geradezu erstaunlich. Wo habt ihr das gekauft?“ „Es ist das Juwel aus der Nördlichen Krone“, sagte SIE. „Ja“, bestätigte ER. „Es ist die Gemma.“ „Die anderen bekommen immer alles“, sagte die Physikerin unzufrieden zu ihrem Ehemann. „Und du hast keinen passenden Baumschmuck auftreiben können. Wann habt ihr das gekauft?“ Das war an die beiden gerichtet. „Wir haben es uns für diese eine Nacht geholt“, entgegnete SIE. „So etwas Wundervolles kann man doch nicht kaufen…“ „Ja“, stimmte der Physiker zu. „Als ob man jetzt noch etwas Passendes bekommen könnte…“ „Aber nicht doch“, widersprach ER betrübt und entsetzt. „Das ist doch nicht irgendein Gegenstand oder Artikel, es ist ein Stern! Ein Stern mit dem Namen Gemma aus der Nördlichen Krone. Dieses Sternbild wird manchmal auch als Nördlicher Kranz bezeichnet.“ „Was die Parameter der Gemma angeht…“, wollte der junge Astronom erläutern, doch man ließ ihn gar nicht zu Wort kommen. „Das ist ja eine völlig unmögliche Sache.“ Damit hatte ihm der Physik-Theoretiker das Wort entzogen. „Sterne kann es auf der Erde überhaupt nicht geben!“ „Oho! Dieses Ding ist auch noch glühendheiß!“ rief der Astronom, der den Stern berührt und sich die Finger dabei verbrannt hatte. „Elftausend Grad an der Oberfläche“, sagte ER. Und wo haben wir hier eine Kiste mit Sand? dachte der Feuerwehrmann a. D. fieberhaft, goß sich ein weiteres halbes Gläschen ein, aber trank es nicht aus. „Das sind nicht elf Grad, sondern es werden immerhin fünfzig Grad sein.“ „Elftausend Grad und nicht elf“, korrigierte ER. „Jetzt übertreibst du aber sehr“, ließ sich der Astronom beleidigt vernehmen. „Ihr wollt mir nicht glauben?“ fragte ER und griff nach einer Gabel. „Schaut mal her!“ ER berührte die glitzernde Kugel mit der Gabel, und diese verschwand. „So ist das! Bei dieser Temperatur muß sie sich in Nichts auflösen!“ Der Physik-Theoretiker ging weg vom Tannenbaum, nahm eine Serviette vom Tisch und fing stirnrunzelnd an zu schreiben. Der Nachbar, ehemaliger Feuerwehrmann, erhob sich von seinem Platz, stützte die Hände auf dem Tisch auf und brachte warnend und besorgt hervor: „Das kann sich entzünden, in Brand geraten!“ „Aber nicht doch, was reden Sie denn da!“ widersprach SIE. Der Nachbar ächzte, trank sein halbes Gläschen aus, schüttelte unzufrieden den Kopf und ging auf den Korridor hinaus. „Hier habt ihr alles!“ ließ sich der Physik-Theoretiker vernehmen und kam hinter dem Tisch hervor. „Das ist die Formel, das ist das Ergebnis. Bei dem Verschwinden der Gabel, bei ihrem praktisch blitzschnellen Verdampfen und Auflösen, hätte es eine Explosion geben müssen. Wo war sie? Ich möchte gern von euch hören, wo war die Explosion?“ „Aber was das Verhältnis von Gabel und Stern betrifft“, sagte ER, „so hast du dich bei der Masse des Sterns um einundzwanzig Stellen versehen. Rechne mal nach!“ „Ich habe die Masse dieser Kugel hier genommen“, verteidigte sich der Physik-Theoretiker. „Wieviel wird sie wohl wiegen? Ein Kilo vielleicht.“ „Wieso ein Kilo? Es handelt sich schließlich um die Masse eines Sternes!“ „Laß doch mal diese Scherze“, meinte der Physiker ungläubig und wollte die Gemma hochheben. Das gelang ihm nicht. Der Astronom kam ihm zu Hilfe, aber beide zusammen konnten ebenfalls nichts ausrichten. „Ist ja wirklich ein außerordentlich schweres Stück. Seine hundertfünfzig Kilo wird es haben!“ „Warum kann aber dann der Baum diese Last aushalten?“ fragte unvermutet die Physikerin. „Ja, in der Tat, wieso eigentlich?“ Der Physiker und der Astronom schauten einander erstaunt an. „Haben wir nun den Stern deshalb hier in unser Zimmer gebracht?“ fragte SIE IHN. „Wir wollten doch nur, daß es bei uns herrlich, wunderschön, ungewöhnlich und seltsam ist! Und nun diese Gespräche… Sie werden noch versuchen, ihn zu öffnen!“ „Irgend so ein Scherzartikel, das ist alles“, meinte der Astronom. „Und ich habe gedacht, ihr habt das gekauft“, atmete die Physikerin erleichtert auf und lächelte. „Tanzen wir lieber!“ schlug ER vor. „Noch nie hat jemand auf der Erde in einem Zimmer getanzt, das von einem Stern erleuchtet wird.“ „Ich möchte aber lieber im Finstern sein“, sagte die Frau des Astronomen beharrlich und trotzig. In diesem Augenblick kam der Nachbar mit einem Eimer Wasser ins Zimmer, machte zu allen eine beruhigende Handbewegung, stellte den Eimer neben dem Baum ab und sagte dann belehrend: „Feuer verhüten ist stets leichter als es löschen. Ich bitte das zu berücksichtigen.“ Alle begaben sich wieder an den Tisch zurück. Die Frau des Physikers deshalb, weil es kein Gegenstand, kein Artikel, sondern irgend so ein Stern war; der Astronom, weil er nicht an Wunder glaubte; der Physiker, weil er sich betrunken wähnte, und wenn dem nun einmal schon so war, weshalb sollte er dann nicht gleich weitertrinken; der ehemalige Feuerwehrmann deshalb, weil er nun alles getan hatte, was in seinen Kräften stand, um eine Feuersbrunst zu verhüten. Die Frau des Astronomen war überhaupt nicht erst vom Tisch aufgestanden. Fünf Minuten später hatte man die Gemma völlig vergessen. Alle hatten sie vergessen, außer IHM und IHR. SIE drehte sich heimlich um, damit SIE den Stern aus den Augenwinkeln betrachten konnte. Der ehemalige Feuerwehrmann goß ein halbes Gläschen ein und stellte es vor SIE hin. „Wieso? Das trinke ich nicht“, sagte SIE. „Sollst du auch nicht“, entgegnete der Nachbar in schulmeisterlichem Ton. „Du brauchst es gar nicht zu trinken. Setz dich auf meinen Platz, und ich setz’ mich auf deinen. Ich habe es ja auch nur für mich eingeschenkt. Dir kommt es bloß in die falsche Kehle. Der gute Tropfen! Er geht einem durch und durch!“ Sie tranken auf das Glück, auf die Erfüllung von Wünschen, sie tanzten. Auch die Frau des Astronomen tanzte. Sie tanzte sehr gut. Sogar der ehemalige Feuerwehrmann stellte zu seiner eigenen Verwunderung fest, daß er einen Twist nicht schlechter hinlegte als die Jugend. Auch der Walzer „Amurwellen“ wurde aufgelegt. Abwechselnd wurde, von den Gästen immer jemand wieder nüchtern oder betrunken, so daß die lärmende Gesellschaft beständig komplett war. Es ging lustig und beschwingt zu. Kein Mensch dachte mehr an die unglückselige Gemma, die beinahe den ganzen festlichen Abend verdorben hätte. Gegen sechs Uhr morgens ging man auseinander. ER begleitete die Gäste, und SIE machte es sich in einem Sessel bequem, zog die Beine an und betrachtete die sich langsam drehende Kugel. Über IHR Gesicht huschten die Schatten ungewöhnlicher Gedanken, ein Lächeln glitt darüber hin und verlieh ihm den rätselhaften Ausdruck von Traum und Glück. SIE erhob sich, nahm die Gemma ohne besondere Anstrengung auf den Handteller, ohne sich dabei zu verbrennen. Zuweilen lösten sich von der Oberfläche des Sterns gigantische Protuberanzen, berührten sacht IHR Gesicht und spiegelten sich als helle Blitze in den Pupillen wider. Der Strom der alles durchdringenden Neutrinos kam aus dem Inneren des Sterns; er verlöschte gehorsam, sobald er IHR trauriges und gleichzeitig frohes Lächeln gestreift hatte. Als ER zurückkam, hatte SIE das Juwel gegen die Brust gedrückt und fragte: „Ist schon alles zu Ende?“ „Ja“, entgegnete ER. „Es ist Zeit. Hat er dir gefallen?“ „Hat mir sehr gefallen. Ich möchte noch mal mitkommen.“ „Komm, wir fliegen los!“ „Ich werde ihn selbst tragen.“ Sie traten auf die Straße und gerieten in einen sich rasch auflösenden Nebel hinein. Der Physik-Theoretiker fiel sofort in tiefen Schlaf, als er daheim angekommen war. Als er aufwachte, dachte er: „Was man doch nicht alles zu sehen glaubt, wenn man einen über den Durst getrunken hat!“ Der Astronom kontrollierte am nächsten Tag die Aufnahmen des Sternenhimmels, die von einem künstlichen Satelliten der Erde vorgenommen worden waren. Die Gemma war im Sternbild der Nördlichen Krone in dieser Nacht nicht auffindbar. Der Astronom kicherte freudig in sich hinein und beschloß, eine Dissertation über einmalige Veränderungen in der Leuchtkraft einiger Sterne zu schreiben. Das Material dafür hatte er bereits. Seine Frau meinte, das Essen bei diesen wunderlichen Käuzen sei nicht genügend sättigend gewesen. SIE schwebten zwischen den Sternen umher, bis SIE schließlich den Platz gefunden hatten, von dem SIE die Gemma weggenommen hatten. SIE gab den Stern aus IHREN Händen frei. Er wurde unablässig größer und erlangte wieder sein ursprüngliches Aussehen. ER rechnete sich im Kopf die Geschwindigkeit der Gemma aus, hob sie in die Höhe und stellte sie auf sechs Millionen Kilometer ein. Jetzt war alles wieder in Ordnung. SIE hatten sich noch nicht schlafen gelegt, als der ehemalige Feuerwehrmann noch einmal an IHRE Wohnungstür klopfte. „Habt ihr das seltsame Ding schon wieder auf seinen Platz zurückgebracht?“ fragte er. „Ich wollte es nur mal meinem Enkelkind zeigen. Eine spaßige Sache ist das, so ein Stern! Das ist nicht jedem beschieden, einen davon so ganz aus der Nähe, wie in der offenen Hand, zu sehen.“ Und dabei spreizte er seine verknöcherten fünf Finger. „Ja, wir haben ihn schon zurückgebracht, Großväterchen“, sagte ER. „Alle sollen die Sterne sehen.“ „Na, dann ist ja nichts mehr zu machen, auch gut. Nur, wenn ihr noch nicht… aber ihr habt bereits… wollt’s nur dem Enkelkind zeigen…“ „Wir werden es ihm bestimmt mal zeigen“, versprach ER, und der Nachbar glaubte es IHM. Ein Spätwintertag begann. „Schade“, meinte SIE. „Was denn?“ fragte ER. „Es ist wundervoll gewesen. Am liebsten möchte ich jetzt weinen, warum nur?“ „Dann wein, ich stell dir meine Schulter dafür zur Verfügung.“ Doch SIE weinte nicht. „Morgen werden wir uns etwas anderes ausdenken“, versprach ER. „Aber das ist erst morgen!“ sprach SIE traurig. „Morgen hat doch schon angefangen!“ rief ER aus, und beide freuten sich darüber. Von Beruf war ER ein schlichter Physik-Theoretiker, nicht einmal Doktor der Naturwissenschaften. SIE unterrichtete in der Schule Geschichte der Alten Welt. SIE waren beide Sonderlinge und vermochten es, Wunder zu vollbringen. Nur schenkte man IHNEN wenig Glauben. SIE aber machten das nur einfach so aus Freude — und nicht, damit man IHNEN glauben sollte… Das allergrößte Haus Das kleine Mädchen war aufgewacht, aber es rührte sich nicht, nur die Ärmchen ließ es baumeln. Die Stille hatte es aufgeweckt, eine Stille, die es allein im Traum gab. Nun öffnete das Mädchen vorsichtig die Augen und sah das Gesicht der Mutter über sich. Es war noch nicht Morgen, im Osten war es kaum hell. Ein „Was ist mit dir, Töchterchen?“ Das Mädchen streckte seine Ärmchen der Mutter entgegen und umarmte sie. „Schön zu Hause…“ „Ja, schön. Schlaf weiter. Es ist noch früh.“ „Ich will nicht schlafen. Da ist es so still, dann wird alles leer, und ich wache auf.“ „Möchtest du, daß ich bei dir sitzen bleibe?“ „Ja, setz dich her und sing mir ein Lied vor. Weißt du, was du mir vorgesungen hast, als Papa die Scheinwerfer repariert hat und ihm ein Rohr kaputtgegangen ist, so daß er nicht zu uns zurückkommen konnte? Sing vom allergrößten Haus!“ „Ich werde etwas anderes singen, vom Wald und von der Sonne!“ „Das andere kannst du wohl nicht mehr?“ Die Mutter schüttelte kaum merklich den Kopf und strich dem Mädchen übers schwarze Haar, das sich über das Kopfkissen schlängelte. Sie hatte das Lied nicht vergessen. Sie hatte es nie kennengelernt. Überhaupt wußte sie so gut wie gar nichts von den Dingen, die ihre Tochter betrafen. Gab es eigentlich jemanden, der sich da auskannte? Die Mutter empfand ein Schuldgefühl gegenüber ihrer kleinen Tochter. „Mach die Augen wieder zu, mein Liebling. Ich werde sehr, sehr leise singen. Denk an gar nichts. Hör nur zu!“ Die Mutter sang. Sie hatte eine tiefe, gefühlvolle Stimme. Wahrscheinlich liebte sie dieses Lied ganz besonders. Das kleine Mädchen legte die Arme unter den Kopf und blickte der Mutter unverwandt in die Augen. Sie senkten ihre Blicke ineinander. Eine von ihnen sang, und die andere lauschte und schwieg. Mit einem Male wurde der Mutter klar, daß das kleine Mädchen nicht sie ansah, sondern durch sie hindurchblickte, daß es mit seinen Gedanken gar nicht auf dieser blumenumrankten Veranda war, sondern irgendwo weit weg… Ein kaum hörbares, gewohntes Ticken. Man ist so sehr daran gewöhnt, daß es furchtbar wäre, wenn es aufhörte. Ohne dieses Ticken herrschte absolute Stille. Das freundliche Ticken stammt vom Indikator, der das normale Funktionieren aller lebenswichtigen Systeme im Raumschiff anzeigt. Das kleine Mädchen sitzt in einem tiefen Sessel neben dem des Vaters und spielt mit einer selbstgebastelten Puppe. Die Mutter hat dem Mädchen die Puppe aus Stoffresten ihrer alten Kleider genäht, die für die Kleidung der Kleinen nicht getaugt hatten. Der Vater wirft unzufriedene Blicke auf die Indikatoren der Apparaturen, gibt immer wieder neue Zahlenkolonnen in den Computer ein, verändert das Programm, und wenn er die Antwort erhalten hat, stellte er ein neues zusammen. Der Rundsichtschirm ist nur etwa ein Drittel geöffnet, die trüben Pünktchen der Sterne sind darauf zu sehen. Dorthin, zu einem dieser Pünktchen, ist das Raumschiff unterwegs. „Dort ist unser Haus“, sagt plötzlich das kleine Mädchen. „Ja, meine Kleine. Dort ist unser Haus.“ Das Mädchen zeigt aus Gewohnheit in die Mitte des Bildschirms. Das haben ihm die Eltern beigebracht. Doch das war früher. Im Moment weist der kleine Finger auf irgendeinen Stern, der sich gerade dort befindet. Der Vater hatte dem Mädchen nicht gesagt, daß das Raumschiff seine Richtung verloren hatte. Das brauchte es nicht zu wissen. Es würde ohnehin nichts begreifen. „Elfa, ist das nicht langweilig für dich, hier zu sitzen?“ „Nein, Pa. Ich lerne, wie man Kapitän eines riesengroßen Raumschiffes wird.“ Nein, mein Töchterchen, ich gebe mir alle Mühe, damit du niemals von der Erde wegfliegst, denkt der Vater. Die Mutter schläft. Sie hat vier Stunden Schlaf. Dann sind sie alle vier Stunden lang beisammen. Danach schläft der Vater vier Stunden; Elfa gleichfalls. Während dieser Zeit wird die Mutter sich den Kopf darüber zerbrechen, wie man das Raumschiff zur Erde zurückbringen kann. Die Tür ist geöffnet, auf der Schwelle steht die Mutter. Oh, wie wunderschön ist sie gekleidet! Nie trägt sie das gleiche zweimal, immer wieder läßt sie sich etwas Neues einfallen. Das Haar der Mutter fällt über die Schultern, ein schmaler goldener Reif erglänzt auf ihrer Stirn. Jetzt gleicht sie vollkommen der guten Fee aus dem Märchen. Das Mädchen spricht dies auch aus: „Bist du jetzt die Fee?“ „Sie ist unsere Fee“, bestätigt der Vater erfreut. „Stimmt’s?“ „Ja, stimmt!“ „Wenn es stimmt“, sagt die Mutter, „dann schließt mal eure Augen.“ Der Kapitän und seine kleine Tochter schließen die Augen, und plötzlich hat sich in ihren Händen ein Apfel eingefunden. Elfa jauchzt entzückt auf. Aber der Vater flüstert unverständlich vor sich hin. Er scheint sogar etwas böse zu sein. „Hast du wieder nicht geschlafen?“ „Doch, ich habe geschlafen. Später war ich mal in der Orangerie.“ Sie blickt ihn bittend an. „Ist etwas?“ „Nein.“ Die Mutter scheint gern zu singen. Es ist schon fast vollkommen hell geworden, aber sie streicht mit ihren langen, zarten Fingern immer noch über das Haar des Mädchens und singt. Sie singt von lustigen kleinen Tieren und von Bächlein, himmelblau und silberklar. Das kleine Mädchen richtet sich mit einem Male halb auf. „Mama, du hast gesagt, unser Haus wird eine himmelblaue Decke haben — und eine schwarze.“ Fast hätte die Mutter zurückgefragt: Das hab’ ich wirklich gesagt? doch sie beherrscht sich noch rechtzeitig. „Richtig, wir werden eine himmelblaue Decke haben. Und nachts, wenn es dunkel ist, wird sie schwarz sein.“ „Mit kleinen Lichtern?“ „Mit Lichtern? Aber natürlich, mit kleinen Lichtern.“ „Und an der himmelblauen Decke werden weiße Locken ziehen?“ „Ja“, stimmte die Mutter zu und überlegte, daß sich das wohl machen ließe. „Und manchmal wird die Decke mittendurch zerreißen?“ „Alles wird so sein, wie du es haben willst.“ „Nicht wahr, wir haben das allergrößte Haus?“ „Nicht ganz. Es gibt noch größere. Möchtest du gern im allergrößten Haus wohnen?“ „Du hast gesagt, ich werde im allergrößten Haus wohnen.“ „Für die Menschen ist es besser, in kleinen Häusern zu wohnen. In solchen wie unser Haus. Dann gibt es ringsum Wald, Gras, einen kleinen Fluß und eine Böschung. Und im Wald…“ „Ja, so ist es am besten. Aber du hast gesagt…“ „Schlaf jetzt. Du kannst noch ein bißchen schlafen. Es wird gerade erst hell, und es ist noch sehr früh. Ich gehe später mit dir zur Farm. Du hast doch schon gesehen, wie Kühe gemolken werden?“ „Ja, ich werde gehen.“ Das Mädchen hatte sich in seinem Bett aufgerichtet. Das Nachthemd hing von der Schulter herab. „Ich werde gehen. Ich will gehen. Läßt du mich fort, Mama?“ „Ich lasse dich gehen, aber erst trinken wir zusammen noch Milch… Es hat dir also bei mir nicht gefallen?“ „Es hat mir sehr bei dir gefallen. Aber ich will fort. Ich will mir andere Häuser ansehen. Du bist doch nicht beleidigt, Mama?“ „Nein, gar nicht. Aber ich lasse dich nicht gern weg.“ Das Mädchen zog sich an. Sie tranken gemeinsam Milch, und Elfa lief bis zum Gartentor, wobei sie behutsam auf dem taunassen Sand auftrat. Sie winkte der Mutter zu: „Ich gehe!“ Das kleine Mädchen war fort, und die Frau drehte an ihrem Armband eine kleine Scheibe. Die Scheibe blinkte und leuchtete schwach auf. „Den Chef-Erzieher!“ sagte die Frau. Auf dem Bildschirm erschien sofort das Gesicht eines Mannes. „Ist etwas passiert?“ fragte er. „Sie… sie ist fort“, erklärte die Frau. Das kleine Mädchen lief einen Feldweg entlang, hob manchmal den Kopf und blickte hinauf zu den Sternen, die im Sommermorgen verblaßten. …In der letzten Zeit war der Kapitän selten im Cockpit erschienen. Elfa hatte ihn kaum zu Gesicht bekommen. Wenn er aber einmal erschien, über und über mit Metallstaub bedeckt, setzte sie sich sofort auf seine Knie und ließ ihm nicht einmal Zeit, sich zu waschen. Er spielte mit ihr, nahm sie dann vorsichtig von seinen Knien herunter, wusch sich rasch die Hände und verschwand wieder. Jetzt verbrachte Elfa fast die gesamte Zeit mit der Mutter. Dann hatten seltsame Ereignisse begonnen. Zuerst hatte der Vater ihren Diwan in die kleine Bibliothek hinausgetragen, und die Mutter hatte ihr gesagt, daß sie hier schlafen werde. Elfa hatte sich nur einen Augenblick lang vorgestellt, wie stockdunkel es um sie herum sein würde, und war sofort in Tränen ausgebrochen. Zum ersten Male hatte sie der Vater streng angeblickt, sie hatte sich darüber auf Kinderart gewundert und sich beruhigt. Sie glaubte, in der ersten Nacht habe sie überhaupt nicht geschlafen. Doch die Apparaturen, die der Vater vorher in der Couch angebracht hatte, zeigten an, daß sie nur eine Viertelstunde lang geweint hatte und dann eingeschlafen war. Eines Tages wurde die Kleine von Vater und Mutter in einen Sessel an einem kleinen runden Tisch im Ruheraum gesetzt, und sie sagten zu ihr, sie sei nun fast erwachsen. (Sie war auch wirklich schon sechs Jahre alt.) Um zu prüfen, wie erwachsen sie war, hatten sie beschlossen, sie eine Woche lang in der Bibliothek einzuschließen. Eine Woche sollte sie beide nicht sehen. Die Mutter hatte versucht, etwas von drei oder vier Tagen zu sagen, aber Vater war hart geblieben: eine volle Woche. „Muß das wirklich sein?“ fragte Elfa. „Unbedingt“, sagte der Vater. „Ich möchte, daß du unser Haus siehst“, fügte die Mutter hinzu. „Die Puppen nehmt ihr mir nicht weg?“ „Nein“, sagte der Vater. „Du kannst alles bei dir behalten, was du möchtest. Wir wollen bloß deine Tapferkeit prüfen.“ Am nächsten Tag wurde sie in der Bibliothek eingeschlossen. Zunächst war es für sie überhaupt nicht schrecklich. Es war sogar interessant. Dann wurde es aber allmählich langweilig. Gegen Abend begann sie zu weinen, aber kein Mensch kam zu ihr. Vater hatte gerade in der kleinen Werkstatt, die sich unten im Raumschiff befand, etwas zu bohren. Und die Mutter saß an der Rechenmaschine. Neben dem Pult war ein Fernseher angebracht, auf dessen Bildschirm das kleine Mädchen weinte. Je stärker es weinte, um so tiefere Falten bildeten sich auf dem Gesicht der Mutter, doch sie setzte ihre Rechenoperationen fort. Zuweilen wurde sie vom Kapitän per Telefon gefragt: „Was macht ihr dort? Haltet ihr durch?“ „Wir halten durch“, erwiderte sie. Nach einer Woche durfte Elfa aus der Bibliothek heraus. Der Vater trug sie auf dem Arm, und die Mutter sagte immerzu: „Jetzt wird alles gut. Bestimmt wird alles gut.“ Nach der einwöchigen Abgeschiedenheit war Elfa in der Tat reifer und erwachsener geworden. Mutter lehrte sie, wie man Geschirr wäscht, einfache Gerichte zubereitet, unter der Wasserleitung die Kleidchen auswäscht. Sie unterrichtete sie auch im Lesen und Schreiben. Einmal durfte Elfa mit dem Vater das Raumschiff verlassen, selbstverständlich im Raumanzug. Sie hielten sich lange in der Leere auf, entfernten sich weit vom Raumschiff oder kamen wieder näher heran. „Hast du keine Angst, hier allein zu bleiben?“ fragte sie der Vater. „Nein“, entgegnete die Kleine tapfer. Gegen zehn Uhr morgens gelangte Elfa beim Hangar der Segler an. Sie hatte etliche Kilometer zurückgelegt und war müde, obwohl es ihr sehr gefallen hatte, so durch die Felder und Wälder zu laufen, sich mit den Menschen, die sie unterwegs traf, zu unterhalten und sie zu fragen, wo sich das allergrößte Haus, ihr Haus, befinde. Wenn sie ihr sagten, daß sie nicht wüßten, wo sich dieses Haus finden läßt, begann sie mit genauen Erkundigungen. Stets handelte es sich jedoch um völlig andere Häuser, nicht um jenes, von dem Mutter gesprochen hatte. Das hatte sie aber nicht weiter bekümmert, denn rings um sie war es so lustig gewesen; ein kräftiges Goldgelb hatte sie umgeben, die Sonne hatte am blauen Himmel gestrahlt und überall hatten Blumen gestanden, wunderschöne, aber ihr unbekannte, sie wußte die Namen nicht. Immer, wann sie das nur gewollt hatte, waren Vater oder Mutter bei ihr gewesen. Im Hangar der Segler standen zwei Maschinen. In die eine wurden gerade große Säcke verladen, die andere war startbereit. Elfa lief zur zweiten Maschine und gab dem Piloten ein Zeichen, er solle sie einsteigen lassen. „Elfa!“ staunte er. „Wie kommst du denn hierher?“ „Papa, ich möchte mit dir fliegen.“ „Mitfliegen? Gut, das läßt sich machen. Ich bin aber rein zufällig hier und komme nicht zurück. Da müssen wir dich mit irgendwem zurückschicken.“ „Ich bleibe bei dir, Papa.“ „Bei mir? Kannst du das so bestimmt sagen?“ „Nicht so richtig, aber du hast eine feine Maschine.“ „Na schön. Steig ein.“ Er hob Elfa behutsam in die Kabine und schlug die Tür zu. Der Segler stieg in die Lüfte. Der Pilot wies mit der Hand nach rechts und nach unten, und als die Kleine ihr Gesicht an die Scheiben preßte und mit kindlicher Begeisterung alles betrachtete, was man ihr gezeigt hatte, drehte er vorsichtig an seiner linken Hand die Scheibe des Armbandes. Die Scheibe blitzte auf und funkelte. „Den Chef-Erzieher!“ sagte der Pilot. Auf dem kleinen, matten Bildschirm erschien das Gesicht eines Mannes. „Sie ist bei mir in der Kabine“, sprach der Pilot. „Segler-Typ ›Marienkäfer‹, Nummer neunzehn Strich neunzehn. Ich fliege in eine Taiga-Siedlung am Aldan.“ Der Mann auf dem Bildschirm lächelte. „Also gut. Es bleibt dir nichts anderes übrig, als sie dorthin mitzunehmen. Wir werden die Siedlung verständigen. Wie redet sie dich denn an?“ „Mit Papa.“ „Hat sie nach dem allergrößten Haus gefragt?“ „Bis jetzt nicht… Hat man es immer noch nicht gefunden?“ „Nein.“ Der Chef-Erzieher schüttelte den Kopf. „Sie weiß ja auch gar nicht, wo es gestanden haben soll. Und ob es überhaupt existiert hat? Es sieht mehr nach irgend so einer kindlichen Übertreibung aus. Schade, daß es bei ihr zur fixen Idee zu werden scheint… Na, vorläufig fliegt sie erst mal. Ich bedanke mich für die Information!“ Staunend sah Elfa unter sich die grünen Flecke der Wälder, die reifenden Felder, die blauen Flußbänder und die Pünktchen der Seen. „Ist das ein Teppich?“ fragte sie. „Wo? Oh, das dort? Ja, es sieht einem Teppich sehr ähnlich. Gefällt es dir?“ „Gefällt mir. Es sieht meinem Haus sehr ähnlich.“ In der Taiga-Siedlung wurde der Segler sofort von Geologen umringt. Sie waren über Elfas Ankunft unterrichtet. „Guten Tag, Mama“, sagte Elfa zu einer kleineren Frau, die einen hellblauen Arbeitsanzug trug. Die Frau hatte lebhafte schwarze Augen, ein sonnenverbranntes Gesicht und kurzes schwarzes Haar. „Guten Tag, Töchterlein…“ … Die Mutter hatte damals auch einen blauen Anzug getragen. Sie hatte ihn immer angehabt, bevor sie den Raumanzug überstreifte. Auch Vater hatte genau den gleichen besessen. In den letzten Tagen waren sie beide lange mit Elfa zusammen gewesen. Vater hatte mit Elfa gespielt, sie mehrfach in die kleine Einsitzer-Rakete gesetzt und ihr erklärt, wozu die verschiedenen Hebel, Drücker und die bunten Guckkästchen da waren. Sie kannte sich überall schon recht gut aus, besser gesagt, sie hatte es sich mit ihrem noch kindlichen Verstand eingeprägt. Jedenfalls war sie in der Lage, eine kleine Rakete zu fliegen. Einige Male war sie vom Raumschiff aus gestartet, hatte sich etliche Kilometer entfernt, einige Wendungen gemacht, die Geschwindigkeit verändert, gebremst, und dann war sie wieder zum Raumschiff zurückgekehrt. Der Kurs der Rakete verlief selbstverständlich parallel zu dem des Raumschiffes. Der Vater war ungewöhnlich lieb zu ihr gewesen. Und die Mutter… Es war, als hätte sie fortwährend die Tränen zurückgehalten. So, als ob sie auf irgend etwas wartete, es erwartete und davor Angst hatte. Dann hatte eines Tages der Vater auch tatsächlich gesagt: „Heute.“ Sie hatten sie wieder in den Sessel in der Bibliothek gesetzt. Beide hatten ihr gegenübergesessen, so nahe bei ihr, daß sie die kleinen Hände in ihren eigenen halten konnten. „Elfa“, hatte der Vater gesagt. „Du bist jetzt schon ein großes Mädchen. Erinnerst du dich noch daran, wie Mutter dir von dem allergrößten Haus erzählt hat?“ „Sie hat davon gesungen.“ „Richtig, sie hat dir davon vorgesungen. Das ist dein Haus. Du sollst darin wohnen. Und du wirst mit der kleinen Rakete, mit der du so oft unterwegs warst, zu ihm hinfliegen.“ Die Kleine klatschte vor Freude in die Hände. Sie wollte doch dieses Haus unbedingt sehen und kennenlernen! „Du wirst allein fliegen. Es wird sehr, sehr lange dauern. Aber du hast doch keine Angst, allein zu sein, nicht wahr?“ „Nein“, sagte Elfa tapfer. „So ist es schön. Du brauchst keine Langeweile zu haben. Ich habe dir ein kleines, lustiges Männlein gebaut. Es kann umherlaufen und sogar sprechen, aber nicht so sehr gut. Du wirst es mitnehmen.“ „Und ihr? Warum fliegt ihr nicht mit mir zusammen?“ „Die kleine Rakete reicht ja nur für einen einzigen Menschen. Außerdem müssen wir beide arbeiten. Stimmt doch, nicht wahr?“ sprach er zu seiner Frau gewandt. Sie war nicht fähig zu antworten, drückte fest die Hand der Kleinen und schluckte einen Kloß hinunter. „Ihr kommt doch später nach?“ „Natürlich, wir geben uns große Mühe. Zunächst werden wir aber nicht dasein, daheim wirst du einen anderen Vater und eine andere Mutter haben. Du wirst sie dir selbst aussuchen.“ „Werden sie aber auch so gut sein wie ihr?“ „Elfa, du suchst sie dir doch selbst aus!“ Das Mädchen schüttelte ungläubig den Kopf. „Du kannst alles selbst tun, was du brauchst. Wenn du auf der Erde ankommst, wird man dich empfangen. Unbedingt wird man dich dort empfangen.“ Jetzt sitzt sie in der kleinen Rakete. Neben sich hat sie das Männlein, einen Roboter. Auf ihren Knien liegt die Puppe… Über ihrem Kopf ist ein halber Meter Platz. Vor ihr befindet sich das Pult mit etlichen Hebeln und Pedalen, die abgedeckt sind, damit Elfa nicht zufällig mit ihnen in Berührung kommt. In der Rakete hat man an alles gedacht. Vorräte an Nahrungsmitteln, Wasser und Luft sind vorhanden. Es gibt handgeschriebene Bücher, angefertigt von der Mutter. Papier und Stifte sind da; ein kleiner Expander zur Stärkung der Armmuskulatur und ein am Boden befestigtes Fahrrad. Das Raumvolumen beträgt lediglich vier Kubikmeter. „Das wird für sie doch ausreichen?“ fragt die Mutter den Kapitän nun schon zum soundsovielten Male. „Sie kann damit anderthalb Jahre auskommen. Aber sie werden sie eher holen, etwa nach vierhundert Tagen.“ „Sie wird nicht…“ „Sie wird die Sonne nicht verfehlen. Ich habe alles etliche Male durchgerechnet, und du hast es kontrolliert.“ „Ja, kontrolliert…“ Unter dem Sitz in der Rakete befindet sich eine kleine Kiste mit Papieren und Mikrobändern. Das ist ihr Bericht über die Expedition, zu der sie zu zweit gestartet sind. Sie haben alles ausgeführt, was nötig war, nur auf die Erde, in ihr Haus, können sie jetzt nicht mehr zurückkehren. Doch Elfa soll die Erde sehen. Fast ein Jahr lang hatte der Vater die kleine Rakete umgebaut, sie war die letzte von dreien, die sie einst an Bord gehabt hatten. An alles hatte er gedacht. „Es ist Zeit“, sagt der Vater. Seine Bewegungen sind unnatürlich und eckig. „Elfa, du fliegst zu dir nach Hause. Es ist dein Haus. Das allergrößte Haus in der ganzen Welt, im gesamten Weltall…“ „Elfa“, flüstert die Mutter. „Hat es eine himmelblaue Decke?“ fragt Elfa. „Ja, ja!“ schreit die Mutter. „Und an der himmelblauen Dekke ziehen weiße Wolken, so ähnlich wie Locken! Nachts ist sie schwarz — und kleine Lichter…“ „Elfa, leb wohl, mein Mädchen. Sei brav und tapfer.“ „Elfa…“ Das war die Stimme der Mutter. Und jetzt sitzt Elfa bereits in der Rakete. „Start“, sagt der Vater und drückt auf einen Knopf am Pult. Ein kurzer Blitz steigt außen am Raumschiff empor und verliert sich in Richtung Sonne. Die Mutter weint nicht, sie kann nicht weinen, hat einfach keine Kraft dazu. Der Vater weint. Das von seiner Bahn abgekommene Raumschiff rast vorwärts, irgendwohin in die Ferne, weit an der Sonne vorbei. „Wir werden gleich Mittag essen“, sagt die Frau im hellblauen Arbeitsanzug. „Direkt unter freiem Himmel, am Lagerfeuer. Du hast noch nie an einem Lagerfeuer gegessen?“ „Nein“, antwortet Elfa. „Später gehen wir dann in die Berge und werden Bären sehen.“ „Richtige?“ fragt die Kleine, und ihre Augen glänzen vor Ungeduld. „Natürlich richtige.“ „Laß uns doch gleich gehen, Mama.“ „Nein, mein Töchterchen. Erst mußt du Kraft sammeln.“ Sie sind von den Geologen umringt, die sie lächelnd betrachten. Kräftige junge Burschen in bunten Arbeitsanzügen und sehr junge Mädchen sind es. „Nicht wahr, unter sich sieht man einen Teppich, wenn man mit dem Segler fliegt?“ Sie richtet ihre Frage an alle. „Das ist richtig“, erwidert der Pilot. „Aber wenn du läufst, ist unter dir ebenfalls ein Teppich. Schau mal, hier ist ein Teppich aus Preiselbeeren. Schön, nicht?“ „Wunderschön“, entgegnet Elfa, hockt sich nieder und streichelt behutsam die winzigen, rauhen Blättchen. „Nicht wahr, der Himmel sieht aus wie eine hellblaue Decke? Weißt du noch, Mama, wie du mir vom allergrößten Haus erzählt hast?“ „Ja, ich erinnere mich“, sagt die Frau im blauen Anzug. Doch sie weiß nahezu nichts über dieses Mädchen. Gibt es überhaupt jemanden, der mehr weiß? Unter Umständen der Chef-Erzieher der Erde. „Nehmt mich an Bord! Nehmt mich an Bord!“ Diese Signale wurden eines Tages von mehreren Raumschiffen im Umkreis des Pluto empfangen. Irgendeine ruhige männliche Stimme wiederholte: „Nehmt mich an Bord!“ Ein Raumschiff hatte seinen Kurs geändert und eine kleine Rakete aufgenommen, von der man nicht wußte, woher sie kam und wie sie an dieser Stelle auftauchen konnte. Ein Mann befand sich aber nicht darin. Seine Stimme kam von einem Tonband. In der Rakete saß ein kleines Mädchen. „Ich will nach Hause, Papa“, sagte es müde zu dem grauhaarigen Kapitän des Lastschiffes, der es aufnahm. „Wo ist denn dein Haus, meine Kleine?“ „Ich hab’ das allergrößte Haus.“ Später, auf der Erde, hatte der Chef-Erzieher mit ihr gesprochen. Die Kleine war für ihre siebeneinhalb Jahre erstaunlich weit in ihrer Entwicklung. Sie wußte sehr viel und konnte allerhand. Sie hatte im Fluge alles aufgenommen, was man ihr erklärt hatte. Doch zwei Dinge waren bei ihr merkwürdig: Sie redete urplötzlich irgendeinen Mann mit „Papa“ an und irgendeine Frau mit „Mama“. Am nächsten Tag hatte sie wieder einen anderen „Papa“ und eine andere „Mama“. Außerdem bat sie immerfort darum, ihr das allergrößte Haus, ihr eigenes Haus, zu zeigen. Der Rat der Erzieher hatte Nachforschungen über ihre wirklichen Eltern angestellt. Sie hatten nie ein großes Haus besessen. Sie hatten überhaupt kein Haus gehabt. Sie waren unmittelbar von der Raumfahrtschule zu einem Fernflug gestartet. „Ich werde mein Haus suchen“, hatte Elfa dem Chef-Erzieher erklärt und war Weggegangen. Er hatte sie nicht gehalten. Was ihm möglich war, tat er: Jeder Mensch auf der Erde wußte jetzt, daß Elfa ihr Haus suchte. Alle waren verpflichtet, ihr zu helfen. Jeder mußte bereit sein, ihr Vater und Mutter zu ersetzen. „Stimmt es, daß das Dach von einem Haus donnern und blitzen kann?“ fragte Elfa. „Ach wo“, meinte irgendwer. „Die Dächer sind jetzt sehr stabil.“ „Doch, möglich ist es schon“, sagte plötzlich der Pilot des Seglers. „Wenn wir mal ein Gewitter haben, wirst du es selbst sehen.“ „Ist das schrecklich?“ „Fürchterlich, aber wunderschön.“ „Stimmt es, daß die Wände vom Haus auseinandergehen, wenn man an sie herankommt?“ „Hör sich einer diesen Blödsinn an…“, flüsterte irgend jemand. Doch er schwieg, als ihm unwillig zugezischt wurde. „Es ist richtig“, sagte der Pilot. „Siehst du dort hinter dem Berg die Wand? Wir werden zu ihr fliegen, und sie wird sich von uns entfernen. Wie sehr wir uns auch Mühe geben, an sie heranzukommen, wir werden das nicht schaffen, weil sie immerzu vor uns flieht.“ „Das klingt fast so wie das, was du mir vom allergrößten Haus, von meinem Haus, erzählt hast, Mama“, sagte Elfa zu der Frau in Hellblau. „Das ist ja auch dein Haus. Die gesamte Erde ist dein Haus. Es ist das allergrößte Haus in der Welt, im ganzen Weltall.“ „Ja, genauso hast du’s mir erzählt.“ Am Abend, als sie von den Bergen herunterkamen zum Lagerfeuer, dunkelte es bereits am Himmel. Die Frau fragte: „Du gehst doch nicht wieder weg von mir? Du bleibst bei deiner Mama, nicht wahr?“ „Mama“, entgegnete die Kleine, „ich komme bestimmt zurück. Aber erst will ich mir mal mein Haus richtig ansehen. Mein ganzes Haus.“ Am nächsten Morgen saß Elfa wieder im Segler. Als sie bis an die Berge herangeflogen waren, rief sie dem Piloten zu: „Sieh mal, Papa, die Wände meines Hauses gehen auseinander!“ Wofür hat der Mensch gelebt? 1 Wladimir Tschesnokow schaute mal zu der einen, dann wieder zu einer anderen Tür hinein und wußte nicht, an wen er sich wenden könnte, entschloß sich aber auch zu keiner Frage. Die Mitarbeiter der Jugendzeitung „Weckruf“ liefen geschäftig auf dem Flur an ihm vorbei. Als die Mittagspause heranrückte, hatte man sich an seine Gestalt bereits gewöhnt, und der verantwortliche Sekretär warf ihm im Vorübergehen zu: „Ein massenwirksamer Titel für den Artikel über die Pionierlager. Stimmt’s?“ „Ich habe ein Gedicht“, entgegnete Tschesnokow. „Nicht so abgegriffen und trifft den Kern der Sache, nicht wahr?“ Der Sekretär blieb stehen. „Ein Gedicht… hier ist’s.“ Tschesnokow zog aus der Innentasche seines Jacketts sorgfältig ein Blatt Papier hervor und faltete es auseinander. „Ach so.“ Der Sekretär verzog ärgerlich das Gesicht. „Immer wieder Verse, nichts als Verse! Prosa wird jetzt wenig geschrieben.“ Er machte dabei eine unbestimmte Handbewegung dorthin, wo der Korridor zu Ende war. Tschesnokow stand noch eine Weile herum, ihm lief allmählich die Galle über, und er schickte sich bereits zum Gehen an, als der Sekretär wieder auf dem Flur erschien. „Was ist eigentlich mit Ihrem Gedicht? Was sagt Pionow dazu?“ „Nichts.“ „So macht er es immer. Lassen Sie sich davon nicht beeindrucken!“ „Ich habe ihn überhaupt noch nicht gesehen.“ „Stimmt ja, er ist doch im Moment auf einer Dienstreise! Die gesamte Lyrik befindet sich auf Dienstreisen. Handelt es sich um ein langes Gedicht?“ Er ließ Tschesnokow keine Zeit zu einer Antwort, sondern faßte ihn am Arm, führte ihn bis vor die Türen mit der Aufschrift „Redakteur“, stieß ihn in ein Zimmer und rief: „Timofej Fjodorowitsch! Hier ist ein Bekannter von mir. Boris!“ Tschesnokow sah sich mitten im Zimmer. Seine Verwirrung hatte ihr Höchstmaß erreicht. Timofej Fjodorowitsch, ein Vierziger, litt bereits spürbar an Atemnot, er wußte längst nicht mehr, was die Jugend eigentlich interessierte. Er saß hinter dem Schreibtisch und war dabei, ein Gesuch aufzusetzen, in dem er um Versetzung an eine andere Arbeitsstelle bat. Schon lange fühlte er, daß er die jungen Mitarbeiter seiner Zeitung nicht mehr verstand, die mit modischen Bärten und grellfarbigen Sweatern, sogar in der allergrößten Hitze, umherliefen. Und er selbst wurde auch nicht immer verstanden, das wußte er. Es war halt so eine Sache, mit vierzig Jahren noch eine Zeitung für die Jugend zu leiten… „Na, was haben Sie da, Boris?“ fragte er. „Ein Gedicht… Ich heiße Wladimir.“ „Ausgezeichnet. Zeigen Sie mal her!“ Tschesnokow hielt ihm zitternd sein Blatt Papier hin. Der Redakteur vertiefte sich sekundenlang ins Lesen und fragte dann: „Was haben Sie damit sagen wollen?“ „?“ „Nun, worin besteht die Idee, der Grundgedanke des Gedichtes?“ „Ein junger Mann“, begann Tschesnokow und gab sich Mühe, ganz natürlich und mit fester Stimme zu sprechen, „ist eine Straße entlanggelaufen… dabei hat er ein Mädchen gesehen. Davon ist ihm sehr wohl ums Herz geworden.“ „Und was ist dann daraus geworden?“ „Keine Ahnung… Es war ihm einfach wohl zumute.“ „Die beiden haben nicht geheiratet?“ „Nein. Er ist ihr später nie wieder begegnet.“ „Woher wollen Sie das wissen?“ „Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.“ „Schön. Einfach hervorragend… Und was wollen Sie damit? Veröffentlichen in unserer Zeitung?“ „Ich bin nur mal hergekommen. Irgendeinem Menschen muß ich es doch mal zeigen.“ „Wollen Sie sich damit nun ernsthaft befassen? Ihren Lebensinhalt darin finden? Oder nur einfach so?“ „Ich möchte schon allen Ernstes“, erwiderte Tschesnokow, allen Mut zusammennehmend. „Prima!“ Der Redakteur kam sogar hinter seinem Schreibtisch hervor und klopfte dem werdenden Dichter auf die Schulter. „Wenn Sie das hier nur mal eben so hingeschrieben hätten, würden wir es etwa in zwei, drei Wochen herausbringen. Aber wenn es etwas Ernstes ist, muß man noch daran arbeiten. Das Ernsthafte ist stets schwieriger als nur ›einfach so…‹“ Zwanzig Minuten später verließ Tschesnokow frohgelaunt und lächelnd die Redaktion. Das Gedicht war selbstverständlich nicht angenommen worden, aber wieviel Nützliches hatte er statt dessen vernommen, wieviel interessante Themen hatte ihm der Redakteur aufgezählt! Sollten seine Verse später Originalität und Frische atmen, würde man sie sogar drucken. Ehrenwort, man wird sie drucken! Tschesnokow lief eilig in seine kleine Wohnung im vierten Stock, öffnete geräuschvoll die Tür, gab seiner Frau Annetschka einen Kuß, ließ sich auf die Couch fallen und rief mit lauter Stimme: „Arbeiten und immer wieder arbeiten!“ Dann erzählte er Einzelheiten. Annetschka hatte sich auf den Rand der Couch gesetzt, ihre hellblauen Augen waren weit geöffnet, und bei besonders schrecklichen Stellen des Berichtes drückte sie ihre kleinen Fäuste gegen die Brust, wobei sie „Oh!“ und „Ach!“ rief. Auf diese Weise hörte sie Wolodenka aufmerksam bis zum Schluß zu, ohne ihn zu unterbrechen. Als er seinen Bericht beendet hatte, sagte sie: „Wolodenka! Tief in deinem Innern bist du sowieso ein Dichter. Ich weiß das.“ Wladimir wurde verlegen und setzte zum Widersprechen an, doch Anja schnitt ihm das Wort ab: „Willst du denn wirklich ein richtiger, allgemein anerkannter Dichter werden?“ Tschesnokow seufzte und brachte kühl heraus: „Das hängt alles nur von uns ab.“ Annetschka nickte bestätigend. 2 Tschesnokow arbeitete als Oberingenieur in einem Betrieb für Radiogeräte. Annetschka stellte in einer Backwarenfabrik Torten her. Beide liebten die Literatur, kannten sich in der Lyrik aus und verwendeten einen beträchtlichen Teil ihres Geldes zur Anschaffung von Büchern. Das stieß bei ihrem Etagennachbarn, Benjamin Kondratjuk, auf Verständnislosigkeit und entlockte ihm zuweilen sogar ein Lächeln; denn sein Budget war auf den Kauf eines Motorrollers, eines Motorrades, eines Motorrades mit Beiwagen, eines „Saporoshez“, schließlich eines „Moskwitsch“ und so weiter ausgerichtet. Für ein Vierteljahr wurde Tschesnokow daheim von der Fußbodenreinigung dispensiert. Schließlich hatte er pausenlos zu schreiben! Sie kamen beide fast gleichzeitig von der Arbeit heim. Schnell wurde die Nudel- oder Rote-Rüben-Suppe vom Vortag aufgewärmt und das Essen rasch erledigt. Wladimir legte ein unbeschriebenes, sauberes Blatt Papier und einen Kugelschreiber auf den Tisch und schritt im Zimmer hin und her. Annetschka hatte im Haushalt zu tun, wo die Arbeit nie abriß. Jeder dieser Abende verlief anfangs für Tschesnokow ergebnislos. Er war nicht imstande, etwas zu schreiben. Jeder erdenkliche Unsinn kam ihm in den Kopf, es reimte sich auch vortrefflich, aber es war nicht eine Spur von Gefühl darin. Alles seicht, routinemäßig, wie bei einer Bestellung für Massenkonsum. „Wowka, hör doch mit dieser Quälerei auf“, sagte Annetschka dann für gewöhnlich, trocknete ihre feuchten Hände an der Schürze ab und ließ die Arbeit liegen. Sie schlang ihre kleinen, kräftigen Arme um seinen Hals und blickte ihm in die Augen. In ihren Augen leuchtete eine winzige, aber interessante, freundliche Welt, ein kleines Universum. „So, nun laß mich wieder los“, sagte sie. „Warte mal“, antwortete er. „Ich habe noch nicht alles gelesen.“ „Was kann man denn dort lesen?“ „Alles. Da sind alle meine Verse.“ Sie drückte ihren Kopf an seine Brust und hörte auf das Schlagen seines erregten, aufgewühlten Herzens. Dann setzten sie sich zusammen auf die Couch oder direkt auf den Fußboden, sie fragte ihn irgend etwas, und er antwortete ihr. Oder er fragte sie, und sie gab die Antworten. Sie kramten in Erinnerungen: „Weißt du noch…“, träumten: „Das wird schön werden…“, stritten miteinander: „Wolodka, du bist im Unrecht.“ Sie lösten tausend Probleme und entdeckten tausend neue. In Tschesnokows Kopf erklangen Musik und Verse. Dichten war bei ihm stets an Musik gebunden. Annetschka verstummte, weil sie spürte, daß in ihm etwas Seltsames vor sich ging. Vielleicht war es sogar dieser seltsame Ausgang, war es gerade diese Verfassung, was sie an ihm am meisten liebte. Er war immer noch genau so wie am Tag ihrer ersten Begegnung. Sie wünschte sich, daß er immer so wäre, ihr nah vertraut und bemerkenswert anders. „Lies mir vor“, bat sie flüsternd. Er begann zu sprechen, und sie ließ sich in eine wundersame ungewöhnliche, gleichzeitig aber auch wieder sehr bekannte Welt versetzen. Es gab dort ihre Freunde, die Bekannten, das alte sibirische Städtchen, den Wind am Meer, Sternschnuppen, die jungen Bäumchen und die Schreie kleiner Kinder hinterm Fenster. Alles war genau so, wie sie es tagtäglich zu sehen gewohnt war, und nur eine winzige, seiner Stimmung entspringende Verschiebung ließ alles neu und ungewöhnlich werden. Die Welt erschloß sich unter einem anderen Blickwinkel. Möglicherweise nannte man das Inspiration oder Talent? In seiner Wohnung wurde geweint und gelacht, man war fröhlich oder traurig, liebte und haßte sich. Doch alles war dort aufrichtig, merkwürdig und ungewöhnlich; wenn in seinen Versen zuweilen ein Schmerzensschrei aufklang und Enttäuschung über entartete menschliche Beziehungen, so war es stets eine Dissonanz. Eine sehr eigenwillige Dissonanz, ohne die alle Musikalität der Dichtung nichts weiter gewesen wäre als eine elegant geformte Gemeinheit. Schreibgerät und Papier lagen unbenutzt auf dem Fußboden umher. „Anscheinend wird es jetzt absoluter Unsinn“, meinte er, und sie machten in den Anlagen der Universität einen Spaziergang oder im Garten des Lagers, sofern das Wetter dies erlaubte, oder aber sie hörten bei geschlossener Balkontür auf das Rauschen des Regens und überließen sich dem Schweigen. Wieviel kann man einander sagen mit solchem Schweigen! Manchmal schrieb er die Verse auf, manchmal tat sie es. Es geschah auch, daß sein Versstrom versiegte und gar nichts zu Papier gebracht werden konnte. Dann gingen sie in den nächsten Laden, kauften dort eine große Flasche Wein und besuchten irgendwen, oder sie luden sich Besuch ein. 3 Der Wohnungsnachbar kaufte sich einen Motorroller, Tschesnokow half ihm beim Transportieren, beim Unterbringen in einer Garage und war zusammen mit seiner Frau eingeladen, den Kauf „zu begießen“. Es waren acht Personen gekommen, alles fanatische, leidenschaftliche Auto- und Motorradfahrer. Selbstverständlich drehte sich das Gespräch um das Thema Kraftfahrzeuge. Man gratulierte Kondratjuk, trank auf die Reifen, auf das Lenkrad, auf die Ersatzteile. Von allen Seiten wurden gute Ratschläge erteilt. Benjamin Kondratjuk strahlte. Seine Frau stahl sich unbemerkt aus dem Zimmer, ging in die Küche und klapperte dort mit Tellern und Gläsern. Tschesnokow war sich zunächst überflüssig und fehl am Platze vorgekommen, doch später hatte sich das gegeben. Kondratjuk lief immer wieder mal in die Garage, um nachzuschauen, ob man nicht etwa seinen Motorroller demoliert hatte. Aber kein Mensch hatte sich daran vergriffen. Kondratjuk zeigte allen den Zündschlüssel und ließ ihn vorsichtig in ein Glas Wodka fallen. „Weshalb wollen Sie sich eigentlich keinen Motorroller kaufen?“ wandte er sich fragend an Tschesnokow. „Das ist wahr, weshalb nicht?“ erklang es in der Runde. „Ist doch wunderbar! Schnell in den Wald oder rasch auf den Markt, um Kartoffeln zu holen.“ „Wir haben das irgendwie noch nie in Erwägung gezogen“, sagte Tschesnokow. „Außerdem haben wir auch kein Geld dazu“, warf Annetschka ein. „So ist das also! Ihr habt kein Geld! Aber für Bücher und allen möglichen Plunder, da habt ihr welches. Doch für einen Motorroller ist keins da!“ „Bücher sind kein Plunder“, sprach Tschesnokow. „Wozu braucht ihr denn so viele Bücher?“ „Und wozu brauchst du einen Motorroller?“ „Um mal in den Wald zu fahren. Man braucht sich nicht erst im Omnibus stoßen und schieben zu lassen. Sobald man Lust hat, fährt man eben los. Da ist keine Zeit einzuhalten, der Roller steht in jeder beliebigen Minute zur Verfügung.“ „Genauso ist das auch mit Büchern. Sobald du Lust verspürst, nimmst du dir eins vom Regal und liest.“ „Nun gut, du liest es, und fertig. Außerdem kann man in die Bibliothek gehen und sich eins leihen.“ „Ebensogut kann ich auch mit einem Taxi fahren. Wozu brauche ich einen Roller?“ Kondratjuk war für einen Augenblick etwas verdutzt. „Jedenfalls werde ich auf dem Motorroller fahren. Er macht sich bezahlt. Aber eure Makulatur steht sinnlos ‘rum. Wozu ist sie gut?“ „Das ist keine Makulatur. Das sind Menschen, Freunde. Treue Freunde fürs ganze Leben.“ „Schwindel ist das! Ihr wollt bloß als Intellektuelle gelten! Wenn man in eure Wohnung kommt, sollen einem gleich die Bücherregale ins Auge fallen. Was für kluge Menschen wohnen hier, soll man sich sagen. Die Vitrine mit dem Geschirr steht in der Ecke, aber die Bücher muß man präsentieren… Jeder soll wissen, daß wir dem Nachbarn weit überlegen sind! Er hat sich einen Roller gekauft, Bücher schafft er sich nicht an! Die Schreiber- und Dichterlinge bekommen ihre Honorare völlig umsonst. Umgraben sollte man sie lassen!“ „Jetzt übertreibst du aber…“ Man bemühte sich, Kondratjuk zu beruhigen. „Ich werd’s euch zeigen!“ posaunte der Hausherr. „Ich werde mir auch einen Bücherschrank zulegen!“ „Jetzt läßt er die Katze aus dem Sack“, meinte Tschesnokow. „Sobald ich mein Motorrad habe, kommt ein Schrank her, vollgestopft mit Büchern, damit alle wissen, daß ich auch kein Dummkopf bin.“ „Bloß das nicht!“ Tschesnokow schrie auf und schlug sogar mit der Faust auf den Tisch. „Ich werde es nicht zulassen, daß du Bücher kaufst. Auf keinen Fall kann ich das mitmachen! Das sind Menschen, sind Gedanken. Dein Bücherschrank wäre für sie wie ein Grab, eine finstere Grube. Sie müßten darin dahinsiechen, verrückt werden, sterben. Das erlaube ich nicht!“ „Laß uns heimgehen, Wolodja“, sagte Annetschka. Sie zog Tschesnokow am Ärmel. Kondratjuk hielt man am Jackett fest, aber er schlug immer wieder um sich. Am nächsten Tag erwachte Tschesnokow mit einem üblen Geschmack im Mund. Wenigstens gab es, Gott sei Dank, keine Kopfschmerzen. Annetschka sagte lediglich: „Wie konntest du dich mit ihm auf so ein Gespräch einlassen?“ „War ich es denn, der angefangen hat?“ rechtfertigte sich Tschesnokow. Auf dem Treppenabsatz traf er mit Kondratjuk zusammen. Der Vorfall am Tag zuvor war ihm irgendwie peinlich, und er fragte: „He, Benjamin, was macht dein Motorroller?“ „Danke, alles in Ordnung“, entgegnete Kondratjuk. Auch ihm war nicht ganz wohl in seiner Haut nach dem gestrigen Vorfall. „Kannst du mir mal was zum Lesen geben, Wladimir, hm? Was richtig zu Herzen geht!“ „So was habe ich überhaupt nicht, wird sich wohl auch kaum finden lassen“, entgegnete Tschesnokow, doch Kondratjuk begriff die Ironie nicht. „Na, vielleicht etwas aus der letzten Zeit? Was ist denn in diesem Jahr zur Auszeichnung mit einem Staatspreis vorgesehen?“ Sie zündeten sich ihre Zigaretten an demselben Streichholz an und verließen gemeinsam das Haus. Sie arbeiteten im selben Betrieb, in derselben Abteilung. Eine Woche später bat Tschesnokow Annetschka, von Gedichten und überhaupt von der Literatur nicht mehr zu sprechen. Dann verließ er die Wohnung. 4 Drei Monate später waren annähernd dreißig Gedichte fertig. Tschesnokow gab sie einer Schreibkraft, die Heimarbeit machte, zur Abschrift. Dabei war er fürchterlich aufgeregt, nannte ihr einen anderen Namen und benahm sich unbeholfen. Als schließlich alles abgeschrieben vor ihm lag, atmete er erleichtert auf. Am folgenden Freitag zog er nach Arbeitsschluß ein schneeweißes Hemd und seinen schwarzen Anzug an, legte einen Synthetikschlips um, gab Annetschka einen Kuß und machte sich auf den Weg zur Redaktion. Ohne langes Überlegen ging er direkt zum Redakteur. Doch der war gar nicht in Stimmung. Man wollte ihn in keiner Weise von der Arbeit in der Jugendzeitung ablösen. Natürlich hatte er Tschesnokows einmaligen Besuch längst vergessen; aufgeregt und unfreundlich hieß er ihn gehen. Tschesnokow, der nun überhaupt nichts mehr begriff — schließlich war er gebeten worden, nach drei Monaten wiederzukommen! — , schlüpfte auf den Korridor hinaus, und nachdem er seine Gedanken geordnet hatte, beschloß er, alles aufzugeben und heimzugehen. Dem Redakteur, der im allgemeinen ein guter, freundlicher Mann war, kamen Gewissensbisse, daß er einen unbekannten Mann so mir nichts dir nichts angeschrien hatte. Schon wenig später war auch er auf dem Flur. Tschesnokow war noch nicht weggegangen. Der Redakteur atmete erleichtert auf. „Junger Mann, was haben Sie auf dem Herzen?“ Tschesnokow rief kurz seinen ersten Besuch in Erinnerung und griff verlegen nach seinem Stoß Papier. Der Redakteur führte ihn in die Abteilung Lyrik zu Pionow. Dort unterhielt man sich freundschaftlich. Tschesnokow ließ seine Verse da. Pionow warf einen flüchtigen Blick darauf und sagte: „Das hat schon was für sich…“ Dann notierte er sich Tschesnokows Telefonnummer und Anschrift und versprach, in der kommenden Woche anzurufen. Als vier Tage vergangen waren, rief Pionow tatsächlich an. Er bat Tschesnokow, unverzüglich in die Redaktion zu kommen. Es handle sich um etwas Wichtiges und Eiliges. Tschesnokow ließ sich von der Arbeit beurlauben und stürzte in die Redaktion. Wenn sie ihm absagen wollten, hätten sie ihn ja nicht erst rufen lassen, dachte er. Wahrscheinlich ging es um die Veröffentlichung. Er verließ seinen Betrieb sehr aufgekratzt und hätte am liebsten aus vollem Halse gesungen, doch je näher er der Redaktion kam, um so stiller wurde er. Erregung befiel ihn. Pionow begrüßte ihn ziemlich entgegenkommend, ließ ihn in einem Sessel Platz nehmen, bot ihm eine Zigarette an und betrachtete Tschesnokow minutenlang, wobei er vortäuschte, in den Papieren auf dem Tisch herumzuwühlen. Auch Tschesnokow schwieg. „Ich habe Ihre Verse gelesen“, sagte schließlich Pionow. „Und ich übertreibe nicht im mindesten, wenn ich sage, daß sie hervorragend sind.“ Tschesnokow wurde aus irgendeinem Grunde stutzig. „Ich bin selbst Dichter“, fuhr Pionow fort. „In Kürze wird in einem westsibirischen Verlag ein kleiner Sammelband von mir erscheinen. Ich weiß genau, was ich sage. Bei Ihnen steckt Talent dahinter. Wann haben Sie das geschrieben?“ „Von Juni bis August“, entgegnete Tschesnokow und fühlte, wie ihm innerlich immer kälter wurde. Irgend etwas in Pionows Stimme sagte ihm, daß mit seinen Versen nicht alles in Ordnung war. Man würde sie nicht drucken. Unter keinen Umständen würde man das tun. „Alles in allem drei Monate. Vor ungefähr zwei Wochen bin ich fertig geworden.“ „Wie würden Sie wohl den gesamten Zyklus nennen, falls das erforderlich wäre?“ In dem kleinen Zimmer hingen dichte Rauchschwaden. Jemand versuchte, Pionow durch Zeichen auf den Korridor hinauszubitten, doch der schrie nur: „Tür zu! Ich habe zu tun! Keine Augen im Kopf, wie?“ „Ich würde ihn ›Staunen‹ nennen.“ „Merkwürdig“, flüsterte Pionow. „Wirklich sehr merkwürdig.“ „Was ist denn?“ fragte Tschesnokow. „Haben Sie Ihre Gedichte keinem Menschen gezeigt?“ fragte Pionow zurück, ohne auf die Frage zu antworten. „Einem Freund vielleicht oder Bekannten?“ „Nein, das ist mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen.“ „Seltsam. Kann sein, früher mal bei jemandem gesehen oder gehört… Na schön, ich werde alles erzählen. Ihre Verse haben mich, wie ich schon sagte, stark angesprochen. Ich habe eine Auswahl davon vorbereitet. Wir haben doch in unserer Zeitung so eine Rubrik, die sich Junge Stimmern nennt. Timofej Fjodorowitsch hat auch schon zugestimmt. Als alles soweit war, kam Serjegin bei uns vorbei. Kennen Sie einen Dichter dieses Namens? Er kommt von uns, ist ein Sibirier!“ „Kenn’ ich“, bestätigte Tschesnokow und nickte mit dem Kopf. „Hab’ ihn gelesen.“ „Er kommt sehr häufig zu uns. Liest alles, was wir zum Druck vorbereiten. Zuweilen redigiert er. Er hat Ihre Gedichte gelesen und gesagt… sie stammten von ihm selbst. So ist das also.“ „Was soll das heißen, von ihm selbst?“ fragte Tschesnokow, mühsam die Worte formend; denn seine Zunge wollte ihm nicht gehorchen. „Er wird gleich hier sein, muß jede Minute kommen. Ich habe ihn hergebeten. Sie sehen doch gewiß ein, daß die Redaktion das klären muß. Wir können es uns nicht leisten, in eine dumme Geschichte hineinzugeraten.“ „Die Verse stammen von mir“, flüsterte Tschesnokow. „Er ist ein recht mittelmäßiger Lyriker, ohne Talent“, sprach Pionow vor sich hin, als hätte er nicht vernommen, was Tschesnokow gesagt hatte. „Aber man kann nicht an ihn heran, schließlich hat er schon vier Büchelchen herausgebracht. Alles unwahrscheinlich nichtssagend und farblos. Und nun plötzlich dieses Feuerwerk hier… Das Manuskript hat er bereits in den Verlag geschickt. Man hat es angenommen. Der Titel soll derselbe sein: ›Staunen‹. Verstehen Sie jetzt, was sich da zusammenballt?“ Pionow kam hinter dem Schreibtisch vor und schritt im Zimmer auf und ab, schlug mit der Faust in seine andere, geöffnete Hand, trällerte etwas Ungereimtes vor sich hin. „Soweit ich die Sache begreife“, ließ sich plötzlich Tschesnokow mit stockender Stimme vernehmen, „bezichtigt man mich des Diebstahls…“ „Unsinn, was Sie da sagen!“ Pionow war erregt. „Ich verdächtige überhaupt niemanden. Die Redaktion muß das lediglich untersuchen und klären. Außerdem — bei Serjegin handelt es sich um einen bereits anerkannten Dichter. Wie er selbst sagte, hatte er vergangenen Sommer eine starke Inspiration.“ „Es sind meine Gedichte“, sagte Tschesnokow jetzt mit fester Stimme. Die Tür ging auf, und ein Mann in mittleren Jahren betrat mit einer Aktentasche selbstbewußt das Zimmer, als sei er hier zu Hause. „Grüß dich, Grischa“, rief er Pionow lässig und vertraut zu. „Sergej Serjegin“, stellte er sich vor und streckte Tschesnokow seine Hand entgegen. Dieser erhob sich etwas schwerfällig und hielt sich dabei mit einer Hand an der Sessellehne fest: „Tschesnokow.“ „Schau an! In-ter-es-sant!“ Für die nächsten fünfzehn Minuten hüllte sich Tschesnokow in Schweigen. Es redete Serjegin. Er warf einen Stoß Papier auf den Tisch, das mit Tinte und mit Schreibmaschine beschrieben war. Dann erzählte er ausführlich, wie nach einer Pause von einem halben Jahr wieder eine Inspiration über ihn gekommen war, wie ihn die Freude lyrischer Entdeckungen und die Gewißheit, etwas Bleibendes leisten zu können, vollkommen gepackt hatten. „Hier, das ist es. Eiserne Arbeit, schlaflose Nächte, Tonnen von Papier. Jedes Blatt ist mit dem Datum versehen. Man kann also genau verfolgen, wie diese Gedichte entstanden sind. Zum Glück vernichte ich meine Manuskripte nie. Hier liegen die Beweise dafür, daß alles von mir stammt. Im Verlag ist es so gut wie angenommen. Der Vertrag kommt demnächst. Auch in den Schriftstellerverband wird man mich in allernächster Zeit aufnehmen. Können Sie nun ebenfalls die Manuskripte mit den Daten vorlegen?“ „Meine Manuskripte sind bei Annetschka“, sagte Tschesnokow. „Bei Annetschkin?“ Serjegin horchte auf. „Kenn’ ich nicht.“ „Bei Annetschkaa!“ schrie Tschesnokow. „Das ist meine Frau! Sie hat sie alle im Kopf! Ist es Ihnen jetzt klar?“ „Sososo. Ich verstehe“, sprach Serjegin erfreut vor sich hin. „Manuskripte haben Sie also nicht? Und was hat Sie bewogen…“ „Jedenfalls nicht die Gewißheit, etwas Bleibendes in der Dichtkunst leisten zu können.“ „Wieso Bleibendes?“ „So haben Sie es selbst formuliert. Ich habe auf jeden Fall geschrieben, weil ich einfach gar nicht anders konnte.“ Der Redakteur kam ins Zimmer und ließ sich bescheiden auf einem dreibeinigen Schemel in der Ecke nieder. „Was machen wir bloß?“ fragte Pionow mit unverhülltem Entsetzen in der Stimme. „Auf jeden Fall kann in der Zeitung nichts erscheinen“, warf Serjegin ein. „Das ist völlig klar“, brummte Pionow. „Und was soll weiter werden?“ „Es handelt sich um Plagiat! Das lasse ich nicht auf sich beruhen. Ich werde vor Gericht gehen!“ „Und Sie werden Ihre Rechte verteidigen?“ Pionow richtete seine Frage an Tschesnokow. „Einen Prozeß führen, was?“ entgegnete Tschesnokow. „Kaum! Schließlich kann ich keine Manuskripte vorweisen.“ „Ich werde Sie zwingen, sich zu verantworten!“ schrie Serjegin, ohne sich an eine bestimmte Person zu wenden. Tschesnokow erhob sich umständlich und murmelte: „Auf Wiedersehen!“ Er ging auf die Tür zu. „Sie gehen?“ rief im Pionow nach. „Bringen Sie doch noch etwas anderes von Ihnen vorbei! Und wenn es ein einziges Gedicht ist.“ „Ich habe diesen Abschnitt der Dichtkunst für mich abgesteckt und werde keinem anderen erlauben…“, schrie Serjegin noch immer. „Kommen Sie wieder mal vorbei, Wladimir“, rief Pionow nochmals. Tschesnokow schloß sorgsam die Tür und betrat kummervoll die Straße. 5 Es war September. Feiner Regen ging nieder. Und dazu so ein scheußliches Gefühl… Tschesnokow schlenderte durch den kleinen Wald, der zur Universität gehörte, und gab sich Mühe, an gar nichts zu denken. Der Himmel wurde rasch wieder heller. Im September hält der Regen noch nicht wochenlang an. Als er seine Wohnungstür aufschloß, war Annetschka bereits daheim. Er bemühte sich sehr, ruhig zu wirken, doch sie spürte sofort, daß etwas Unangenehmes geschehen war. Sie schaute ihn bittend an, aber er schüttelte nur mit dem Kopf, und da stellte sie ihm keine Fragen. Er kam selbst zu ihr, strich ihr über das Haar, faßte sie am Kinn und hob ihren Kopf. Dann lächelte er traurig und berichtete alles. Sie unterbrach ihn kein einziges Mal, nur ihre Augen redeten, wurden größer und kleiner. „Aber du glaubst doch nicht, daß er sich deine Verse irgendwie angeeignet hat?“ fragte sie, als er zu Ende gekommen war. Dabei schwang in ihrer Stimme ein kleines bißchen Entsetzen mit. „Natürlich nicht, Annetschka“, entgegnete er. „Es ist einfach ein unglückseliges Zusammentreffen. Betrüblich.“ Da begann sie zu weinen, und er bat sie nicht, sich zu beruhigen, weil er wußte, daß dies unmöglich war. Es klingelte. Es war der Nachbar Kondratjuk. „Ich wollte nur einen Rubel wechseln“, meinte er. „Komm ‘rein“, forderte ihn Tschesnokow auf. Kondratjuk kam ins Zimmer, sah Anjas verweintes Gesicht und fragte: „Was ist denn bei euch los? Ein Begräbnis oder was?“ Tschesnokow Verstand nicht zu schwindeln und erzählte dem Nachbarn mit wenigen Worten, was vorgefallen war. „Oh, ich sehe, du bist unter die Dichter gegangen!“ „Ach, Unsinn“, erwiderte Tschesnokow. „Sei bloß nicht so bescheiden! Stürz dich hinein, wenn du Gelegenheit dazu hast. Dort wird gut bezahlt. Deshalb zieht es ja alle dorthin.“ „Nicht alle.“ „Doch, alle. Freie Plätze gibt es kaum. Da nimmt eben jeder vom andern, der eine Verse, der andere einen Roman. Und diesmal hat es dich getroffen. Führ den Prozeß, rate ich dir. Vielleicht kommt etwas dabei heraus. Noch besser wär’ es freilich, du kaufst dir einen Motorroller. Weißt du, wenn man motorisiert ist, macht sich das immer bezahlt. Ich habe schon für ungefähr zweihundert Rubel Himbeeren, Johannisbeeren und ähnlichen Kram transportiert.“ „Hast du das verkauft oder wie?“ „Ach wo! Wäre doch viel zuviel Plackerei! Wenn mich die Kollegen auf dem Markt stehen sähen, würden sie mich auslachen. Ich mache alles gern in der Stille, ohne Aufsehen. Meine Frau weckt ein für den Winter. Wir haben uns mit dem Bruder zusammengetan; er gibt den Zucker, ich die Beeren. Ein Fahrzeug ist eben eine feine Sache. Im Winter kannst du’s auf Kredit nehmen, im Sommer macht es sich bezahlt. Bringt was ein.“ „Benjamin, ich glaube, dir will jemand deinen Roller entführen. Hör mal, man fährt ihn weg!“ Kondratjuk lauschte, wandte den Hals, war wie der Blitz zur Tür hinaus und hatte vollkommen vergessen, seinen Rubel zu wechseln. „Wolodja, möchtest du essen?“ fragte Anja. „Einen Wolfshunger hab’ ich“, antwortete Tschesnokow. „Als ob ich hundert Jahre nichts gegessen hätte.“ Er lachte unbändig. Anja betrachtete ihn mißtrauisch und stimmte dann ebenfalls in das Lachen ein. „Dann setz dich.“ Sie hantierte mit den Tellern. Es klingelte wieder. Abermals Kondratjuk. „Alles in Ordnung“, sagte er und lächelte selbstzufrieden, „mit mir kann man das nicht machen. Weißt du, was ich für Schlösser dran habe?“ Doch plötzlich zuckte er mit den Schultern und fragte ungläubig: „Und bei euch ist inzwischen Hochzeit oder Geburtstagsfeier? Warum seid ihr so lustig?“ „Ich will essen, Benjamin“, sagte Tschesnokow. „Verstehst du, ich bin vor Hunger ganz ungeduldig.“ „Ach, so ist das“, meinte Kondratjuk mißtrauisch. „Dann ist alles klar. Und wie ist das mit meinem Rubel?“ Kondratjuk verließ sie zufrieden. Der Rubel war gewechselt, der Motorroller unversehrt. Was wollte man noch mehr? „Wolodja“, sagte Anja, als sie sich schlafen legten, „ich weiß genau, daß du noch viel schreiben wirst.“ „Ja, sehr viel“, entgegnete er. Trotz alledem war Tschesnokow nach diesem Vorfall in ein seelisches Tief geraten. Immerhin war das alles recht unangenehm. Es machte ihm nicht allzuviel aus, daß sein Gedichtband in Kürze unter anderem Namen erscheinen würde, und erst recht berührte es ihn nicht, daß dieser andere an seiner Stelle auch das Honorar dafür einsteckte. Es ging einzig und allein darum, daß Serjegin außerstande war, solche Verse zu schreiben. Tschesnokow hatte das im Gefühl. Es war doch etwas völlig anderes, Gedichte zu schreiben, damit die Augen der geliebten Frau in freudigem Staunen erglänzten, oder nur das Ziel zu kennen, sich einen Namen zu machen. Ein Zufall? Selbstverständlich. Serjegin hatte sie ja nicht gestohlen! Doch weshalb war es gerade er? Tschesnokow wäre es leichter ums Herz gewesen, wenn es sich um jemand anderen gehandelt hätte; vielleicht Pionow oder der Redakteur der Zeitung. Dieser schrieb allerdings gar keine Verse. Tschesnokow machte sich mit Arbeit im Haushalt zu schaffen. Die Wohnung mußte instand gesetzt und renoviert werden. Er arbeitete mit einem gewissen Ingrimm: Beim Abklopfen der Stukkatur von der Zimmerdecke verursachte er viel Lärm und nahm sich mit Geräuschen nicht in acht, aus dem knarrenden Fußboden riß er die Nägel gleich mit Stücken der Dielenbretter heraus. Abend für Abend trank er an die drei Liter Kwaß und trällerte aus vollem Halse Arien aus volkstümlichen Operetten. „Wowka“, meinte Anja, „denk doch dran, daß du gar nicht so bist, wie du dich im Moment gibst. Wozu dieses Theater?“ „Ich bin so, aber auch ganz anders“, entgegnete Tschesnokow gedehnt in Form eines Rezitativs. „Ich bin jedermann.“ „Das stimmt nicht. Du bist innerlich verärgert. Warum? Auf wen bist du böse?“ Tschesnokow antwortete nicht und schlug mit einem einzigen Hieb einen Nagel bis zur Kuppe in ein Brett. Einmal sang er entsetzlich falsch: „Bist du gesund, o Fürst? Was grübelst du?“ Anja kam mit Tränen in den Augen ins Zimmer gelaufen und schrie: „Du hast Angst! Hast aufgesteckt! Du glaubst nicht an einen Zufall. Du denkst, er hat dir die Verse gestohlen! Deshalb grollst du so umher!“ „Nein, das denke ich nicht. Aber natürlich ist mir unbehaglich zumute; peinlich, das alles! Bald werde ich darüber hinweg sein, und alles ist vergessen. Willst du ein paar neue Verse? Frisch aus dem Ofen? Möchtest du?“ „O ja doch“, sagte Anja und trocknete ihre Augen mit schmutzigen Fingern. Es waren acht Zeilen, roh gehauen aus hartem Stein. Anja war klar, daß Wowka alles überwunden hatte und wieder auflebte. Zwei Wochen später begegnete er diesen seinen Versen in der „Literatur-Zeitung“. Ein Dichter, den Tschesnokow nicht kannte, hatte sie mit seinem Namen versehen. Tschesnokow konnte darüber nicht einmal staunen, er verzichtete darauf, den Gekränkten, vom Schicksal Schwergeprüften zu spielen. Er hörte nur auf, seine Gedichte niederzuschreiben, gab sich keine Mühe, sie sich einzuprägen, sondern improvisierte lediglich an langen Winterabenden vor seiner einzigen Zuhörerin, vor Annetschka. Er war kein großer Vortragskünstler. Auf einem Podium hätte ihm wahrscheinlich überhaupt niemand zugehört. Und trotzdem… Man mußte ihm nur vertrauen, verstehen, daß die Welt, die in seinen Versen lebte, real war, trotz all ihrer Phantastik. Annetschka glaubte ihm und verstand ihn. Wäre Kondratjuk bei diesen abendlichen Rezitationen anwesend gewesen, hätte er sicherlich gestaunt und gesagt: „Aus dir sprudelt es ja förmlich, Tschesnokow! Direkt in Versen sprudelt es! Schreib es auf, und mach es zu Geld! Einen Motorroller solltest du kau…“ Doch Kondratjuk hörte sich niemals Tschesnokows Gedichte an, das zahlte sich nicht aus, hatte also keinen Sinn. Überdies wären in seiner Gegenwart Tschesnokows Gedichte wie ein Häufchen schutzloser, scheuer, unbeholfener, lächerlicher Wörter gepurzelt gekommen. Annetschka schrieb insgeheim die Zeilen nieder, die sie sich gemerkt hatte, und sie besaß ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Das kleine Verspaket wurde von Monat zu Monat umfangreicher. Tschesnokow wußte, daß seine Frau versuchte, seine Werke „für die Nachwelt“ zu erhalten, und er dachte nicht daran, es ihr zu verbieten. Niemals bat er sie darum, etwas daraus vorzulesen. Wozu sollte man die Manuskripte lesen? Alle seine Gedichte konnte er in Zeitungen, Zeitschriften und in Sammelbänden antreffen. Allerdings nur mit fremden, verschiedenen Familiennamen. Doch was bedeutet das schon! Pionow hatte schon etliche Male bei Tschesnokow im Betrieb angerufen und ihn gebeten, etwas Neues vorbeizubringen. Aber Tschesnokow hatte immer unter verschiedenen Vorwänden abgelehnt. Beim ersten Mal hatte er gesagt, er habe das Schreiben eingestellt, doch Pionow schenkte ihm keinen Glauben. „Das hängt jetzt nicht mehr von dir ab, ob du weiterschreibst. Die Verse werden wie von selbst in deinem Kopf entstehen, dagegen kannst du überhaupt nichts tun.“ Beim nächsten Anruf hatte Tschesnokow entgegnet, er habe nichts Besonderes. Wieder etwas später: Er habe keine Zeit. Das war die Wahrheit, denn die Gruppe, in der Tschesnokow arbeitete, war gerade dabei, ein bestimmtes Thema abzuschließen. Zuletzt hatte Tschesnokow nur einen einzigen Satz gesagt: „Die ganze Geschichte würde sich nur aufs neue wiederholen.“ Dann hatte er den Hörer aufgelegt. Pionow rief wieder an und bat darum, zu ihm nach Haus kommen zu dürfen. Tschesnokow hatte zur Ablehnung keinen Grund, er nannte einen Zeitpunkt, fuhr dann aber völlig unerwartet auf eine Dienstreise. Pionow kam aber trotzdem. Annetschka war daheim. Pionow stellte sich vor, und als er erfuhr, daß Tschesnokow nicht da war, freute er sich sogar. Über eine halbe Stunde sprachen sie über die Dichtkunst, und es stellte sich heraus, daß ihnen die gleichen Dichter gefielen. Beiläufig erkundigte sich Pionow, ob Tschesnokow weiterhin Verse schrieb. Annetschka zeigte ihm schweigend einen Stoß Blätter und berichtete, daß sie ihre Niederschriften vor Wladimir geheimhielt. „Das hat alles bereits in Zeitungen und Zeitschriften gestanden“, sagte sie. „Es ist wirklich unheimlich!“ „So was, so was“, meinte Pionow. „Erlauben Sie mir, mal einen Blick hineinzuwerfen?“ Annetschka gestattete es. Pionow blätterte rasch die Seiten durch, die mit klaren Schriftzügen beschrieben waren. „Ich habe das auch schon gelesen“, sagte er schließlich. „Na sehen Sie“, erwiderte Annetschka traurig. „Es ist ein Jammer, daß er gar nicht anders kann als schreiben, selbst wenn er nicht will. Schweigt er mal tagsüber, dann spricht er nachts im Traum.“ „Ja, so ist das! Könnten Sie mir wohl diese Gedichte für ein paar Tage überlassen?“ „Bitte, nehmen Sie sie nur. Ich möchte nur nicht, daß Wolodja etwas davon erfährt.“ „Doch! Man muß ihm das zeigen. Ich werde es ihm selbst zeigen, und Sie bestreiten lieber erst gar nicht, daß Sie alles aufgeschrieben haben. Vielleicht ist das für ihn das beste!“ Anja bewirtete Pionow mit Tee und Honig, und er stellte ihr die Schüssel mit Wäsche auf den Gaskocher. Sie konnte das nicht mehr selbst tun, weil sie ein Baby erwartete. Bei seiner Verabschiedung war Pionow besorgt darum, wer ihr denn die Schüssel wieder herunternehmen würde. Er ließ so lange keine Ruhe, bis er mit dem Nachbarn abgesprochen hatte, daß er behilflich sein würde. Kondratjuk war herausgekommen und hatte sich sehr gefreut, mit einem Vertreter der Presse bekannt zu werden! Aber selbstverständlich weiß er, weiß recht gut, daß Tschesnokow literarische Neigungen hat. Nein, nein, er habe noch nichts von ihm gelesen, aber er hoffe, es irgendwann einmal zu tun. Wenn man Sommer hätte, würde er den Genossen Pressevertreter gern mit seinem Motorroller heimfahren. Kondratjuk war eben ein hilfsbereiter, guter Kerl. 6 Als Tschesnokow von der Dienstreise zurückkehrte, erzählte ihm Annetschka alles. „Das ist Unsinn“, meinte Tschesnokow. „Es gibt überhaupt nichts aufzuschreiben. Hör dir meine Verse allein an. Wenn du auf etwas stolz sein willst, dann nur darauf, daß du sie als erste kennenlernst.“ Pionow jedoch war an dieser Geschichte sehr interessiert. Kurz darauf besuchte er Tschesnokows noch einmal und hatte den alternden Redakteur der Jugendzeitung, Timofej Fjodorowitsch, mitgebracht. Auch Benjamin Kondratjuk gesellte sich zu ihnen, weil er Sprechen gehört hatte. Pionow hatte keine Lust, seine Vorstellungen, dazu noch völlig phantastische, vor Außenstehenden darzulegen; aber als ihm Kondratjuk als bester Freund der Familie Tschesnokow vorgestellt wurde, überdies auch der Nachbar war, mußte sich Pionow fügen. Das Gespräch kreiste lange um nebensächliche Themen. Der Redakteur sah sich schon genötigt, der Ansicht beizupflichten, daß der „Pannonia“ im Vergleich zum „Ural“ für die Strecken in Sibirien der reinste Ausschuß sei. Tschesnokow freute sich nicht sonderlich über diesen Besuch. Schließlich setzte Timofej Fjodorowitsch seine Tasse von sich weg und sagte: „Schluß! Danke! Ich kann nicht mehr!“ Pionow atmete ebenfalls erleichtert auf, holte seine riesige Aktentasche heran, öffnete sie und zog ein dickes Päckchen mit Blättern, Zeitungsausschnitten und mehreren kleinen Büchern heraus. Kondratjuk stellte rasch das Geschirr zusammen, und Annetschka trug es in die Küche. Alle nahmen ihre Plätze am Tisch ein. Sie waren so ernst und konzentriert wie in einer wichtigen Konferenz. „Wladimir“, begann Pionow, „möglicherweise ist das, was du jetzt zu hören bekommst, für dich etwas unangenehm.“ Tschesnokow winkte ab. „Schießen Sie los!“ „Dieser Vorfall mit Sergej Serjegin ist mir die ganze Zeit über nicht aus dem Sinn gekommen“, fuhr Pionow fort. „Ich habe mir sorgfältig alles angesehen, was er vorher und nachher geschrieben hat. Dann habe ich festgestellt, daß sich Serjegins letzter Band von allem, was er bisher geschrieben hat, unterscheidet wie Tag und Nacht. Es ist wirklich ein Ereignis in der Dichtkunst. Niemand hat je zuvor so geschrieben. Denken Sie an Majakowski. Weder vor noch nach ihm hat irgendwer so geschrieben wie er.“ „Wieso, Grigori, Sie haben schon geschrieben, aber es ist nichts dabei herausgekommen“, warf der Redakteur ein. „Genau das meine ich. Was andere schrieben, hatte weder Hand noch Fuß. Aber bei Majakowski hatte es!“ „Na, was weiter?“ fragte Kondratjuk, starr vor Schreck, im Flüsterton. „Weiter nichts, nur, Handwerkelei gleicht wie ein Ei dem anderen, aber Talent läßt keinen Vergleich zu.“ „Talent!“ flüsterte Kondratjuk und erschauerte gewissermaßen wie vor einem entsetzlichen Geheimnis. „Der Gedichtband ›Staunen‹, den Serjegin herausgegeben hat, ist der Grin in der Dichtkunst. Kaum war er erschienen, da war er auch schon in aller Munde. Würden Sie Erzählungen Alexander Grins von denen anderer Autoren unterscheiden können?“ fragte Pionow, an Kondratjuk gewandt. Kondratjuk wurde verlegen. Woher sollte er die Zeit nehmen, Grin zu lesen? Der Roller forderte sein Recht, dann war die Pilzzeit, die Beerenzeit… Im Winter hatte man auch keine Muße zum Ausruhen. „Na schön“, sagte Pionow gedehnt. „Das ist jetzt nicht die Hauptsache. Ich habe hier drei Gedichte aus der ›Jugend‹, Nummer elf, vom vorigen Jahr.“ Pionow zog die Zeitschrift aus dem Papierstoß heraus und klopfte mit der Hand darauf. „Haben Sie das gelesen?“ Tschesnokow angelte nach den Zigaretten. „Ich verstehe“, sagte Pionow. „Es ist nicht angenehm. Ich habe diese Verse im Manuskript gesehen, das Ihre Frau angelegt hat. Der Stil, die Denkweise, die Fähigkeit, die Welt nicht so zu sehen, ein klein wenig nicht so wie alle anderen… Es ist das Staunen, genau das gleiche Staunen! Die Welt verlernt allmählich, sich zu wundern, zu staunen. Wodurch kann man einen Menschen in Staunen versetzen? Mit einem Flug zum Mars? Mit Afrika? Bei Sonnenaufgang durch den schmalen Streifen erster Morgenröte? Oder vielleicht durch Musik, durch das Lachen eines Kindes? Wodurch?“ „Ja, das ist richtig!“ rief Kondratjuk begeistert aus. „Nein, es ist nicht richtig. Darüber staunt man zwar, doch irgendwie schwach, lau. Man staunt auf eine alltägliche Weise. Stellen Sie sich das richtig vor, dieses alltägliche Staunen? Ein alltägliches Staunen! Kann denn Staunen überhaupt alltäglich sein? Es ist ja gerade deshalb ein Staunen, weil es sich vom Alltag unterscheidet und gar nichts Alltägliches ist.“ Tschesnokow saß mit einem Gesichtsausdruck da, als ginge ihn die Sache überhaupt nichts an. „Und in diesen Versen ist alles anders als in den üblichen Gedichten bei anderen Lyrikern.“ „Er ist auch in Wirklichkeit so“, sagte Annetschka und wurde verlegen. „So, wie er im Leben ist, zeigt er sich auch in seinen Versen.“ Großer Gott, dachte der Redakteur, was ist das für eine glückliche Frau! „Die Gedichte sind alle mit fremden Namen gezeichnet. Ich habe sie gesammelt. Hier, sehen Sie mal. Sind das deine Verse, Wladimir?“ „Ich kenne sie“, sprach Tschesnokow leise. „Ich habe sie alle gelesen.“ „Zunächst habe ich alle gesammelt, und erst dann kam ich zu euch in der Hoffnung, wenigstens die Manuskripte dazu vorzufinden. Ich habe mich nicht getäuscht. Alle Manuskripte sind hier.“ „Nicht alle“, sagte Tschesnokow. „Die letzten habe ich sogar Annetschka nicht mehr vorgetragen.“ — „Diese hier?“ „Ja.“ „So entstand spontan ein Kreis von Dichtern, die ›Ihre‹ Verse aufschrieben. Irgendwie haben sie einander gefunden, aufgespürt. Es sind zehn Mann. Serjegin haben sie zu ihrem Vorsitzenden gewählt.“ „Das weiß ich alles“, brachte Tschesnokow ruhig und bedächtig hervor. „Ich kann Ihnen in keiner Weise nützlich sein.“ „Ich habe eine Hypothese“, sprach Pionow. „Absolut phantastisch. Vielleicht ist es tatsächlich so, daß nicht Sie das alles schreiben.“ Pionow war automatisch zum „Sie“ übergegangen. „Vielleicht schreiben wirklich die anderen? Und Ihr Gehirn reagiert so exakt und präzis auf eine bestimmte Strömung, daß es sie im gleichen Moment aufnimmt. Und es ist absolut nicht zu beweisen, daß sie bei Ihnen zuerst entstehen.“ Annetschka biß sich auf die Lippen. „Telepathie!“ brachte Kondratjuk mühsam hervor und fühlte, wie sich sein Gesicht mit kaltem Schweiß bedeckte. „Ja, ja. Nein doch! Was soll hier die Telepathie? Darum geht es gar nicht.“ „Schon gut!“ sagte Tschesnokow. „Ich danke Ihnen für die Mühe. Immerhin ist es ein Zeichen von Anteilnahme.“ „Das ist es ja“, der Redakteur der Jugendzeitung machte zum ersten Male während dieses Gespräches den Mund auf, „daß dies alles Unsinn ist.“ „Telepathie gibt’s nicht.“ Kondratjuk atmete erleichtert auf. „leb hab’ davon gehört.“ „Weshalb sind für alle diese Dichter“, der Redakteur tippte mit den Fingerspitzen auf den Papierstoß, „gerade diese Verse die Ausnahme in ihrem Schaffen?“ „Ja, das stimmt“, unterstützte ihn Pionow, „es werden ein, zwei Gedichte geschrieben oder, wie bei Serjegin, ein ganzer Band, und weder vorher noch nachher gelingt wieder etwas auch nur annähernd Ähnliches. Dafür aber schreibt dann ein anderer etwas in der Art. Abermals ist es auch bei ihm eine deutliche Ausnahme. Bei dir aber ist es System. Es ist unverwechselbar. So nehmen sie deine Verse vielleicht durch ein Wunder unmittelbar aus deinem Gehirn in ihr eigenes auf? Und diese Verse stammen in der Tat von dir? Begreifst du, es sind deine Verse!“ Er lehnte sich zufrieden im Stuhl zurück und warf den anderen einen triumphierenden Blick zu. „Aber es läßt sich nicht beweisen“, sagte Timofej Fjodorowitsch. „Leider.“ „Wozu denn beweisen?“ fragte Tschesnokow. „Doch, es ist möglich“, widersprach Pionow. „Es ist schwierig, aber möglich. Theoretisch läßt es sich machen, wenn man weiß, bei wem sie zuerst entstehen. Irgendeinen Zeitunterschied muß es geben. Nehmen wir mal an, ihm, besagtem Mann, ist am Abend die Tinte ausgegangen, oder er hat kein Papier mehr. Es ist also nichts zum Weiterschreiben da. Am nächsten Morgen hat sich alles derartig zusammengestaut, daß es ihn fast erdrückt. Da hast du den Zeitunterschied. Du konntest in der Zwischenzeit schreiben. Der Unterschied muß also stets zu deinen Gunsten ausfallen.“ „Und ich soll deshalb immer die Tintenfässer offenhalten?“ Tschesnokow lachte. „Das ist wirklich zum Lachen“, meinte Anja. „Man muß die Öffentlichkeit mobilisieren“, ließ sich Kondratjuk mit einem Ratschlag vernehmen. „Die Öffentlichkeit, sie vermag alles.“ „Und wenn du die gesamte Öffentlichkeit auf den Kopf stellst…“, stöhnte Timofej Fjodorowitsch. „In diesem Falle muß man sich an die ›Technik der Jugend‹ wenden“, schlug Kondratjuk wieder vor. „Dort werden noch ganz andere Sachen gedruckt.“ „Nein, nein“, sagte der Redakteur, „hier hilft auch kein Zeitvorsprung. Was sind schon ein, zwei Tage? Und wenn man es dann mit so einem Menschen zu tun hat wie mit Serjegin? Abgesehen von allem übrigen, hat er Ambitionen, kann reden, und über das Urheberrecht weiß er wie kein anderer Bescheid! Versuchen kann man es natürlich. Wir haben uns übrigens entschlossen, ein paar von Ihren Gedichten zu drucken, soll uns daraus entstehen, was will. Immerhin ist es etwas Definitives.“ „Ja, Wladimir, eine Auswahl von Gedichten ist dir sicher.“ „Haben Sie ihn endlich rumgekriegt“, freute sich Kondratjuk. Die Geschichte hatte ihn direkt in Rührung versetzt. Er spürte sogar den Wunsch, seinem Nachbarn zu helfen. Warum sollte er immer leer ausgehen? Aber wie war ihm zu helfen? „Von rumkriegen kann hier gar keine Rede sein“, schnitt ihm der Redakteur das Wort ab. „Es ist einfach unser Entschluß.“ „Ich habe nichts dagegen“, warf Tschesnokow müde ein. Er war offensichtlich sehr niedergeschlagen. Seine Frau nahm vorsichtig seine Hand und streichelte sie behutsam. „Wir glauben unbedingt, daß dies Ihre Verse sind. Sie müssen unter Ihrem Namen erscheinen“, sagte Timofej Fjodorowitsch mit Entschiedenheit. „Im Moment bin ich davon nicht überzeugt.“ Die Gäste verabschiedeten sich spät. Kondratjuk hatte kein Verständnis für diese Sache. Da fällt das Glück einem Menschen von selbst zu, und er stößt es zurück. Daß Tschesnokow gut schreiben konnte, davon war Kondratjuk überzeugt. Schließlich kamen solche Leute nicht umsonst zu ihm! Als sie sich trennten, schwor Pionow, einen Artikel zu schreiben. Er wußte zwar noch nicht für welche Zeitung, aber schreiben würde er ihn. Und Timofej Fjodorowitsch sprach, wie immer, überhaupt nicht, er dachte nur von den Tschesnokows: Die Menschen haben es doch schwer. Aber warum hat man in ihrer Wohnung den Eindruck von Glück? 7 Tschesnokow schickte nichts an die Zeitung. Pionow schrieb immerhin einen geistreichen Artikel, in dem er die Tatsachen ausführlich darlegte, die rätselhafte Erscheinung und das Schicksal des allen unbekannten, talentierten Dichters betreffend, und schickte ihn an „Das Literarische Rußland“. Monate später ging eine Antwort darauf ein, in der mitgeteilt wurde, daß die Zeitung äußerst selten wissenschaftliche Phantastik publiziere und sich augenblicklich nicht in der Lage sehe, die Erzählung zu veröffentlichen. Pionow regte sich ungemein auf, schrieb der Zeitung einen scharfen Brief, erhielt aber keine Antwort. Trotzdem hoffte er weiter, irgendwann einmal die Richtigkeit seiner Thesen beweisen zu können und Tschesnokow in seine Rechte einzusetzen. Zwei- bis dreimal im Jahr war er bei Tschesnokows zu Gast, aber immer seltener bat er Wladimir darum, der Zeitung etwas einzureichen. Später versetzte man ihn an eine andere Arbeitsstelle nach Moskau, an eine der zentralen Zeitungen. Bei Tschesnokows wurde ein Sohn geboren, später noch ein Sohn und eine Tochter. Mit den Kleinen gab es viel zu tun. Zu diesem Zeitpunkt hätte Tschesnokow wohl an die zwei Dutzend Bücher gehabt, falls es gelungen wäre, die Gedichte zusammenzufassen. Seine erste Erzählung schrieb Tschesnokow, als der älteste Sohn, damals noch der einzige, drei Monate alt war. Seit dieser Zeit schrieb er immer seltener Gedichte. Mehr und mehr fühlte er sich zur Prosa hingezogen. Zunächst waren es kürzere, traurige Erzählungen, doch von feinem Humor. Dann kamen längere, ernsthafte. Einmal riskierte er eine Novelle. Abermals sah er sie alle in Zeitschriften und Sammelbänden unter fremden Namen. Der spontan entstandene Dichterkreis „Staunen“ zerfiel wieder, weil immer seltener Verse entsprechenden Stils und Ausdrucks im Druck erschienen. Aber wer schrieb nun eigentlich diese Verse und Erzählungen? Pionow hatte nichts beweisen können. Er war überzeugt davon, daß alles von Tschesnokow stammte, doch dafür brauchte man Beweise. Und Tschesnokow selbst? Natürlich war es für ihn bedrückend, zu sehen, daß irgend jemand seine Werke im Nu empfing und als die eigenen ausgab, ohne im mindesten daran zu zweifeln. Noch schlimmer aber wäre gewesen, wenn er selbst, Tschesnokow, die Fähigkeit besäße, Gedichte und Erzählungen anderer Autoren, die seiner eigenen Verfassung entgegenkamen, im Flug einfach aufzunehmen. Er dachte viel darüber nach, besonders nach dem denkwürdigen Gespräch mit Pionow und Timofej Fjodorowitsch. Er war felsenfest davon überzeugt, daß er es war, der alles schrieb. Das gab ihm aber noch nicht das Recht, seine Manuskripte an Verlage und Redaktionen zu schicken. Die Zeit verging. Tschesnokow leitete inzwischen ein kleines Laboratorium, Kondratjuk war Chef einer großen Abteilung geworden. Beide waren nicht gewöhnt, ihre Arbeit aus dem Handgelenk zu schütteln; das bedeutete für sie, daß sie häufig technische Probleme in der Freizeit lösen mußten. Kondratjuk empfand für Tschesnokow irgendwie eine seltsame Achtung. Da klettert ein Mensch eine Steilwand hinauf, strengt sich nach allen Kräften an, stürzt, klettert wieder. Und wozu? Auf der Bergspitze ist doch sowieso nichts. Kein Goldfeld, keine wundersame Blume, nicht einmal die Aussicht auf Berge und Täler kann man von dort aus genießen, weil der Gipfel ewig von Nebel eingehüllt ist. Trotz alledem setzt dieser Mensch seinen Aufstieg fort. Diese unverständliche Hartnäkkigkeit erzeugt unwillkürlich Achtung und Schrecken. Und wenn es nun ihn selbst beträfe, ihn, Kondratjuk? Nur gut, daß er es nicht war! Benjamin Kondratjuk hatte Tschesnokow gegenüber sogar so etwas wie eine Patenschaft übernommen. An freien Sommertagen bot er seinen Wagen an, damit man in die Natur hinausfahre, und er lud in sein Sommerhaus ein. Manchmal nahmen Tschesnokows die Einladung an. Kondratjuk war dann aufrichtig froh. Es gefiel den Menschen – also hatten sein Wagen und sein Sommerhaus auch einen Sinn. Man hatte das Geld nicht sinnlos da hineingesteckt. Meistens lehnten Tschesnokows jedoch ab. Zu fünft wanderten sie durch die Vorstadtwäldchen von Ust-Mansk. Der älteste Sohn konnte bereits einen kleinen Rucksack tragen, die Kleinen durften meist auf Vaters nicht allzu starken Schultern reiten, bis die Familie ans Ufer eines Bächleins oder Flüßchens gelangte. Sie entfernten sich nicht weit von der Stadt, aber sie sahen sehr viel. Die seltsame Gabe Tschesnokows half ihnen, alles anders zu sehen als gewöhnlich. Davon wurde einem merkwürdig zumute, man wollte fliegen und dann wieder weinen, weil man ja nicht fliegen konnte. Möglicherweise hätte Tschesnokow das Schreiben aufgegeben, falls Annetschka auch nur ein einziges Mal beim Zuhören mit träger Handbewegung ein gelangweiltes Gähnen unterdrückt hätte. Das geschah aber nie. Für sie war es interessant. Genauso wie vor zehn Jahren hörte sie, welch eine eigenartige, wundervolle, frohe und traurige glückhafte und bittere Welt sie umgibt. Er war stets ein anderer. Wer könnte sich da langweilen, wenn einen jederzeit etwas anderes und Neues umgibt? Gegähnt wird nur, wenn alles schon längst bekannt ist und von der Zukunft nichts Neues zu erwarten ist. Er schrieb, weil es für ihn und seine Frau Annetschka, jetzt schon Anna, interessant war. Einmal hat Tschesnokow unwiderlegbar beweisen können, daß nur er schrieb. Schon vordem hatte Pionow die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß die ungewöhnlichen Verse aus dem Schaffen der betreffenden Dichter herausfallen, daß sie jedoch bei Tschesnokow ein geschlossenes System bilden. Es war lediglich zu beweisen, bei wem sie sich zuerst formten. Tschesnokow hatte eine Novelle aus dem Leben von Ingenieuren begonnen. Sie war in Form von drei Erzählungen angelegt, die drei Hauptpersonen zufielen. Die Novelle schrieb sich flüssig. Tschesnokow schrieb im allgemeinen sehr leicht. Der erste Teil war bereits abgeschlossen, der zweite begonnen. Wie immer stieß Wladimir beim Durchlesen der Neuerscheinungen in der Bücherei in einer Zeitschrift auf den ersten Teil seiner Novelle. Daran war er bereits so sehr gewöhnt, daß es weder ihn noch Annetschka verwunderte. Der Frühling hatte in jenem Jahr zeitig Einzug gehalten. Tagsüber taute der Schnee, aber morgens war er wieder gefroren. Tschesnokow ging zur Arbeit, glitt aus und brach den Arm. Er kam ins Krankenhaus, aber das Handgelenk wollte lange nicht heilen. Außerdem stellte sich noch eine Schädigung der Wirbelsäule heraus. Mit einem Wort, Tschesnokow mußte fast drei Monate im Krankenhaus verbringen. Schreiben konnte er nicht, doch dafür las er, soviel er mochte. Als ihm die Zeitschrift mit dem ersten Teil seiner Novelle in die Hände gekommen war, hatte er aufmerksam die Mitteilung der Redaktion gelesen, daß der zweite Teil in der nächsten Nummer erscheine. Das interessierte ihn. Er hatte es ohnehin nicht schaffen können, den zweiten Teil niederzuschreiben. Tschesnokow suchte die betreffende Nummer der Zeitschrift heraus. Darin war die Fortsetzung nicht zu finden. Auch in der nächsten Nummer war sie nicht zu sehen. Statt dessen hatte die Redaktion eine Mitteilung veröffentlicht: Die Fortsetzung der Novelle wird aus Gründen, die nicht bei der Redaktion liegen, auf unbestimmte Zeit verschoben. Daraufhin schickte Tschesnokow ein Telegramm an den Autor und riet ihm, entweder den Vertrag mit dem Verlag zu lösen oder die Erscheinungstermine zu verändern, denn er, Tschesnokow, könne sich zur Zeit nicht mit der Novelle beschäftigen. Der Autor erhielt das Telegramm, wollte Tschesnokow zunächst mit beißender Ironie antworten, überlegte es sich jedoch anders. Schließlich hatte jeder Schriftsteller so seine Gegner! Mit allen kann man nicht korrespondieren. Die Novelle war bei ihm aber in der Tat ins Stocken geraten. Nicht ein Wort war er weitergekommen. Jeder mögliche Unsinn kam ihm in den Kopf, nur nicht das, was er gebraucht hätte. Etliche Male bereits war er in einen Betrieb gegangen, um sich anzusehen, wie die Ingenieure arbeiteten. Er selbst war nie Ingenieur gewesen. Es hatte aber nichts genützt. Die Redaktion drängte ihn mit ihren Anrufen, er hatte dieses Klingeln des Telefons gründlich satt. Wo sollte er denn die Fortsetzung hernehmen, wenn ihm der Faden gerissen war! Tschesnokow war über sich selbst überrascht, als er dem Autor einen Brief schrieb und ihn darin bat, ihm die Zeitabschnitte mitzuteilen, wenn er den zweiten und den dritten Teil begonnen und abgeschlossen habe. Tschesnokow wurde zu diesem Zeitpunkt aus dem Krankenhaus entlassen, und zwei Wochen später hatte er den zweiten Teil beendet. Auch bei dem Autor der Novelle ging es plötzlich wieder weiter; er kam so gut voran, daß er den zweiten Teil der Novelle genau nach zwei Wochen abschließen konnte. Aus Freude darüber schrieb er Tschesnokow einen ausführlichen Brief, in dem er mitteilte, wann und wie er den zweiten Teil der Novelle geschrieben hatte. Schließlich muß man seinen wohlwollenden Lesern manchmal eine Antwort zukommen lassen! Nun wußte Tschesnokow mit Sicherheit, daß er es war, der die Sachen verfaßte. Er hatte jetzt sogar größte Lust, den Novellenschreiber zum Narren zu halten und den dritten Teil überhaupt nicht zu schreiben. Als er jedoch diesem Gedanken eine Zeitlang nachgegangen war, sagte er sich, daß er keinerlei Veranlassung hatte, sich über einen Menschen lustig zu machen, den doch eigentlich gar keine Schuld traf. Kritische Aufsätze, Rezensionen und Abhandlungen besagten, daß Tschesnokow ein begabter Schriftsteller war. Die Tschesnokows hatten vor Kondratjuk als einem alten Freund der Familie keine Geheimnisse. Auch er freute sich über alle Maßen, als er erfuhr, daß es seinem Nachbarn gelungen war, seine, Tschesnokows, Priorität unter Beweis zu stellen. Schließlich bedeutete das, daß Tschesnokow nicht umsonst den Berg hinaufgeklettert war, wenn man jetzt begann, seine Werke unter dem richtigen Namen zu veröffentlichen; es würde sich materieller Wohlstand, durch ehrliche Arbeit erreicht, einstellen, und das war es, was Kondratjuk am meisten schätzte. Tschesnokow hatte zu literarischen Kreisen keinerlei Beziehungen und auch gar keine Zeit, sich die Schuhsohlen abzulaufen. Zuweilen traf er Timofej Fjodorowitsch. Er war immer noch als Redakteur der Jugendzeitung tätig und lieferte weiterhin, wie früher, Beweise, daß man ihm eine andere Arbeit zuweisen müsse. Solche Begegnungen waren jedoch rein zufällig und recht kurz. Tschesnokow schrieb weiter, sogar mit noch größerer Freude als vordem. Sein Name wird nicht auf dem Buchumschlag seines Romans erscheinen? Nicht so schlimm! Er wird niemals dort erscheinen? Das war er schon gewohnt. Die Hauptsache war ihm, daß seine Novellen und Romane Anklang fanden. Die Menschen fanden darin das, was sie in den Werken anderer Autoren vermißten. Außerdem waren seine Romane ein klein wenig außergewöhnlich, in ihnen schwang immer wieder jenes große Staunen mit. Tscheshokow hatte nicht aufgehört, sich über die Welt und die Menschen zu wundern, über sie zu staunen. 8 Tschesnokows Haltung regte Kondratjuk allmählich auf. Du sollst nicht stehlen, nicht schwindeln, sondern ehrlich leben! Das war alles gut und richtig. Noch nie in seinem Leben hatte Kondratjuk etwas Unrechtes getan. Nicht gestohlen, nicht betrogen. Mit seiner Hände Arbeit und im Schweiße seines Angesichts hatte er sich den Wagen und das Sommerhaus verdient, auch die AWG-Wohnung für den einen Sohn. Wenn es die Umstände erfordert hatten, war ihm sogar sonn- und feiertags, ja auch im Urlaub das Schuften nicht zuviel gewesen. Aber das hatte auch etwas eingebracht, hatte sich bezahlt gemacht, war notwendig gewesen. Sollte irgendwer versuchen, ihm seinen Ausgehanzug zu stehlen oder draußen vor der Stadt sein Sommerhaus zu demolieren, dann würde er diesem Kerl aber an die Gurgel springen und ihn durchprügeln, daß er für alle Zeiten einen Denkzettel hätte! Das gehört mir! Rühr es nicht an! Schaff dir selbst etwas! Tschesnokow jedoch gab alles freiwillig weg! Das Schwarze Meer, eine Jacht, Auslandsreisen, das viele Geld und den Ruhm. Und an wen? Wer gerade so daherkam. Tschesnokow war das vollkommen gleichgültig. Dabei gehörte alles, aber auch alles ihm allein, nach Gesetz und Recht! Kondratjuk spürte, daß seine ruhige, vernünftige, durchschnittliche Welt zusammenstürzte. Seine beiden Söhne verbrachten ganze Abende bei Tschesnokows. Für sie gab es keine größere Autorität als Onkel Wolodja. So eine Unordnung! Seine eigene Frau, ruhig und unscheinbar, die niemals Mut gehabt hatte, ihre Meinung laut auszusprechen, huschte auch zum Nachbarn hinein; sie schaute nicht mehr länger zu Boden, sondern trug den Kopf hoch erhoben, obwohl sie auch jetzt ihrem Mann nie widersprach. Auch Kondratjuk selbst war häufig Gast bei Tschesnokows. Dort war stets etwas los. Den Menschen gefiel es irgendwie in dieser kleinen Standard-Wohnung, die mit Büchern vollgestopft war. Und erst die Gespräche! Was waren das nur für Gespräche! Einzeln verstand Kondratjuk jedes Wort. Aber der Sinn der Sätze? Was war das nur? Wieso? Weshalb wälzte sich seine Frau nachts von einer Seite auf die andere, konnte nicht schlafen, lag mit offenen, feuchten Augen da und lächelte? Warum war der älteste Sohn von zu Haus fortgegangen? Warum wurde ihm übel, wenn er seinen funkelnagelneuen Wagen ansah? Warum war ringsum solche Leere? Alles nur deshalb, weil Tschesnokow schrieb. Weshalb schrieb er eigentlich? „Wozu schreibst du?“ „Es ist interessant.“ „Was bringt das ein?“ Tschesnokow nahm vom Regal ein Buch mit einem prächtigen Einband. „Ich will, daß so was weniger gelesen wird.“ „Habe ich gelesen. Ein interessantes Buch.“ „Eine Lüge kann auch interessant sein.“ Die Zeit verging. Die Kinder waren herangewachsen und hatten das Elternhaus verlassen. Anna, jetzt bereits Anna Iwanowna, war in die Breite gegangen, doch sie lachte noch genauso ansteckend, war lustig und liebte ihren Wolodka genau wie früher; er war inzwischen zu Wladimir Petrowitsch avanciert, ging etwas krumm, war hager und grau geworden. In der Wohnung war es immer heiter und fröhlich. Sogar als Tschesnokow allein war und Kondratjuk zu ihm ging, um mit ihm eine Zigarette zu rauchen und schweigend dazusitzen, selbst da war in dieser Wohnung etwas Staunenswertes. Es war Kondratjuk, als sähe er Anna Iwanowna und seine Frau, Tschesnokows Kinder und seine eigenen, Bekannte und unbekannte Menschen. Sie verstanden einander prächtig, stritten und gelangten häufig nicht zu einer einheitlichen Meinung, doch alle kamen sie gern hierher. Wieso konnten sie sich plötzlich hier einstellen? Sie waren doch alle weit weg. Jeder kannte den anderen, nur ihn, Kondratjuk, beachtete niemand. Als er zu Ende geraucht hatte, ging er schweigend hinaus, um ein Gläschen Wodka zu trinken und sich schlafen zu legen. Ringsum war es still und leer wie im Grab. 9 Tschesnokow war bereits über fünfundvierzig, als er Timofej Fjodorowitsch zum letzten Male traf. Der war bis zum Rentenalter Redakteur der Jugendzeitung geblieben. Während der fünfundsechzig Lebensjahre hatte er in seinem Kopf viele Gedanken und reiches Tatsachenmaterial aufgestapelt. Auch Timofej Fjodorowitsch schrieb ein Buch, das Fazit seines langen Lebens. Zunächst sprachen sie über das Wetter. Dann wechselte Timofej Fjodorowitsch das Thema und sprach von seinen anhaltenden Schmerzen im unteren Teil der Wirbelsäule, Tschesnokow hatte über Herzschmerzen zu klagen. Man erinnerte sich an Pionow. Er war bereits Chefredakteur einer ansehnlichen Zeitschrift geworden. „Alles noch wie sonst?“ fragte Timofej Fjodorowitsch. „Ja“, entgegnete Tschesnokow. „Aber das Arbeiten fällt immer schwerer. Ich werde noch einen Roman schreiben, wenn ich’s schaffe, dann ist Schluß.“ „Ich werde ebenfalls aufhören. Was wird das für ein Roman bei Ihnen?“ interessierte sich Timofej Fjodorowitsch. „Ich werde ihn ›Wofür hat der Mensch gelebt?‹ nennen“, antwortete Tschesnokow. Timofej Fjodorowitsch stolperte plötzlich auf ebener Strecke und holte tief Luft. „Und Sie?“ erkundigte sich Tschesnokow. „Ist nicht viel wert, etwas Allgemeines. Leeres Gerede.“ „Das glaub’ ich Ihnen nicht, Timofej Fjodorowitsch. Leeres Gerede bringen Sie überhaupt nicht fertig. Ich kenne Sie gut.“ „Ja, natürlich.“ Und Timofej Fjodorowitsch lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema. Eine Weile liefen sie noch im Universitätswäldchen umher, besprachen verschiedenes und verabschiedeten sich schließlich. Nun bin ich an der Reihe, dachte Timofej Fjodorowitsch bei sich. Das Manuskript muß ich vernichten. Auch sein Roman hieß: „Wofür hat der Mensch gelebt?“ Tschesnokows wunderbares Talent hatte auch ihn berührt. * Sie begegneten sich nie wieder. 10 Tschesnokow starb, als der Herbst zur Neige ging, es regnete unaufhörlich, auf der Straße war es glitschig und schlammig. Er war rasch und unerwartet gestorben, ohne jemanden durch seine Leiden oder Krankheiten in Anspruch zu nehmen. Tschesnokow war tot. Kondratjuk hätte nie gedacht, daß Tschesnokow so viele Freunde besaß. Seine Kinder waren mit dem Flugzeug gekommen, auch Kondratjuks Kinder, die jahrelang nicht mehr daheim gewesen waren. Pionow, durch Timofej Fjodorowitsch verständigt, hatte gleichfalls ein Flugzeug genommen. Die Menschen kamen in einem langen Trauerzug in die Wohnung. Stunden dauerte dieses Abschiednehmen. „Mein Gott“, flüsterte Annetschka immer wieder unter Tränen, „er hat sich überhaupt nicht verändert, er ist noch ganz derselbe, vollkommen derselbe.“ Auf Tschesnokows Antlitz lag der Ausdruck ewigen Staunens. Kondratjuk stand am Kopfende des Sarges. Er schwankte vor Müdigkeit und auch wegen des Wodkas, den er getrunken hatte. Seine Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, seine Hände zitterten leicht. Tschesnokow tat ihm aber nicht leid. Im Moment haßte er ihn abgrundtief. Tschesnokow hatte schließlich seinem ganzen Leben den Sinn genommen, all seine unheimlichen Anstrengungen lächerlich gemacht. Doch er, der ein so völlig sinnloses Leben geführt hatte, konnte so viele Menschen auf seine Seite ziehen. Sie weinten! Und seine eigenen Kinder, Kondratjuks Kinder, weinten. Auch die stille, unscheinbare Frau weinte! Aber wenn er, Kondratjuk, stürbe, würden sie dann weinen? Ein bißchen, weil es nun mal so Brauch ist? „Wofür hat der Mensch gelebt?“ schrie Kondratjuk. „Welchen Nutzen hat er der Welt gebracht? Welchen?“ Seine Söhne nahmen ihn schweigend am Arm und führten ihn in seine Wohnung. „Wofür hat der Mensch gelebt?“ Kondratjuk schrie noch immer. „Ihr lügt ja alle! Es war umsonst! Umsonst hat er gelebt!“ „Duuu…!“ kreischte seine Frau auf, die stille, unscheinbare Frau. Sie war stets still gewesen, wie schon ihre Mutter und ihre Großmutter. „Wie kannst du das wagen! Du wirst das niemals begreifen!“ War das wirklich seine eigene Frau? Woher nahm sie solche Worte? „Ich hasse dich! Hasse dich!“ schrie die stille Frau. Seine Kinder setzten sich nicht für ihren Vater ein. In Kondratjuks Kopf ging alles durcheinander. Wohl zum ersten Male in seinem Leben dachte er darüber nach, wofür er selbst eigentlich lebte. Wie lebte er? Er hatte weder Diebstahl noch Betrug begangen. Stets hatte er nur das genommen, was ihm dem Gesetz nach zustand. War das etwa nichts? Was müßte man denn noch tun? Was? Als sie alle vom Friedhof heimkehrten, hatte sich Kondratjuk in das eiskalte Wasser der Mana gestürzt. Man zog ihn heraus, klopfte und schüttelte ihn, und Kondratjuk blieb am Leben. Timofej Fjodorowitsch hatte Pionow überredet, noch eine Woche in Ust-Mansk zu bleiben. Gemeinsam sichteten sie Tschesnokows Archiv. Ungewöhnlich erregt, vertiefte sich Timofej Fjodorowitsch in den letzten Roman Tschesnokows, den Roman, den er selbst ebenfalls geschrieben hatte. Er war darauf gefaßt gewesen, eine absolute Übereinstimmung anzutreffen. Es war jedoch ein völlig anderer Roman. Timofej Fjodorowitsch hatte sich umsonst aufgeregt. Pionow nahm das Roman-Manuskript an sich und war fest entschlossen, es unter Tschesnokows Namen zu publizieren. Er hätte am liebsten auch das Manuskript von Timofej Fjodorowitsch mitgenommen. Was ist schon dabei, wenn zwei verschiedene Romane den gleichen Titel haben? „Das machen wir nicht, Grischa“, sagte Timofej Fjodorowitsch. „Auf die Frage ›Wofür hat der Mensch gelebt?‹ gibt es nur eine einzige Antwort. Wir wollen sie Tschesnokow selbst überlassen.“ September In jedem Jahr nehme ich Ende September Urlaub. Die prächtige Jahreszeit im Süden reizt mich nicht, ich bleibe in Ust-Mansk. Früh am Morgen verlasse ich die Wohnung und eile in den Wald. Was zieht mich wohl dorthin? Wenn ich die drei stauberfüllten Wohnviertel und die bimmelnden Straßenbahnen hinter mich gebracht habe, liegt die Stadt bereits in meinem Rücken. Schon bin ich mitten unter Birken. Sie sind halb kahl, und der Wind reißt die noch mit Leben erfüllten, zitternden Blättchen nahezu ununterbrochen von ihnen los. Sie fliegen in verschlungenen Bahnen und sinken sacht auf den Waldboden. Ringsumher erscheint alles golddurchwirkt: der sanfte Regen, der Erdboden, die strahlende Sonne und die flimmernde Luft; dazwischen blitzen nur die schmalen, schneeweißen Birken. Ich bleibe nicht stehen, sondern laufe weiter, fast renne ich hinunter in die Hexenschlucht. Meine Füße federn auf dem sumpfigen Boden, ich bahne mir meinen Weg durch die Büsche. Sie sind noch völlig grün. Der kleine, verschmutzte und verschlammte Bach, auf dem anderen Ufer die Häuschen der Mitschurin-Gärten, mit Stacheldraht abgezäunt. Weiter, immer weiter, hin zum Fluß. Ich klettere die Uferböschung hinunter, trete dicht an das Wasser heran und schöpfe mir eine Handvoll davon. Fischer stehen mit Gummistiefeln fast bis zur Gürtellinie im Wasser. Sie betrachten mich mißtrauisch. Ich könnte die Fische aufschrecken. Es ist still ringsumher. Nur das Raunen des Flusses ist zu hören, in weiter Ferne das Tuten eines Schiffes und in den Birkenzweigen das zärtliche Flüstern des Windes. Die Fischer haben keinen Grund zur Beunruhigung, ich laufe weiter. Die ausgetrocknete Wiese von Potap habe ich bereits hinter mir gelassen, auch der Bootsverleih liegt jetzt mit seinen pilzartigen Sonnenschutzdächern verlassen da, vor der Sonne verbergen sich dort zur Zeit lediglich die Schatten ebendieser Pilze. Die Pionierlager sind geschlossen, nur ein Hofhund, wahrscheinlich rein zufällig zurückgeblieben, fristet hier noch sein Dasein, obwohl die Kinder längst in der Stadt sind. Die wuchtigen, tatzenartigen Zweige der Zedern kann der nahende Winter nicht schrecken. Der Zedernforst bringt mich zur Bassandaika. Während des Sommers ist sie fast gänzlich versiegt, und ich durchquere ihre Furt. Verwundert betrachte ich das eigenartige Farbenspiel: Gold und kräftiges Grün, weiße Streifen und satte Brauntöne; alles miteinander und durcheinander. Die Birken und die Zedern wirken wie Burschen und Mädchen, die sich zum Tanz aufgestellt haben. Nur einen Augenblick kann ich mich hier aufhalten. Ich klettere den Berg hinauf. Wiederum Pionierlager, eine asphaltierte Straße oberhalb des Abhangs. Keine Menschenseele. Schweigen. Nur der Wald spricht. Weiter, immer weiter. Vorbei an einem Feld, auf dem noch Weizen steht, durch Schluchten und durch Birkenwäldchen, die ab und an wie kleine Inseln auftauchen. Ebereschen neigen sich am Abhang. Sie sind fremd und doch so vertraut, daß es einem ans Herz greift. Ich fühle mich beschwingt, nirgends hält es mich, ich eile weiter. Mein Ziel heißt heute morgen Blaue Felswand. Sie ragt über die träge dahinströmenden Mana als hundert Meter hoher Felsblock auf; graublau, an manchen Stellen verwittert und ausgewaschen von Regen und Wind. Ich bin am Ziel angekommen. Abermals begegne ich ihr. Sie erscheint zwischen den Birken, als habe sie auf mein Kommen gewartet. Heute winkt sie mir nicht zu. Es ist unklar, ob sie fröhlich oder traurig ist. Sie gleitet über die ausgedörrten Birkenblätter dahin wie über einen gelben Teppich. Ungefähr fünf Meter von mir entfernt bleibt sie stehen und sieht mich lange schweigend an. „Guten Tag“, sage ich. „Guten Tag“, erwidert sie. „Ich werde sie also sehen?“ „Hast du es dir nicht anders überlegt? Es ist noch Zeit.“ „Nein. Ich habe alles entschieden.“ Sie kommt auf mich zu und zupft sich das Haar am Kopfwirbel. … So ist es beim ersten Mal auch gewesen. Ich habe sie hier an dieser Stelle getroffen. Seit vielen Jahren komme ich Ende September hierher. Sie war damals, so wie heute, plötzlich zwischen den Bäumen aufgetaucht, schwarzhaarig, in einem weißen Kleid. Ich hatte sie angesehen. Es war unmöglich gewesen, sie nicht wenigstens einmal anzuschauen. Sie würde sowieso vorübergehen, würde mir ausweichen. Aber sie kam zu mir heran. „Ist es nicht zu kalt für dich in solch einem leichten Kleid?“ fragte ich. Es war tatsächlich kühl. Septembersonne wärmt nicht mehr durch. „Nein“, erwidert sie. Wir verstummten. Worüber hätten wir auch reden sollen? Gelblich glitzernder Regen tröpfelte hernieder. Ich kannte sie und kannte sie auch wieder nicht. Sie ähnelte der Frau, die ich einst geliebt hatte. Das lag jedoch schon sehr lange zurück. Sie ging weiter, und ich lief neben ihr her. „Schön ist es hier“, sagte sie. „Schön.“ Wir kamen an den Abhang. Das gegenüberliegende Ufer der Mana war flach, überflutet, voll kleiner Seen und Wasseradern. Wir vermochten etwa zwanzig Kilometer ins Land hineinzuschauen, dann war der Horizont in grauen Dunst gehüllt. Ich hatte keine Lust wegzugehen, auch sie ging nicht weiter. Es war angenehm, so neben ihr zu stehen, und ich sprach: „Du bist einer bestimmten Frau sehr ähnlich.“ „Ich weiß.“ „Das kannst du überhaupt nicht wissen. Es liegt sehr lange zurück.“ „Ich weiß alles.“ „Bist du eine Zauberin?“ „Nein, keine Spur“, widersprach sie hastig. „Es ist einfach so, daß ich alles weiß.“ „Dann sag mir, wie sie hieß.“ Sie nannte mir ihren Namen. Es stimmte, und sie fügte hinzu: „Das ist auch mein Name. Frag noch etwas anderes.“ Ich fragte nicht weiter, drehte mich um und lief von dem Abhang weg. Ich wollte sie überhaupt nichts mehr fragen. Sie wußte alles. Davon war ich überzeugt. Ich wollte mich nicht an das erinnern, was ich tagtäglich bemüht war zu vergessen. Sie holte mich jedoch ein, hielt mich zurück und zupfte sich dabei am Kopfwirbel. „Sei nicht gleich so eingeschnappt. Ich möchte hier bleiben.“ „Bitte. Ich werde dich nicht stören.“ „Immer bist du so. Geht es denn wirklich nur darum, nicht zu stören?“ „Worum denn sonst?“ Sie schüttelte den Kopf, und ihre Augen waren traurig. „Binde mir einen Strauß. Ich werde ihn mitnehmen.“ „Jetzt gibt es keine Blumen mehr.“ „Blumen nicht, doch Blätter sind da. Sind sie etwa weniger schön als Blumen? — Ich habe dich gestört? Du möchtest allein sein? So sag mir doch, weshalb du eigentlich hierherkommst!“ Ich antwortete nicht. „Morgen komme ich wieder her“, sprach sie. „Und du?“ „Ich komme — nicht.“ „Das glaube ich nicht.“ Sie wandte sich um, ging von dannen und verschwand zwischen den Birken. Ich stürzte ihr nach, aber ich konnte sie nicht einholen, weil es niemanden gab, der eingeholt werden konnte. Nur der Wind wirbelte die Blätter auf und bahnte sich einen Weg durch die Bäume. Am nächsten Tag begrüßte ich sie mit einem Bukett von Blättern. Ich hatte alle Schluchten nach besonders schönen abgesucht, nach roten, orangefarbenen, dunkelgelben und hellgrauen. Der Strauß gefiel ihr. „Warum hast du das gestern nicht tun wollen?“ „Ich hatte Angst“, bekannte ich aufrichtig. „Angst, daß ich nicht mehr von dir weiche.“ „Damals hattest du auch Angst“, meinte sie leise. „Wann war das: damals?“ „Als dir ein Sohn geboren werden sollte.“ „Wer kann das wissen, ob ein Sohn oder eine Tochter?“ „Ich weiß es. Dir wurde ein Sohn geboren.“ „Nein. Du kannst überhaupt nichts wissen! Es ist viel zu lange her. Wahrscheinlich hast du selbst damals noch gar nicht existiert… Ja, es stimmt. Ich sollte ein Kind haben. Aber ich wollte das nicht. War ich zu feig’? Möglich. Es waren damals viel zu schwierige Zeiten, als daß man an Kinder denken konnte…“ „Andere Menschen hatten aber welche.“ „Meinetwegen. Ich bereue überhaupt nichts.“ „Du hast dich nicht im mindesten geändert.“ „Du sagst das so, als hättest du mich früher gekannt.“ „Habe ich auch.“ An diesem Tage sprachen wir nicht mehr darüber. Wir waren einfach durch den Wald geschlendert, hatten mit den Füßen in den Blättern gewühlt, Ameisenhaufen beobachtet, gelacht, unsere Freude gehabt an der Sonne und an der klaren Luft. Ich hatte ihr beim Überspringen kleiner Bäche geholfen, sie durch sumpfige Stellen getragen, weil sie Sommerschuhe anhatte. Ich betrachtete sie aus den Augenwinkeln. Es stimmte. Sie war jener Frau außerordentlich ähnlich, doch die wäre jetzt nicht mehr zwanzig Jahre alt. „War das heute ein schöner Tag?“ fragte sie. „Der allerschönste“, erwiderte ich enthusiastisch. „Das hast du früher schon einmal gesagt.“ Sie drohte mir mit dem Finger. „Heute war er aber noch schöner.“ „Für mich wird es Zeit zu gehen. Morgen bin ich wieder hier.“ „Wo wohnst du?“ „Dort, wo du auch wohnst.“ Sie ging fort, verlor sich wieder in den Birken, und kleine Windstöße eilten ihr hinterher, holten sie jedoch nicht ein, wurden deshalb wieder still, und es blieben gelbe Streifen. Am nächsten Tag sagte ich: „Du bist dieselbe Frau, die ich einst geliebt habe.“ „Selbstverständlich“, bestätigte sie. „Ich — das ist sie.“ „Wie kann man an eine derartige Möglichkeit glauben?“ „Du selbst bist auf diesen Gedanken gekommen.“ „Es ist also möglich?“ „Bei uns ist es möglich geworden. Bei euch nicht.“ „Bei euch, bei uns. Wie ist das zu verstehen?“ „Ich werde es dir erzählen. Erinnerst du dich daran, daß es in eurer Klasse einen bestimmten Jungen gab? Hellblond, hager. Er liebte Gedichte und kam mit der Physik schlecht zurecht.“ „Ich erinnere mich. Wir haben beide später in einer Einheit gedient.“ „Also schön. Er ist ein großer Physiker geworden und hat eine Theorie über mögliche Welten aufgestellt.“ „Das ist nicht wahr. Er wurde getötet. Ich bin neben ihm gewesen, als er gefallen ist. Ich habe ihn weggetragen, aber er war bereits tot.“ „Erzähl…“ „Was gibt es da zu erzählen?“ „Warum er gefallen ist, weshalb du am Leben bist…“ „Wir gehörten zur Aufklärung. Völlig unerwartet tauchten drei MPi-Schützen auf. Er stand vor mir. Er deckte mich.“ „Und ihr habt sie gleichzeitig gesehen?“ „Nein. Ich etwas früher. Er blickte in die andere Richtung. Wir hätten sofort in Deckung gehen müssen.“ „Denkst du auch jetzt noch so?“ „Oft habe ich gedacht, daß ich eigentlich ihn hätte decken müssen und nicht er mich.“ „Warum hast du es dann nicht getan?“ „Das weiß ich nicht.“ „Na gut. Dir ist es gelungen, das zu tun. Er hat dich zu euren Leuten weggetragen, aber du warst bereits tot. Du bist gestorben, er blieb am Leben.“ „Nein, es war alles genau umgekehrt. Schließlich bin ich es, der vor dir steht.“ „Das ist hier. In der Welt jedoch, die euch als die andere, imaginäre, nur mögliche Welt gilt, gibt es dich nicht.“ Ich glaubte ihr, obwohl ich mir diese seltsame Welt gar nicht vorstellen konnte, die Welt des Möglichen, die nur in der Vorstellung existiert. Meine Abwesenheit in dieser Welt konnte ich mir erst recht nicht vorstellen. Es war noch hell. Ich bat sie, mir von der Welt des Möglichen zu erzählen. Das tat sie auch. Ihre Welt war schön. Nicht durch Städte und Flüsse, nicht wegen Flügen über die Grenzen des Sonnensystems hinaus und auch nicht wegen erfreulicher Arbeit. Sie war herrlich durch ihre Gedanken, Gefühle und durch die Beziehungen der Menschen untereinander. Sie erzählte mir von meinen Freunden. Von dem weißblonden, hageren Dichter, der ein bedeutender Physiker geworden war. Auch von den anderen, die nicht mehr auf dieser Erde waren oder von denen ich gar nichts wußte. Je länger sie erzählte, um so klarer begriff ich, daß mein Leben aus einer Kette kleiner und großer Verrate bestand, die meiner Umgebung unsichtbar geblieben waren, weil ich sie tief in meinem Innersten versteckt hielt; es war eine Kette von Furcht, Schrecken und Zweifeln in Momenten, wo es darauf angekommen wäre, klar und entschlossen zu handeln; eine Kette von Halbheiten, die insgeheim für andere Menschen zu Kummer und Leid angewachsen waren. Ich war zurückgeschreckt vor meiner Liebe zu jener Frau, hatte befürchtet, daß sie mich in ihre mir unverständliche Welt hinüberziehen könnte. Deshalb hatte ich ihr geraten, das Kind nicht zur Welt zu bringen, aber im Grunde genommen hatte ich nur frei sein wollen. Ich hatte mich hinter dem Rücken meines besten Freundes versteckt, als uns die Mündungen der MPi unbarmherzig anstarrten. Ich hatte einem Menschen meine helfende Hand verweigert, als er sie brauchte, hatte über andere gelächelt, als ich es nicht hätte tun dürfen; ich war weggelaufen, als ich hätte bleiben müssen; ich hatte die Augen verschlossen, als es nötig war, noch schärfer als zuvor hinzuschauen. „Ist das wirklich alles wahr?“ Ich schüttelte den Kopf. „Es ist die Wahrheit“, sprach sie und hatte damit etwas Bestimmtes im Sinn. Dann betrachtete sie mich und verstummte mitten im Satz. „Schau mich nicht so an“, bat ich. „Was ist denn mit dir?“ fragte sie und strich mir übers Haar mit ihren langen, geschmeidigen Fingern. „Du bist grau geworden…“ Am nächsten Tag fragte sie mich: „Weshalb stellst du nie eine Frage über deinen Sohn?“ „Er ist demnach trotz alledem geboren worden?“ „Ja, in unserer Welt. Er ist nun schon zwanzig Jahre alt. Er arbeitet als Testpilot und liebt ein sehr hübsches Mädchen.“ Sie erzählte mir von ihm, und ich lauschte ihr voller Spannung und Hingabe, sie hätte mir endlos erzählen können. Alles wollte ich über ihn wissen. Sehen wollte ich ihn. Ich bedrängte sie mit Bitten, daß sie ihn mitbringen solle. „Das ist unmöglich“, sagte sie. „In eurer Welt gibt es ihn doch nicht. Deshalb kann er hier nicht erscheinen.“ „Und du? Soll das heißen, daß jene Frau noch am Leben ist, da du hier sein kannst?“ „Ja, so muß es wohl sein. Willst du sie nicht einmal wiedersehen?“ „Ich habe Angst.“ „Du hattest immer Angst.“ Sie war damals weggegangen und ein Jahr lang nicht wieder erschienen. Doch in diesem Jahr habe ich sie nun Ende September abermals getroffen. An der gleichen Stelle. Sie hatte sich nicht im geringsten verändert. Sie war zwanzig geblieben. Ich war ihr entgegengelaufen und hatte sie an mich gedrückt. Sie ließ es geschehen und stellte lediglich fest: „Du hast dich während dieses einen Jahres verändert.“ Sie hatte recht. Ich hatte mich in dem Jahr gewandelt. Jetzt war ich nicht mehr nur Zuhörer, ich erzählte selbst, und sie betrachtete mich mit verwunderten, frohen Augen. Ihr Blick drückte aus: Es geht dir besser… Das war richtig. Ich hatte ein unruhiges Jahr hinter mir. Das schönste Jahr meines Lebens. Wir hatten einander viel zu erzählen, danach versanken wir in Schweigen, die gelben kleinen Taler vom Birkenregen rieselten auf uns herab. „Bist du bei ihr gewesen?“ „Ja. Sie wollte mich nicht sehen.“ „Und du bist wieder gegangen?“ „Nein, ich habe sie trotzdem gesehen. Habe ihr alles erzählt.“ „Hat sie dir verziehen?“ „Nein. Aber sie hat gelächelt.“ „Du liebst sie noch?“ „Sehr.“ „Wirst du zu ihr zurückkehren?“ „Nein, sie braucht mich nicht. Sie hat eine Familie.“ Es folgte noch ein Tag und noch einer; einer immer glückhafter als der andere. Sie erschien zwischen den weißen Stämmen der Birken, und ich eilte auf sie zu. Wir saßen unmittelbar am Wasser, zu unseren Füßen strömte gemächlich der Fluß; was er uns zuflüsterte, war uns wegen seiner Tiefe unverständlich. „Ich möchte einen Blick in eure Welt werfen“, hatte ich gestern gesagt. „Das habe ich erwartet. Und du hast keine Angst?“ „Nein.“ „Trotzdem ist es unmöglich. In unserer Welt gibt es dich nicht. Deshalb kannst du sie nicht betreten. Auch nicht für einen einzigen Augenblick; tätest du es trotzdem einen Moment lang, könntest du nie wieder zurück. Falls du diesen Moment dort verbringen würdest, verschwändest du, hörtest fortan auf zu existieren.“ „Ganz gleich, was geschieht, ich will diese Welt sehen, dich, meinen Sohn, den bedeutenden Physiker und alle anderen.“ „Überleg dir das. Hier könnten wir uns lange treffen.“ „Es ist beschlossen. Erlaube mir, alles mit eigenen Augen zu sehen!“ „Gut. Überleg dir wenigstens noch mal alles bis morgen.“ … Sie erscheint zwischen den Birken, als habe sie auf mein Kommen gewartet. Heute winkt sie mir nicht zu. Es ist unklar, ob sie fröhlich oder traurig ist. Sie gleitet über die ausgedörrten Birkenblätter dahin wie über einen gelben Teppich. Ungefähr fünf Meter von mir entfernt bleibt sie stehen und sieht mich lange schweigend an. „Guten Tag“, sage ich. „Guten Tag“, erwidert sie. „Ich werde sie also sehen?“ „Hast du es dir nicht anders überlegt? Es ist noch Zeit.“ „Nein. Ich habe alles entschieden.“ Sie kommt auf mich zu und zupft sich das Haar am Kopfwirbel. „Küß mich“, spricht sie. „Dort werden viele Leute sein.“ Wir stehen eng aneinandergeschmiegt, die zwanzigjährige Frau und ich, schon völlig grau — grau geworden an einem einzigen Tag. Ich spüre, daß sie mich nicht wieder loslassen will; denn jetzt wird sie mich für immer verlieren. Sie stößt mich von sich und flüstert kaum hörbar: „Ich liebe dich.“ „Ich liebe dich“, sage ich zu ihr. „Warte hier auf mich“, sagte sie. „Ich werde dir ein Zeichen geben.“ Langsamen Schrittes entfernt sie sich immer weiter, wobei sie sich umschaut und sekundenlang stehenbleibt. Sie umarmt eine Birke. Vielleicht fällt ihr das Laufen schwer, oder möglicherweise ist dort die Drucktaste eines für mich unsichtbaren Apparates verborgen. Sie hat sich vom Stamm gelöst, sich aufgerichtet und mich zu sich gerufen. Ich gehe zu ihr hin. Ich will, wenigstens für einen Augenblick, die Welt sehen, in der ich keine Furcht hatte vor meiner Liebe, die Welt, in der ich meinen Sohn nicht umgebracht habe, die Welt, in der ich meine Freunde nicht verriet, mich nicht hinter ihrem Rücken versteckt habe. Ich komme zu dir, meine Jugendzeit! Nimm mich wenigstens für einen Augenblick noch einmal auf! Der Wind bläst die trockenen gelben Blätter in die Höhe und läßt wirbelnde Häufchen entstehen. Der Wind schneidet ins Gesicht und macht die Augen trocken… Ich gehe, und sie rückt mir näher und näher. Nur noch einen Schritt… Die Schaukel des Eremiten 1 „Veilchen“, eine Passagier- und Transportrakete, erwartet in der Regel das transstellare Linienschiff in der Bahn des fünften Planeten vom System Sewan. Auch dieses Mal verlief alles normal. Das Translinienschiff „Warszawa“ materialisierte sich genau an der vereinbarten Stelle, eine Minute vor dem geplanten Zeitpunkt für den Eintritt in den dreidimensionalen Raum. Der Kapitän der „Warszawa“ schickte seine Koordinaten sofort über den Äther. Doch „Veilchen“ hatte durch Radar das Auftauchen des Linienschiffes bereits geortet und nähert sich mit erhöhter Geschwindigkeit. Der Kommandosektor von „Veilchen“ belebte sich. Im Umkreis des Sewan waren Raumschiffe von der Erde nicht gerade häufig. Jetzt würde es neue Geräte und Ausstattungen geben, an denen es den Physikern, Biologen, Archäologen und Ingenieuren des Eremiten beständig mangelte. Auch neue Artikel und Informationen würden sie erhalten. Sie freuten sich auf die Stunden in der Gesellschaft von Menschen, die noch vor kurzem erst auf der Erde gewesen waren. Wochenlang werden sie auf dem Eremiten von den Ereignissen dieser wenigen Stunden erzählen. Die Besatzung von „Veilchen“ wird nur mit Mühe den Einladungen zu einer Tasse Kaffee in jeder Unterkunft der Zentralstation nachkommen können. Von den insgesamt zwanzig Basen würde plötzlich jede Basis jemanden von der Besatzung zur Durchführung unvorhergesehener Arbeiten benötigen. Sie waren jedoch nur zu dritt: Der Kommandeur von „Veilchen“, Sven Thomson, sein Mitarbeiter und Spezialist für kybernetische Anlagen, Nikolai Traikow, und der Funker Henry Wirt. Mit Blick auf die vor ihm auftauchende große Kugel der „Warszawa“ sagte Sven Thomson: „Immer wenn ich es wiedersehe, möchte ich am liebsten gleich auf die Erde zurück. Auf dem Eremiten gibt sich das wieder. Aber hier fällt es mir sehr schwer, nicht sofort den Rapport zu schreiben.“ „Der Polarstern ruft und winkt ihm“, sang Nikolai Traikow zart und weich. „Du kommst vom Eremiten nicht los. Und Anita…“ „Hör auf, Nik“, donnerte ihn Sven an. „Ich bin ja still, ganz still. Du sollst nur keinen Rapport einreichen.“ „Ich habe auf dem Eremiten mein hellblaues leuchtendes Hemd vergessen“, sagte Henry erschrocken. „Osa hat wieder einmal alles durcheinandergebracht.“ „Was sagst du da?“ brachte Nikolai mit Grabesstimme hervor. „Das ist doch die reinste Katastrophe.“ „Du kannst dich ja darüber lustig machen, aber für mich ist es eine ernste Sache. Im Gesellschaftsraum werden alle die leuchtenden Hemden tragen, nur ich…“ „Du kannst meins nehmen“, schlug Sven vor. „Wie bitte?“ fragte Henry erstaunt zurück, mit unmißverständlichem Blick auf den breitschultrigen, großen Kommandeur. „Schließlich brauche ich kein Nachthemd.“ „Wie du willst“, entgegnete Thomson ruhig, dann schrie er plötzlich: „Nur noch drei Minuten! Zum Teufel mit der Etikette! Wir haben noch nie etwas darauf gegeben!“ „Wir begrüßen die Eremiten!“ erklang die Stimme des Kommandanten der „Warszawa“ aus den Lautsprechern. „Wie sieht es mit der Zivilisation aus? Geht es gut voran?“ „Ausgezeichnet!“ rief Thomson. „Man kann sich von ihr überhaupt keine Vorstellung machen. Ist im Gesellschaftsraum alles bereit? Womit wird uns der Chefkoch überraschen?“ „Besatzung von ›Veilchen‹!“ ertönte eine tiefe Stimme. „Fertigmachen!“ „Wir sind bereit!“ entgegnete Thomson. „Ich beginne mit dem Countdown. Zehn, neun… null.“ Der riesige Bord des Translinienschiffes verdeckte die gesamte Sichtwand von „Veilchen“, er kam ganz dicht heran, und im nächsten Moment wurde die Rakete, nach Öffnen der Metall-Keramik-Platten, in sein Inneres gezogen. Die Platten schlossen sich wieder. „Veilchen“ lag nun auf einer Spezialplattform im Verladeraum des Linienschiffes. Der Platz rings um die Rakete war hell erleuchtet. Zur Verladerampe kamen Menschen herbeigeeilt, die in diesem riesengroßen Raum wie Ameisen wirkten. Die massiven Gestalten der Verladekyber kamen in Bewegung. Thomson betätigte die Tastatur. Die zwanzig Meter großen Flügel von „Veilchen“ schoben sich zur Seite, und die kybernetischen Apparaturen konnten mit dem Beladen des voluminösen Raketenrumpfes anfangen. „Das Aussteigen kann beginnen“, scholl es durch die Lautsprecher. Alle drei, einer immer schneller als der andere, stürzten zum Hebekran, und eine Minute später standen sie bereits auf der Rampe und blinzelten in das grelle Licht. „Nun, wie geht es bei euch auf der Erde?“ Die Eremiten benutzten nicht einmal die Strickleiter. Von der zwei Meter hohen Rampe ließen sie sich, ohne zu überlegen, in die freundschaftlichen Umarmungen der Menschen fallen, die soeben von der Erde angekommen waren. Wen kümmerte es schon, daß sie einander vorher nie gesehen hatten! Von allen Seiten hagelte es Fragen, komplizierte, einfache, unsinnige und aufregende. „Habt ihr jetzt Winter?“ „Ja.“ „Warum Winter? Bei uns ist Sommer.“ „Aha, ist klar. Sommer und Winter gleichzeitig. Das ist vielleicht gut!“ Gelächter, freundschaftliches Schulterklopfen, Händeschütteln. „Wieviel Mikrospeicher habt ihr mitgebracht?“ „Das wirst du sehen, wenn du die Liste unterschreibst.“ „Fünfzig Kilo Briefe. Anderthalb Millionen Grüße.“ Sie verließen den Verladeraum der „Warszawa“ unter Gesprächen über tausend verschiedene Dinge gleichzeitig und verstanden sich sofort. Im Aufzug des Linienschiffes hatten nicht alle Platz. Sie wurden in Gruppen befördert. Die hell erleuchteten Schächte waren schier endlos. Man konnte menschliche Gestalten und Kyber darin erkennen. Die Menschen hatten die Hand zum Gruß erhoben, obwohl sie schwerlich sehen konnten, wer sich im Aufzug befand. Sie wußten nur, daß die Besatzung von „Veilchen“ da an ihnen vorbeifuhr. Die Kyber beachteten niemanden, sie hatten nicht nachzudenken, sondern ihre Aufgaben zu erfüllen. Die nicht enden wollende Fahrt nach oben war schließlich doch einmal zu Ende. Wirt, Thomson und Traikow betraten das bewegliche Band der breiten Straße, einen unter den Füßen federnden, blaugrauen Plastgrund. Alle hundert Meter kamen Übergänge und Abzweige in helle, geräumige Korridore. In hohen Sälen befanden sich eigenartige Konstruktionen verschiedenfarbiger Kugeln, Kegel, parabolischer Zwischendekken, Hängebrücken, Zylinder und Metallgerüste. Überall wurden die Eremiten von den Kosmonauten des Linienschiffes winkend begrüßt. Dieses Linienschiff war ein riesiges Laboratorium und wissenschaftliches Forschungsinstitut. „Warszawa“ versorgte die Planeten, auf denen Forschungen im Gange waren, mit allen notwendigen Ausstattungen, Nahrungsmitteln, Fachleuten, Dingen des täglichen Bedarfs und mit Baustoffen. Fast tausend wissenschaftliche Arbeitskräfte waren mit der Erforschung des vierdimensionalen Raumes beschäftigt. „Warszawa“ mußte im Laufe von drei irdischen Monaten zwanzig zu erforschende Planeten beliefern. Nach dieser Zeit gab es einen kurzen Aufenthalt auf der Erde, dann wiederholte sich die gleiche Route von neuem. In der Gesellschaftsraumkajüte waren ungefähr zwanzig Mann anwesend. Thomson erörterte mit ernster Miene mit dem Kommandanten des Translinienschiffes, Anton Weressajew, Fragen der Aufzucht neuer Kakteensorten unter den Bedingungen des vierdimensionalen Raumes. Nikolai Traikow hatte die meisten um sich versammelt, verdrehte die Augen und erzählte mit furchteinflößenden Gebärden von den Räubern des Eremiten. Henry Wirt unterhielt sich stotternd mit zwei Mädchen. Weressajew stellte dann der Besatzung von „Veilchen“ Erli Kosales vor, einen Journalisten und Physiker. Erli sollte mit ihnen gemeinsam zum Eremiten fliegen. Es wurden so viele verschiedenartige Gerichte aufgetragen, daß alle wissenschaftlichen Mitarbeiter des Eremiten eine Woche lang davon satt geworden wären. Nach dem Essen begaben sie sich in den Konzertsaal, sahen sich danach die Chronik an und gingen schließlich stundenlang von einer Kajüte in die andere, um Eindrücke und erworbenes Wissen untereinander auszutauschen. Abermals wurden sie mit dem großen Aufzug in die Tiefe befördert, vorbei an zahllosen Übergängen, Kurven, Tunneln und Sälen. Sie nahmen Abschied von „Warszawa“. Alles, was für den Eremiten bestimmt war, befand sich im Verladeraum. Die Verladeluken von „Veilchen“ waren bereits hochgezogen. Die kybernetischen Verlader entfernten sich langsam und schwerfällig in ihre Hangare. Letzte Abschiedsworte, ein letztes Händeschütteln. Erli nahm in einem Sessel im Kommandosektor Platz. Henry Wirt prüfte die Funkverbindung. Nikolai Traikow tat das gleiche mit allen kybernetischen Systemen des Raumschiffes. Dann sprach Thomson ins Mikrofon: „Fertig!“ Es schien, als wäre „Veilchen“ von einer unbekannten Kraft aus dem transstellaren Linienschiff hinausgestoßen worden. Die Riesenkugel von zweitausend Meter Durchmesser wurde allmählich kleiner. „Gut Plasma!“ „Guten Super-Transfer!“ „Veilchen“ hatte sich von „Warszawa“ einige zehntausend Kilometer entfernt, als sein Bildschirm dunkelbläulich aufglänzte. Das bedeutete, das Translinienschiff war in den vierdimensionalen Raum eingetreten. 2 Für die „Veilchen“-Besatzung verlief der Siebentageflug zum Eremiten ohne besondere Vorkommnisse. Alle Systeme an Bord des Raumschiffes arbeiteten tadellos. Die drei Kosmonauten vertieften sich in Bücher, Zeitschriften und Mikro-Zeitungen, die in der Kleinen Bibliothek auslagen, und unterbrachen ihre Lektüre lediglich zum Zwecke der Nahrungsaufnahme und zur Überprüfung der Funktionstüchtigkeit der Raumschiffsysteme. Erli hatte den Flug zum Eremiten angetreten, um Stoff für ein Buch über diesen merkwürdigen Planeten zu sammeln. Um die Zeit zu nutzen, las er den letzten Expeditionsbericht durch. Er war kurz abgefaßt, nur Tatsachen waren darin vermerkt. Man spürte, daß die Leiter der Expedition nicht einmal über eine Hypothese verfügten, die die zahlreichen Rätsel des Eremiten erklären könnte. Der Eremit war acht Jahre zuvor entdeckt worden. Es gab auf ihm keinen Wechsel der Jahreszeiten. Das feuchte, heiße Klima in den Zonen um den Äquator wurde nach den Polen zu allmählich trockener. Aber selbst an den Polen sank die Temperatur tagsüber nie unter fünfzehn Grad. Auf dem Eremiten herrschten ewiger Frühling und ewiger Sommer. Vom Äquator nach Norden und Süden zu erstreckte sich Tausende von Kilometern, bedrohend und finster, die Selva, ein undurchdringliches Dickicht. Die Fauna der Selva war abscheulich und einförmig: hirnlose Lebewesen von sackartiger Gestalt, bedeckt mit übelriechendem Schleim, sprangen und krochen umher und kannten nur eine einzige Beschäftigung, ihre Artgenossen, die kleiner als sie selbst waren, aufzufressen. Das erste Raumschiff hatte den Eremiten lange umkreist, um einen Landeplatz ausfindig zu machen, und hatte Raketen zu Erkundungszwecken abgeschossen. Überall hatte es ein und dasselbe vorgefunden. Daraufhin hatte der Kommandant beschlossen, mit den Planetartriebwerken einen Flecken von einem Kilometer Durchmesser niederzubrennen. Das Raumschiff war gelandet. Die mit der Erkundung beauftragten Kosmonauten stiegen aus, und nach einer Stunde waren die von dieser Gruppe Übriggebliebenen zum Raumschiff zurückgekehrt. Bereits zwei Stunden später unterschied sich der abgebrannte Fleck durch nichts mehr von der Selva ringsum. Die düstere Monotonie der Landschaft wurde lediglich von dem wie ein Pfeil zum Zenit aufragenden Schiff unterbrochen. Das Raumschiff war wieder zur Erde zurückgekehrt. Sein Kommandeur war fest davon überzeugt, daß sich der neu entdeckte Planet nur dann für Leben eignen könne, wenn man die Selva absolut vernichtete. Die Schnelligkeit, mit der die Selva das vom Menschen gewonnene Gebiet zurückerobert hatte, war beängstigend. Trotzdem war zum Eremiten — irgendwer hatte diesen öden Planeten „Eremit“ getauft — eine zweite Expedition entsandt worden. Sie hatte ihre Erkundungen von oben, mit Hubschraubern, vorgenommen. Von der Existenz vernunftbegabten Lebens auf dem Eremiten konnte in keiner Weise die Rede sein. Es gab dort nicht einmal Reptilien, geschweige denn Säugetiere. Am fünften Tage ihres Aufenthaltes war die Expedition inmitten der Selva auf einen bräunlichen Fleck gestoßen. Ein Hubschrauber war daraufhin mehr in die Tiefe gegangen und hatte einige halbkugelförmige Gebäude mit Durchgängen und zwanzig Meter hohen, weißen Zylindern beobachten können. Diese Entdeckung kam so völlig unerwartet, daß sie unter den Mitgliedern der Expedition großen Jubel ausgelöst hatte. Aber sie hatten diese Gebäude nicht betreten können. Nicht einmal bis in ihre Nähe waren sie vorgedrungen, weil der gesamte Gebäudekomplex von einem Kraftfeld abgeschirmt wurde, das dem Eindringen der Selva zu wehren hatte. Dieses isolierte Stück Zivilisation wurde Tag und Nacht bewacht. Doch es lag still und wie ausgestorben da. Tags darauf hatte man am Äquator die Zentralstation entdeckt; sie wurde sofort mit diesem Namen bezeichnet. Sie umfaßte ein Gebiet mit einem Radius von etwa zehn Kilometern. Ein riesiges Gebäude in der Mitte war ebenfalls leer. Wenig später wurden noch neunzehn dieser kleinen Flecken geortet. Irgend jemand mußte sie der Selva abgerungen, merkwürdige Gebäude darauf placiert und sie mit unsichtbaren Wächtern, Kraftfeldern, versehen haben. Die zwanzig Siedlungsflecken, die von einer unbekannten Zivilisation stammen mußten, bezeichnete man einfach als Basen. Sie waren über den Eremiten ringförmig, in regelmäßigen Abständen von zweitausend Kilometern, verteilt. Weitere Merkmale einer Zivilisation gab es nicht. Keine Städte, keine Straßen oder Wege, keine Raumhäfen. Die dritte Expedition hatte dann entdeckt, wie die Kraftfelder auszuschalten waren. Damit konnten die systematische Erforschung des Planeten und die Ergründung seiner Geheimnisse ihren Anfang nehmen. Transportlinienschiffe brachten im Laufe von vier Monaten Ausrüstungen, Hubschrauber, Mehrzweckmobile, Apparaturen, komplette wissenschaftliche Laboratorien, Gebäude, Lebensmittel, Möbel und Menschen auf den Eremiten. Die Expedition war vorzüglich ausgestattet. In ihr waren zweihundertvierzehn Mann tätig: Archäologen, Zoologen, Botaniker, Physiker, Techniker und Ingenieure. Da man nicht wußte, was auf dem Eremiten einst vor sich gegangen war, hatte man zur Arbeit auf diesem Planeten Vertreter aller Wissensgebiete herangezogen. Die Expedition wurde von Konrad Stakowski geleitet, bei dem Erli studiert hatte. Als sich Erli der Journalistik verschrieb, war Stakowski verärgert gewesen. Er hatte dadurch einen seiner Lieblingsschüler verloren. Erli hatte die Physik jedoch nicht aufgegeben, denn er schrieb darüber, als er Journalist geworden war. Auch jetzt flog er auf Einladung seines alten Lehrers mit zum Eremiten. Konrad hatte den Grund für seine Auswahl verschwiegen, und Erli erging sich in Mutmaßungen. Eine Einladung zur Arbeit auf dem Eremiten war für jeden Journalisten schmeichelhaft. Erli wußte das und war stolz darauf. Aber es war noch ein anderer Umstand zu berücksichtigen. Auf dem Eremiten arbeitete in der Gruppe der Ar-chäologen seine frühere Frau Lej. Hatte Stakowski etwa im Sinn, zwei Menschen, die er selbst gut kannte, wieder miteinander zu versöhnen? Auch das hatte Erli bedacht, doch diesen Gedanken weit von sich gewiesen. Erli träumte zwar von Begegnungen mit Lej, tat jedoch gleichzeitig alles, sie zu verhindern. Jetzt würde es wohl nicht mehr zu umgehen sein. Zweihundertfünfzehn Menschen auf ein und demselben Planeten waren schließlich nicht viel. Es war einfach unmöglich, einander nicht zu begegnen. Erli warf die Kopie des Rechenschaftsberichtes über die Arbeit auf dem Eremiten auf den Tisch. Das war überhaupt keine Rechenschaftslegung! Die Expedition war auf Probleme und Rätsel gestoßen, wie ein blindes Kätzchen gegen eine Wand anläuft. Zoologen und Botaniker hatten allerdings einige Erfolge zu verzeichnen. Aber was für eine Zivilisation hatte es hier gegeben? Wohin war sie entschwunden? Was bedeuteten die merkwürdigen Bauten auf der Zentralstation? Wozu hatte man die Basen benötigt, die in gleichmäßigen Abständen voneinander errichtet waren? Erli verließ die Bibliothek und ging den hell erleuchteten Korridor entlang, um einen Blick in den Kommandosektor zu werfen und sich mit dem Kommandeur von „Veilchen“ zu unterhalten. Nikolai Traikow rekelte sich in einem Sessel in der Bibliothek, reagierte auf alle Fragen Erlis nur mit sauren Grimassen und antwortete zuweilen wortkarg: „Später. Du wirst schon noch alles erfahren. Früh genug.“ Und Sven sagte: „Ist noch absolut undurchsichtig und unklar. Wir treten auf der Stelle. ›Veilchen‹ macht Patrouille im Raum um den Eremiten. Gerade so, als warteten wir darauf, daß uns jemand besucht.“ „Nicht zu uns zu Besuch kommt, sondern zu sich nach Hause“, korrigierte ihn Henry. „Wir sind nämlich die Gäste, dazu auch noch ungebetene.“ Damit wechselte er jäh das Thema. „Sag mal, Erli, was für neue Vornamen sind denn so auf der Erde aufgekommen? Ich werde ein Töchterchen haben, auf jeden Fall ein Mädchen. Osa will sie Seona nennen. Aber ich weiß nicht, bin mir noch nicht ganz im klaren…“ Es waren bereits zwei Tage vergangen, seitdem sich „Veilchen“ von „Warszawa“ getrennt hatte. Das bedeutete, sie konnten nun den Versuch machen, die Verbindung mit der Zentralstation aufzunehmen. 3 Erli war im Korridor kaum ein paar Schritte gegangen, als er Henry bemerkte, der auf ihn zukam. Dieser war offensichtlich mißgelaunt und brummte, als er Erli erreicht hatte: „Faulpelze.“ „Ist irgendwas passiert?“ fragte Erli, der nicht verstand, wo-von der Funker sprach. „Sie wollen mit uns nicht eher Verbindung aufnehmen, als es der Zeitplan vorsieht. Ich kann einfach nicht glauben, daß Osa mir nichts mitzuteilen hat. Faulpelze, dabei bleib’ ich. Wenn man in einem Gebiet Patrouille machen muß, kommt das vor. Und da haben wir nun schon die Begegnung mit ›Warszawa‹ hinter uns! Dort werden sie jetzt die Minuten zählen!“ „Wann sollen sie die Verbindung aufnehmen?“ „In zwei Stunden. Aber das ist doch kein großer Unterschied. Ich zittere vor Wut. Kann man es sehen?“ Erli nickte. „Die zwei Stunden werde ich mich jetzt hinlegen und das Funkgerät ignorieren. Ich gehe einfach nicht ‘ran, basta!“ Das war so wenig überzeugt gesagt, daß Erli unwillkürlich denken mußte: Henry wird nicht einmal fünf Minuten lang aushalten. Wirt stürzte in die Bibliothek, Erli ging an den Kabinen vorbei in den Kommandosektor. Sven war mit irgendwelchen Berechnungen beschäftigt. Ohne mit der Eingabe von Daten in den Computer aufzuhören, bedeutete er Erli, im Sessel Platz zu nehmen. Der Journalist setzte sich und beobachtete den Bildschirm; doch sosehr er auch aufpaßte, er konnte den Eremiten zwischen den funkelnden Sternen nicht entdecken. Wahrscheinlich war Erli ein wenig eingeschlummert, denn plötzlich wurde er durch Stimmengewirr aufgeschreckt. Henry saß am Funkgerät und hatte sich zum Kommandanten gewendet. Er hatte eine Leidensmiene aufgesetzt und sagte: „Es kommt keine Verbindung zustande.“ „Was ist denn bloß bei dir los?“ fragte Sven, verließ seinen Computer und ging zu dem Funker. Erli bedachte, daß er bisher fortwährend gehofft hatte, Lej könnte ihn möglicherweise sprechen wollen. Er verließ den Raum, weil er befürchtete, seine Gefühle könnten von den anderen erkannt werden. Zwei Stunden später wurde die Tür zur Bibliothek geöffnet; der Kommandant von „Veilchen“ und der Funker standen auf der Schwelle. Henry war bleich, Sven unnatürlich ruhig. Er sagte: „Der Eremit antwortet nicht. Irgendwas ist dort passiert.“ Traikow unterbrach seine Lektüre und meinte: „Was kann dort schon passiert sein? Der Empfang der Radiowellen…“ „Der Empfang ist in Ordnung. Den Funkturm des Kosmodroms kann man empfangen, aber er ist eben nur ein Automat.“ Erli wurde schwarz vor Augen. „Was werden wir jetzt machen?“ fragte Nikolai. „In zehn Minuten müssen alle bereit sein. Wir werden auf dreifache Belastung umschalten, oder…“ Hierbei blickte Sven zweifelnd auf Erli, ob er das aushalten würde. „Wir gehen aufs Äußerste, auch wenn jemandem dabei schlecht werden sollte.“ Traikow schaltete seine kybernetischen Helfer ein, und wenige Minuten später befand sich das Raumschiff in Alarmzustand. Alle vier lagen im Kommandosektor in den festgestellten, unbeweglichen Sesseln. Drei von ihnen hatten spezielle Aufgaben, die sie bei Überlastungen auszuführen hatten. Lediglich Erli hatte keinerlei besondere Verpflichtungen. Sven schaltete die Reservetriebwerke ein. „Veilchen“ raste vorwärts, die Menschen wurden in die Sessel gepreßt. Ein paar Minuten lang versuchten sie noch, die Unterhaltung weiterzuführen und Vermutungen darüber anzustellen, was mit den Menschen auf dem Eremiten geschehen sein könnte. War das Funkgerät nicht intakt? Aber da hätten sie es doch während einer solchen Zeitspanne reparieren können; nicht nur ein-, sondern hundertmal wäre eine derartige Reparatur möglich gewesen! Oder war die Selva in die Zentralstation eingedrungen? Das war wenig wahrscheinlich, jedoch möglich. Andere Erklärungen wollten sich einfach nicht einstellen. „Es kann nur die Selva sein“, äußerte Sven. „Von den Basen hätte man ihnen zu Hilfe kommen können“, entgegnete Henry, ohne auf den Einwand positiv oder negativ zu reagieren. „Sie würden doch wohl von der Zentralstation auf irgendeine Base evakuiert worden sein“, vermutete Erli. „Nein“, wandte Nikolai ein und öffnete dabei kaum den Mund. „Die Selva, das ist kompletter Unsinn. Es muß einen anderen Grund haben…“ Eine ungeheure Schwere übte Druck auf sie aus. Einen Finger zu bewegen oder das Kinn aufzustützen, kostete große Anstrengungen. Die Kinnlade hing fortwährend schlaff herab. Unter den Augen hatten sich Säckchen gebildet. Besonders übel erging es Erli. Sein letzter Gedanke war: Was sind diese Kosmonauten bloß für Menschen! Dann verlor er das Bewußtsein. Nach acht Stunden kam Erli wieder zu sich, als für kurze Zeit ein Zustand der Schwerelosigkeit eintrat. Nur Nikolai Traikow erhob sich von seinem Sitz, um dem geschwächten Journalisten ein paar Schlucke heißer Bouillon einzuflößen. „Was ist mit mir?“ flüsterte Erli. „Du warst bewußtlos. Das ist das beste, auf diese Weise bist du in der Lage, alles zu überstehen. Alles wird gut.“ Den anderen war weder nach Essen noch nach Trinken zumute. Dann setzte der Bremsvorgang ein. Noch weitere acht Stunden mit dreifacher Belastung. Während des ganzen Fluges war es nicht gelungen, mit dem Eremiten eine Verbindung herzustellen. Als die Überbelastung abgeschlossen war, sah der Eremit wie eine riesige Melone aus und nahm ein Viertel des Bildschirms ein. Die Zentralstation lag unmittelbar am Äquator. „Veilchen“ näherte sich ihr von der nördlichen Halbkugel, die von einem fast undurchsichtigen Dunstschleier überzogen war. Dieser Dunstschleier Schien aus künstlichen Regenbogenringen zu bestehen, die parallel zu den Breitengraden des Eremiten verliefen. Von der Oberfläche waren es ungefähr zweitausend Kilometer Entfernung, bis zur Basis etwa viertausend. Plötzlich geschah etwas Eigenartiges. Als erster registrierte es Sven, der die kleinste Bewegung seines Raumschiffes spürte. Die Frontseite von „Veilchen“ wurde langsam hochgehoben. Sofort stellte sich eine Überbelastung ein, der Flugkörper wurde scharf gebremst. Er gehorchte dem Willen des Menschen nicht mehr. „Veilchen“ war wie in einen weichen, porösen Gummi hineingedrückt worden. Das ging alles so rasch und urplötzlich vor sich, daß keiner Zeit gehabt hatte, irgend etwas zu tun. Niemand, nicht einmal Sven, hatte eingreifen können. In einer Höhe von ungefähr anderthalbtausend Kilometern blieb das Raumschiff ohne jegliche Stütze hängen, denn das Triebwerk war ausgeschaltet. So hing es einen Augenblick lang, fiel dann aber nicht vertikal nach unten, sondern irgendwie auf die Seite, etwa in einem Winkel von fünfundvierzig Grad zur Oberfläche des Eremiten. Das war ein gesetz- und ordnungsloses Purzeln, als würde „Veilchen“ von einem Berg hinuntergerollt. Sven paßte dennoch einen Moment ab und schaltete das Triebwerk der Rakete ein. „Veilchen“ raste kerzengerade in die Höhe und verlangsamte seinen Flug ungefähr nach hundert Kilometern. Die Menschen litten unter dieser Erscheinung nicht sonderlich, sogar Erli verlor nicht das Bewußtsein. „Womit sind wir denn hier so sanft zusammengestoßen?“ rief Sven. „Das war kein Zusammenprall“, erklärte Nikolai bestimmt. „In dieser Höhe kann es über dem Eremiten überhaupt nichts geben.“ „Ein Meteor?“ ließ sich Henry unsicher vernehmen. „Nein, im System Sewan gibt es gar keine Meteorströme, fast keine.“ „Fast — das heißt, es ist immerhin möglich.“ „›Veilchen‹ hat äußerlich keinerlei Schaden“, sagte Nikolai. „Ich habe es überprüft.“ „Wir müssen landen“, meinte Erli, der bisher geschwiegen hatte. „Was mit ›Veilchen‹ los ist, klären wir später.“ „Zum Teufel noch mal!“ sagte Henry erregt und drehte sich um. „Ich kann nicht glauben, daß ihnen etwas passiert ist.“ Sven steuerte das Raumschiff nach Süden zum Äquator und ließ es allmählich tiefer gleiten, als es in einer Höhe von anderthalbtausend Kilometern über der Zentralstation war. Nach wie vor kam keine Verbindung mit der Station zustande. Henry Wirt ging den gesamten Frequenzbereich durch, der in der Funkverbindung auf dem Eremiten zur Verfügung stand, aber im Äther blieb es still. Das Raumschiff ging immer tiefer, der zigarrenförmige, zweihundert Meter lange Flugkörper vibrierte. Bis zur Oberfläche waren es noch fünfhundert Kilometer… dreihundert… hundert… Man konnte die Zentralstation bereits mit bloßem Auge erkennen. Fünfzig… zwanzig… zehn… drei… Die einzelnen Gebäude der Zentralstation waren zu sehen. Noch ein Kilometer… noch zweihundert Meter… Aus dieser Höhe hätte man nun schon Menschen erkennen können. Kaum spürbar erzitterte der Rumpf der Rakete. „Veilchen“ fuhr sein Landegestell aus und setzte waagerecht auf. Der Kosmodrom war menschenleer. Niemand war zur Begrüßung von „Veilchen“ gekommen. 4 „Wir sind gelandet“, sagte Sven dumpf. „Was nun?“ Niemand gab ihm eine Antwort. Erli drückte auf einen der farbigen Knöpfe, die an der Sessellehne angebracht waren. Die Feststeller sprangen seitwärts weg, und der Sessel gab sanft nach. Erli stand auf. Sein Kopf dröhnte, in seinen Schläfen hämmerte es. Ein Brechreiz würgte ihn. Mit eckigen, unsicheren Bewegungen ging er zur Tür des Kommandosektors, ohne zu Sven hinzusehen; ihm folgte Henry. „Nikolai!“ rief Sven. „Alle ziehen Raumanzüge an und nehmen Blaster mit.“ „Blaster?“ fluchte Traikow. „Hier ist doch keine Menschenseele. Wozu die Waffen?“ „Das weiß ich nicht so recht. Aber wer kann wissen, was sich hier zugetragen hat?“ fragte Sven. „Offensichtlich niemand. Den Aufzug habe ich blockiert. Wir werden zunächst einmal die Luft prüfen.“ Eine Minute später teilte er mit: „Die Zusammensetzung der Luft ist normal. Wir gehen gemeinsam. Keiner unternimmt etwas auf eigene Faust. Wir haben keine Ahnung, was hier vor sich gegangen ist, und müssen deshalb äußerst vorsichtig sein.“ Henry Wirt und Nikolai Traikow stiegen als erste aus dem Kommandosektor. Erli sagte sich, daß es ihm nicht zukomme, zuerst auszusteigen. Die anderen wußten wenigstens, wie es hier vorher gewesen war. Aber er konnte sich das nicht einmal vorstellen. Der Boden federte unter den Füßen. Die Beleuchtungen huschten als verschwommene, fade Punkte vorbei. Sven warf einen Blick in den Raum, in dem die Waffen aufbewahrt wurden. Sie waren aber so lange nicht in Gebrauch gewesen, daß Sven nach einigen Sekunden erfolglosen Herumstöberns wieder auf den Korridor herauskam, ohne etwas bei sich zu haben. Als erster sprang Henry auf die Platten des Kosmodroms. Einen Kilometer vom „Veilchen“ entfernt war die Kuppel der Zentralstation mit verschnörkelten Anbauten, Podesten, Durchgängen, Beobachtungsständen und kunstvollen Türmen zu sehen. Es glitzerte alles in den verschiedensten Farben, strahlte nach allen Seiten Regenbogenreflexe aus und hob sich wirkungsvoll vom blauen Himmel ab. Die Kuppel der Zentralstation war der Mittelpunkt für die riesigen Zylinder der Energiespeicher, die sich nach Norden und Süden erstreckten. In weiterer Entfernung ließen sich die Silhouetten der Speicher, Hangare, Wirtschaftsgebäude und Unterkünfte erahnen. Leuchtend grüne Parkflächen lagen zur Rechten und zur Linken, dahinter gab es nur noch den schwarzen Streifen der Selva des Eremiten, der den gesamten Horizont bedeckte. Äußerlich hat sich überhaupt nichts verändert, dachte Sven, als er Erli eingeholt hatte. Henry und Nikolai waren ihnen bereits weit voraus. „Wir brauchen eine Arbeitshypothese“, sagte Erli und holte tief Luft. „Ich weiß. Henry ist völlig mit den Nerven fertig.“ „Vielleicht sind diejenigen zurückgekehrt, die einst die Zentralstation aufgebaut haben?“ „Ausgerechnet jetzt? Weder ein Jahrhundert später noch ein Jahrhundert früher? Selbstverständlich ist auch das möglich. Und was sollten wir in diesem Falle tun?“ Sonst waren stets die Mehrzweckmobile auf „Veilchen“ zugefahren, zum Bersten gefüllt mit jubelnden, lachenden Physikern, Technikern, Botanikern, Mathematikern und Biologen. Die Rückkehr des Transportschiffes war immer für alle ein großes Fest gewesen. Aber hier herrschte Totenstille. Es gab keinerlei Anzeichen für menschliches Leben. Zwei Mehrzweckmobile standen auch jetzt in der Nähe der Zentralstation, und ein drittes mit geöffneten Luken befand sich ungefähr in der Mitte von Raumschiff und Zentralstation. Henry lief daran vorbei. Nikolai blieb stehen, kletterte in den Turm und sprang von dort ins Innere. Er schaltete die Beleuchtung ein. Die Schalttafel leuchtete auf. Traikow erfaßte mit einem raschen, flüchtigen Blick die Hebel und Tastatur der Schalttafel. Es war alles in Ordnung. Die Energiereserven zeigten den Höchststand an. Die Kabine war menschenleer. „Ich möchte wirklich wissen, wozu sie das Mehrzweckmobil gebraucht haben!“ rief Henry, als er zur Luke hineinschaute. „Ob sie irgendwohin fahren wollten?“ „Unverständlich, wohin sie damit hätten fahren sollen. Die Geschwindigkeit ist sehr niedrig. Bis zu einer Base kann man damit nicht kommen… Dazu nimmt man einen Hubschrauber.“ Erli kletterte ebenfalls in den Turm des Mehrzweckmobils. Nikolai ließ den Starter an, der Motor heulte auf, und die Maschine fuhr los. „Gib mir deine Hand!“ rief Erli, als sie Henry eingeholt hatten. Die Eingangstür zur Zentralstation war weit geöffnet. Henry hatte mit einem Satz die Granitstufen erreicht. „Mit Selva ist hier nichts!“ rief Sven. „Die Selva konnte nicht hierher vordringen.“ Henry nickte, als wollte er sagen: Das sehe ich. — „Wo willst du denn hin?“ „Zu den Biologen.“ „Warte auf Nik und Erli.“ „Ich will nachsehen, was in Osas Abteilung los ist!“ rief Henry und blieb an der Tür stehen. „Nimm Nik mit!“ „Gut!“ Wirt und Traikow verschwanden im Korridor, der in den Außenring der Zentralstation führte. Ihre lauten Schritte verhallten, als sie um die Ecke gebogen waren. Sven forderte Erli mit einer Handbewegung auf, ihm zu folgen. Auf der Rolltreppe gelangten sie in die Zentralstation, wo der Stab der Expedition, die wissenschaftliche Leitung unter Konrad Stakowski und seine Mitarbeiter Esra und Jumm gesessen hatten. Die Tür dieses Raumes war verschlossen. Sven und Erli versuchten mehrmals, sie zu öffnen, aber die Tür gab nicht nach. „Keine Menschen. Kein Eindringen der Selva. Keinerlei Spuren einer Katastrophe“, sagte Erli. „Warum sind die Menschen verschwunden?“ „Sie könnten zu den Basen geflogen sein; das war öfter so. Doch einige hätten hierbleiben müssen, etwa fünf Mann. Bei der Ankunft von ›Veilchen‹ waren aber immer alle hier versammelt. In den Basen ist die Abwehr der Selva bei weitem nicht so stark und wirkungsvoll. Sollten alle zwanzig auf einmal…? Wie dem auch sei, auf jeden Fall müssen wir unbedingt in den Stab. Dort muß jemand ständig anwesend sein und Wache halten. Dort müssen wir auch das Tagebuch der Expedition finden. Etwas werden wir bestimmt erfahren.“ Sie schwiegen eine Weile, dann sagte Sven: „Ich hole etwas Schweres.“ Er raste nach unten und nahm dabei drei Stufen auf einmal. Erli lief gemächlich den ringförmigen Korridor entlang. Auf der einen Seite war die Wand vom Raum des Stabes oder, wie auch noch gesagt wurde, des Hauptpultes der Expedition, die andere Seite, die Kuppel der Zentralstation, war offen. Auch der Korridor war oben geöffnet. Er war nicht groß, etwa fünfzig Meter im Umfang. Erli schritt ihn etliche Male entlang und versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Sven blieb ziemlich lange. Das machte Erli stutzig. Was konnte denn dort noch los sein? Schließlich hielt er es nicht mehr aus und ließ sich mit der Rolltreppe schnell nach unten befördern. „Sven! Sven!“ Niemand antwortete. Erli lief hastig einige Meter im Korridor des dritten Ringes und wiederholte seine Rufe. Abermals keine Antwort. Erli stürzte zu dem unterirdischen Übergang in den zweiten Korridor, wo sich die Wirtschaftsräume befanden. Er sagte sich, daß er sich in diesem Labyrinth von Korridoren, Übergängen und Rolltreppen verirren könnte, aber er konnte einfach nicht auf seinem Platz bleiben. Linker Hand war alles beleuchtet, rechts war es finster. Erli ging automatisch dem Licht nach, und erst dann kam ihm zum Bewußtsein, daß die Lämpchen von Sven eingeschaltet worden waren. Er mußte demnach hier entlanggegangen sein. Die beleuchtete Strecke führte plötzlich nicht mehr in Richtung der Wirtschaftsräume, sondern in die entgegengesetzte, und noch ein paar Meter weiter hörte sie an der Rolltreppe Nummer fünf des dritten Ringes überhaupt auf. Erli fuhr hinauf und befand sich nun zweihundert Meter über der Stelle, von der aus er seinen Erkundungsgang angetreten hatte. „Sven!“ schrie Erli. „Hier bin ich“, erwiderte eine Stimme ganz in der Nähe, und an der nächsten Korridorbiegung sah Erli Sven, der an einer Tür lauschte. „Was ist dort los?“ „Jemand weint.“ „Waaas?“ rief Erli erfreut und überrascht aus. „Still, sei still“, flüsterte Sven. „Horch mal.“ Erli kam auf Zehenspitzen näher. Hinter dem mattierten Raumteiler schluchzte tatsächlich jemand. Erli drückte leicht die Türklinke herunter. Auch diese Tür war verschlossen. „Ich habe das schon von unten gehört und bin hierhergeeilt“, sagte Sven. „Jemand weint und öffnet die Tür nicht. Wir müssen sie einschlagen.“ „Moment mal!“ Erli hämmerte mit der Faust gegen die Tür. Das Weinen hörte plötzlich auf. „Aufmachen!“ „Nei-ei-ein! Nei-ei-ein!“ Es war eine jämmerliche, schluchzende, Mitleid erregende Stimme. „Schlag sie ein!“ rief Erli. Sven drückte mit der Schulter gegen die Tür. Sie gab nicht so ohne weiteres nach. „Aufhören! Aufhören!“ Das war nun schon die Stimme eines zu Tode erschrockenen, am Ende angekommenen Menschen. Krachend fiel die Tür zu Boden. Sven und Erli stürzten ins Zimmer. „Erli, das ist doch Eva!“ rief Sven. „Eva?“ „Nein. Euch kenne ich nicht. Ich kenne euch nicht“, flüsterten die Lippen des Mädchens kaum hörbar. Sie wich langsam zwischen den Tischen zurück. Sie hatte irgendein Gerät erfaßt, und es fiel polternd zu Boden. Das Mädchen drückte sich so an die Wand, als wolle es seinen Körper vollständig da hineinpressen. „Eva, ich bin es, Sven, der Kommandant von ›Veilchen‹. Was ist mit dir?“ Sven kam langsam auf das Mädchen zu, seine Hände hatte er ausgestreckt. „Nein, das geht nicht.“ „Beruhige dich, Eva. Beruhige dich.“ „Nein… nein…“ Sven berührte die Schulter des Mädchens. Es blickte ihn mit den erschrockenen Augen eines gehetzten Tieres an. Sven rüttelte sie. „Was ist geschehen?“ „Sven. Aber natürlich, das ist ja Sven“, sprach sie plötzlich leise vor sich hin. „Du bist es also… Wie ist es hier grauenvoll!“ „Eva!“ „Sei still, Sven!“ Sie verbarg ihr Gesicht an seiner breiten Schulter. „Wo ist Stakowski? Wo sind die anderen?“ fragte Sven und wollte sie ablenken. Plötzlich erschlaffte der Körper des Mädchens, und Sven hatte Mühe, sie aufzufangen. „Erli, sie ist bewußtlos. Wir müssen sie wegtragen. Weißt du, wo ihre Unterkunft ist?“ Erli zuckte die Achseln und beugte sich zu dem Mädchen: „Sie schläft.“ „Linie eins, Nummer sieben. Soll ich dir helfen?“ „Ich werde es schon finden.“ Erli nahm das Mädchen behutsam auf den Arm und trug es aus dem Zimmer. Sven ließ sich am nächststehenden Tisch nieder und wählte auf der Scheibe für interne Verbindungen die Codenummer von Henry Wirt. Es kam keine Antwort. Sven setzte sich mit Traikow in Verbindung. „Ich höre“, ließ sich dieser sofort vernehmen. „Weshalb antwortet Wirt nicht?“ „Er sitzt im Labor von Osa. Laß ihn ein paar Minuten in Ruhe. Er hofft, irgend etwas zu finden, eine Notiz von Osa oder sonst irgendwas.“ „Gut, Nik. Wir haben hier Eva gefunden!“ „Eva? Ist denn hier überhaupt noch jemand da?“ „Vorläufig nur sie allein.“ „Eva!“ brachte Traikow erfreut heraus. „Hat sie etwas gesagt?“ „Nein. Sie ist ohne Bewußtsein. Geht auf schnellstem Wege in ihre Unterkunft. Wißt ihr, wo sie ist?“ „Selbstverständlich weiß ich das.“ „Geht rasch.“ „Wird gemacht.“ 5 Erli trug das Mädchen behutsam zum Aufgang der Zentralstation. Der Sewan stand fast im Zenit, und erst jetzt stellte Erli fest, daß es hier sehr heiß war. Die Unterkünfte befanden sich etwa dreihundert Meter vom Haupteingang, und Erli lief geradewegs über das Gras, um den Weg abzukürzen. Das altvertraute Gras von der Erde raschelte sacht unter den Füßen, die Zweige der Bäume blieben am Gesicht und an der Kleidung hängen. Ihre Berührung war erstaunlich zart und angenehm. Erli ertappte sich dabei, daß er überhaupt nicht mehr an die Katastrophe dachte, daß er Lej völlig vergessen hatte — wie eigentlich alles andere auch — und daß er nur um eines besorgt war: um keinen Preis den Schlaf des Mädchens etwa durch eine ungeschickte Bewegung zu stören. Plötzlich war Erli hellwach und hatte ein unangenehmes Gefühl. Die Zeit! Wieviel Zeit war eigentlich vergangen, seitdem sie auf dem Eremiten gelandet waren? Wahrscheinlich dreißig Minuten. Und nichts war bisher bekannt. Was war mit Lej? Was war mit allen anderen vor sich gegangen? Eva war und blieb ihre einzige Hoffnung; vielleicht würde man auch im Stab der Expedition irgendwelche Niederschriften finden… Sie mußten welche finden! Forschend betrachtete er Evas Gesicht. Was hatte sie hier wohl erlebt? Erli fand die Unterkunft und öffnete ihre Tür mit einem Fußtritt. Er kam in ein Zimmer, dann in ein anderes; wo aber war wohl das Schlafzimmer? Zum Teufel mit den Architekten! Er hatte keine Zeit zu verschenken und konnte sich langes Suchen nicht leisten. Schließlich entdeckte er eine breite, niedrige Couch und legte das Mädchen dorthin. Es schlief fest. Das Herz schlug regelmäßig. Die Atemzüge waren ruhig und gleichmäßig. Erli warf einen Blick durch das Fenster. Nikolai Traikow rannte die Treppe der Zentralstation hinunter und eilte zur Unterkunft. Sven und Henry gingen langsam und blieben etliche Male stehen. Man konnte erkennen, daß Thomson etwas zu Wirt sagte. Der Angeredete schüttelte den Kopf. „Was ist mit ihr?“ fragte Nikolai. „Schläft“, antwortete Erli einsilbig. „Hat sie denn überhaupt nicht gesprochen?“ „Sie hat gesagt: ›Wie furchtbar ist es hier.‹“ „Was könnte denn das bedeuten?“ „Entweder bezog es sich auf das, was mit ihnen allen geschehen ist, oder darauf, was sie selbst durchgemacht hat, oder schließlich sowohl auf das eine als auch auf das andere. Wir müssen den Stimulator HD bei ihr anwenden. Wir haben keine Zeit. Sie muß zur Besinnung kommen. Danach kann sie weiterschlafen.“ „Gut“, entgegnete Nikolai und ging ins Bad, weil sich dort gewöhnlich die Medikamente befanden. Sven und Henry kamen ins Zimmer. „Henry bittet um den Hubschrauber“, sagte Sven bereits auf der Türschwelle. „Ich fliege nur mal zu Osa und komme sofort zurück. Das wird höchstens vier Stunden dauern“, sagte Henry hastig. „Wir müssen ja sowieso auf den Basen nachsehen. Und Osa ist auf der allernächsten! Gebt mir doch den Hubschrauber.“ „Du kannst ihn ja gar nicht fliegen“, meinte Sven und wandte sich um, weil Henrys flehender Blick kaum zu ertragen war. „So schwer ist das nun nicht.“ „Nein, Henry, das geht nicht. Wir sind nur fünf. Seit fünfunddreißig Minuten sind wir hier und wissen noch gar nichts. Kapiert?“ Leise setzte er hinzu: „Noch ein bißchen Geduld! Eva wird gleich zu sich kommen.“ Henry sprang auf Sven zu und packte ihn am Zipfel der Kutte. „Mit welchem Recht kommandierst du eigentlich hier herum? Hier ist kein ›Veilchen‹. Wer bist du denn? Stakowski? Zwei Hubschrauber sind hier für jeden da! Von mir aus könnt ihr tun und lassen, was ihr wollt. Ich jedenfalls fliege jetzt zu Osa. Ich muß erfahren, was ihr passiert ist. Sofort muß ich das wissen, verstehst du? Ich kann nicht warten, bis ihr hier klargekommen seid!“ „Na schön“, sagte Sven leise. „Mögen alle darüber entscheiden.“ Nikolai kam aus dem Bad und hatte eine Spritze in der Hand. Er rieb Evas Arm mit einem alkoholgetränkten Wattebausch ein und gab die Injektion. Henry hatte sich urplötzlich in einen Sessel fallen lassen, die Augen geschlossen, sich zurückgelehnt und war in leichte Schaukelbewegungen übergegangen, wobei er sich mit den Händen an den Lehnen festhielt. Eva öffnete die Augen, ließ ihren Blick ungläubig im Zimmer umherschweifen und flüsterte kaum hörbar: „Jungens…“ „Beruhige dich, Eva.“ Sven trat zu ihr und war ihr beim Aufrichten behilflich. Mit einer Handbewegung in Erlis Richtung: „Erli Kosales, Journalist und Physiker. Er ist mit uns hierhergeflogen…“ Das Mädchen saß mit angewinkelten Beinen da und stützte sich auf den rechten Arm. „Demnach bin ich also gar nicht verrückt?“ „Was ist hier vor sich gegangen?“ fragte Sven mit Entschiedenheit. „Ich weiß nicht, was passiert ist. Doch ich will alles erzählen, was ich weiß. Vier Tage nach eurem Abflug vom Eremiten hat Stakowski bekanntgegeben, daß sich alle für den Flug zu den Basen fertigmachen sollten. Daran waren wir in periodischen Abständen von früher her gewöhnt. Es wunderte sich also niemand. Die Vorbereitungen wurden getroffen. Am zehnten Tag waren dann nur noch Esra, Jumm und ich auf der Zentralstation. Alle anderen waren mit Hubschraubern zu den Basen geflogen.“ „Alle außer euch dreien?“ „Ja.“ „Auch Osa ist zu ihrer Basis geflogen?“ fragte Henry beiläufig. „Ja. Man hat versucht, sie zum Hierbleiben zu überreden, doch sie bestand darauf, daß man sie ebenfalls wegschickte.“ „Wann hätten sie alle zurück sein müssen?“ „Am neunzehnten; außer denen natürlich, die ständig auf den Basen leben.“ „Was hatte Stakowski vorgeschlagen?“ fragte Sven. „Das weiß ich nicht. Ich habe nur gehört, wie Esra zu Jumm gesagt hat, Stakowski wolle beweisen, was eine Schaukel sei.“ „Eine Schaukel?“ fragte Sven zurück. „Was für eine Schaukel?“ wollte Erli wissen. „Das weiß ich nicht.“ Eva zuckte die Achseln. „Esra und Jumm saßen in dem Raum, wo das Regelungspult war, also im Stab. Von dort aus gibt es Verbindung zu allen Basen. Da ist auch der Computer. Sie hatten mich nach Kaffee geschickt, einem ganz gewöhnlichen Kaffee. Ich war hinuntergegangen, denn der Kaffee stand in Thermosbehältern in der Bar. Ich hatte einen genommen und mich wieder nach oben begeben. Das alles hatte nicht länger als zwei Minuten gedauert, so war es mir jedenfalls vorgekommen. Als ich in den Pultraum kam, waren Esra und Jumm nicht mehr da. Dort, wo sie gesessen hatten, sah ich zwei Skelette und Stücke zerrissener Kleidung…“ Eva bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und schüttelte den Kopf. „Das ist furchtbar.“ Sven hockte sich auf den Rand der Couch und löste die Hände des Mädchens vom verweinten Gesicht. „Was war dann?“ „Ich war erschrocken. Ich konnte mir nicht erklären, was hier passiert war. Das war am schlimmsten. Ich nahm mit allen Basen gleichzeitig Verbindung auf, aber niemand antwortete. Die Funkanlagen funktionierten nicht. Ich verließ die Kuppel und schlug die Tür hinter mir zu. Vielleicht gelingt es mir, sie vom Sektor der Außenverbindung zu erreichen, hoffte ich; denn von dort aus ist die Verbindung des Pultes doppelt so stark. Aber auch da gab es keine Antwort. Und mir wurde bewußt, daß ich auf diesem Planeten vollkommen allein war, ohne zu wissen, was mit den anderen geschehen war und was mit mir bereits im nächsten Moment, in der folgenden Minute passieren würde. Ich allein war übriggeblieben. Das war grauenhaft. Ich raffte mich auf, in den Raum mit dem Hauptpult zu gehen. Die Materialien mußten in Ordnung gebracht werden, denn ihr mußtet ja auf den Eremiten kommen! Ich war verpflichtet, euch den Auftrag zu erleichtern, wenigstens irgendwie zu helfen. Aber der Rechenautomat gab nichts von sich, er war leer, keine einzige Information war darauf! Als hätte ihn jemand absichtlich gelöscht. Die Bänder der registrierenden Anlagen waren verschwunden. Alles war verrostet, zersplittert und zerstört. Nicht ein einziges Dokument war übriggeblieben, mit dessen Hilfe man sich hätte ein Bild darüber verschaffen können, was auf den Basen in jenen zwei Stunden vor der Katastrophe getan worden war. Ihr werdet dort überhaupt nichts vorfinden.“ Eva schwieg. „Erzähl weiter, Eva. Wir sind jetzt fünf“, sagte Sven. „Da setzten bei mir die Halluzinationen ein. Ich glaubte den Verstand zu verlieren. Davon wurde mir dann noch übler, noch grauenvoller. Manchmal sah ich Esra und Jumm. Sie laufen im Zentralgebäude umher. Immerzu streiten sie. Aber sie können ja gar nicht hier sein, weil sie doch tot sind. Trotzdem laufen sie hier herum. Ist das der Irrsinn? So viel kann ein Mensch nicht aushalten. Welchen Tag haben wir heute?“ „Den dreiundzwanzigsten.“ „Der Wahnsinn hat demnach zwölf Tage gedauert. Sehe ich aus wie eine Verrückte?“ „Du bist völlig gesund, Eva“, sagte Nikolai. „Du bist nur sehr müde.“ „Ich fürchte mich.“ „Jetzt brauchst du keine Angst mehr zu haben, Eva.“ Sven legte seinen Arm um ihre Schulter. „Hast du in deinem Bericht nichts Wesentliches weggelassen?“ „Nein… Ich bin so müde.“ „Eva, du wirst sofort einschlafen. Du mußt dich ausruhen.“ „Ihr werdet mich doch nicht allein hierlassen? Bestimmt nicht?“ „Eva, du wirst allein hierbleiben müssen. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Das mußt du verstehen.“ „Gut, ich werde schlafen. Aber nicht länger als zwei Stunden. Das wird vollkommen genügen.“ „Schlaf, Eva.“ Die vier verließen das Zimmer. Das Mädchen begleitete sie mit einem Blick voller Hoffnung. Nun waren sie fünf. 6 Erli verließ die Unterkunft und blickte um sich. Ringsumher war es wundervoll! Kleine Hütten lagen verstreut inmitten eines riesigen, schattigen Parkes. Der weiße Komplex der Zentralstation schien im endlosen blauen Himmel zu schweben. Weiches, grünes Gras und wilde Blumen, genau wie auf der Erde. Seltsame, sinnverwirrende Düfte, auf die er früher überhaupt nicht geachtet hatte — alles war ungewohnt, neu und unbekannt. Er schaute sich um und schalt sich wegen seiner Sentimentalität. Vor ihm waren der Eremit mit seiner dichten Selva und tausend ungelöste Probleme. Zweihundertzehn Menschen, ausgestattet mit den modernsten Mitteln der Fortbewegung, der Funkverbindung und der Verteidigung, waren nicht zur Zentralbasis zurückgekehrt. Und abermals wurde ihm übel, genau so, wie er es schon erlebt hatte, als er Eva auf dem Arm trug. Hätte er Zeit gehabt, dieses Gefühl zu analysieren, wäre ihm klargeworden, daß dies Angst war. Die Angst, daß er Lej nie wiedersehen wird. Eine lähmende, fürchterliche Angst, die dem Menschen gar nicht bewußt wird, so daß er nicht einmal weiß, daß er Angst empfindet. „Was werden wir nun weiter tun?“ fragte Sven Thomson. „So wie jetzt ist’s unmöglich.“ Er deutete auf die anderen. „Wir müssen irgendwas unternehmen.“ Henry Wirt lag im Gras, das Gesicht nach unten, und schien zu weinen. Nikolai kaute nervös auf den Lippen. „Es ist fast eine Stunde vergangen“, sagte Erli, „und wir wissen immer noch nichts. Wir müssen einen Aktionsplan aufstellen. Es ist doch nicht denkbar, daß alle auf einmal…“ „Warum habt ihr mich nicht zu Osa gelassen?“ schrie Henry. „Warum?“ Und er hämmerte mit der Faust auf das Gras. Sven sprang zu ihm, zog ihn mit einem Ruck vom Boden hoch und rüttelte ihn kräftig. „Henry! Komm zu dir! Laß dich nicht so gehen!“ „Verzeih, Henry“, sagte Erli. „Du wirst zu Osa fliegen. Bestimmt, wir werden das gleich beschließen. Wir gehen jetzt in die Zentralstation, und dort wird alles entschieden.“ Henry versuchte sich zu beherrschen, stand auf, und alle vier begaben sich zur Zentralstation. „Über was für eine Schaukel mag Stakowski eigentlich gesprochen haben?“ fragte Erli Sven. „Habt ihr keine Vorstellung, was er im Sinn gehabt haben könnte?“ „Absolut keine Ahnung“, entgegnete Sven. „Vorher ist überhaupt nicht davon die Rede gewesen?“ „Ich habe nichts dergleichen gehört.“ Sie blieben an dem Verbindungspult stehen. „Wie soll man sich denn diese Schaukel vorstellen?“ fragte Nikolai plötzlich. Alle schauten ihn verwundert und verständnislos an. „Wie kann man die Schaukel am einfachsten schematisch darstellen?“ Erli zeichnete auf ein Blatt Papier über das gesamte Format eine Gerade und durchschnitt sie in der Mitte durch eine kurze Gerade mit kleinem Neigungswinkel. „So ähnlich würde ich sie auch zeichnen“, sagte Sven. „Doch wozu das alles? Hast du irgendwo so etwas gesehen?“ „Hab’ ich, ist noch gar nicht lange her, nicht nur einmal. Möglich, daß es vorige Woche war, kann aber auch schon länger zurückliegen. Aber wo und weshalb? Daran kann ich mich nicht erinnern. Doch ich werde mir Mühe geben.“ „Im Moment ist da nichts zu machen?“ „Nein.“ „Gib dir große Mühe, dich zu erinnern“, meinte Sven. „Vielleicht liegt gerade darin des Rätsels Lösung. Aber erst einmal werden wir unseren Aktionsplan ausarbeiten. Wir können nicht die gesamte Zeit über zusammenbleiben. Deshalb müssen wir die Verbindung untereinander aufrechterhalten. Wir brauchen ein Zentrum, dem wir alle Informationen, die wir gesammelt haben, übermitteln. Einer von uns muß ständig hier in der Zentralstation sein. Am besten am Verbindungspult. Das wäre außerdem für den Fall gut, wenn plötzlich einer von ihnen zu sprechen anfinge… Wer bleibt hier? Henry hat dazu selbstverständlich keine Lust.“ „Nein.“ „Wer wird es also machen? Ich muß mit Henry fliegen, obwohl er das auch allein könnte.“ „Nein“, wiederholte Henry. „Erli weiß hier zuwenig Bescheid…“ „Eva“, meinte Nikolai. „Solange sie schläft, werde ich hierbleiben. Und wenn sie aufwacht… Sicherlich werde ich dann für mich eine passendere Arbeit finden…“ „Gut.“ Sven erhob sich und schritt im Zimmer auf und ab. „Jeder muß ein Funkgerät bei sich haben, damit er nach draußen und drinnen Verbindung aufnehmen kann. Die Verbindung darf nie unterbrochen werden. Jeder ist weiterhin verpflichtet, wenigstens einen leichten Blaster bei sich zu haben, weil wir nicht wissen, was hier vor sich gegangen ist. Henry und ich fliegen mit dem Hubschrauber in die Base von Osa. Mehr als vier Stunden werden wir dazu nicht benötigen.“ „Dort arbeitet der Turm nicht“, sagte Henry. „Ich habe den gesamten Frequenzbereich gehört.“ „Früher hätten vier Stunden ausgereicht. Doch ohne Turm… Ich weiß nicht, ob ich es mit Hilfe der Karte schnell finde.“ „Ich bin dort gewesen“, sagte Henry. „Wir werden es rasch finden.“ „Dann wollen wir gleich losfliegen. Erli, versuche die Tür zum Stab einzuschlagen!“ „Eva sagte doch, sie habe den Schlüssel“, warf Nikolai ein. „Ja, richtig, wie konnte ich das bloß vergessen! Um so besser. Also dann los. Was wir nach ein paar Stunden tun werden, weiß ich nicht.“ „Daran wollen wir nicht herumrätseln“, sagte Nikolai, und sie gingen auf den Korridor. Sven sagte: „Falls diejenigen zurückkommen, die vor uns hier waren… Wenn sie uns feindlich gesinnt sind, bleibt uns nichts anderes übrig, als mit ›Veilchen‹ zu starten. Übrigens würde ich das auch tun, wenn ich davon überzeugt wäre, daß wir hier allein sind.“ Sie brauchten fünf Minuten, um die transportablen Funkgeräte und die Blaster zu suchen. Sven und Henry eilten zum Standort der Hubschrauber. Nikolai schaltete alle Empfangsgeräte des Verbindungspultes ein. Erli ging in Evas Unterkunft. 7 Erli beschloß, Eva nicht zu wecken. Ein paar Stunden würden sie ohne sie auskommen. Für sie war es am besten, sich tüchtig auszuruhen. Er zog etliche Kästchen und Schubladen ihres Schreibschrankes auf, aber er fand darin keine Schlüssel. Der Schlüssel hing mit einem kleinen Medaillon an einem Kettchen auf der Brust des Mädchens. Er war bemüht, sie nicht zu wekken, öffnete das Kettchen behutsam und zog es vorsichtig zu sich heran. Das Mädchen bewegte sich ein wenig, griff nach seiner Hand, doch wachte dabei nicht auf. Endlich hatte er den Schlüssel. Er nahm sich nicht die Zeit, das Kettchen wieder zu schließen. Leise verließ er das Zimmer. Vor der Zimmertür des Hauptpultes blieb er stehen, holte tief Luft, schaltete die Funkverbindung ein und fragte Traikow: „Nik, sind sie schon abgeflogen?“ „Ja. Alles lief normal. Alle zwanzig Minuten werde ich mit ihnen sprechen. Du kannst dich vollkommen deiner Aufgabe widmen.“ „Na, ausgezeichnet.“ „Wo bist du im Moment?“ „Ich öffne die Tür zum Hauptpult. Den Schlüssel habe ich gerade gefunden.“ Erli öffnete die Tür. Stickige Luft kam ihm entgegen. Darüber staunte er. Sollte tatsächlich die Ventilation nicht funktionieren? Auch die kleinen Lampenautomaten brannten nicht. Kaum wahrnehmbar leuchtete die Decke auf, nach Norden und Süden fast ein wenig heller, in der Mitte war ein völlig dunkler Streifen. Bei dieser Beleuchtung konnte man schwerlich etwas erkennen, und Erli kam nur tastend voran. Eine kleine Hilfe war der Lichtstreifen, der durch die geöffnete Tür hereinfiel. Die Innenausstattung im Raum des Hauptpultes kannte er nicht, doch seine Augen hatten sich inzwischen etwas an das Halbdunkel gewöhnt. Er bewegte sich sogar ein wenig sicherer, doch seine Sicherheit verflog mit einem Male, als er mit seiner Hand an die Sessellehne kam und der Stoffbezug ihm zwischen den Fingern zu Staub zerfiel. Erli zuckte zusammen und blieb stehen. Es war wohl doch besser, eine Taschenlampe zu nehmen. Aber warum funktionierte die Beleuchtung nicht? Mit Hilfe des Lichtscheines fand er rasch zur Tür zurück und tastete sich zum Lichtschalter. Er knipste, aber es ging nicht, die Teile des Schalters fielen geräuschvoll zu Boden. „Erli“, rief ihn Traikow an. Er zuckte überrascht zusammen und antwortete: „Ja, Nik.“ „Was ist bei dir los?“ „Ich begreife überhaupt nichts…“ „Soll ich helfen?“ „Nein, Nik. Sag mir lieber, wie ich schnell zu einer Taschenlampe kommen kann!“ „Eine Taschenlampe? Bist du denn unter der Erde?“ „Denk nicht, daß ich spinne. Die Automatik funktioniert nicht, und der Schalter ist mir in der Hand zerfallen.“ „Da wird wohl nur in den Wirtschaftsräumen etwas zu finden sein, sonst kaum. Soll ich dir eine hinbringen?“ „Ich mach’ das schon selbst. Du darfst nicht weg vom Verbindungspult.“ „Die Verbindung kommt erst in dreißig Minuten. Das schaffe ich.“ „Nein, Nik. Jede Sekunde kann jemand rufen.“ Erli fuhr auf der Rolltreppe hinunter, lief abermals den dritten Korridor entlang und kroch in den unterirdischen Durchgang. Der Kolben seines Blasters schlug ihm gegen den Rücken. Erli kam sogar der Gedanke, daß hier, in der Zentralstation, eine Waffe doch völlig sinnlos sei. Die Lichterkette begleitete ihn und war ihm immer ein Stück voraus. Hier funktionierte alles vollkommen normal. In dem Wirtschaftsraum gab es eine Informationsmaschine. Erli drückte den Knopf „Autonome Beleuchtung“, merkte sich die Nummer der Sektion und lief weiter. Die Tür zur Sektion öffnete sich vor ihm bereits, als er auf sie zueilte. Es war keine Zeit, darüber nachzudenken. Er ergriff eine kleine Taschenlampe und steckte sie in seinen Anzug. Auf den Regalen fand er noch zwei große, die er in die Hände nahm. Dann überlegte er einen Moment und nahm noch zwei. Mehr konnte er nicht tragen. Im Laufschritt kehrte er wieder zum Hauptpult zurück, holte Luft vor der Tür und ging hinein. Die Lampen stellte er auf den Boden. Eine davon knipste er an, hob sie über den Kopf und ging langsam weiter. Er sah einen runden Saal mit einem Durchmesser von etwa vierzig Metern vor sich. An den Wänden standen Schränke mit elektronischen Anlagen, bestimmt für Hilfeleistungen, Rechenmaschinen, Informationsspeicher, Autographen. Daneben waren achtzehn Sessel für Mitarbeiter. Sie waren alle besetzt, wenn Konrad Stajkowski die Bearbeitung der aufgespeicherten Informationen als dringliche kollektive Arbeit angesetzt hatte. In der Mitte des Saales befand sich das zehn Meter große Pult in Hufeisenform: verschiedenfarbige Tafeln mit Tastaturen zur Einstellung eines Programms, Apparate für die Rückverbindung mit den zwanzig Basen, die es auf dem Eremiten gab, das Pult des Hauptcomputers, beleuchtete Melde- und Signaltafeln, Apparate für den visuellen Kontakt. Unmittelbar in der Mitte des Saales standen noch ein paar Sessel. Hier hatten Konrad Stakowski, Philipp Esra und Edwin Jumm sowie einige andere Mitglieder der Expedition gearbeitet. Erli stellte die Taschenlampe auf das Pult, lief um es herum, ohne etwas zu berühren, und betrat dann das Innere. Die ersten beiden Sessel waren leer. Im dritten und vierten lagen zwei menschliche Skelette, an denen stellenweise noch etwas Haut und ein paar Fetzen der Kleidung hingen. Einige Sekunden betrachtete sie Erli, dann atmete er stoßweise die warme, muffige Luft ein und preßte die Hände an die Schläfen. Zum dritten Male überfiel ihn eine Welle von Angst, er wich zurück zum Ausgang und hielt den Schrei, der in ihm hochstieg, zurück. Er lehnte sich an den Türpfosten und zitterte infolge des völlig Unerwarteten. Das helle Licht im Korridor ließ ihn wieder etwas zu sich kommen. Und wie muß erst Eva zumute gewesen sein? dachte er. Eine Frau, ganz allein. Und sie konnte uns sogar noch was erzählen. Sie hat die Kraft gehabt, sich davon zu überzeugen, daß auf den speichernden Anlagen alle Informationen gelöscht sind. Ich habe nicht einmal das beim ersten Mal tun können. „Erli, was ist bei dir los?“ rief ihn Traikow. „Wir müssen nur noch herausfinden, was mit den anderen zweihundertacht Mann passiert ist…“ „Demnach hat Eva die Wahrheit gesagt?“ „Und was für eine Wahrheit!“ „Mich verlangt Henry. Ich schalte mich aus.“ „Wir müssen nur noch herausfinden, was mit den anderen zweihundertacht Mann passiert ist“, flüsterte Erli vor sich hin und ging wieder in den Saal. 8 An ihrem Standort befanden sich ungefähr zwölf Hubschrauber. Sven wollte auf einen kleinen Zweisitzer losstürzen, doch Henry hielt ihn zurück. „Wenn sie nun noch am Leben sind, und man müßte sie schnellstens hierherbringen?“ Thomson widersprach nicht. Sie rannten zu einem großen Zehnsitzer, legten ihre Blaster hinein und kletterten dann selbst hinauf. Sven warf einen Blick in den Gepäckraum, um sich davon zu überzeugen, daß Flammenwerfer an Bord waren. Ohne sie in die Selva zu fliegen, wäre heller Wahnsinn gewesen. Sven ließ den Hubschrauber jäh in die Höhe steigen. Die Kuppel der Zentralstation huschte vorbei, die Energiespeicher erschienen als weiße Tasten, die hölzernen Unterkunftshäuschen waren wie dunkle Erbsen im Gelände verstreut, nach einer Minute waren die letzten Flecken der hellgrünen Parkanlagen verschwunden. Unter ihnen lag die endlose Selva. „Henry“, sagte Sven, „geh auf Verbindung mit der Zentrale. Wir müssen alles überprüfen.“ „In Ordnung… Nik! Hörst du mich gut?“ fragte Henry, als er die Funkanlage eingeschaltet hatte. „Antworte!“ „Ausgezeichnet“, antwortete Traikows Stimme. „Wie geht es bei euch? Alles in Ordnung?“ „Völlig normal“, sagte Henry, und zu Thomson gewandt: „Die Verbindung klappt, Sven… Nik! Ich werde die Zentrale alle zwanzig Minuten rufen, wie wir es vereinbart haben.“ „Gut.“ Von oben wirkte die Selva eintönig. Düstere Zusammenballungen dunkelgrünen Pflanzenwuchses. Ab und zu konnte das Auge kärgliche Wasserlachen von Flüssen und Seen erhaschen. Das Gelände war felsig. Auf dem Eremiten gab es überhaupt keine hohen Berge. „Wohin man auch schaut, überall ist diese Selva!“ Wirt zog die Schultern hoch. „Falls nun die Selva in eine von den Basen eindringt? Allein der Gedanke ist schrecklich. Ein wildes Wüten der ekligen dahingleitenden Pflanzen, und eine Tierwelt, die nur ein Ziel hat: das Fressen. Blaster können dagegen nichts ausrichten. Unheimliche Selva! Doch vorläufig, solange der Schutzgürtel seine Wirksamkeit behält, kann die Selva kein Grauen erregen. Alles kann aus den Fugen geraten, bloß die Aggregate der Schutzgürtel nicht!“ Henry Wirt sah flüchtig auf den Geschwindigkeitsanzeiger. Der leuchtende Zeiger hatte die Höchstgrenze erreicht. Sven und Henry schwiegen. Sven verglich gewissenhaft das sich vor ihnen entfaltende Bild des Geländes mit der Karte. Henry hing seinen eigenen Gedanken nach. Er wollte nicht glauben, daß seiner Osa irgend etwas zugestoßen war. Als zwanzig Minuten nach ihrem Start vergangen waren, rief Wirt die Zentrale. „Nik, hörst du mich gut?“ „Ausgezeichnet. Warum sprichst du so schnell? Ist etwas passiert?“ „Alles normal. Und bei euch?“ „Erli hat soeben vom Hauptpult aus gesprochen.“ Nikolai dehnte die Worte bedächtig. Seine Stimme war tief und heiser. „Esra und Jumm brauchen wir nicht mehr zu suchen, es gibt sie nicht mehr.“ „Wieso?“ „Er hat weiter nichts gesagt.“ „Überhaupt nichts?“ „Nichts, Henry.“ „Du hast so eine eigenartige Stimme, Nik. So heiser, daß man Gänsehaut bekommen kann.“ Unter ihnen war wieder die eintönige, schmutziggrüne Selva. Sven wandte sich zu Wirt: „Wenn alles in Ordnung geht, werden wir in einer Stunde die Basis Nummer zwei sehen können. Wieviel Menschen waren dort?“ „Dort sind vier!“ entgegnete Henry, und Thomson begriff, daß sein „waren“ nicht richtig gewesen war. „Osa, Wytschek, Jürgens und Stap, das sind vier Mann.“ „Es gelingt mir nicht, ruhig zu werden, Henry.“ „Danke, es ist besser so… Es wäre aufschlußreich, zu wissen, ob die Verbindung gleichzeitig mit allen Basen abriß oder nicht.“ „Vielleicht nicht ganz gleichzeitig. Eva ist doch nicht sofort zum Verbindungspult gerannt. In diesen wenigen Minuten hat viel geschehen können.“ „Und wenn es die Selva gewesen ist?“ „Zur gleichen Zeit in allen Basen? Allein die Vorstellung fällt einem schwer.“ Es waren weitere zwanzig Minuten vergangen. Wirt rief abermals die Zentrale. „Nik, verstehst du mich gut?“ Als Antwort erklang ein tiefes, heiseres Brummen. In Traikows Kehle würgte und krächzte etwas. „Nikolai! Was ist passiert? Was ist los?“ Das Brummen wurde allmählich leiser und verstummte völlig. „Sven, verstehst du irgendwas?“ „Wir kehren um!“ „Ich habe dich gefragt, ob du etwas verstehst!“ „Bei ihnen ist etwas vorgefallen, Henry. Wir müssen umkehren.“ „Hier ist mit allen etwas geschehen. Umkehren werden wir jedenfalls nicht. Na, was ist? Du verstehst mich doch, nicht wahr, Sven? Du hast alles verstanden, stimmt’s?“ „Ich kehre um.“ „In kaum einer Stunde werden wir wissen, was auf der zweiten Basis passiert ist.“ „Und wenn nun die drei in der Zentrale unsere Hilfe brauchen?“ „Tu, was du denkst.“ Wirt lehnte sich gleichgültig im Sessel zurück. Der Hubschrauber machte eine jähe Wendung. „Nimm dich zusammen, zum Teufel noch mal!“ schrie Sven. „Versuche die Verbindung in Ordnung zu bringen!“ „Ich versuch’s“, flüsterte Wirt. Die Zentrale gab auf die Rufe keine Antwort. Das Brummen und dumpfe Krächzen wurde zuweilen von absolutem Schweigen abgelöst. „Sven und Wirt lauschten wortlos den unverständlichen Geräuschen und Lauten. 9 Erli hatte den Saal wieder betreten und gab sich Mühe, nicht zu den beiden Sesseln zu sehen. Er stellte die Taschenlampen so auf, daß sie den Raum gleichmäßig erhellten. Dann machte er sich einen Plan, wie er ungefähr vorgehen wollte. Zuerst wollte er feststellen, was im System der Automaten los war, danach die Informationsspeicher ansehen, die Magnetbänder der Rechenmaschinen und die Autographen prüfen. Mit der Untersuchung der sterblichen Überreste der beiden Wissenschaftler wollte er seine Nachforschungen hier abschließen. Bereits bei flüchtigem Hinsehen stellte er fest, daß die Ventilationsschächte vollkommen zerstört und die Kompressoren in einen Haufen Blech verwandelt worden waren. Eine unter Putz liegende elektrische Leitung konnte er nicht entdecken, aber alle Schalter und Steckdosen waren kaputt. Der Plast war rissig, die Kontakte waren mit einer dicken Rostschicht überzogen, es war sinnlos zu versuchen, etwas einzuschalten: Bei einer einzigen Berührung hingen sofort die Kabel und Gummischnüre der Apparate herunter und waren nicht mehr zu gebrauchen. Irgendeine Seuche, eine heimtückische Krankheit schien das Material, aus dem die Apparaturen und Mechanismen gefertigt waren, befallen zu haben. Lediglich Wände und Fußboden, die aus hitzebeständigem Plast waren, wirkten wie neu. Die Hebel der Apparaturen rasteten nicht ein, die Tastaturen ließen sich nicht niederdrücken oder verloren bereits bei einer leichten Berührung ihre Spannung und kehrten nicht mehr in ihre Ausgangsstellung zurück. Von den Bändern der autographischen Anlagen war überhaupt nichts übriggeblieben. Die Magnettrommelspeicher der Rechenmaschinen waren verzogen die Tonbänder hatten sich in Staub verwandelt. Informationsträger waren auch in den Blöcken der Informationsspeicher nicht erhalten geblieben. Erli ging vorsichtig von einem Gerät zum anderen und gab sich Mühe, mit nichts in Berührung zu kommen; doch hin und wieder fiel etwas krachend zu Boden, schwebte als graue Staubwolke davon oder zerfiel in formlose Plast-Teile und verrostetes Metall. Trotz alledem war in diesem Chaos defekter, wertlos gewordener Apparaturen und Gegenstände so etwas wie eine Gesetzmäßigkeit zu beobachten. Der Äquator des Planeten verlief direkt durch die Mitte des Saales. Alles, was sich in unmittelbarer Nähe dieser Linie befunden hatte, war mehr zerstört worden als die Dinge, die an den gegenüberliegenden Wänden gewesen waren. Der Tod hat am Äquator begonnen, sagte Erli zu sich selbst. Dann betrat er das große Hufeisenpult und blieb an dem Sessel stehen, in dem wahrscheinlich Philipp Esra gesessen hatte. Zweifellos hatte er in dem Moment, als ihn der Tod ereilte, gesessen. Das bezeugte die Haltung des Skeletts. Aber die Zeit hatte auch ihn nicht verschont, und der Schädel starrte mit leeren Höhlen aus der Sessellehne hervor. Erli harrte etwa eine Minute an diesem Platz aus. Eine traurige Geschichte… Er versuchte sich vorzustellen, was Philipp Esra wohl in dem Augenblick gemacht hatte, als er starb. Welche Programmtasten mochte er gedrückt haben? Woran hatte er gedacht? Was wollte er gerade tun? Und Edwin Jumm? Worüber hatten sie vor dem Tod gesprochen? Was hatte das Wort „Schaukel“ zu bedeuten? Im Ergebnis seiner Besichtigung kam Erli zu keiner einzigen Schlußfolgerung. Esra und Jumm waren nicht mehr unter den Lebenden. Alles, was sich im Hauptpult befunden hatte, war untauglich geworden, zerfallen oder zerstört. Doch es blieb unverständlich, weshalb dies eingetreten war. Eine Epidemie? Warum dann nur hier in der Kuppel der Zentrale? Und in welcher Beziehung stand das zur Linie des Äquators? Wie kam er übrigens dazu, daß sich dies alles nur im Hauptpult zugetragen haben sollte? Weil der Korridorring nicht von der Zerstörung betroffen war? Das hatte wohl nichts zu bedeuten; denn auch hier, im Raum des Hauptpultes, sah der Fußboden wie neu aus. Erli trat hinaus auf den Korridor und betrachtete ihn eingehend. Wenn er es nicht erwartet hätte, würde er es wahrscheinlich jetzt auch nicht bemerkt haben, genau wie beim ersten Mal. An den Wänden im Korridor fand er etliche Risse. Die Plastverkleidung der Wände war gesprungen. Erli riß die Fenster im Korridor auf. Er wollte sehen, was dort auf dem Boden über der imaginären Linie des Äquators los war. Doch die Dächer der Zentralstation zogen sich einige hundert Meter nach allen Seiten hin. Er konnte im Erdboden infolge der großen Entfernung nichts feststellen. Über die Dächer schien allerdings so etwas wie ein dunkler Streifen entlangzulaufen. Es gab schon irgendeine Gesetzmäßigkeit bei dem Ganzen, aber vorläufig war nicht dahinterzukommen. „Erli“, ließ sich Traikow vernehmen, „gleich ist die Verbindung mit Wirt fällig. Was hast du inzwischen herausbringen können?“ „Hier ist alles zerstört. Wie lange wart ihr unterwegs?“ „Zwölf Tage“, entgegnete Traikow verwundert. „Und was meinst du, wenn ich dir jetzt sage, daß ihr ungefähr fünfhundert Jahre nicht auf dem Eremiten gewesen seid? Nun, was ist? Warum bist du so still?“ „In gewisser Hinsicht können es auch fünfhundert Jahre gewesen sein.“ „Nein, nicht in gewisser Hinsicht, sondern es ist so, wie ich sage. Ich befinde mich im Augenblick im Hauptsteuerungspult. Ich versichere dir, daß hier einige hundert Jahre vergangen sind. Vielleicht auch nur einige Jahrzehnte. Darin liegt aber im wesentlichen gar kein Unterschied. Was ist denn, wenn ihr tatsächlich einige hundert Jahre für euren Flug gebraucht habt?“ „Erli, ich komme gleich mal zu dir.“ „Nicht nötig, Nik. Ich bin nicht verrückt. Auf dem Eremiten sind einige Tage vergangen, das bestätigt ja auch Eva. Hier sind es aber einige hundert Jahre. Vielleicht hängt es mit dem Einfall eines Virus zusammen?“ „Und wie wäre es, wenn die Besitzer dieses Planeten zurückgekommen sind?“ „Dann diese Grausamkeit? Dann würde auch uns nichts Gutes bevorstehen. Es gibt hier eine eigenartige Gesetzmäßigkeit.“ „Was ist es?“ „Ich muß es erst überprüfen.“ „In Ordnung, ich schalte mich aus.“ Erli begab sich hinunter in den dritten Ring, denn er hatte beschlossen, ihn nochmals entlangzugehen und festzustellen, was in den Laboratorien passiert war, die, genau wie das Hauptpult, über der Äquatorlinie lagen. Das Hauptpult befand sich im rechten Flügel. Erli ging den linken entlang. Er war jedoch noch nicht weit gekommen, als ihn Traikow nochmals rief. Er war irgendwie erregt, obwohl er sich bemühte, ruhig zu sprechen: „Erli, kannst du mal zu mir kommen?“ „Was ist passiert?“ „Wirt und Thomson antworten nicht.“ Erli machte sofort kehrt zum rechten Flügel. „Irgendwas heult bei ihnen. Zuerst war überhaupt nichts zu hören, dann ganz schwach, ähnlich einem Ultraschall. Und jetzt ist es ein durchdringendes Heulen.“ Was sollte ihnen denn zugestoßen sein? Auf die Hubschrauber war doch vollkommen Verlaß. Eigentlich war hier auf alles Verlaß, und trotzdem war viel verdorben worden. Erli öffnete die Tür zum Saal. Traikow saß mit dem Rücken zu ihm und schrie ins Mikrofon: „Ich rufe Wirt! Hier Traikow! Ich rufe Wirt! Geht auf Empfang!“ Er wiederholte alles noch einmal, nachdem er das Untergestell auf einen anderen Platz gerückt hatte. Erli ließ sich in einen Sessel fallen und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. „Sie geben keine Antwort“, sagte Nikolai und drehte sich zu ihm um. „Gib nicht auf. Ruf immer wieder.“ Nikolai versuchte abermals, Wirt heranzubekommen. „Übrigens habe ich dir folgendes noch gar nicht gesagt, es ist mir auch vorher nicht eingefallen. Wir müssen auf allen Verbindungskanälen Tonbandaufzeichnungen durchführen. Natürlich können wir nicht alles abhören, aber wir können die Bänder in den Computer geben. Soll er sie bearbeiten! Vielleicht erhalten wir dadurch wenigstens ein Bit Information.“ „Ich schreibe alles mit und höre es mir in bestimmten Abständen an. Absolut nichts… Ich rufe Wirt! Hier Traikow! Geht auf Empfang!“ „Schon zwei Stunden…“ „Was hast du gesagt?“ „Wir sind jetzt fast zwei Stunden auf dem Eremiten.“ 10 Sie flogen in Richtung Zentralbasis ungefähr fünfzehn Minuten. Für einen Moment ballte sich die Luft vor dem Hubschrauber zu dichtem Nebel, und die Maschine kam nur schwer voran, sie wurde vorwärts geworfen, wie aus einer auf Hochtouren laufenden Schleuder hinausgedrängt. Sie spürten, wie der Rumpf der Maschine durch den unheimlich starken Luftwiderstand ins Vibrieren geraten war, beide wurden auf die Sessel gepreßt. Sven erhöhte die Geschwindigkeit, aber plötzlich fiel sie weit unter die Hälfte der Maximalgrenze, und sie wurden von ihren Sitzen nach vorn geworfen. „Hier geht’s mit dem Teufel zu“, brummte Sven. „Als wir zur zweiten Basis geflogen sind, ist es hier in diesem Gebiet schon mal passiert, daß die Geschwindigkeit plötzlich absank, und ich mußte das letzte aus der Gangschaltung herausholen. Jetzt ist alles genau umgekehrt. Als ob man an irgendeine Schwelle käme. Ich habe noch nie zuvor mit einer solchen Erscheinung zu tun gehabt. Und in der Atmosphäre herrscht völlige Ruhe.“ „Außerdem hüllt uns irgendein Dunst ein wie eine Decke.“ „Es ist also wirklich so gewesen? Ich dachte nämlich, ich hätte mir das eingebildet.“ „Ich rufe Wirt! Hier Traikow!“ klang es plötzlich aus den Mikrofonen, heiser und aufreizend langsam. „Ich höre, Nik!“ rief Henry. „Was ist bei euch vorgefallen? Warum habt ihr keine Antwort gegeben?“ „Bei uns ist alles normal. Warum habt ihr denn nicht geantwortet?“ „Wir sind auf Verbindung mit euch gegangen, doch ihr habt euch nicht gerührt. Da dachte Sven, bei euch muß etwas passiert sein, und wir sind zurückgeflogen. Jetzt brauchen wir wohl noch zwanzig Minuten bis zu euch. Sollen wir kommen oder zur zweiten Basis fliegen?“ „Erli meint, ihr könntet dorthin fliegen… Aber warum haben wir keine Verbindung bekommen? Und weshalb trompetest du eigentlich derart?“ „Ich spreche absolut normal. Aber du, Nik, bist allem Anschein nach am Einschlafen!“ Zwischen den Worten und Sätzen traten zuweilen längere Pausen ein, und jeder dachte dann, daß man sich auf der an deren Seite die Antwort überlege. „Es ist irgendeine Teufelei“, brummte Sven wieder. „Bleib immer auf Verbindung. Irgendwie gefällt mir diese Dunsthülle nicht.“ „Nik“, sagte Henry, „sprich jetzt mal ohne Unterbrechung, irgendwas; mal sehen, wann die Verbindung abreißt.“ „Du glaubst, daß das wieder passiert?“ „Ich weiß nicht, aber rede nur. Was hat sich bei Erli herausgestellt?“ „Bei Erli? Nichts Bestimmtes. Er ist der Auffassung, daß wir ungefähr fünfhundert Jahre nicht auf dem Eremiten gewesen sind.“ „Oho, das ist nicht schlecht! Wo ist er denn jetzt?“ „Sitzt neben mir. Ich habe ihn hergebeten, als die Verbindung mit euch nicht mehr zustande kam.“ „Nik, tu mir den Gefallen und dehne die Worte bitte nicht so.“ „Ich spreche normal. Aber du überschlägst dich ja förmlich. Dein Leben lang wirst du das so machen.“ Als Antwort hörte Traikow jetzt ein langgezogenes Heulen, das mehrfach länger unterbrochen wurde. Die Kabine des Hubschraubers war erfüllt von einem dumpfen, tiefen Geheul aus den Telefonen. „Die Verbindung ist unterbrochen, Sven“, sagte Henry. „Schon wieder diese Hülle. Der Hubschrauber prallt auf sie wie auf straffgespannten Gummi. Wir müssen aber trotzdem herausbekommen, was das eigentlich ist. Ich fliege schnurstracks darauf zu.“ „Gut.“ „Paß auf. Jetzt kommen wir an sie heran. Halt dich fest. Es wird gleich einen Ruck geben!“ Der Hubschrauber schoß nach vorn und schleuderte hin und her, doch Sven wurde jetzt mit der nicht gehorchenden Maschine schon viel besser fertig als vorher. Im selben Moment tönte es aus den Telefonen: „… fe Wirt! Hier Traikow!“ „Der Empfang ist normal.“ „Was war bei euch los?“ „Erli soll den Parallelkanal benutzen.“ „Ich höre alles gut, Henry, erzähle!“ „Hier tritt in der Luft plötzlich eine Hülle auf, etwa wie ein dünnes, halb durchsichtiges Häutchen. Wenn wir dahinter sind, reißt die Verbindung ab, kehren wir wieder zurück, ist die Verbindung völlig normal. Wahrscheinlich irgendeine Abschirmung.“ „Welchen Einfluß hat diese Hülle noch auf euch?“ „Wenn wir durch sie hindurchfliegen und aus eurer Richtung kommen, wirkt sie wie eine gespannte Feder oder straffer Gummi. Sven muß auf Höchstgeschwindigkeit gehen. Fliegen wir zurück, also zu euch hin, stößt sie uns gewissermaßen von sich ab, wirft uns zurück.“ „Welche Geschwindigkeit habt ihr?“ „So an die zweitausend in der Stunde.“ „Fliegt diese Membran mal an mit einer Geschwindigkeit von zwanzig oder fünfzig Kilometern pro Stunde.“ „Wird gemacht, in Ordnung.“ Sven senkte die Geschwindigkeit und machte eine tiefe Wendung. Der Zeiger des Geschwindigkeitsmessers senkte sich immer weiter. Bis zu der vibrierenden, glasklaren Hülle waren es noch etwa fünf Kilometer, aber die Maschine kam nicht weiter an sie heran, obwohl der Geschwindigkeitsmesser fünfundzwanzig Kilometer pro Stunde anzeigte. „Sie läßt uns nicht weiter heran“, sagte Sven. „Der Motor arbeitet, aber wir stehen auf der Stelle.“ „Geht auf Null“, bat Erli. „Hab’ ich gemacht“, erwiderte Sven. „Wir werden langsam zurückgedrückt. Das Triebwerk für den Horizontalflug ist vollkommen ausgeschaltet.“ „Schön. Geht mal ungefähr zehn Kilometer zurück, erhöht eure Geschwindigkeit und fliegt durch wie beim ersten Mal.“ „Was glaubst du, Erli, was das gewesen ist?“ „Ich weiß es nicht, Henry. Irgendeine Energiebarriere. Vielleicht werden wir noch dahinterkommen, welche Ursachen sie hat, wie sie beschaffen ist, aber vorläufig müßt ihr euch so durchschlagen.“ „Wie hoch wird sie sein?“ „Ich denke, sehr hoch. ›Veilchen‹ ist ja auch gegen etwas aufgeprallt, als wir auf dem Eremiten gelandet sind.“ „Ja, das ist richtig“, meinte Sven. „Es ist ein ähnliches Gefühl. Nur, daß wir da kräftig durcheinandergeschüttelt worden sind.“ „Wenn die Verbindung wieder abreißt, fliegt ihr ohne weiter. Bis zur zweiten Basis habt ihr noch ungefähr eine Stunde. Kurz gesagt, in vier Stunden erwarten wir euch wieder im Äther.“ „Abgemacht. Also sechzehn Uhr dreißig“, sagte Henry abschließend. „Alles Gute.“ „Euch dasselbe.“ „Ich erhöhe jetzt die Geschwindigkeit“, sagte Sven. 11 „Für ein paar Stunden stehe ich jetzt zur Verfügung“, sagte Traikow. „Eva kann mich hier vertreten. Was kann ich tun?“ „Die Energiespeicher müßten nachgesehen werden.“ „Das übernehme ich.“ „Ich wollte eigentlich mal sehen, was sich auf dem Gelände der Zentrale alles tut. Ich brauche dazu ein Mehrzweckmobil. Lauf zu Eva und stell ihr das Taschenfunkgerät an einen gut sichtbaren Platz, dazu eine kurze Mitteilung, damit sie nicht in Aufregung gerät und uns nicht sucht. Nimm die Verbindung mit mir auf, sooft du irgend kannst, besonders dann, wenn du etwas Ungewöhnliches, Unerklärliches feststellst, und sei es auch nur die geringste Kleinigkeit.“ „Ich habe verstanden, Erli. Ich gehe.“ „Wart mal! Der Äquator dieses Planeten läuft doch durch die Zentrale?“ „Ja.“ „Hat jemand schon mal daran gedacht, die imaginäre Äquatorlinie zu markieren? Kann ich sie auf dem Gelände der Zentrale nicht irgendwie finden?“ „Die Linie des Äquators ist durch kleine Pflöcke markiert. Das hat Stap gemacht; er hatte etwas übrig für derartige Sachen.“ Sie gingen gemeinsam hinaus zum Aufgang der Zentrale. Traikow wandte sich der Unterkunft Evas zu, Erli kletterte auf das Dach eines Mehrzweckmobils, öffnete die Luke und stieg hinein. Er prüfte die Steuerung der Maschine. Es war alles in Ordnung. Die Maschine heulte wütend auf und raste in großem Bogen um das Gebäude der Zentrale. Nach ein paar hundert Meter Flug brachte Erli das Mehrzweckmobil zum Stehen und sprang auf den Rasen. Er lief noch ein Stück zu Fuß, betrachtete aufmerksam das Gras und orientierte sich nach der Gebäudekuppel. Schließlich fand er, was er suchte: Im Abstand von einigen Metern waren jeweils fünfzig Zentimeter hohe Holzklötze in die Erde gerammt. Früher waren sie einmal mit hellroter Farbe gestrichen, damit sie sich vom Gras gut abhoben. Doch von der Farbe war keine Spur mehr zu sehen. Bei der geringsten Berührung fielen die Klötzchen um. Erli hob ein paar dieser ehemaligen Holzklötze auf und verstaute sie behutsam im Gepäckraum der Maschine. Er kletterte wieder in sein Fahrzeug, schob die Vorderwand in die Höhe, damit er gute Sicht hatte, und ließ das Mehrzweckmobil auf dieser festgelegten Linie mit mäßiger Geschwindigkeit entlanggleiten. Sehr bald traf er auf riesengroße, umgefallene, halb verfaulte Bäume. Auf dem Terrain der Zentrale konnte es so große Bäume überhaupt nicht geben. Sie hätten gar nicht so rasch heranwachsen können, weil sie sich ja aus Samen von der Erde entwickeln mußten. Er fuhr etwa einen Kilometer auf der Strecke entlang und fand danach endgültig seine Annahme bestätigt, daß die Mannschaft von „Veilchen“ im Gebiet um die Äquatorlinie nicht etwa ein paar Tage nur abwesend gewesen war, sondern mindestens einige Jahrzehnte. Er würde den Zeitraum genauer bestimmen können, sobald er nach seiner Rückkehr zur Zentrale die erforderlichen Analysen im Labor vorgenommen haben würde. Er hätte sich auch sofort entschlossen zurückzukehren doch der schwarze Selva-Streifen am Horizont nahm seine Aufmerksamkeit voll in Anspruch. Er schien ihm außerordentlich hoch zu sein. Mit hoher Geschwindigkeit fuhr er nun vorwärts, drückte das Gras und kleine Büsche nieder, ließ beim Durchqueren kleiner, künstlich angelegter Flüsse und Seen Fontänen um die Maschine aufspritzen, flog Böschungen hinauf und ließ sich in blühende Talsenken gleiten. Allmählich veränderte sich der Pflanzenwuchs. Er wurde immer wildnisartiger. Aber das verwunderte ihn gar nicht so sehr, weil nur der mittlere Teil des Parkes kultiviert war, alles andere hatte man der Natur überlassen. Natürlich hatte man den Pflanzengleitern den Zutritt verwehrt. Hier gab es lediglich Pflanzen von der Erde, kultivierte oder verwilderte. Als ihn von der Verbotslinie nur noch hundert Meter trennten, wurde ihm klar, weshalb ihm der Selva-Streifen am Horizont so unnatürlich hoch vorgekommen war. Die einzelnen Pflanzen waren nicht höher als fünf Meter, doch sie waren aneinander hochgeklettert. Es war ein unheimlich drohendes, mehrstöckiges Pflanzengeflecht, so daß man einzelne Pflanzen darin überhaupt nicht unterscheiden konnte. Es war ein scheußliches Gewirr von Wurzeln, Stämmen und Zweigen. Erli kletterte aus dem Mehrzweckmobil und ging dicht an die Verbotslinie heran. Jetzt erst sah er, daß es sich um abgestorbene Pflanzen handelte, die von der Nordseite des Parkes in riesigem Halbkreis auf der Verbotslinie aufgetürmt waren. Der Wall war mindestens hundert Meter hoch. Welche Kraft hatte einen solchen toten Gürtel anlegen können? Eigentlich nur ein fürchterlicher, noch nie dagewesener Orkan, dessen Gewalt man sich schwer vorstellen konnte. Der Orkan war offensichtlich von Norden her gekommen und hatte, als er auf die undurchdringliche Verbotswand gestoßen war, seine Trophäen an dieser Stelle liegengelassen. Wie hatte sich aber ein derartiger Orkan entwickeln können? Auf dem Eremiten herrschte solch ein mildes Klima, ohne stürmische Winde. Hier stieß er auf die Frage, was mit dem Kraftfeld dort geschehen war, wo es von der Äquatorlinie durchkreuzt wurde. Wieder setzte er sich in die Maschine und fuhr an dem Wall entlang, dessen Höhe sichtlich abnahm, je mehr sich das Fahrzeug dem Schnittpunkt näherte. Als er sah, daß dort alles in Ordnung war, sagte er sich, daß wahrscheinlich an dieser Stelle die errichtete Sperrmauer aus den Speichern riesige Energiemengen geholt hatte, um die Bresche zu schließen, und sie war intakt geblieben. So verhielt es sich hier in der Zentrale, deren Energiespeicher praktisch unerschöpflich waren. Was aber war von den Basen übriggeblieben, falls über sie ein solcher Orkan hinweggebraust war? Vielleicht zehn Minuten lang saß er im Gras im Schatten des Mehrzweckmobils und versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Was hatte er in diesen drei Stunden in Erfahrung gebracht? Absolut sicher war folgendes: Esra und Jumm lebten nicht mehr, sie waren tot. Alles entlang der Äquatorlinie warum etliche Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte gealtert. Es war jedoch möglich, daß dies ganz einfach nur der Arbeit irgendwelcher Mikroorganismen zuzuschreiben war. Einige hundert Kilometer nördlich von der Zentrale gab es ein unbekanntes Kraftfeld, einen Energieschirm, der jede materielle Substanz von sich abstößt und Radiowellen nicht weiterleitet. In dem Zeitraum, in dem „Veilchen“ nicht auf dem Eremiten war, hat es einen ungeheuerlichen Orkan gegeben. Die Menschen auf den Basen haben auf Rufe der Zentrale keine Antwort gefunkt… Wie sollte man das einordnen und zusammenfassen? „Erli!“ hörte er Traikows Stimme. „Verstehst du mich?“ „Ja, ich höre dich, Nik. Was gibt’s bei dir?“ „Es handelt sich um folgendes.“ Traikows Stimme war vollkommen ruhig. „Was soll ich mit Menschen anfangen, die sich in der Nähe der Energiespeicher aufhalten?“ „Was für Menschen denn, Nik? Was erzählst du da?“ Erli sprang auf und war mit einem Ruck oben auf dem Mehrzweckmobil. „Ich dachte, wir hätten stillschweigend vereinbart, daß keiner den anderen für verrückt erklärt, was auch immer geschehen möge. Erli, hier sind ein paar Mann. Vorläufig sehen sie mich noch nicht, oder sie tun so, als sähen sie nichts. Ich kenne sie nicht. In der Zentrale bei uns sind sie nie gewesen.“ „Ich werde sofort bei dir sein, Nik.“ „Ausgezeichnet. Ich befinde mich auf dem vierten nördlichen Speicher. Das Mehrzweckmobil steht unten. Ich bin ganz oben.“ Erli warf sich auf den Pilotensitz. Der Motor heulte auf, die Maschine flog auf die in der Ferne blinkende Kuppel der Zentralstation zu. Erli wollte nicht, daß ihn die Unbekannten erblickten, bevor er es ihnen gestattete. Was waren das für Menschen? Auf dem Eremiten gab es zweihundertvierzehn Menschen. Vier davon waren noch am Leben. Zwei waren tot. Von allen anderen war vorläufig überhaupt nichts bekannt. Wenn diese Menschen aus der Expedition von der Erde gewesen wären, hätte Nik sie unbedingt erkannt. Hier kannten alle einander von Ansehen. Möglicherweise waren es also Vertreter jener Zivilisation, die alle Basen und die Zentrale geschaffen hatte? Falls es sich so verhielt, dann waren sie im Vergleich zu den übriggebliebenen fünf Erdenbürgern allmächtig. Sie konnten demnach alles mit ihnen machen, was sie wollten. Sie waren in ihre Besitzungen zurückgekehrt. Was würden sie jetzt unternehmen? Was sollte man ihnen sagen? Wie konnte man ihnen die Handlungen der Erdmenschen erklären? Als es bis zur Zentralstation etwa noch zwei Kilometer waren, wurde er noch einmal gerufen: „Erli! Lebst du noch? Du bist es doch selbst, Erli?“ „Ich bin’s, Erli. Hast du ausgeschlafen, Eva? Wo bist du jetzt?“ „Erli! Nimm mich mit! Führ mich weg von hier! Mach mit mir, was du willst, aber bring mich fort von hier! Ich verliere den Verstand! Ich begreife überhaupt nichts mehr!“ „Wo bist du, Eva?“ „Ich sitze am Verbindungspult, Erli, so hat es Nik in seiner Mitteilung an mich hinterlassen. Seit einer halben Stunde sitze ich hier. Niemand ruft mich. Als wären alle gestorben oder wieder mal verschwunden.“ „Wir dachten, du schläfst.“ „Hast du sie gesehen, Erli?“ „Wen?“ „Esra und Jumm.“ „Ja — hab’ ich gesehen.“ „Eben sind sie vom Verbindungspult weggegangen. Bring mich von hier fort! Schließlich haben wir ja eine Rakete. In drei Monaten kommt die ›Warszawa‹.“ „Eva, was ist mit dir los? Beruhige dich. Ich werde schnell bei dir sein! Erst muß ich jedoch zu Nik, Esra und Jumm gibt es nicht mehr. Sie können nicht umherlaufen. Sie sind nicht mehr da.“ „Das heißt also, ich habe den Verstand verloren. Dann bleibt mir nur noch dieser Blaster hier.“ „Untersteh dich, Eva! Hörst du? Untersteh dich!“ 12 Der Hubschrauber Svens raste mit großer Geschwindigkeit durch die Nebelhülle. Unten war, wohin auch das Auge blickte, die endlose Weite der Selva. Sven beunruhigte ein bestimmter Umstand. Er kannte das Gelände gut und hatte auch die Karte zur Hand. Doch von Zeit zu Zeit bemerkte er unter sich irgendwelche unbekannten Gebilde: Seen, abgebrannte Stätten, die auf der Karte nicht eingezeichnet waren. Henry war verstummt und meldete sich nicht. Er hatte nichts zu tun, die Verbindung funktionierte sowieso nicht. So dazusitzen und die Hände in den Schoß zu legen wurde allmählich unerträglich. Sven hüllte sich gleichfalls in Schweigen. Ihm kam nicht ein einziger, für ein Gespräch tauglicher Gedanke in den Kopf… Wenige Minuten nachdem sie die erste Energiebarriere überwunden hatten, kamen sie an eine zweite, deren Überwindung beinahe mit einer Katastrophe geendet hätte: Sven war einen Moment lang bewußtlos geworden, und der Hubschrauber begann zu sinken. Glücklicherweise hielt die Bewußtlosigkeit nicht lange an, so daß die Sache harmlos verlief. Etliche Kilometer vor der zweiten Basis trafen sie auf eine dritte Energiebarriere. Henry war bereit, sich ohne Fallschirm in die Tiefe fallen zu lassen, als die Kuppeln der zweiten Basis auftauchten. Doch es wurde sofort deutlich, daß sich im Terrain der zweiten Basis die Selva ausgebreitet hatte. Die Schutzaggregate funktionierten nicht. Der Hubschrauber ging bei der Kuppel des Wohngebäudes in die Tiefe. Sicherlich war das Heulen seines Motors in der gesamten Basis zu hören, doch kein Mensch erschien unter den durchsichtigen Kuppeln. Sie flogen langsam um die ganze Kuppel des Wohngebäudes. Es war verständlich, daß sie hier von niemandem begrüßt werden konnten. Ringsherum gab es Spuren der Zerstörung. Die Kuppel selbst war an vielen Stellen beschädigt und wies meterlange Risse auf. Es waren zerbrochene Balken und zerstörte Zwischenwände aus Eisen und Beton zu erkennen, ebenso beschädigte Möbel und zerbrochene Apparaturen. „Was soll das bedeuten?“ brachte Henry hervor, mit Mühe die Worte formend. „Selva ist und bleibt eben Selva“, flüsterte Sven. „Laß mich ‘raus!“ „Henry, ich lasse dich sofort ‘raus. Aber vorher stellen wir noch einen Plan auf. Kannst du mit einem Flammenwerfer umgehen? Dann nimm einen mit. Am besten wird es sein, wenn du durch die Risse der Kuppeln einsteigst. Drinnen sind wahrscheinlich nicht allzu viele von diesen Gleitern.“ Sven machte ihm den Gürtel fest, gab ihm einen Flammenwerfer in die Hand und hing ihm einen Blaster um. „Entferne dich nicht allzu weit von den Spalten. Schlimmstenfalls schaffst du dir eine neue Öffnung. Jetzt ist ja sowieso schon alles egal“, gab er Wirt mit auf den Weg und ließ ihn aus der geöffneten Kabine mit der Strickleiter hinab. Wirt stand auf dem Rondell der zweiten Gebäudestufe, wo sich die Türen zu den Zimmern der Mitarbeiter befanden. Es waren insgesamt zwölf Türen. Doch nur vier von diesen Zimmern waren noch kürzlich von Menschen bewohnt gewesen. Er öffnete die Tür zu Osas Zimmer, und im Nu stürzte sich irgend etwas auf ihn. Über seinem Kopf polterte es, und dieses „Etwas“ ließ sich zu seinen Füßen hinplumpsen, krümmte sich ein bißchen, zuckte zusammen und gab einen üblen Geruch von sich. Sven feuerte rechtzeitig einen Schuß ab. Es wäre richtig gewesen, jetzt mit dem Flammenwerfer im Zimmer hin und her zu feuern und erst dann hineinzugehen. Dann wäre aber alles verbrannt, was Osa einst umgeben hatte. Henry ging durch den Schleim und betrat das Zimmer. Alle Möbelstücke waren beschädigt und umgestürzt. Er konnte keinen einzigen Gegenstand finden, der nicht lädiert gewesen wäre. Die niedrige, ehemals so weiche Couch war zerfetzt, der in die Wand eingelassene Kleiderschrank herausgerissen und lag umgeworfen auf dem Boden. Henry drehte ihn um und öffnete ihn vorsichtig. Er war vollkommen leer. Das Nachtschränkchen war umgestülpt, seine Füße zeigten nach oben, es lag auf dem Tonbandgerät. Ein Tonband war nicht darin. Ein nutz- und wertloser Gegenstand. Henry blieb noch einige Minuten stehen und blickte sich in dem Raum um, als hinter ihm ein Schuß zu hören war. Sven saß auf dem Boden des Hubschraubers und ließ ein Bein heraushängen, mit dem Rücken hatte er sich an den Türrahmen gelehnt, und von Zeit zu Zeit drückte er auf den Abzugshahn des Flammenwerfers. Von oben aus konnte er sehr gut sehen, was sich unter der beschädigten Kuppel zugetragen hatte. Es war sinnlos, die Kuppel jetzt noch irgendwie zu schonen. Er feuerte einfach durch den durchsichtigen Plast hindurch. Die „Säckchen“, wie man sie hier genannt hatte, spürten irgendwie die Anwesenheit eines Menschen, sie glitten und purzelten jetzt in alle Spalten des Wohngebäudes. Im allgemeinen erreichten sie ihr Opfer durch einen Sprung, obwohl sie keine Füße hatten. Wenn der vordere, kopflose Teil des Säckchens sein Opfer erreicht und berührt hatte, wendete es sich um, indem es sein Opfer fest umschloß, und fing dann an, es mit seiner gesamten Innenhaut in sich aufzunehmen und zu verdauen. Um das nächste Opfer anzugehen, hatte es nicht nötig, sich wieder umzuwenden. Seine Innenhaut war jetzt das, was eben noch die äußere gewesen war. „Henry! Geh nicht zu weit weg!“ rief Sven. „Ich kann sie nur noch ungefähr fünf Minuten in Schach halten. Länger schaffe ich es nicht. Hörst du mich?“ Wirt ging schweigend durch die leeren Zimmer. „Hörst du mich nicht?“ rief Sven abermals in einer Pause zwischen den Schüssen. Henry winkte mit der Hand, was soviel bedeutete wie ›Ich höre‹. Sein Herz schlug aufgeregt. Eines der Zimmer war leer, absolut leer. In der Außenwand entdeckte er neben einem Durchbruch einige saubere, nicht ausgefranste Öffnungen. Hier hatte jemand mit dem Blaster geschossen. Und der Durchbruch selbst war mit dem Flammenwerfer gemacht worden. „Henry, halt dich am Gürtel fest!“ schrie Sven. „Es sind zu viele!“ Wirt sah sich um. Die unansehnlichen „Säcke“ kamen mit gezielten Sprüngen auf ihn zu. Er richtete einen Feuerstrahl auf sie und drückte so lange auf den Abzugshahn, bis die brennbare Flüssigkeit aufgebraucht war. Dann warf er den wertlos gewordenen Flammenwerfer weg, sprang ein Stück fort und klammerte sich an den Gürtel zum Hochziehen. Sven, der den Flammenwerfer nicht einen Augenblick aus der Hand legte, ging mit dem Hubschrauber etwa in eine Höhe von fünf Metern über der Kuppel und zog Wirt erst dann in die Kabine. Er sagte kein Wort zu ihm und fragte ihn auch nichts. Henry sollte selbst entscheiden, wann sie den Rückflug antreten wollten. Vielleicht wollte er noch einmal hinunter… „Sie haben sich verteidigt“, sagte Henry. In seiner Stimme schwangen weder Kummer noch Trauer mit. „Sie haben sogar die richtige Position für ihre Blaster und Flammenwerfer gewählt.“ „Ja. Sie konnten sich nicht einfach so ergeben.“ „Sven, jemand von ihnen muß am Leben geblieben sein. Sie haben sich aus Wytscheks Zimmer zur Treppe durchgeschlagen. Ich habe die Einschüsse der Blaster gesehen. Einer oder zwei haben den Eingang verteidigt, die anderen konnten entkommen. Wohin könnten sie von dieser Kuppel aus gelangt sein?“ Sven hatte jetzt auch etwas Hoffnung. Vielleicht hatte Wirt sogar recht. „Wir müssen uns die Basis mal von oben aus ansehen“, sagte er. Der Hubschrauber flog langsam zwischen den beschädigten Kuppeln hin und her. „Verstehst du, Sven, in einem Zimmer ist überhaupt gar nichts mehr. Absolut leer. Keine Couch, keine Sessel, keine kleinen Tische, keinerlei Gegenstände mehr. Aber es gibt dort nicht einen einzigen Splitter, kein einziges Bruchstück mehr. In den anderen Zimmern dagegen herrscht ein wüstes Durcheinander, das Unterste ist nach oben gekehrt. In Osas Zimmer ist nicht einmal ihre Kleidung. Wohin hat das alles verschwinden können? Im Erdgeschoß müssen die Wasser- und Lebensmittelvorräte sein, auch der Speiseraum. Schade, daß ich nicht mehr nachsehen konnte, was dort los ist.“ Sie flogen das Territorium der zweiten Basis sorgfältig und langsam ab. Die errichteten Absperrungen waren aus den Fundamenten herausgerissen. Eine lag in fünfzig Meter Entfernung zerstückelt herum; die andere war überhaupt nicht mehr auffindbar. Aus diesem Grunde hatte auch die Selva in die Basis eindringen können. Die Kuppeln des Wohnkomplexes, der Verbindungsstation, der Laborgebäude und des Aeroplatzes hoben sich als Inseln im schmutziggrünen Pflanzengewirr des Eremiten ab, das umherkroch und — glitt. Der Planet ergriff wieder Besitz von dem, was man ihm abgerungen hatte. Zwei zerstörte Hubschrauber lagen unweit des Aeroplatzes herum. Sven ging dicht an die Gleiter und Säcke heran, die ein klein wenig zur Seite wichen. In diesen wenigen Tagen war alles so zugewachsen, als wäre es vorher niemals anders gewesen. Durch die vordere, durchsichtige Glocke des einen Hubschraubers starrten sie die Augenhöhlen eines menschlichen Schädels an. Wütend nahm Wirt Svens Flammenwerfer und übersprühte die im Nu verbrennenden Ableger der Kriechpflanzen. Doch sofort krochen von allen Seiten andere heran, sie schienen überhaupt kein Ende zu nehmen. „Das hat keinen Zweck, Henry“, sagte Sven und legte eine Hand auf seine Schulter, mit der anderen nahm er ihm vorsichtig und sanft den Flammenwerfer weg. „Sie begreifen sowieso nichts. Wer kann das sein?“ „Außer Osa konnten sie alle einen Hubschrauber fliegen…“ „Einen von ihnen werden wir demnach nicht mehr finden können…“ „Das ist Jürgens. Er war der Pilot.“ Der andere Hubschrauber war leer. Das Laborgebäude war in einem derartigen Zustand, daß es keinen Sinn hatte, es näher in Augenschein zu nehmen. „Schau mal!“ schrie Sven plötzlich. „Auf der Kuppel der Verbindungsstation scheint so etwas wie ein Stoffetzen zu sein. Jemand hat dort Spalten und Löcher zugestopft!“ „Ich hab’ es doch gesagt! Ich wußte es!“ Der Hubschrauber flog um die kleine Kuppel herum. „Wo wird hier der Eingang sein?“ „Hier ist alles mit Plast überzogen. Dort, wo der Eingang war, ist alles mit Plast verschlossen. Von außen. Jemand hat den Eingang von außen zugegossen und ist selbst draußen geblieben.“ Was könnte in dieser von der Außenwelt abgeschlossenen Kuppel sein? Dokumente? Menschen? Wer war draußen geblieben? Weshalb? „Sven, sie müssen hier noch zwei Mehrzweckmobile gehabt haben. Diese hier vollkommen nutzlosen Maschinen müßten neben den Hubschraubern stehen.“ „Aber sie sind nicht dort.“ „Demnach hat sich jemand entschlossen, sich mit den Mehrzweckmobilen zu einer Basis durchzuschlagen. Es ist für den Betreffenden der sichere Tod gewesen.“ Der Hubschrauber flog noch etliche Male um die versiegelte Kuppel herum. Plötzlich fiel Sven das Steuer aus den Händen. „Osa!“ schrie Henry. Gesicht und Hände von innen an die Wand der Kuppel gepreßt, hatte eine Frau den Blick auf sie gerichtet. „Osa!“ 13 Die Kette der Energiespeicher dehnte sich von der Zentralstation nach Norden und Süden etwa zwei Kilometer lang. Es waren riesige weiße Zylinder mit vielen Anbauten, Masten, unterbrechenden Flächen, Treppen und Aufzügen. Normalerweise wurden sie von mehreren Ingenieuren beaufsichtigt, die darauf achteten, daß die Energiemenge in jedem Behälter eine bestimmte Norm nicht überstieg. Von ihnen wurde das Sperrnetz gespeist, das auf dem gesamten Terrain der Zentrale Kraftfelder bildete. Doch um diese Absperrungen zu versorgen, war nicht diese gewaltige Anzahl von Speichern erforderlich. Für die Arbeit des Sperrnetzes reichte der trillionste Teil der Energiemenge in den Speichern aus. Nikolai fuhr mit dem Mehrzweckmobil an einen dieser Speicher heran, sprang heraus und in den Lift, der ihn in wenigen Sekunden in den Ingenieurbereich brachte. Der kleine, helle Saal mit einer Menge Apparaturen machte auf ihn einen beängstigenden Eindruck. Wie sollte er sich hier zurechtfinden? Ihm wurde jedoch schnell klar, daß er sich nicht unbedingt in allem auszukennen brauchte. Das Kontrollsystem für die Steuerung der Speicher war ziemlich einfach. Er notierte sich, was der Hauptzähler anzeigte, und zog den Streifen aus dem Autographen, der den Verbrauch für die einzelnen Tage, Stunden und Minuten registrierte. Dann fuhr er wieder hinunter. Er steckte den Streifen in die Tasche am Sessel und begab sich zum nächsten Speicher. Dort machte er dasselbe noch einmal. Danach sah er sich noch den dritten und vierten Speicher an… Der Aufzug im fünften Zylinder befand sich oben. Nikolai drückte einige Male auf den Knopf, damit der Lift herunter käme. Erfolglos. Er nahm an, der Fahrstuhl sei nicht in Betrieb. Aber plötzlich leuchteten die Lämpchen an der Steuerungstafel auf. Der Lift kam aus dem zehnten Stock herunter. Im fünften Stock blieb er stehen. Dort war der Ingenieurbereich. Nikolai bemühte sich, den Fahrstuhl wieder nach unten zu rufen, doch er war besetzt. Plötzlich fuhr der Aufzug erneut nach oben. Nikolai pochte mit der Faust an die Schalttafel, aber es änderte sich nichts. Er lief zur Seite und sah durch den vergitterten Schacht, daß der Lift in der Tat in Bewegung war. Er kletterte vorsichtig in die Luke des Mehrzweckmobils, gab sich Mühe, keinen Lärm zu verursachen, und fuhr äußerst langsam zum vierten Speicher. Dort sprang er in den Aufzug und ließ sich in das letzte, zwölfte Stockwerk hinaufbringen. Das war das flache Dach des Zylinders. Im Schutz der Masten ging er bis an den Rand des Daches und wäre um Haaresbreite aus einer Höhe von siebzig Metern hinuntergestürzt. Der benachbarte Zylinder befand sich ungefähr hundertfünfzig Meter von ihm entfernt. Auf seinem flachen Dach liefen ein paar Gestalten umher. Der Liftschacht des fünften Speichers war auf der Seite von Traikow, so daß er sehen konnte, daß der Fahrstuhl im zwölften Stock stand. Falls sie seit wenigstens zwei Minuten auf dem Dach waren, mußten sie sein Mehrzweckmobil bemerkt haben. Außerdem hatte er mehrmals versucht, den Aufzug nach unten zu rufen. Die halbbekleideten menschlichen Gestalten erschienen in dieser Entfernung klein. Doch als er sich selbst mit Teilen der Masten verglich, kam er zu dem Schluß, daß die Unbekannten fast so groß waren wie er. Sie hatten braungebrannte Körper, waren mit Shorts bekleidet, an den Füßen hatten sie eine Art Sandalen, und trugen weder Hemden noch Kopfbedeckungen. Einer von ihnen hielt so etwas wie ein riesengroßes Blatt Papier in der Hand. Jeder hatte um die Schulter einen kurzen Stock gehängt, der starke Ähnlichkeit mit einem Blaster hatte. Ganz zu Anfang war mit Sicherheit ermittelt worden, daß es auf dem Eremiten keinen Menschen gab. Überhaupt konnte keine Rede von irgendwelchem vernunftbegabtem Leben sein. Wer sollten dann diese Menschen sein? Nik nahm mit Erli Verbindung auf. 14 Eva erwachte und fühlte sich frisch durch den tiefen, ruhigen Schlaf. Für ein paar Minuten war ihr nicht klar, wie sie an diesen Ort gekommen war, doch dann kamen ihr die letzten Ereignisse allmählich wieder ins Gedächtnis. Aber vielleicht hatte sie alles auch nur geträumt? Der Zettel, den Traikow auf dem Nachttisch hinterlassen hatte, bewies ihr endgültig, daß die Besatzung von „Veilchen“ tatsächlich zurückgekommen war. An den Nachttisch war ein Blaster gelehnt. Nach den einsamen Tagen voller Ungewißheit, Angst und Sorge hätte das Auftauchen eines einzigen Menschen für sie schon höchstes Glück bedeutet. Aber diese vier waren natürlich in der Lage, das wirre Knäuel der Ereignisse auf dem Eremiten aufzulockern und zu lösen. Selbst wenn sie es nicht könnten, die „Warszawa“ mit ihrer phantastischen Technik und ihren vielen Menschen würde bestimmt kommen… Mit ein paar geübten Handgriffen brachte sie ihre Frisur in Ordnung, blieb eine Weile am Fenster stehen und atmete den Duft von Gras und Wald ein. Dann schulterte sie den leichten Blaster und lief gemächlich zur Zentrale, wobei sie unterwegs Grashalme abriß. Leichtfüßig eilte sie die Treppe der Zentrale hinauf und ging den Ring entlang zum Verbindungspult. Am liebsten hätte sie Erli und Nik über Funk gerufen, aber der Gedanke, sie könnte sie von etwas Wichtigem abhalten, hielt sie zurück. Nachdem sie die Einstellung der Empfangs- und Übertragungsgeräte überprüft hatte, ging sie ans Fenster und genoß das Parkpanorama. Irgend etwas zwang sie, sich umzusehen. Es gab keinen Laut, keinen Luftzug, keinerlei Geräusche, dennoch spürte sie mit allen Fasern ihres Körpers, daß jemand da war. Genauso war es schon gewesen, als sie völlig allein hier war… Die Angst lähmte ihre Glieder. Sie hätte sich umdrehen müssen, aber sie brachte es nicht fertig. Alles in ihr war erstarrt. Dreh dich um, schau dich um, flüsterte etwas in ihr. Und sie drehte sich um. In dem Sessel, der ihr den Rücken zukehrte, leuchtete vor dem Pult der glattgeschorene Hinterkopf eines Mannes auf. Diesen Mann, genauer gesagt: diesen Hinterkopf, hätte sie unter Tausenden herausgefunden und erkannt. Das war der Kopf von Philipp Esra. Durch die Tür kam, ohne sie zu öffnen, Jumm herein. Immer erschienen die beiden zusammen. An der Bewegung der Lippen konnte man erkennen, daß sie über etwas sprachen, aber Laute waren nicht zu hören. Evas Hände waren am Fensterbrett erstarrt. Esra drehte sich um, doch sein Blick ging durch das Mädchen hindurch. Er sah sie nicht. Jumm trat an den Sessel. In der Hand hatte er eine Rolle, wahrscheinlich Zeichnungen oder Skizzen. Er rollte sie auseinander und sagte etwas zu Philipp, der den Kopf schüttelte. Daraufhin erhob sich Esra, beide gingen seitwärts, hielten das Blatt vor sich ausgebreitet, als wollten sie unsichtbaren Zuhörern etwas demonstrieren. Nun wurde die Rolle wieder zusammengedreht, Jumm zeigte mit der Hand zur Tür. Esra hob eine Hand und ging zum Fenster. Eva schrie entsetzt auf und sprang zur Seite, doch sie beachteten ihren Schrei überhaupt nicht. Esra trat an das Fenster, sah sich von dort aus irgend etwas an, verzog bedauernd seine Lippen und schüttelte den Kopf. Jumm trat an der Tür ungeduldig von einem Bein aufs andere. Dann gingen beide durch die geschlossene Tür fort. Jumm hatte zwar eine Bewegung gemacht, als öffne er sie, aber sie hatte keinen Laut von sich gegeben. Sekundenlang verharrte Eva reglos und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Kann eigentlich ein Verrückter verstehen, daß er verrückt ist? Sie nahm die Verbindung mit Erli auf. „Erli? Bist du noch da?“ … Er glaubte nicht, daß die Toten, Esra und Jumm, in der Zentrale umherlaufen konnten. Würde sie selbst denn so etwas für möglich halten können, wenn sie normal wäre? Wer konnte schon so etwas glauben! Sie nahm den Blaster in die Hand und strich mit ihrer kalten Hand darüber. 15 Die Frau blickte sie ohne jedes Zeichen von Freude oder Verwunderung an. Wirt öffnete die Tür des Hubschraubers, lehnte sich hinaus und rief: „Osa! Ich bin’s, Henry! Osa! Ich bin’s, Henry!“ Ein zehn Zentimeter starker Plast trennte sie noch voneinander. „Sven, wir müssen die Kuppel an einer Stelle mit dem Flammenwerfer aufschneiden. Anders können wir nicht hineinkommen.“ Sven führte den Hubschrauber einige Meter an der Wand entlang. Henry zog aus dem Gepäckraum einen weiteren Flammenwerfer heraus. Aber sie konnten gar nicht schießen. Die weibliche Gestalt lief immer mit ihnen mit. Ihre großen, hellblauen Augen verfolgten aufmerksam alle Handlungen. Mit keiner einzigen Bewegung gab sie zu erkennen, daß Henry und Sven ihr bekannt waren. Ihr Gesicht war vollkommen reglos. Sie tastete sich langsam mit den Händen an der Wand entlang und bewegte sich dabei wie eine aufgezogene Puppe. „Sven, komm zur Spitze der Kuppel! Anders läßt sie uns die Wand nicht durchbrechen. Mit ihr ist irgendwas vor sich gegangen!“ Der Hubschrauber stieg bis zur Spitze der Kuppel auf. Aber trotzdem konnten sie wieder nicht schießen. Die Frau stand unmittelbar unter ihnen. „Sven, ich werde mir den Gurt umschnallen und mich an der Strickleiter mit einem Flammenwerfer hinunterlassen. Du bringst den Hubschrauber auf die andere Seite. Sie kann ja nicht gleichzeitig auf zwei verschiedenen Seiten der Kuppel sein. Entweder du oder ich werden auf diese Weise eine Öffnung zustande bringen.“ Wirt ließ sich auf die glatte Kuppel gleiten und stoppte in Höhe des Fußbodens. Die Frau kam auf ihn zu. Osa! Osa! Wie abgemagert sie war! Nur die großen Augen waren noch ganz lebendig. Weshalb erkannte sie ihn eigentlich nicht? Warum gab sie ihm kein Zeichen, daß sie sich freute, ihn zu sehen? Zur gleichen Zeit brannte Sven mit einigen Schüssen ein Loch in den Plast, das zum Durchklettern für einen Menschen groß genug war. Der Hubschrauber stieg wieder ein paar Meter höher, und Sven zog Wirt in die Kabine. Eine Minute später war Henry im Innern der Kuppel. Sven wartete in der Maschine und hielt den Blaster schußbereit, weil die Schleimsäckchen anfingen, in die Höhe zu springen. „Osa!“ sagte Henry und berührte zärtlich ihr Gesicht mit den Fingern. „Warum sagst du nichts? Freust du dich gar nicht? Warum redest du nicht? Was ist hier geschehen?“ „Ich habe gewartet“, sagte die Frau, „daß jemand hierherkommt. Als Stap wegging, hat er fest versprochen, daß bestimmt jemand kommt.“ Osa erwartete doch ein Kind, dachte Sven. Ob Henry wirklich noch nicht bemerkt hat, daß ihre Figur völlig normal ist? Henry hatte es bemerkt. Er hatte es bereits gesehen, als sie sich an die Wand der Kuppel gelehnt hatte. „Osa, was ist mit unserem Kind?“ „Ich verstehe nichts“, sagte die Frau. „Was ist mit dir los?“ „Mit mir? Gar nichts. Ich habe so lange auf euch gewartet. Ganz allein. Als Stap wegging, hat er von außen die Tür versiegelt, damit ich nicht in der Verzweiflung hinausgehen und Selbstmord begehen könnte. Mir sind solche Gedanken überhaupt nicht gekommen. Ich habe immerfort die Säckchen und Gleitpflanzen beobachtet.“ „Osa, wann ist Stap weggegangen? Womit?“ „Vor fünf Jahren. Er war sehr gut zu mir.“ „Wieso vor fünf Jahren?“ „Ich habe alles aufgeschrieben. Wir waren noch eine Stunde in Verbindung. Dann hat er geschwiegen. Ich glaube, er ist tot.“ „Osa!“ „N-n-nein, ich bin nicht Osa. Sie ist vor achtzehn Jahren gestorben. Ich kann mich an sie nicht einmal erinnern. Ich werde euch zeigen, wo man sie begraben hat.“ „Osa, was ist nur mit dir los? Komm zu dir!“ Er schüttelte die zarte Gestalt an den Schultern, doch sie nahm seine Arme herab und sagte: „Stap hat gesagt, Osa habe beständig auf jemanden gewartet.“ „Und auf wen wohl?“ „Auf Henry Wirt… Er hat gesagt, sie habe sehr, sehr gewartet.“ „Ich bin Henry Wirt. Ich verstehe gut, daß du in diesen letzten langen Tagen alles satt bekommen hast. Es müssen fürchterliche Tage gewesen sein. Aber nun ist alles vorbei. Komm zu dir, Osa! Wir fliegen jetzt gemeinsam in die Zentrale. Osa, schau mich nicht so an!“ „Aber ich bin doch nicht Osa. Ich heiße Seona.“ „Seona? Aber so wollten wir doch unsere Tochter nennen! Osa, du bist ein bißchen krank, doch das wird bald vorüber sein. Wir müssen uns beeilen. Bald geht die Sonne unter. Was willst du alles mitnehmen?“ „Die Sonne? Sie wird noch längst nicht untergehen. Erst in einem halben Jahr. In Büchern habe ich gelesen, daß die Sonne alle vierundzwanzig Stunden auf- und untergeht; wenn sie untergeht, legen sich die Menschen schlafen. Aber hier ist alles völlig anders. Ein Tag dauert hier anderthalb Jahre. Das ist lustig, nicht wahr? Ein Tag ist also länger als ein Jahr. Danach sind dann anderthalb Jahre Nacht, es erfriert hier alles, und natürlich herrscht absolute Finsternis. In dieser Zeit kommen einem dann die Gleitpflanzen und die Säckchen recht sympathisch vor, man möchte direkt mit ihnen spielen. Ja, nachts habe ich mich mitunter sehr elend gefühlt; besonders als Stap weggefahren war. Der Ärmste, eine Stunde später war er schon tot, so denke ich wenigstens.“ Henry wandte sich flehend zu Sven, so als wollte er sagen: ›Nimm es nicht so ernst, sie sagt das nur so.‹ Sven nickte ihm schweigend zu, was nun bedeuten sollte: ›Schon gut. Setzt euch jetzt in die Maschine, wir fliegen zurück.‹ „Was möchtest du mitnehmen, Osa? Wir fliegen gleich los.“ „Seona…“ „Na gut, Seona. Also was?“ „Oh, eigentlich möchte ich alles mitnehmen. In der Zentrale habe ich doch überhaupt nichts. Ich bin noch kein einziges Mal dort gewesen. Doch ich wollte schon immer gern mal dorthin. Aber ich werde nicht viel mitnehmen, denn ihr habt es wohl eilig? Ein paar Kleider. Aber auch das ist unnütz, denn sie sind sowieso abgetragen. Ich werde das Buch hier mitnehmen und den Anzug. Er ist noch fast neu. Und dir soll ich auf Staps Wunsch das hier übergeben.“ Sie zog einen Ring von ihrer Hand, der anstelle eines Steines eine kleine Scheibe besaß, die zur Aufzeichnung von etwa einer Gesprächsminute eingerichtet war. Diesen Ring hatte Henry einst Osa geschenkt. „Stap meinte, dies sei besonders wichtig. Und dann nehmt doch noch bitte diese Kiste hier mit. Darin sind Tonbandaufzeichnungen und Papiere. Sie steht nun bereits so viele Jahre da, daß ich gar nicht mehr geglaubt habe, sie würde eines Tages geöffnet werden. Stap hat gesagt, daß alles für die Menschen, die einmal hierherkommen werden, sehr aufschlußreich sein wird.“ Henry nahm die Kiste, trug sie zur Wand und überreichte sie Sven. Dann wandte er sich zu Osa. Wie sehr sie sich doch verändert hatte, seitdem er sie das letzte Mal gesehen hatte! Sie war abgemagert, ihre Gesichtszüge hatten sich leicht verändert, waren viel schärfer geworden. Was erzählte sie ihm da alles? Daraus ging doch wohl eindeutig hervor, daß sie den Verstand verloren hatte… Die Ärmste! Was hatte dem alles vorausgehen müssen, ehe das hatte geschehen können! „Osa-Seona, fürchte dich jetzt vor nichts mehr.“ Er drückte sie fest an seine Brust. „Alles wird gut werden.“ „Ich habe auch früher keine Angst gehabt. Immer habe ich auf die Menschen gewartet. Und jetzt, wo ihr hier seid, fürchte ich mich überhaupt nicht mehr.“ Sie gingen zu dem Wanddurchbruch in der Kuppel. Henry stützte behutsam die zartzerbrechliche Osa-Seona. Tief in seinem Herzen war die Freude gepaart mit großem Schmerz. „Sven, hilf ihr“, sagte er. Sven hatte aber bereits seine Hände ausgestreckt, um der Frau zu helfen. Als der Hubschrauber von der Kuppel abgesetzt hatte, nahm Henry den Flammenwerfer und goß den Rest der brennenden Flüssigkeit über die unten umherwimmelnden und — kriechenden Gleitpflanzen und Schleimsäckchen. „Das ist doch zwecklos, Henry“, meinte Sven. „Ich weiß“, entgegnete Wirt. „Ja, das macht ihr nicht gut“, sagte Osa. „Sie haben mich so viele Jahre vergnügt und gut unterhalten!“ „Hmmm.“ Henry klopfte sich mit den Händen an den Kopf. Unter ihnen dehnte sich wieder die verhaßte schmutziggrüne Selva. Sven flog den Hubschrauber mit Höchstgeschwindigkeit. Man mußte so rasch wie irgend möglich die Zentrale erreichen. Sie kamen sowieso bereits zu spät zur fälligen Funkverbindung. Erli und Nik würden jetzt wer weiß was denken! „Was ist denn nun eigentlich hier vor sich gegangen?“ fragte Henry. Seine Zunge wollte die Laute noch nicht zu „Seona“ formen. „Ich weiß es nicht. Das ist alles noch vor mir gewesen, ehe ich da war. Aber Stap hat mir erzählt, daß es einen Sturm gegeben hat, einen fürchterlichen Sturm. Und die Selva ist bei uns eingedrungen. Damals sind sie auf der Basis vier Mann gewesen. Der Pilot Jürgens ist sofort umgekommen. Sie haben nicht einmal seine sterblichen Überreste aus dem Hubschrauber herausziehen können. Dann starb Osa.“ Als Henry das hörte, begann es ihn zu würgen. „Dann war noch ein Mann da. Er hieß Wytschek, aber an ihn kann ich mich auch nicht erinnern. Er hat gesagt, daß Osa begraben werden soll, wie es bei den Menschen Sitte ist, damit die Gleiter nicht an sie herankönnen. Und sie haben sie also begraben. Aber Wytschek ist danach nicht mehr zurückgekehrt. Stap hatte — die Gleitpflanzen nicht zurückhalten können. Dann waren wir nur noch zu zweit. Später ist auch Stap fortgegangen. Er wollte versuchen, zur Zentrale durchzukommen. Das hätte er wohl besser im Winter tun sollen. Aber er ist im Hochsommer losgezogen, als die Sonne schon ein halbes Jahr lang nicht hinter dem Horizont untergegangen war.“ „Schon wieder die Sonne“, flüsterte Henry. „Nimm dich zusammen“, sagte Sven leise. Eine Minute später sagte Sven zu Henry: „Übrigens hat sich die Sonne in diesen viereinhalb Stunden tatsächlich nicht von der Stelle gerührt.“ „Und du ebenfalls nicht“, brummte Henry müde. „Kannst dich ja selbst überzeugen.“ Doch Henry drückte lediglich Osa fester an sich. „Wie angenehm die Wärme eines menschlichen Körpers ist“, sagte sie. Der Hubschrauber näherte sich der halb durchsichtigen Membran. 16 Erli lief den Korridorring entlang, als vor ihm ein Schuß abgegeben wurde. Er fiel im Verbindungsabschnitt. Dort war nur Eva. Ob sie nun doch nicht mehr durchgehalten hatte? Erli sprang zur Tür und blieb stehen. In der Tür war ein Loch, auch die gegenüberliegende Korridorwand war beschädigt. Erli drückte vorsichtig die Türklinke herunter. Es war alles still. Behutsam machte er einen Schritt vorwärts und sagte im Flüsterton: „Eva, ich bin’s, Erli.“ Niemand antwortete. Er machte noch ein paar Schritte. Vor ihm stand Eva mit dem Blaster in der Hand. Sie ließ ihn langsam sinken, er fiel polternd auf den Boden. „Erli, bring mich von hier weg. Es fehlt nicht mehr viel, und ich halte nicht mehr durch.“ „Dazu habe ich kein Recht.“ „Und wenn ich… Möchtest du das denn? Lej hat immer von dir gesprochen. Doch sie liebte dich nicht. Nein. Wir sind Freundinnen gewesen. Sie hat mir alles erzählt. Alles. Es war genug, damit ich anfing, an dich zu denken. Ich wußte, daß du hierherkommen würdest, und habe auf dich gewartet. Vielleicht hat es Lej absichtlich so gemacht, damit dich jemand lieben wird. Sie ist sehr gütig gewesen. Selbst brauchte sie überhaupt nichts.“ „Ich habe stets das getan, was sie wollte. Und nie hat sie etwas für sich selbst gewollt“, sagte Erli. „Ich würde dich hier wegbringen, wenn es möglich wäre.“ Sie kam auf ihn zugerannt, schlang ihre Arme um seine Schultern, schaute ihn von unten herauf an und sagte: „Ist das wirklich wahr, Erli?“ Erli schob sie sacht zurück und sagte: „In der Zentrale sind irgendwelche fremden Menschen. Vor wenigen Minuten hat mir Nik das mitgeteilt. Im Moment beobachtet er sie.“ „Du hast mir das mit Esra und Jumm nicht geglaubt, nicht wahr?“ Er nickte. „Ich habe eben nach ihnen geschossen. Aber sie sind weggegangen. Sie sind wie Schatten.“ „Schon gut, Eva… Wir werden auch noch feststellen, was das gewesen ist. Setz dich jetzt hin und mach dich bereit zum Empfang. Gleich wird die Verbindung mit Wirt kommen. Ich werde mit Nik sprechen.“ Erli nahm die Verbindung mit Traikow auf, der sich sofort meldete, als hätte er schon darauf gewartet. „Erli! Wo bist du jetzt?“ „Am Verbindungspult. Wo sind diese Leute?“ „Ein paar sind auf dem Dach des fünften Speichers. Was sie dort tun, ist mir nicht klar. Die anderen sind zum sechsten hingefahren.“ „Gefahren? Womit?“ „Sie haben so etwas wie ein Mehrzweckmobil.“ „Ich weiß nicht, wie wir es richtig machen, Nik. Bleibst du dort, oder kommst du hierher zurück? Wenn man nur wüßte, was sie vorhaben, vor allem, wer sie eigentlich sind.“ „Ich werde vorläufig hierbleiben. Wenn irgendwas ist, gebe ich dir Bescheid… Eins kann ich mit Bestimmtheit sagen: Es sind keine von uns, denn unsere kenne ich alle.“ „Na schön. Sei vorsichtig, Nik.“ Erli schaltete das Funkgerät aus und sagte müde: „Mir brummt der Schädel. Ich sehe da noch nicht durch, was alles geschehen ist, falls das überhaupt möglich ist.“ „Ich verstehe, Erli“, sagte Eva. Jetzt wurden sie von Wirt verlangt. „Die Basis ist vernichtet“, gab Henry ruhig durch. „Praktisch vollkommen vernichtet. Alles ist zerstört.“ „Und die Menschen?“ „Bis auf eine… Osa“, sagte Henry flüsternd. „Weshalb sprichst du denn so leise?“ „Sie sitzt neben mir. Erli, ich kann darüber nicht laut sprechen.“ „Was ist mit den anderen?“ „Wahrscheinlich leben sie nicht mehr. Jedenfalls Jürgens ist tot. Wir haben ihn gesehen.“ „Henry, kommt so schnell wie möglich zurück! Wenn ihr an die Zentrale herankommt, fliegt sie von Süden an und landet über den Bäumen, direkt am Hauptaufgang.“ „Verstanden“, antwortete Sven. „Es ist nämlich so, daß in der Zentrale irgendwelche Menschen erschienen sind. Wer sie sind, weiß ich nicht. Nik beobachtet sie. Es ist besser, wenn sie euch nicht sehen. Habt ihr verstanden?“ „Das sind denn doch zu viele Rätsel für einen einzigen Tag“, sagte Sven. „Der Tag ist ja noch nicht zu Ende.“ „Also gut, in zwanzig Minuten sind wir bei euch“, gab Henry durch. „Ich gehe aus der Leitung.“ Erli reichte das Mikrofon an Eva weiter. „Ist ja schön, sie haben Osa gefunden. Mit ihr ist auch irgendwas geschehen. Henry wollte nicht einmal laut sprechen in ihrer Gegenwart. Drei sind bereits nicht mehr am Leben.“ Eva erhob sich langsam vom Sessel und blickte in Erlis Richtung. Er schaute sie verwundert an. Was war geschehen? Das Mädchen hob die rechte Hand und preßte sie auf den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Erli ging auf Eva zu, dabei spürte er, wie ihm ein unangenehmer Kälteschauer über den Rücken lief. Er drehte sich langsam um und hatte das Gefühl, daß sich ihm die Haare sträubten und seine Glieder durch den fürchterlichen Schreck wie gelähmt waren. Die Tür im Raum war geschlossen, doch in ihr war die Gestalt Philipp Esras aufgetaucht. Er stand nachdenklich auf der Türschwelle. Dann lief er schnurstracks ins Zimmer auf die Funkanlage zu. Erli drängte Eva hinter einen Wandvorsprung, doch sie klammerte sich mit ihren weiß gewordenen Fingern fest an seine Schultern. Am liebsten hätte er sich selbst an jemandem festgehalten, um sich von dem lähmenden Schreck zu erholen. Esra führte verschiedene Schaltungen an der Tastatur des Gerätes durch, wobei sich kein Hebel und kein Pedal von der Stelle rührte. Doch Esra handhabte sie so, als führte er tatsächlich die Schaltungen aus. Dann streckte er seine Hand nach dem Mikrofon aus, führte es an den Mund und hielt dabei seine Finger so, als befände sich in seiner Hand wirklich ein Mikrofon. Aber das stand nach wie vor auf dem kleinen Tisch. Nachdem Esra ein paar Worte in das imaginäre Mikrofon gesprochen hatte, erhielt er offensichtlich keine Antwort, so daß er es auf das Tischchen warf. Einige Sekunden stand er da, hatte die Ellbogen auf die Sesselrücken gestützt und trommelte mit den Fingern auf dem Schaltbrett. Seine Handlungen waren von keinem Geräusch oder Laut begleitet. Dann strich er über seinen Rotkopf und ging einige Male im Zimmer auf und ab, wobei er in die geöffneten Fenster blickte. Erli hielt den Atem an. Natürlich, das war wirklich Philipp Esra. Rotes Haar. Großer Kopf. Ungebügelte Hosen, wie immer. Im weiten, legeren Blouson mit großem Halsausschnitt. Grüne Schuhe, die er nicht einmal am Strand auszog. Esra schien auf jemanden zu warten. Aber auf wen wohl? Wie konnte er überhaupt hier auftauchen, wo Eva und Erli doch bereits seine sterblichen Überreste in Augenschein genommen hatten! Durch die Tür schien ihn jemand gerufen zu haben. Lautlos rief er etwas zurück und ging dann rasch durch die geschlossene Tür. „Erli“, flüsterte Eva. „Das ist zuviel! Halluzinationen habe ich noch nie gehabt!“ „Es ist aber keine Halluzination. Das war er tatsächlich. Zunächst habe ich auch gedacht, ich sei am Ende… ich bin wahnsinnig. Doch jetzt denke ich, es hat sich alles in Wirklichkeit zugetragen. Ich werde ihm hinterhergehen.“ „Erli, und ich?“ „Eva, du wirst hier sitzen bleiben. Jede Minute müssen Sven und Henry ankommen. Sie sollen am besten gleich hierherkommen. Vorläufig erzählst du ihnen und Nik nichts davon. Ich werde sehr schnell zurück sein.“ Er öffnete die Tür und schaute auf den Korridor hinaus. Esras Gestalt tauchte im linken Teil auf, der zum Ausgang führte. Erli gab sich Mühe, keine Geräusche zu verursachen, lief schnell in die gleiche Richtung und passierte einige Korridore und unterirdische Übergänge. Dabei wurde er beständig von der Kette aufleuchtender Lämpchen begleitet, während Esra im Dunkeln lief und sich ausgezeichnet zurechtfand. Sie gingen so bis zur Rolltreppe, die zum Hauptsteuerungspult führte und ließen sich nach oben tragen. Die Tür war noch genauso geöffnet, wie sie Erli verlassen hatte, doch Esra machte eine Bewegung, als öffnete er sie. Sie traten beide nacheinander ein. Erli hatte erwartet, Jumm hier anzutreffen, und das war richtig gewesen. Esra und Jumm nahmen auf dem Computer einige Rechenoperationen vor, wobei sie die Tastatur drückten und sich gegenseitig unterbrachen. Aber die Tastatur bewegte sich nicht. Das sah Erli ganz deutlich. Dann falteten sie die Rolle auseinander. Es war irgendeine technische Zeichnung darauf. Erli biß sich auf die Lippen, nahm allen Mut zusammen und faßte Philipp Esra am Ellbogen an. Seine Hand griff ins Leere, es war keinerlei Widerstand da. Von Süden her drang das dumpfe Dröhnen des sich nähernden Hubschraubers an Erlis Ohr, und er verließ das Hauptsteuerungspult, ohne sich umzudrehen. 17 Sven setzte den Hubschrauber fast auf die Stufen des Aufgangs zur Zentralstation. Osa schaute verwundert um sich, ohne sich zum Aussteigen zu entschließen. Henry sprang auf das Gras und half ihr auf den Boden. Strahlende Sonne, weicher, grüner Rasen, darin leuchtende Blumen, schattige Baumkronen über dem Ganzen. Osa flüsterte hingerissen: „Ich habe gelesen, daß es so etwas gibt, aber daß es so wundervoll ist, habe ich mir nicht vorgestellt.“ Henry legte seinen Arm um ihre Schultern und führte sie die Stufen hinauf. Sven hatte zwei Blaster auf dem Rücken. Er folgte ihnen. Auf dem Korridor, der zur Verbindungsabteilung führte, trafen sie Erli. „Ich freue mich, Henry!“ Er gab der Frau die Hand. „Guten Tag, Osa!“ „Ich bin Seona, Osa ist doch tot.“ Erli blickte Henry flüchtig an und schien alles zu begreifen. Henry stand mit gesenktem Kopf da und hielt Osa an der Hand. „Na gut. Wir haben wenig Zeit. Geht in die Verbindungsabteilung. Wir müssen entscheiden, was wir weiter tun.“ Sven ging noch vor den anderen in die Abteilung und unterrichtete Eva davon, daß die Frau Seona genannt sein wollte. Als die anderen kamen, ging ihnen Eva entgegen und sagte einfach: „Guten Tag, Seona!“ „Guten Tag…“ „Ich heiße Eva. Das ist Erli. Alle anderen kennst du ja bereits.“ „Eva. Das ist ein sehr schöner Name. Was soll ich jetzt tun?“ „Seona, dir gefällt es doch so, aus dem Fenster zu schauen“, sagte Henry. Er führte sie sacht an das Fenster und ließ sie in einem Sessel Platz nehmen. „Schau mal, wie schön es dort ist! Es gibt keine Gleitpflanzen und keine Schleimsäckchen.“ Osa saß stumm im Sessel. Erli nahm die Funkverbindung mit Traikow auf. Bei ihm lag nichts Wesentliches vor. Erli bat ihn, an seinem Platz zu verbleiben, aber an ihrem Gespräch per Funk teilzunehmen. Dann berichtete jeder kurz darüber, was er gesehen hatte, welche Gedanken und Vermutungen ihm gekommen waren, wobei der Akzent auf den besonders merkwürdigen, schwer erklärlichen Momenten lag. „Seit unserer Landung auf dem Eremiten sind fünf Stunden vergangen“, sagte Erli. „Alles ist hier seltsam und unverständlich. Doch ich glaube, jeder von uns hat seine Hypothesen und Vermutungen. Wer möchte zuerst sprechen?“ „Es sind siebeneinhalb Stunden vergangen“, korrigierte ihn Sven. „Nein, es sind erst fünf Stunden“, entgegnete Erli entschieden. „Das ist unschwer festzustellen. Also, wer ist der erste?“ „Fang du an, Erli.“ „Nein, ich werde der letzte sein. Henry, du machst den Anfang!“ Wirt war ein paar Sekunden still, dann sagte er: „Ich weiß nicht, wodurch Esra und Jumm umgekommen sind und was ihr Tod für Folgen gehabt hat. Jedenfalls konnte die Selva irgendwie in die Basis eindringen. Es hat ein Orkan gewütet, der die Schutzbarrieren und Gebäude vernichtete, alles andere hat dann die eingedrungene Selva besorgt. Wenigstens ist es auf der zweiten Basis so gewesen. Ich bin überzeugt, daß es in allen anderen genauso ist.“ „Zur gleichen Zeit soll das überall passiert sein?“ fragte Erli. „Das glaube ich nicht“, entgegnete Henry. „Der Orkan hat eine Basis nach der anderen erfaßt.“ „Ein Orkan auf dem gesamten Territorium des Eremiten?“ staunte Sven. „Das ist wohl wenig wahrscheinlich. Hier ist früher noch nicht einmal heftiger Wind gewesen!“ „Soweit wir zurückdenken können, hat es das tatsächlich nicht gegeben. Trotz alledem hat aber hier ein Orkan gewütet“, widersprach Erli. „Ich habe gesehen, was auf dem Terrain der Zentrale vor sich gegangen ist. Hunderte von Metern hoch ist sperriges Zeug aufgetürmt worden. Der Orkan ist von Norden gekommen, und nach der von ihm aufgetürmten sperrigen Barrikade zu urteilen, muß es ein ganz entsetzlicher Orkan gewesen sein, der sich etliche tausend Kilometer nach Süden ausgedehnt hat. Entwickelt hat er sich wohl einige tausend Kilometer von der Zentrale entfernt. Deshalb will mir scheinen, daß die Hypothese, die Basen seien von einem Orkan verwüstet worden, manches erklärt. Beispielsweise ist wohl klar, daß die Menschen sich im anderen Falle in Hubschraubern bis zur Zentrale hätten retten können. Daß es niemand getan hat, besagt ja, daß es einen Orkan gegeben hat. Das ist eine unbestreitbare Tatsache. Unklar bleibt nur, weshalb er überhaupt aufkam. Was kannst du noch sagen, Henry?“ „Gar nichts. Der Orkan und die Selva. Keiner ist darauf vorbereitet gewesen.“ „Gut. Sven, jetzt bist du an der Reihe.“ „Von der Zentrale bis zur zweiten Basis habe ich vier Energiebarrieren gezählt. Auf dem Rückflug sind wir von jeder zurückgestoßen worden und abgeprallt wie ein Korken aus dem Wasser. Demnach nehmen die Barrieren die elektromagnetischen Wellen auf und werfen sie zurück. Deshalb erhielten die Basen keine Verbindung mit der Zentrale.“ „Die Verbindung war sofort abgerissen, nachdem im Hauptsteuerungspult mit Esra und Jumm irgendwas passiert ist“, schaltete sich Eva ein. „Als ich nämlich hier hinunterkam und versucht habe, mit jemandem Funkverbindung zu bekommen, hat schon kein Mensch mehr geantwortet.“ „Das bedeutet also, daß die Energiebarrieren gleich zu Beginn des Orkans entstanden sind oder sogar noch etwas früher“, schlußfolgerte Sven. „Es spricht doch wohl eher alles für ein gleichzeitiges Entstehen“, ließ sich Nikolais Stimme aus dem Lautsprecher vernehmen. „Andernfalls wäre die Evakuierung zur Zentrale geglückt. Was hat sie eigentlich verhindert? Der Orkan?“ „Stimmt. Ich hörte, wie Esra, als er noch lebte, verlangt hat, alle sollten unverzüglich in die Zentrale zurückkehren.“ „Demzufolge gab es einen Befehl zur raschen Evakuierung! Warum hast du das vorher nicht erzählt? Folglich wußten einige, daß es eine Katastrophe geben wird!“ „Das war, als ich aus dem Raum des Steuerungspultes ging.“ „Das Zeichen zur unverzüglichen Rückkehr haben sie also gleichzeitig erhalten“, sagte Sven. „Der Orkan kam von Norden. Doch warum ist den Basen das Evakuieren nicht gelungen? Den Basen, die in nächster Nähe der Zentrale lagen, insbesondere aber den im Süden gelegenen? Man kann ja nicht annehmen, daß der Orkan überall zur gleichen Zeit entstanden ist!“ „Richtig, Sven. Ich habe die aufgetürmten, sperrigen Barrikaden nur auf der Nordseite gesehen. Das beweist doch, daß der Orkan von Norden gekommen ist.“ „Aber dann muß man ja auch annehmen, daß die Geschwindigkeit, mit der er sich ausbreitete, etliche tausend, ja zehntausend Kilometer pro Stunde betragen haben muß. Daran kann ich nicht glauben.“ „Du wirst es wohl glauben müssen, Sven“, meinte Erli. „Denn nur so können wir uns erklären, weshalb sie nicht abfliegen konnten, nachdem sie das Signal zur raschen Rückkehr erhalten hatten!“ „Aber dann ist wieder diese blitzschnelle Geschwindigkeit für die Ausbreitung des Orkans einfach unerklärlich.“ „Einverstanden. Ich würde jedoch trotzdem gerade an dieser Version festhalten“, sagte Erli. „Gleich nachdem Esra an die Basen das Zeichen zur unverzüglichen Rückkehr durchgegeben hatte, sind die Energiebarrieren entstanden, der Orkan setzte ein, und allmählich drang die Selva zu den Basen vor. Was hast du dazu noch zu sagen, Sven?“ „Mir ist eines unverständlich. Aber das betrifft uns persönlich. Wir sind sechs Stunden geflogen. Ich habe berichtet, was wir auf der zweiten Basis gemacht haben. Das war nicht in einer halben Stunde zu schaffen.“ „Mitunter erledigt der Mensch in einer Stunde so viel, wie er zu einem anderen Zeitpunkt kaum innerhalb von vierundzwanzig Stunden tun könnte“, warf Erli ein, doch Sven unterbrach ihn. „Gut, wir werden das mit zu den unerklärbaren Erscheinungen rechnen. Und noch was: Solange wir dort waren, hat sich die Sonne zwei Stunden lang nicht vom Platz gerührt, nicht einmal für eine Winkelsekunde.“ „Eine Sekunde hättest du überhaupt nicht feststellen können.“ „Das hab’ ich ja auch nur so gesagt. Mit einem Wort, sie hat sich nicht von der Stelle gerührt.“ „Die Sonne geht dort ein halbes Jahr lang nicht unter“, sagte Osa leise. Ohne den Kopf zu drehen, sah sie weiter aus dem Fenster. „Das hatte ich euch doch bereits gesagt!“ Alle schwiegen. „Sven“, sagte Henry, „sag lieber, was du dir dabei gedacht hast. Das wird am besten sein.“ „Wir werden das mit in Betracht ziehen“, meinte Erli. „Doch vorläufig hilft uns das nicht weiter und erklärt überhaupt nichts. Und von allein wird es sich nicht erklären. Was noch, Sven?“ „Vorläufig nichts.“ „Erli, gib ruhig zu, daß du dachtest, ich sei wohl nicht mehr ganz klar im Kopf, als ich von Esra und Jumm gesprochen habe.“ „Ja, ich habe tatsächlich nicht geglaubt, daß so etwas möglich ist.“ „Kann sein, daß Sven und auch Seona die Wahrheit sagen. Vielleicht haben sie gar nicht gesponnen.“ „Ich bitte euch“, brachte Henry leise heraus. „Eva, jetzt kommst du ‘ran.“ „Nachdem ich die sterblichen Überreste von Esra und Jumm gesehen hatte und völlig allein war, habe ich sie etliche Male selbst getroffen. Sie laufen in der Zentrale umher. Besonders häufig erscheinen sie im Verbindungsabschnitt, also unmittelbar hier. Heute habe ich sogar nach ihnen geschossen. Die Nerven sind mir durchgegangen. Die Kugeln sind durch Esra hindurchgegangen, haben die Tür und eine Wand im Korridor durchbohrt, aber er ist ruhig weitergelaufen. Erli hat sie ebenfalls gesehen.“ „Ja, ich habe sie gesehen. Doch ich kann nicht erklären, was das für ein Vorgang ist. Ist das alles, Eva? Dann soll Nik berichten.“ „Ich habe die Energiespeicher geprüft, und dabei sah ich sie beim fünften Speicher. Sie sind auch jetzt noch dort. Ich sehe sie ganz genau. Sie scheinen irgend etwas zu montieren. Ich bin überzeugt, daß sie keine Beziehung zu den Menschen haben, die früher hier gelebt und gearbeitet haben. Sie sind alle dunkelhäutig und braungebrannt, jeder von ihnen hat irgendeine Waffe auf dem Rücken. Außerdem haben sie ein Mehrzweckmobil, das unserem überhaupt nicht gleicht. Es hat zwei Türme, aus denen einige Rohre herausragen.“ „Was denkst du über die ganze Sache?“ „Ich nehme an, daß es irgendwelche Fremdlinge sind. Auf dem Eremiten gibt es ja kein vernunftbegabtes Leben. Nicht einmal Säugetiere sind vorhanden. Sie müssen also von irgendwoher gekommen, das heißt geflohen sein. Vielleicht sind es sogar diejenigen, die vor uns hier waren? Sie haben abgewartet, bis alle auf die Basen geflogen waren, dann haben sie zwischen den einzelnen Basen die Energiebarrieren errichtet, damit die Funkverbindung unterbrochen war. Wenn sie in der Lage wären, so starke Kraftfelder zu schaffen, dann könnten sie auch einen noch nie dagewesenen Orkan gemacht haben, der alle Basen vernichtet hat. Alles Weitere hat dann die Selva selbst erledigt. Der Planet war sauber, doch plötzlich sind wir aufgetaucht, als sie sich bereits als die Herren wähnten. Nun führen sie wieder etwas im Schilde. Möglicherweise wollen sie die Energiespeicher beschädigen. In diesem Falle würde Hunderte von Kilometern im Umkreis nichts mehr übrigbleiben. Eine lächerliche Hypothese, nicht wahr?“ „Eine recht interessante Hypothese. Weshalb sollten sie uns aber eigentlich nicht viel einfacher um die Ecke bringen? Einfach mit ihren Waffen erschießen?“ „Das weiß ich nicht. Kann sein, daß sie zu wenige sind und daß sie Angst haben. Aber es ist auch denkbar, daß sie den Anblick von Blut nicht ertragen können. Es ist alles nur meine Vermutung.“ „Ja, Nik, du hast fast das gesamte Tatsachenmaterial in deine Hypothese aufgenommen, aber doch nicht alles. Übrig sind Esra und Jumm, die unbewegliche Sonne und die Verschiedenheit im Ablauf der Stunden.“ „Erli, wir können es ja auch mit zwei völlig verschiedenen Vorgängen zu tun haben, die in keinerlei Verbindung oder Zusammenhang miteinander stehen“, meinte Eva. „Der unterschiedliche Stundenablauf kann durch etwas völlig anderes bedingt sein.“ „Und was machst du damit, daß im Hauptsteuerungspult alles in Staub verwandelt ist? Ungefähr zehn bis zwanzig Meter nach beiden Seiten von der festgesetzten Linie des Äquators. Dort sieht doch alles genauso aus, als seien nicht wenige Tage vergangen, sondern einige Jahrhunderte! Ich habe alles bis zur Grenze der Sperrzone kontrolliert. Es ist in Niks Hypothese ebenfalls nicht berücksichtigt.“ „Ich erhebe ja auch keinerlei Anspruch auf absolute Richtigkeit…“ „Ist klar, Nik.“ „Vielleicht haben wir es aber doch mit zwei verschiedenen Vorgängen zu tun“, sagte Eva. „Ja, das müssen wir vorläufig auch annehmen. Mich beunruhigt dabei nur der Umstand, daß sie zeitlich zusammenfallen. Irgendwie müssen sie also doch zusammenhängen.“ 18 Eva bereitete Tee und belegte Brote gleich am Verbindungspult zu. Sie hatten alle schon lange nichts mehr gegessen. Osa blieb weiter am Fenster stehen. Zuweilen versuchte Eva, mit ihr ins Gespräch zu kommen, aber es geriet sehr rasch wieder ins Stocken. Eva setzte sich einige Male ihr gegenüber auf das Fensterbrett und betrachtete sie verstohlen. Sie hatte Osa schon vorher gekannt. Eine plötzlich aufgetauchte Vermutung ließ ihr keine Ruhe mehr, doch sie hatte keinen Mut, laut zu äußern, was sie dachte. Irgend etwas hielt sie davon ab. In der gegenüberliegenden Ecke des Raumes sah Erli den Inhalt der Kiste durch, die von der zweiten Basis mitgebracht worden war. Er legte die Diagramme stoßweise aufeinander. Das Papier war häufig beschädigt, deshalb hantierte er äußerst sorgsam. Selbst wenn auf der zweiten Basis alle registrierenden. Apparaturen ununterbrochen Tag und Nacht in Betrieb gewesen wären, hätte noch längst nicht diese ungeheure Menge an Dokumenten zustande kommen können. Das fiel ihm sofort auf. Er blätterte die Stöße mit den grafischen Darstellungen in der Hoffnung durch, so etwas wie einen Brief oder eine Erklärung zu finden. Die Kiste war aber schon fast leer, und er hatte nichts dergleichen gefunden. Da knüpfte er die Päckchen auf, und gleich das erste fiel ihm aus der Hand. In der Ecke jedes Diagramms stand ein Datum. Doch das waren recht seltsame Daten. Das erste lautete: „Zweitausendeinhundertfünfundneunzigster Tag nach der Katastrophe“. Er blätterte das gesamte Päckchen durch, und am Ende war er beim zwanzigsten Tag angekommen. Noch frühere Daten gab es auf den Diagrammen nicht. Das eine Päckchen enthielt Aufzeichnungen über die Windgeschwindigkeit, im anderen waren die Temperaturen notiert, im nächsten der Luftdruck, dann die Beschleunigung der Zeit, für zwei Plätze, die nur zehn Meter voneinander entfernt waren. Das war ein unbeträchtlicher Abstand für eine derartige Untersuchung. Was gab es hier für Zahlenangaben! Besonders für die ersten Tage. Ja, für die ersten. Aus dem Diagramm ging auf den ersten Blick hervor: In der zweiten Basis waren seit dem Moment der Katastrophe fünfzehn Jahre vergangen. Dann brachen die Aufzeichnungen ab. Von den allerersten Tagen gab es wahrscheinlich deshalb keine Aufzeichnungen, weil die Menschen mit der Selva um ihre Existenz gerungen hatten. Sie waren am Leben geblieben, und jetzt half ihre Arbeit Erli beim Orientieren in den bisherigen Ereignissen. Vieles davon konnte man jetzt richtig einordnen. Es war nun klar, warum Sven versichert hatte, daß sich die Sonne während ihres Aufenthaltes in der zweiten Basis nicht einmal für eine Winkelsekunde von der Stelle bewegt hatte. Klar war ebenfalls, weshalb sie behauptet hatten, sie seien sechs und nicht vier Stunden geflogen. Selbst wenn sie in der zweiten Basis einige Tage lang gewesen wären, hätten sie bei ihrer Rückkehr in die Zentrale immer wieder erfahren, daß inzwischen nur vier Stunden vergangen waren. Der Wechsel von Tag und Nacht, also eine Umdrehung des Eremiten um seine eigene Achse, bedeutete für die gesamte Breite der zweiten Basis anderthalb Jahre. „Eva“, rief er dem Mädchen zu. Sie kam zu ihm und setzte sich neben ihn. „Eva, alles, was Seona gesagt hat, ist völlig richtig. Sie hat wirklich zwanzig Jahre dort gelebt. Staunst du?“ „Ich hab’ noch nicht begriffen. Aber ich wollte dir ja immer schon sagen: Dieses Mädchen ist nicht Osa.“ Jetzt war es Erli, der sie verwundert ansah. „Sie sieht Osa sehr ähnlich, erstaunlich ähnlich. Doch sie ist nicht Osa. Henry war nur über die Begegnung mit ihr zu sehr aufgeregt, denn es war doch wirklich ein Wunder, daß sie noch am Leben war. Später dachte er, Osa habe den Verstand verloren. Bald wird er selbst den Unterschied feststellen… Du sagst also, sie hat dort zwanzig Jahre lang gelebt? Als mir klar wurde, daß sie nicht Osa ist, habe ich mir gesagt: Vielleicht haben diese Fremdlinge irgendwie für ihre eigenen Zwecke und Ziele eine Osa geschaffen, die Frau eines der Männer, die noch am Leben sind. Etwas anderes ist mir nicht eingefallen. Wenn du aber nun sagst… Demnach ist sie Osas Tochter. Und alles, was sie sagt, ist die reine Wahrheit.“ „Ja, einiges hellt sich allmählich auf, doch es gibt noch viele unklare Stellen. Eva, gib dieses Material in den Computer und dazu das Programm über die Beschleunigung der Zeit auf verschiedenen Breitengraden des Eremiten. Ich glaube, dabei wird etwas Fürchterliches herauskommen. Ich werde gleich mal Henry fragen, an welchen Stellen sie den Energiegürtel durchflogen haben. Unter Umständen stellt sich heraus, daß es gar keine Energieschwellen und — barrieren sind.“ Erli verließ den Raum und öffnete, nachdem er an einigen Zimmern vorbeigegangen war, die Tür zum Laboratorium für Informationsaufzeichnung. Henry sollte sich hier die aufgezeichneten Gespräche mit der Zentrale anhören, die hier gemacht wurden, als sie einige Male durch die Energiebarriere hindurchgeflogen sind. Henry saß da und hatte den Kopf auf die Montagetafel fallen lassen. Um ihn herum lagen die Aufnahmekristalle, das Tonkabel und eine leere Tonbandkassette. „Henry“, Erli klopfte ihm auf die Schulter, „ich will dir nur sagen… Du mußt jetzt tapfer sein… Es ist nicht Osa, Henry.“ Wirt hob sein blasses, müdes Gesicht zu ihm empor und nickte ein paarmal. „Ich weiß es bereits, Erli. Sie ist meine Tochter Seona. In Osas Ring war ein Aufnahmekristall. Den Ring hat mir Seona übergeben. Osa hat mir darauf alles mitgeteilt. Es hat natürlich nur eine Minute gedauert.“ „Henry, hier hat jeder jemanden oder etwas verloren.“ Erli blieb noch einen Augenblick stehen, dann ging er schweigend hinaus, kam aber gleich darauf wieder zurück. „Ich wollte dich fragen, Henry, bei welchen Breitengraden habt ihr die Energiebarrieren durchflogen?“ Henry nannte die Grade und fügte hinzu: „Doch das waren gar keine Energiebarrieren.“ „Dacht’ ich’s mir doch!“ „Das waren die Grenzen der Gebiete, in denen die Zeit unterschiedlich vergeht. Je größer die Entfernung vom Äquator ist, um so rascher vergeht sie. Hör dir das mal an!“ Er hielt die rotierende Kassette an, legte ein Band ein und schaltete das Gerät wieder ein. Im Zimmer erklang ein schrilles, hohes Geheul. „Das ist die tiefste Frequenz von Niks Stimme. Und hör das an.“ Er änderte die Geschwindigkeit. Aus dem Lautsprecher tönte es: „Ich rufe Wirt. Hier Traikow. Ich rufe Wirt!“ Die Worte wurden viele Male wiederholt. „Was ist bei euch vor sich gegangen?“ „Hinter der ersten Stufe vergeht die Zeit zwanzigmal schneller als bei uns. Um wieviel schneller sie hinter der zweiten ist, weiß ich nicht. In der zweiten Basis vergeht sie jedenfalls fünfhundertmal schneller.“ „Deshalb wurdet ihr auf jeder Stufe gepreßt und gedrückt. Die Zeit vergeht schneller, und man braucht einen sehr starken Energieimpuls, um in diesen Zeitstrom einzutreten. Darum hat sich auch ›Veilchen‹ ohne allen ersichtlichen Grund plötzlich gedreht. Sein Energieimpuls war viel zu niedrig“, überlegte Erli. „Was werden wir jetzt machen?“ fragte Wirt. „Ich werde die Unterlagen Eva geben, damit sie alles in den Computer einführen kann. Sobald wir das Ergebnis haben, werden wir Sven und Nik davon unterrichten. Und was wirst du Seona sagen?“ „Ich werde sie das hier anhören lassen“, entgegnete Henry und öffnete seine Hand, in der er den Ring mit dem Stein hatte. In die andere Hand nahm er den kleinen Aufzeichnungsapparat und die Berechnungen von den Kristallen, dann gingen beide auf den Korridor. Erli gab Eva die zur Lösung der Aufgabe notwendigen Unterlagen. Henry setzte sich neben Seona. Sie lächelte ihn an. Es war zu spüren, daß sie sich nicht so recht wohl fühlte. Schließlich geht es jedem Menschen so, der sich plötzlich inmitten guter, aber immerhin doch unbekannter Menschen sieht! „Seona“, sagte Henry, „ich werde dir nichts erklären. Ich heiße Henry Wirt. Hör dir das hier an.“ Er befestigte den Ring in der Haltevorrichtung und schaltete den Apparat ein. Eine traurige, leise Stimme erklang; „Guten Tag, Henry, mein Geliebter.“ Erli nahm Evas Hand, und beide verließen den Raum. „Ich wollte das Alter der sterblichen Überreste von Esra und Jumm ermitteln“, sagte Erli. „Das muß unbedingt geschehen.“ „Ich werde dir dabei helfen.“ „Nein, das mache ich allein. Es ist nicht sehr kompliziert. Ich weiß nur nicht, wo sich das Laboratorium befindet.“ „Du mußt diesen Korridor zum nördlichen Flügel entlanggehen. Dort ist ein Hinweisschild.“ „Eva, bald werden die Berechnungen fertig sein. Geh hin und paß gut auf.“ „Mir ist jetzt nicht danach zumute, dorthin zu gehen. Ich werde dich begleiten.“ „Du bist ja wirklich gut! Wohin sollte man hier schon jemanden begleiten! Es ist ja alles nahebei!“ „Trotzdem — macht nichts.“ Sie waren kaum ein paar Schritte gelaufen, als sich eine Tür öffnete, in der Henrys Kopf erschien. „Wohin seid ihr denn gegangen?“ rief er ihnen hinterher. „Eva, geh du zu ihm. Ich komme schnell zurück.“ Erli schleppte sich den Korridor entlang und blieb zuweilen vor Müdigkeit erschöpft stehen. Dort, wo der Korridor die Linie des Äquators schnitt, konnte er seiner Wißbegier keinen Einhalt mehr gebieten, und er warf einen Blick in den Ingenieurbereich. Er wußte, was er sehen würde, und er hatte sich nicht geirrt. Dieser Saal war ebenfalls etliche hundert Jahre alt. Überall lag hundertjähriger Staub. Ungefähr zweihundert Meter weiter fand er auf dem Korridor das Laboratorium, das er suchte, und nahm sich dort einen kleinen Apparat. Dann fuhr er mit der Rolltreppe in das oberste Stockwerk der Zentrale, blieb ein paar Sekunden neben der durchsichtigen Kuppel stehen und versuchte, die Gestalten von Sven und Nik auf dem vierten Speicher zu erkennen, aber er konnte nichts sehen. Im Hauptpult begegnete er ständig Esra und Jumm, die immerzu über etwas zu streiten schienen. Er beachtete sie jedoch überhaupt nicht mehr. Sie lebten wohl in einem völlig anderen Zeitmaß. Die Analyse der Überreste der beiden Menschen ergab, daß sie vor anderthalbtausend Jahren gestorben waren. Fünf Minuten später war Erli im Verbindungsraum. Henry war nicht mehr dort. Wahrscheinlich hatte Sven ihn zu sich gerufen. Die Unbekannten schienen irgend etwas im Schilde zu führen. Henry war mit dem zweiten Mehrzweckmobil zu dem vierten Speicher gefahren. Eva hatte ihn, seltsam verstört, getroffen. „Erli! In der zwanzigsten Basis sind ungefähr sechshundert Jahre vergangen. Sie leben schon längst nicht mehr!“ 19 Sven und Nik sprangen in den Fahrstuhl und fuhren nach unten. Nikolai sagte im Vorbeigehen: „Erli! Ihr Mehrzweckmobil ist aufgetaucht. Sie kommen vom Speicher herunter. Es ist anzunehmen, daß sie gleich zur Zentrale fahren. Wir begeben uns gleichfalls nach unten zu den Mehrzweckmobilen.“ „Macht euch auf den Weg zur Zentrale! Gebt euch Mühe, daß sie euch nicht sehen!“ Doch man hatte sie bereits entdeckt. Das zweitürmige Mehrzweckmobil mit seinen vielen Rohren, die in verschiedene Richtungen gedreht waren, kam plötzlich hinter dem vierten Speicher hervorgeschossen. Henry lenkte seine Maschine nach vorn und stellte sie quer, damit Sven und Nik die Möglichkeit haben sollten, sich hinter ihrer Maschinenpanzerung zu verbergen. Die Unbekannten waren offensichtlich nicht auf eine Begegnung mit irgend jemandem vorbereitet gewesen. Ihr Mehrzweckmobil blieb ruckartig stehen und schaukelte auf den Stoßdämpfern hin und her. Henry fuhr weiter. Ein schwerer Blaster lag neben ihm auf dem Sitz, aber während der Fahrt hätte er ihn sowieso nicht verwenden können. Ein Mehrzweckmobil war eben kein Kampffahrzeug! Ein paar Minuten ließen sich die Unbekannten überhaupt nicht sehen. In ihrem Mehrzweckmobil schien niemand zu sitzen. Alles war still. Sven hatte inzwischen seine Maschine neben die von Henry stellen können. Das fremde Mehrzweckmobil bewegte sich ein Stück vorwärts. Dasselbe taten Sven und Henry. Der Abstand zwischen den beiden Maschinen hatte sich bis auf ein paar Meter verringert. Nikolai meldete alles, was sich ereignete, an Erli weiter. „Kommt zurück zur Zentrale!“ schrie Erli. „Dann werden sie mit uns mitfahren“, erwiderte Nik. „Das können sie ruhig machen! Hier sind wir dann doppelt soviel!“ „In Ordnung.“ Die Unbekannten ließen keinerlei aggressive Absichten erkennen. Das Gegenteil war der Fall, denn aus den Türmen verschwand ein Rohr nach dem anderen von der unbekannten Waffe. Dann wurde eine Luke des Mehrzweckmobils geöffnet, und es schaute ein Mann von bronzener Hautfarbe hervor, die in den Strahlen der untergehenden Sonne golden glitzerte. Er rief irgend etwas, doch die Worte waren nicht zu verstehen. „Erli, sollen wir auch aussteigen?“ fragte Traikow. „Wartet mal! Hat Henry euch berichtet, was sich noch herausgestellt hat?“ „Nur kurz.“ „Dann hört mal zu. Diese Unbekannten spielen dabei gar keine Rolle. Als Esra an die Basen das Zeichen zur Evakuierung gegeben hatte, war es schon zu spät. Sprunghaft trat an den Polen des Eremiten eine Zeitbeschleunigung ein, die ins Riesenhafte anstieg. In der zwanzigsten Basis verging die Zeit zwanzigtausendmal schneller als bei uns in der Zentrale. Am Südpol hingegen zwanzigtausendmal langsamer. Zum Äquator zu nahm dieser Multiplikator allmählich ab. Dadurch ist ein noch nie dagewesener Orkan hervorgerufen worden. Die Luft aus dem Bereich der blitzschnell vergehenden Zeit ist in den benachbarten Bezirk abgedrängt worden, wo die Zeit gemächlich verging. Der Orkan hat im Nu die gesamte nördliche Halbkugel erfaßt. Dann wurde die regelmäßig ansteigende Kurve der sich verändernden Zeitbeschleunigung durch eine stufenförmige Linie abgelöst. An den Grenzen toben sogar jetzt noch Stürme. Alle Basen waren fast im Handumdrehen zerstört. Alles übrige hat die Selva gemacht. Der Grund für einen derartigen sprunghaften Wechsel der Zeit ist nicht bekannt. Nun ist außerdem noch die Sache mit diesen Unbekannten zu klären. Von den Basen aus können sie nicht hierhergekommen sein, denn falls nach dem Orkan überhaupt noch jemand am Leben geblieben wäre, könnte er jetzt gewiß nicht mehr leben… Es sind seitdem viele Jahrzehnte oder Jahrhunderte vergangen. Die Unbekannten können demnach mit dem Eremiten nichts zu tun haben.“ Der Mensch mit der bronzefarbenen Haut stand bereits neben dem Mehrzweckmobil von Henry und versuchte, durch Zeichengebung irgend etwas auszudrücken. „Ich glaube, er bittet darum, ihn in die Maschine zu lassen. Soll ich ihn einsteigen lassen? Er hat keine Waffe bei sich. Und überhaupt scheinen sie insgesamt recht friedlich zu sein.“ „Er soll lieber erst mal erklären, was er will.“ Henry schob sich halb zur Luke hinaus und versuchte, durch Zeichensprache zu fragen, was sie möchten, doch er hatte keinen Erfolg damit. Da fragte er ganz einfach: „Was wollt ihr hier in der Zentrale?“ Der Bronzemann kam sehr nahe an das Mehrzweckmobil heran. Henry wiederholte seine Frage. „Kosales! Wir brauchen Kosales!“ Für einen Augenblick war Henry starr vor Schreck, doch er hatte sich schnell wieder in der Gewalt und gab durch das Mikrofon durch: „Erli! Sie möchten dich sprechen!“ „Mich? Wieso, reden sie denn unsere Sprache?“ „Auf jeden Fall habe ich ihn verstanden.“ „Nimm ihn in deine Maschine und fahr schnellstens hierher. Sven soll vorläufig mit seinem Mobil dort bleiben. Das Mehrzweckmobil der Unbekannten lassen wir besser vorläufig nicht herkommen.“ „Verstanden“, erwiderte Henry und bedeutete dem Mann durch Zeichen, daß er einsteigen könne. Wenige Minuten später waren sie neben dem Haupteingang zur Zentralstation. Beide sagten kein Wort. Henry führte den Unbekannten in den Verbindungsraum. Der Unbekannte ging etwas erschrocken über die Türschwelle und sagte: „Guten Tag! Ich brauche Kosales!“ „Das bin ich“, erwiderte Erli und erhob sich zur Begrüßung. Der Unbekannte trat rasch auf ihn zu und streckte ihm seine Hand entgegen. Erli schüttelte sie mißtrauisch. „Wir sind seit ungefähr dreihundert Jahren hierher unterwegs“, sagte der Unbekannte. „Jedenfalls sind in der Großen Stadt inzwischen dreihundert Jahre vergangen. Uns hat Konstak geschickt. Natürlich lebt er selbst längst nicht mehr. Er ist schon lange, lange tot. Er hat uns aber ein Aktionsprogramm hinterlassen. Vor uns hat es bereits andere Expeditionen gegeben. Doch offensichtlich sind sie gar nicht bis hierher gekommen, weil das hier noch existiert“, er zeigte mit den Händen rings um sich. „Was existiert?“ fragte Erli zurück. „Die Station hier. Wir müssen sie vernichten. So steht es in Konstaks Programm.“ „Wer ist denn dieser Konstak, und was ist das für eine Große Stadt?“ „Konstak war ein sehr großer Gelehrter. Habt ihr wirklich noch nie von ihm gehört?“ „Wie soll ich ihn denn kennen, wenn ihr dreihundert Jahre hierher unterwegs gewesen seid! Da habe ich doch überhaupt noch nicht gelebt! Und was ist mit der Großen Stadt? Ist das ein Planet?“ Der Unbekannte schüttelte den Kopf. „Ein Sonnensystem?“ „Nein.“ „Was denn sonst? Eine Galaxis?“ „Nein, auch nicht… Ich brauche einen Globus.“ Ein Globus ließ sich aber beim besten Willen in der nächsten Umgebung nicht auftreiben. „Das ist eine ehemalige Basis, versteht ihr. Früher hat man sie von der Zentrale aus in zehn Stunden erreichen können. Jetzt benötigt man dazu dreihundert Jahre. Wir sind keine Physiker. Wir führen lediglich das Programm von Konstak aus. Darin heißt es, daß wir Kosales finden müssen, falls wir die Speicher nicht selbst vernichten können. Wir haben auch einen Brief. Aber er ist schon sehr alt. Beim Lesen muß man sehr behutsam und vorsichtig sein. Konstak hat ihn selbst geschrieben.“ „Mit was für einem Fahrzeug seid ihr denn von der Großen Stadt in die Zentrale gekommen?“ „Auf Mehrzweckmobilen. Wir hatten fünf davon. Nur eins ist bis hierher gekommen. Alle anderen sind gescheitert.“ In Erlis Kopf rasten die Gedanken durcheinander. Sie kamen doch wohl von der zwanzigsten Basis! Aber seit dreihundert Jahren waren doch dort alle schon tot! Wieso konnten sie dann hierhergekommen sein? „Konstak — heißt das etwa Konrad Stakowski?“ schrie er. „Ja, richtig. Konrad Stakowski. Aber im allgemeinen nannte er sich nur Konstak.“ „Sven!“ schrie Erli durchs Mikrofon. „Komm mit deinem Mehrzweckmobil hierher! Auch das von diesen Leuten mußt du mitbringen. Es sind welche von uns! Von der zwanzigsten Basis!“ „Wieso denn von der zwanzigsten? Ist wohl wieder eine neue Hypothese, wie?“ „Nein, Sven, eine ganz alte! Es ist jetzt alles klar. Bring sie so schnell wie möglich her!“ Der Bronzemann schaute verwirrt um sich. „Wieviel Leute sind in dem Mehrzweckmobil?“ „Elf. Ich bin der zwölfte. Acht Mann sind umgekommen.“ „Wie heißen Sie?“ „Enrico.“ „Sie haben doch bestimmt einen Wolfshunger, nicht wahr? Wir ebenfalls. Eva und Seona! Ich möchte euch bitten…“ Die Mädchen hatten bereits alles verstanden. Sie hatten die Automaten für die Speisenzubereitung eingeschaltet und zurechtgemacht. Wenig später betrat eine lärmende Schar von Bronzemenschen die Zentrale. Sven und Nik kamen ihnen mißtrauisch hinterher mit Blastern auf dem Rücken. „Werft dieses Spielzeug weg!“ sagte Erli zu ihnen. Nachdem sich alle etwas beruhigt hatten, berichtete Enrico: „Als man auf der Basis das Signal zur Evakuierung erhalten hatte, kam sofort ein unheimlich heftiger Orkan auf. Die Basis wurde zerstört. Zum Glück war das die Basis mit den meisten Menschen. Auf ihr waren vierzehn Mann. Gleich nach den ersten Minuten war es einer weniger. Alle übrigen hatten sich in den Kellergeschossen der Station in Sicherheit bringen können. Aus diesen Kellern sind sie erst nach fünf Jahren wieder herausgekommen. Und erst dreißig Jahre später hatten sie das Gelände der Basis einigermaßen von der Selva befreit. Doch das Problem des Hungertodes war für sie noch nicht gelöst. Zu dieser Zeit starb Konrad Stakowski. Mit der Zeit hatten sie eine Methode herausgefunden, die Schleimsäckchen und die Gleitpflanzen in etwas Eßbares umzuwandeln. Dann kam der vierzigjährige Winter, verbunden mit stockdunkler Nacht.“ „Aber alle, die dort auf der Basis waren, mußten doch sterben?“ „Konrad Stakowski hat von Anfang an gewußt, was sich auf dem Eremiten abspielte. Deshalb ordnete er an, daß sich einer unbedingt zur Zentrale durchschlagen müsse. Alle, die von Anbeginn auf der Basis gelebt hatten, konnten daran nicht einmal im Traum denken. Von den Frauen wurden Kinder zur Welt gebracht. Nach dreihundert Jahren, als wir abflogen, gab es dort bereits ungefähr sechshundert Menschen. Jetzt werden es bestimmt schon viel mehr sein. Aber der Eremit muß untergehen. Es ist auf ihm ein Zeitgenerator entstanden. Sein Ausstrahlungsring läuft um den Äquator. Wenn die Zeit am Pol des Eremiten einmal so verlaufen wird wie die Zeit in diesem Ring, tritt eine Übersättigung ein, und der Eremit wird auseinandergetrieben. Wann das passieren wird, wußte Stakowski nicht.“ „In fünfzehn Tagen“, sagte Erli. „Dieser Strahlenring ist anderthalbtausend Jahre alt.“ „Er muß in möglichst großer Entfernung zur Explosion gebracht werden. Darum müssen die Energiespeicher und die Zentrale gesprengt werden. Wir haben die Energievorräte festgestellt. Es ist genügend vorhanden, doch wir kennen das Schema nicht, nach dem die Speicher untereinander gekoppelt sind. Auf der Basis wußte das niemand. Es gab dort keine Ingenieure. Fünfzehn Tage können wir jedoch nicht warten. Die Zentrale muß so rasch wie möglich in die Luft gesprengt werden. In der Großen Stadt geht es drunter und drüber, sie kommen dort nicht mehr weiter. Es geht ihnen miserabel.“ „Man kann Lebensmittel für sie mit den Hubschraubern abwerfen“, sagte Sven. „Nein“, entgegnete Erli. „Die Energiebarriere ist dort sehr hoch.“ „Und ›Veilchen‹?“ „›Veilchen‹ kann nur mit geringer Geschwindigkeit landen. Außerdem gibt es dort gar keinen Landeplatz.“ Nach dem Mittagessen machten sich alle langsam an die Arbeit. Die meisten mußten unter Erlis Anleitung verschiedene wertvolle Apparaturen, Ausstattungen, Forschungsunterlagen und alles, was nötig war und gebraucht wurde, damit die Eremitenkolonie nach der Vernichtung der Zentrale bis zur Ankunft der ›Warszawa‹ weiterexistieren konnte, in der ›Veilchen‹ verladen und verstauen. Das Schema für die Koppelung der Speicher wurde nicht gefunden. Das erschwerte die Aufgabe beträchtlich. Um dieses Knäuel zu entwirren, würden sie wahrscheinlich noch länger als fünfzehn Tage benötigen. Da erinnerte sich Erli daran, was auf der Papierrolle dargestellt war, die er bei Esra und Jumm gesehen hatte. Er zweifelte nun nicht mehr länger, daß sie in einer völlig anderen Zeitmessung lebten, wo außer der Zentrale und ihnen selbst niemand und nichts existierte. Ihnen war klar, was mit ihnen geschehen war, weil sie das Experiment geleitet hatten. Daß es sich um ein Experiment gehandelt haben mußte, dachte sich Erli. Beide konnten die Konsequenzen dieses Experiments ermessen, als es sich ihrer Kontrolle entzogen hatte. Esra und Jumm waren besonders häufig im Hauptpult und im Verbindungsraum erschienen, als vermuteten sie, daß dort Menschen sein müßten. Sie hatten das für die anderen nicht existente Schema sehr oft aufgerollt und wohl damit auffordern wollen, es abzuzeichnen. Bis zum Sonnenuntergang hatte Sven das geschafft. Gegen Mitternacht war alles fertig zur Sprengung. Traikow sollte mit „Veilchen“ aufsteigen und so lange auf der Umlaufbahn des Eremitensputniks bleiben, bis irgendwo ein Landeplatz vorbereitet worden war. Die anderen mußten mit den Hubschraubern fliegen. Man mußte sie unbedingt schützen… Konrad Stakowski hatte das Programm für die Sprengung der Energiespeicher so ausgearbeitet, daß die Zeitbeschleunigung, ob positiv oder negativ, nicht sprunghaft aufgehoben würde, sondern gleichmäßig. Ein zweiter zerstörender Orkan mußte auf alle Fälle vermieden werden. Zu Beginn der ersten Nacht startete „Veilchen“. Bald darauf hörten sie die ruhige Stimme Traikows: „Alles in Ordnung.“ Etwas später verließen zwei Lasthubschrauber mit Menschen an Bord die Zentrale, von Erli und Sven gesteuert. Die anderen Hubschrauber flogen ohne Piloten ab. Sie waren mit einem Flugprogramm ausgestattet. Gemeinsam mit Erli flogen Eva und ein paar Leute von der zwanzigsten Basis. „Jetzt erinnere ich mich“, hörten sie plötzlich Traikows Stimme. „Ich erinnere mich jetzt, wo ich die Schaukel gesehen habe! Sie ist an die Wände der Zentrale gezeichnet! Unmittelbar am Äquator verläuft ein regelmäßiger Streifen, parallel zur Erde. Der Neigungswinkel dieser Schaukel wird dann nach Süden und Norden zu immer größer. Das Zeichen für diesen Winkel ist nicht immer dasselbe. Am nördlichen Pol ist es positiv, am südlichen negativ.“ „Schade, daß es nun zu spät zum Umkehren ist“, sagte Erli. „Eigenartig! Alle haben sie gesehen, aber es ist ihnen nicht zum Bewußtsein gekommen.“ Die Hubschrauber flogen in einer geschlossenen Gruppe, die sich vom Äquator nach Osten entfernte und kaum merklich Kurs auf Norden nahm. 20 Als sie sich ungefähr fünfhundert Kilometer von der Zentrale entfernt hatten, war eine Explosion zu hören. Am nächtlichen Himmel loderte es hell auf. Eine Stunde später waren im Äther die Worte zu hören: „Wozu diese Evakuierung? Esra, was ist dort bei euch los?“ Das wurde von der neunzehnten Basis aus gesprochen, die fast am Südpol lag. Seit der Katastrophe waren dort erst wenige Minuten vergangen. Erli lächelte nervös. „Eva, sag ihnen, sie sollen alle auf ihren Plätzen bleiben. Henry wird ihnen eine Mitteilung durchgeben.“ Dann flogen sie in Richtung auf die zwanzigste Basis. Erli schaltete die Selbststeuerung ein und zog zwei Briefe aus seiner Tasche. Einer war von Konrad Stakowski, der andere von Lej. „Sei gegrüßt, Erli!“ schrieb Lej. „Ich hätte dich so gern noch einmal gesehen…“ Er faltete den Brief zusammen und wollte ihn zerreißen, doch er überlegte es sich anders und legte ihn Eva aufs Knie, die neben ihm saß. „Irgendwann wirst du ihn einmal lesen“, sagte er. Sie schüttelte nur verneinend den Kopf. „Erli!“ hatte Konrad Stakowski geschrieben. „Wir haben immerhin erreicht, was wir wollten. Wir können die Zeit lenken und dirigieren. Ich bin überzeugt, daß du unser Werk fortsetzt. Ich habe die Vorstellung, daß die Zeit an einem Pol beschleunigt, am anderen verlangsamt wird. Das bedeutet, daß die Menschen Experimente, für die sie früher Jahre gebraucht haben, in Sekundenschnelle durchführen könnten. Ich kann mir gar nicht ausmalen, was die Menschheit alles erreichen könnte, wenn sie in die Lage versetzt ist, die Zeit zu dirigieren, das heißt, ihr zu befehlen, sich dem Willen der Menschen unterzuordnen und nach deren Gutdünken zu vergehen… Es ist sehr schade, daß diese Entdeckung eine Katastrophe zur Folge hatte. Doch ich hege die Überzeugung, daß du die Arbeit weiterführst; ich bin bemüht, dir dabei zu helfen… Falls der Journalist in dir den Physiker besiegen sollte, hast du hier den Anfang deines Buches. Wir haben nicht in Erfahrung bringen können, was für eine Zivilisation auf dem Eremiten ihre Spuren hinterlassen hat. Vielleicht hat es überhaupt keine andere Zivilisation gegeben. Möglicherweise wird diese Anlage in zwanzig Jahren auf der Erde gebaut und hierher auf den Eremiten übertragen, in der Zeit versetzt. Auf der Erde werden ja schon seit langem Untersuchungen durchgeführt, die das Ziel haben, die Zeit zu beherrschen, sie zu lenken und zu dirigieren. Esra und Jumm haben für diese Idee gelebt. Wir haben sehr lange nicht begreifen können, was die Zentrale mit ihren Energiespeichern und Basen eigentlich darstellte. Doch dann entdeckten wir den Strahlungsring des Eremiten und haben daraus allmählich gefolgert, daß man damit experimentell die Möglichkeit eines wechselseitigen Übergangs von Zeit und Raum ausprobieren konnte. Die Hauptgruppe der Expedition hat sich mit der Untersuchung des Eremiten beschäftigt. Sie versuchte herauszufinden, was eigentlich auf dem Eremiten vorhanden war. In einer der zahlreichen Räumlichkeiten der Zentrale wurden Arbeitsaufzeichnungen gefunden. Es waren gewöhnliche Arbeitsaufzeichnungen, denen man nicht viel entnehmen konnte, doch immerhin war es etwas. Wir haben daraus ersehen, daß jemand bereits versucht hatte, Experimente mit Zeit und Raum anzustellen. Das erstaunlichste daran war, daß diese Notizen in einer Sprache der Erde vorgenommen worden waren. An einigen Stellen stand deine Unterschrift. Ich unterhielt mich mit Lej darüber. Sie sagte mir, sie habe von dir keinerlei Notizen, keine Dokumente, rein gar nichts. Ich konnte es nicht begreifen, wo du dich schon einmal mit derartigen Experimenten hättest beschäftigen können. Mir war jedenfalls darüber nichts bekannt. Auf unser Experiment haben wir uns mit aller Sorgfalt vorbereitet. Vier Tage, nachdem ›Veilchen‹ vom Eremiten abgeflogen war, bestand Eva darauf, mit dem Experiment zu beginnen. In der Zentrale verblieben lediglich Esra, Jumm und Eva. Alle anderen flogen mit den Hubschraubern in die Basen. Es mußte ein großangelegtes Experiment sein, doch wir hatten nicht genügend Leute. Am elften Tag um sieben Uhr meldeten alle zwanzig Basen, daß sie zur Durchführung des Experiments bereit seien. Das Experiment begann sieben Uhr fünfzehn. Esra gab die Kommandos über die Außenverbindung durch und schaltete die Energiespeicher ein. Jumm bearbeitete die Ergebnisse des Experiments mit dem Computer und führte im Programm des Experiments Änderungen und Korrekturen durch. Bis gegen acht Uhr lief alles genauso wie in den kleineren, vorbereitenden Experimenten… Die Speicher gaben siebzig Prozent der Energie ab, dabei wurde eine Veränderung der Raumkrümmung im lokalen Gebiet des Eremiten nicht festgestellt. Esra fing an, nervös zu werden. Ungefähr gegen acht Uhr drei signalisierten die Apparaturen eine Deformation des Raums. Die Zeitbeschleunigung war gleich null. Esra beschloß, das Experiment einzustellen. Jumm bestand auf seiner Wetterführung. Eine Minute später war klar, daß ihr Streit sinnlos war. Das Experiment war außer Kontrolle geraten. Esra schaltete die Speicher aus, doch die Deformation des Raums blieb bestehen. Das wurde von allen zwanzig Basen bestätigt. Doch dann verschwand die Deformation, aber dafür setzte eine rasante Beschleunigung der Zeit ein, die sich ganz besonders am Äquator bemerkbar machte. An den Polen trat diese Zeitbeschleunigung nicht auf. Um acht Uhr zehn hörte die Zeitbeschleunigung auf, und die Apparaturen registrierten eine Raumdeformation. Die Zeitbeschleunigung war geringfügig. Eine Sekunde in der Stunde. Esra gab die Meldung an alle durch, daß das Experiment außer Kontrolle geraten war. Alle sollten sich zur Rückkehr in die Zentrale bereit machen. Das Hin- und Herschaukeln im Raum-Zeit-System dauerte noch zweiundzwanzig Minuten… Dann wuchs die Zeitbeschleunigung gewaltig an. Die Verbindung zwischen den Basen und der Zentrale brach ab. Jetzt sind bereits fünf Jahre vergangen, aber wir sind immer noch nicht aus den Kellergeschossen heraus. Erli, wie ist es aber nun, wenn das deine zukünftigen Arbeitsaufzeichnungen gewesen sind? In diesem Falle müßten wir überhaupt nicht nach einer anderen Zivilisation suchen, denn dann hätten wir ja selbst alles geschaffen. Erli, du mußt herausfinden, wie man Herr über die Zeit werden kann…“ Sie konnten bereits die zweite Basis vor sich erkennen. „Erli“, sagte Henry. „Ich möchte hier für ein paar Minuten Station machen. Kannst du mich verstehen?“ „Ja, Henry.“ Er schaltete das Mikrofon aus. Vierzehn Hubschrauber verharrten an ein und derselben Stelle, und einer setzte in kühnem Bogen zur Landung an. In den Strahlen der aufgehenden Sonne glich er einem kleinen, goldenen Käfer.