Die Ameisen Bernard Werber Die Ameisen #1 Zu diesem Buch Bernard Werbers atemberaubend spannender Roman beginnt in einem halb verfallenen Haus, das Jonathan von seinem Onkel, einem verrückten Wissenschaftler, geerbt hat. Sein Testament enthielt nur einen kryptischen Satz: »Niemals den Keller betreten!« Schon kurz danach werden Jonathan, seine Frau Lucie und sein Sohn Nicolas von einer beunruhigenden Vorahnung geplagt. Der Alptraum beginnt, als Nicolas’ Pudel nach einer Expedition in den Keller nur noch aus blutigen Fetzen besteht. Während immer mehr Menschen, wie magisch angezogen, in den Keller steigen, ohne wiederzukehren, führt uns die Erzählung in eine unterirdische Gegenwelt: in die Millionenmetropole Bel-o-kan, regiert von einer mächtigen Königin, die ihre Soldatinnen, Arbeiterinnen, Nahrungs- und Nachwuchserzeugerinnen unter eiserner Kontrolle hat. Als Vermittler zwischen diesen beiden Welten entpuppt sich der Onkel, der in seinem unterirdischen Labor eine Sprache zwischen Mensch und Ameise entwickelt hatte. Bernard Werber, geboren 1962, schrieb nach dem Jurastudium und der Journalistenschule sechs Jahre lang für den »Nouvel Observateur« naturwissenschaftliche Reportagen. Seit seinem fünfzehnten Lebensjahr interessiert sich Werber leidenschaftlich für die Welt der Insekten. Nach seinem Debütroman »Die Ameisen«, gefeiert bei Publikum und Presse, sind von Bernard Werber auf deutsch erschienen »Der Tag der Ameisen« (1994) und »Die Revolution der Ameisen« (1994) sowie »Das Buch der Reise« (1998). Titel der französischen Originalausgabe: »Les Fourmis« MEINEN ELTERN UND ALL DEN FREUNDEN UND FORSCHERN, DIE IHR SCHERFLEIN ZU DIESEM BAUWERK BEIGETRAGEN HABEN Während der wenigen Sekunden, die Sie brauchen, um diese Zeilen zu lesen, werden auf der Erde 40 Menschen und 700 Millionen Ameisen geboren, sterben auf der Erde 30 Menschen und 500 Millionen Ameisen. Mensch: Säugetier, dessen Größe zwischen 1 und 2 Meter schwankt. Gewicht: zwischen 30 und 100 Kilogramm. Schwangerschaftsdauer des Weibchens:    9 Monate. Ernährungsart:    Allesfresser.    Geschätzte Gesamtbevölkerung: über 5 Milliarden Exemplare. Ameise: Insekt, dessen Größe zwischen 0,01 und 3 Zentimeter schwankt. Gewicht: zwischen l und 150 Milligramm. Gelege: beliebig, je nach Bestand der Spermien. Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens 1 Der Erwecker Der Notar erklärte, das Haus sei als Baudenkmal eingestuft und während der Renaissance hätten Gelehrte darin gewohnt. Wer genau, wisse er nicht mehr. »Die Wohnung selbst ist ein wenig sonderbar, es handelt sich nämlich um ein Kellergeschoß. Aber alle Achtung, sie ist geräumig! Zweihundert Quadratmeter!« Sie stiegen die Treppe hinunter, gelangten in einen dunklen Flur, in dem der Notar lange herumtappte, bis er hervorstieß: »Ah, verflixt! Das funktioniert nicht.« Sie drangen in die Finsternis vor, tasteten sich geräuschvoll an den Wänden entlang. Als der Notar endlich die Tür gefunden, sie geöffnet und, diesmal erfolgreich, auf den Lichtschalter gedrückt hatte, sah er, daß sein Klient blaß geworden war. »Stimmt etwas nicht, Monsieur Wells?« »Eine Art Phobie. Nicht so schlimm.« »Angst vor der Dunkelheit?« »Genau. Aber es geht schon wieder.« Sie besichtigten die Räumlichkeiten. Obwohl die Wohnung nur durch einige schmale und in Höhe der Decke gelegene Kellerfenster mit der Außenwelt verbunden war, gefiel sie Jonathan. Sämtliche Wände waren in einem einheitlichen Grau tapeziert, und überall war Staub ... Aber er wollte nicht mäkelig sein. Die Wohnung, in der er zur Zeit wohnte, war nur ein Fünftel so groß. Außerdem verfügte er nicht über die Mittel, künftig die Miete zu zahlen: Das Schlüsseldienstunternehmen, für das er arbeitete, hatte vor kurzem beschlossen, auf seine Dienste zu verzichten. Diese Hinterlassenschaft seines Onkels Edmond war wirklich ein Glücksfall. Zwei Tage später zog er mit seiner Frau Lucie, seinem Sohn Nicolas und ihrem Hund Ouarzazate, einem geschorenen Zwergpudel, in das Haus Nummer 3 an der Rue des Sybarites ein. »Ich finde das gar nicht so schlecht«, erklärte Lucie und reckte ihren dichten roten Haarschopf hoch. »Bei den grauen Wänden hier können wir uns so einrichten, wie wir wollen. Hier muß alles neu gemacht werden. Als müßte man ein Gefängnis in ein Hotel verwandeln.« »Wo ist mein Zimmer?« fragte Nicolas. »Hinten rechts.« »Wuff, wuff«, machte der Hund und begann nach Lucies Waden zu schnappen, ohne zu berücksichtigen, daß sie das Hochzeitsgeschirr auf dem Arm hatte. Aus diesem Grund wurde er prompt in die Toilette geschickt und eingesperrt, denn er schaffte es, zur Türklinke hochzuspringen und sie herunterzudrücken. »Kanntest du den gut, deinen spendablen Onkel?« fragte Lucie. »Onkel Edmond? Nein, ich kann mich nur erinnern, daß er mich wie ein Flugzeug durch die Luft gewirbelt hat, als ich ganz klein war. Einmal hatte ich solche Angst, daß ich ihn vollgepinkelt habe.« Sie lachten. »Warst schon immer ein Angsthase, was?« neckte ihn Lucie. Jonathan tat so, als hätte er nichts gehört. »Er war mir nicht böse. Er hat bloß zu meiner Mutter gesagt: >Schön, jetzt wissen wir wenigstens, daß aus ihm nie ein Flieger wird . < Später hat mir Mama immer erzählt, daß er meine Entwicklung aufmerksam verfolgt hat, aber ich habe ihn nie mehr wiedergesehen.« »Was war er von Beruf?« »Er war Wissenschaftler. Biologe, glaube ich.« Jonathan blickte nachdenklich drein. Im Grunde war ihm sein Wohltäter vollkommen unbekannt. 1 Meter hoch 50 Etagen unterhalb der Erde 50 Etagen über der Erde Größte Stadt der Region Geschätzte Einwohnerzahl: 18 Millionen Jährliche Produktion: 50 Liter Blattlaushonigtau 10 Liter Schildlaushonigtau 4 Kilogramm Lamellenpilze Kiesausstoß: 1 Tonne Benutzbare Gänge: 120 km Fläche am Boden: 2 m Ein Sonnenstrahl ist eingedrungen. Ein Bein hat sich bewegt. Die erste Bewegung seit Beginn des Winterschlafs vor drei Monaten. Ein anderes Bein, das in zwei Krallen endet, die sich allmählich spreizen, rückt langsam vor. Ein drittes entspannt sich. Dann ein Thorax. Dann ein Wesen. Dann zwölf Wesen. Sie zittern, um ihr durchsichtiges Blut durch das Netz ihrer Adern zirkulieren zu lassen. Es geht von zähflüssigem in likörartigen, dann in flüssigen Zustand über. Nach und nach setzt sich die kardiale Pumpe wieder in Gang. Sie treibt den Lebenssaft bis in die Enden der Glieder. Die Biomechanismen erwärmen sich. Die hyperkomplexen Gelenke drehen sich. Überall verschieben sich die Kniescheiben mit ihren schützenden Platten, um ihre äußerste Biegung zu finden. Sie stehen auf. Ihre Körper schöpfen Luft. Ihre Bewegungen sind langsam, entstellt. Ein Zeitlupentanz. Sie räkeln sich leicht, schütteln sich. Ihre Vorderbeine vereinen sich wie zum Gebet, aber nein, sie befeuchten ihre Krallen, um ihre Antennen zu reinigen. Die zwölf, die aufgewacht sind, reiben sich gegenseitig ab. Dann versuchen sie, ihre Nachbarn zu wecken. Aber sie haben kaum Kraft, ihre eigenen Körper zu bewegen, sie können noch keine Energie weitergeben. Sie lassen davon ab. Und so bahnen sie sich mühsam einen Weg inmitten der statuengleichen Körper ihrer Schwestern. Sie krabbeln auf die Große Außenwelt zu. Ihr Organismus mit dem noch kalten Blut muß die Kalorien des Tagesgestirns aufnehmen. Ermattet rücken sie vor. Jeder Schritt schmerzt. Sie haben größte Lust, sich wieder hinzulegen, friedlich dazuliegen wie Millionen ihresgleichen! Aber nein. Sie sind die ersten, die aufgewacht sind. Es ist nun ihre Pflicht, die ganze Stadt wiederzubeleben. Sie durchdringen die Hülle der Stadt. Das Sonnenlicht blendet sie, aber der Kontakt mit der puren Energie ist dermaßen stärkend! Sonne, geh ein in unsre hohlen Körper Bewege unsre schmerzenden Muskeln Und vereine unsre geteilten Gedanken. Das ist ein altes Morgenlied der roten Ameisen aus dem hundertsten Jahrtausend. Schon damals hatten sie Lust, beim ersten Kontakt mit der Wärme innerlich zu jubilieren. Kaum draußen, beginnen sie sich methodisch zu waschen. Sie sondern einen weißen Speichel ab und bestreichen ihre Kiefer und ihre Beine. Sie bürsten sich ab. Das ist eine einzige, immergleiche Zeremonie. Zuerst die Augen. Die eintausenddreihundert kleinen »Bullaugen«, die jedes Auge kugelrund formen, werden entstaubt, befeuchtet, getrocknet. Genauso gehen sie bei den Antennen vor, bei den unteren Gliedern, den mittleren Gliedern, den oberen Gliedern. Zum Schluß putzen sie ihre schönen roten Panzer, bis sie glänzen wie Tropfen aus Feuer. Unter den zwölf, die aufgewacht sind, ist ein zur Fortpflanzung bestimmtes Männchen. Es ist ein wenig kleiner als der Durchschnitt der belokanischen Bevölkerung. Es hat schmale Oberkiefer, und es ist darauf programmiert, nicht länger als einige Monate zu leben, aber es ist auch mit Vorzügen ausgestattet, die seinen Mitbrüdern vorenthalten sind. Erstes Privileg seiner Kaste: Da es geschlechtlich differenziert ist, besitzt es fünf Augen. Zwei große, kugelförmige Augen, die ihm ein Sichtfeld von hundertachtzig Grad verleihen. Plus drei kleine Ozellen, die in Form eines Dreiecks auf der Stirn angeordnet sind. Diese überzähligen Augen sind in Wirklichkeit Infrarotsensoren, die es ihm erlauben, aus der Ferne jegliche Wärmequelle zu registrieren, selbst in völliger Dunkelheit. Dieses Charakteristikum erweist sich als um so wertvoller, als die meisten Bewohner der großen Städte dieses hunderttausendsten Jahrtausends vollständig blind geworden sind, da sie ihr ganzes Leben unter der Erde verbringen. Aber das ist nicht seine einzige Besonderheit. Er verfügt auch (wie die Weibchen) über Flügel, die es ihm eines Tages möglich machen, zu fliegen, um die Liebe zu vollziehen. Sein Thorax ist durch einen speziellen Schild geschützt: das Mesotonum. Seine Antennen sind länger und sensibler als die der übrigen Bewohner. Dieses junge Männchen bleibt eine ganze Weile auf der Kuppel und lädt sich mit Sonne auf. Dann, als es wohlaufgewärmt ist, kehrt es in die Stadt zurück. Einstweilen gehört es zur Kaste der »Wärmeboten«. Es bewegt sich durch die Gänge der dritten unteren Etage. Hier schläft alles noch tief. Die erfrorenen Körper sind erstarrt. Die Antennen hängen schlaff herab. Die Ameisen träumen noch. Das junge Männchen schiebt sein Bein auf eine Arbeiterin zu, um sie mit der Wärme seines Körpers aufzuwecken. Der lauwarme Kontakt löst einen angenehmen elektrischen Schlag aus. Nach dem zweiten Klingeln war ein Tippeln wie von einer Maus zu hören. Die Tür öffnete sich mit leichter Verzögerung, weil Großmutter Augusta erst die Sicherheitskette lösen mußte. Seit dem Tod ihrer beiden Kinder lebte sie zurückgezogen auf diesen dreißig Quadratmetern, ließ sie die alten Erinnerungen vorbeiziehen. Das war sicher nicht gut für sie, hatte jedoch nichts an ihrer Liebenswürdigkeit geändert. »Ich weiß, es ist lächerlich, aber zieh bitte die Filzpantoffeln an. Ich habe gerade das Parkett gebohnert.« Jonathan gehorchte. Sie huschte voraus, führte ihn in ein Wohnzimmer, dessen zahlreiche Möbel mit Schonbezügen versehen waren. Jonathan setzte sich auf die Kante des Sofas, scheiterte jedoch bei dem Versuch, der Plastikhülle kein Quietschen zu entlocken. »Ich freu mich so, daß du gekommen bist ... Ob du’s glaubst oder nicht, ich hatte vor, dich in den nächsten Tagen anzurufen.« »Aha?« »Stell dir vor, Edmond hat mir etwas für dich dagelassen. Einen Brief. Er hat gesagt: >Wenn ich sterbe, mußt du Jonathan unbedingt diesen Brief geben.<« »Ein Brief?« »Ein Brief, ja, ein Brief ... Hmm, wenn ich nur wüßte, wo ich ihn gelassen habe. Warte mal ... Er gibt mir den Brief, ich sag noch, ich werde ihn wegtun, lege ihn in eine Dose. Das muß eine dieser Blechdosen in dem großen Schrank gewesen sein.« Sie begann Schlittschuh zu laufen, hielt jedoch nach dem dritten Gleichschritt inne. »Nein, was bin ich dumm! Was ist das nur für ein Empfang! Du trinkst doch sicher ein Täßchen Tee?« »Gern.« Sie verschwand in der Küche, und man hörte Töpfe scheppern. »Erzähl mir doch, wie’s dir geht, Jonathan!« rief sie. »Puh, nicht so toll. Ich hab meinen Arbeitsplatz verloren.« Großmutter steckte kurz ihren weißen Mäuschenkopf durch die Tür, dann erschien sie ganz, mit ernster Miene, eingepackt in eine lange, blaue Schürze. »Haben sie dich entlassen?« »Ja.« »Warum?« »Weißt du, der Schlüsseldienst ist ein eigenartiges Gewerbe. Unser Unternehmen, >SOS Schlüssel<, ist rund um die Uhr in ganz Paris tätig. Na ja, und nachdem einer meiner Kollegen überfallen worden ist, habe ich mich geweigert, abends in zwielichtigen Vierteln herumzufahren. Daraufhin haben sie mich gefeuert.« »Das war richtig von dir. Besser keine Arbeit und gesund als umgekehrt.« »Außerdem habe ich mich mit meinem Chef nicht besonders verstanden.« »Und deine Erfahrungen mit den utopischen Gesellschaften? Zu meiner Zeit nannte man das die New-Age-Gesellschaften.« (Sie lachte verhalten, sie hatte das ausgesprochen wie »’ne Waage«.) »Das habe ich nach dem Reinfall mit dem Bauernhof in den Pyrenäen aufgegeben. Lucie war es leid, ständig für alle zu kochen und zu spülen. Es gab ein paar Parasiten unter uns. Lucie und ich sind sauer geworden. Jetzt lebe ich nur noch mit Lucie und Nicolas ... Und wie geht’s dir, Großmutter? « »Mir? Ich lebe. Damit hat man genug zu tun.« »Du Glückliche! Du hast noch die Jahrtausendwende erlebt .« »Och, weißt du, am meisten wundert es mich, daß sich nichts geändert hat. Früher, als ich noch blutjung war, da haben wir geglaubt, nach der Jahrtausendwende würden sich außergewöhnliche Dinge ereignen, und wie du siehst, hat sich nichts geändert. Es gibt immer noch alte, einsame Leute, immer noch Arbeitslose, immer noch Autos, die Rauch erzeugen. Nicht einmal die Ideen haben sich weiterentwickelt. Guck mal, letztes Jahr hat man den Surrealismus wieder entdeckt, vorletztes Jahr den Rock’n Roll, und für diesen Sommer kündigen die Zeitungen das große Comeback des Minirocks an. Wenn das so weitergeht, werden bald noch die Erfindungen vom Beginn des letzten Jahrhunderts wieder hervorgeholt: der Kommunismus, die Psychoanalyse und die Relativitätstheorie .« Jonathan lächelte. »Einige Fortschritte gibt es aber doch: die durchschnittliche Lebensdauer des Menschen ist gestiegen, ebenso die Anzahl der Scheidungen, der Grad der Luftverschmutzung, die Länge der Metro-Linien .« »Na fein. Ich hab geglaubt, wir hätten alle unser eigenes Flugzeug und könnten vom Balkon abheben. Weißt du, als ich jung war, hatten die Leute Angst vor dem Atomkrieg. Das war eine tolle Angst. Mit hundert Jahren in der Glut eines gigantischen Atompilzes zu sterben, gemeinsam mit dem Planeten unterzugehen, das hatte schon was. Statt dessen werde ich wie eine alte verfaulte Kartoffel enden. Und alle Welt wird sich ’nen Dreck darum scheren.« »Aber nein. Großmutter, aber nein.« Sie wischte sich über die Stirn. »Außerdem wird es immer heißer. Zu meiner Zeit war es nicht so heiß. Da gab es noch richtige Winter und richtige Sommer. Jetzt fängt die Gluthitze schon im März an.« Sie ging wieder in ihre Küche, hüpfte dorthin, um mit seltener Gewandtheit sämtliche Utensilien zu angeln, die für die Zubereitung eines richtig guten Kräutertees erforderlich waren. Man hörte ein Streichholz aufflammen und kurz darauf das Gas, das durch die altmodischen Düsen ihres Herdes zischte, dann kehrte sie, um einiges entspannter, wieder zurück. »Nun denn, du bist sicher aus einem bestimmten Grund gekommen. Heutzutage schaut man nicht einfach so bei alten Leuten vorbei.« »Sei nicht zynisch, Großmutter.« »Ich bin nicht zynisch, ich weiß nur, in was für einer Welt ich lebe, das ist alles. Komm, Schluß mit dem Getue, sag schon, was dich zu mir führt.« »Ich möchte, daß du mir von >ihm< erzählst. Er vermacht mir seine Wohnung, dabei kenne ich ihn nicht mal ...« »Edmond? Erinnerst du dich nicht mehr an ihn? Dabei hat er so gern Flieger mit dir gespielt. Ich weiß noch, einmal, da hat er .« »Ja, das weiß ich auch, aber davon abgesehen ist nur gähnende Leere .« Sie setzte sich in einen großen Sessel, achtete darauf, den Schonbezug nicht allzusehr zu zerknittern. »Edmond, hmm, Edmond war eine Persönlichkeit. Dein Onkel war noch ganz jung, da hat er mir schon Kummer gemacht. Es war kein Zuckerschlecken, seine Mutter zu sein. Weißt du, er hat zum Beispiel all seine Spielsachen kaputtgemacht, einfach, um sie auseinanderzunehmen, und nicht etwa, um sie wieder zusammenzubauen. Und wenn es nur seine Spielsachen gewesen wären! Alles mögliche hat er auseinandergenommen: Uhren, Plattenspieler, die elektrische Zahnbürste. Einmal hat er sogar den Kühlschrank in alle Einzelteile zerlegt.« Wie zur Bestätigung begann die alte Wanduhr düster zu schlagen. Auch sie hatte bei dem kleinen Edmond allerhand mitgemacht. »Und dann hatte er noch eine andere Marotte: Höhlen. Das ganze Haus hat er auf den Kopf gestellt, um sich seine Schlupfwinkel zu bauen. Eine hat er sich mit Decken und Schirmen auf dem Speicher gebaut, eine andere mit Stühlen und Pelzmänteln in seinem Zimmer. Darin hauste er dann den ganzen Tag, einfach so, inmitten der Schätze, die er dort hortete. Einmal hab ich nachgeschaut, beide waren voll von Kissen und dem ganzen Zeug, das er aus den Geräten geklaubt hatte. Das sah gar nicht so ungemütlich aus.« »Das machen doch alle Kinder ...« »Vielleicht, aber bei ihm nahm das wundersame Ausmaße an. Er weigerte sich, ins Bett zu gehen, er schlief nur noch in einer seiner Höhlen. Manchmal blieb er tagelang darin. Als wollte er überwintern. Deine Mutter hat mal behauptet, in einem früheren Leben müsse er ein Eichhörnchen gewesen sein.« Jonathan lächelte ihr aufmunternd zu. »Eines Tages wollte er seine Bude unter dem Wohnzimmertisch bauen. Das war der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Dein Großvater, eigentlich ein friedlicher Mensch, hat einen Tobsuchtsanfall bekommen. Er hat ihm den Hintern versohlt, seine Höhlen zerstört und ihn gezwungen, im Bett zu schlafen.« Sie seufzte. »Von diesem Tag an hat er sich uns völlig entzogen. Als hätte jemand die Nabelschnur durchtrennt. Wir gehörten nicht mehr zu seiner Welt. Aber ich glaube, diese Prüfung war nötig, er mußte begreifen, daß sich die Welt nicht ewig seinen Launen beugt. Später, als er größer wurde, hat das Probleme gegeben. Er ertrug die Schule nicht mehr. >Wie alle Kinder<, wirst du wieder sagen. Aber bei ihm ging das darüber hinaus. Kennst du viele Kinder, die sich mit ihrem Gürtel in der Toilette aufhängen, weil sie von ihrem Lehrer einen Rüffel bekommen haben? Er, er hat sich mit sieben Jahren aufgehängt. Der Hausmeister hat ihn runtergeholt.« »Vielleicht war er zu sensibel .« »Zu sensibel? Von wegen! Ein Jahr später hat er versucht, einen seiner Lehrer mit einer Schere zu erstechen. Mitten ins Herz hat er gezielt. Zum Glück hat er nur sein Zigarettenetui erwischt.« Sie blickte zur Decke. Erinnerungen rieselten ihr wie Schneeflocken kunterbunt in den Sinn. »Danach hat sich das ein wenig gelegt, weil es einige Lehrer geschafft haben, seine Begeisterung zu wecken. Er hatte eine Eins in allen Fächern, die ihn interessierten, und eine Sechs in allen andern. Eins oder Sechs, sonst gab es nichts.« »Mama hat gesagt, er sei ein Genie.« »Deine Mutter schwärmte für ihn, weil er ihr erklärt hat, er versuche das »absolute Wissen« zu erlangen. Deine Mutter glaubte seit ihrem zehnten Lebensjahr an ein früheres Leben, und sie hat gedacht, er sei die Reinkarnation von Einstein oder Leonardo da Vinci.« »Also nicht nur ein Eichhörnchen?« »Warum nicht auch das. >Es braucht viele Leben, um eine Seele zu schaffen<, hat Buddha gesagt.« »Hat er IQ-Tests gemacht?« »Ja. Die waren ein totaler Reinfall. Dreiundzwanzig von hundertachtzig Punkten hat er erreicht, was leichten Schwachsinn bedeutet. Seine Lehrer haben gedacht, er sei verrückt und man müsse ihn in eine Anstalt stecken. Ich aber wußte, daß er nicht verrückt war. Er war nur »daneben«. Ich erinnere mich, daß er einmal, oh, da war er keine elf Jahre alt, mit mir gewettet hat, daß ich es nicht schaffen würde, vier gleichseitige Dreiecke mit nur sechs Streichhölzern zu bilden. Das ist nicht einfach, hier, versucht doch mal ...« Sie ging in die Küche, warf einen Blick auf ihren Teekessel und brachte sechs Streichhölzer mit. Jonathan zögerte einen Moment. Das schien machbar. Er ordnete die sechs Stäbchen auf unterschiedliche Weise an, aber nach einigen Minuten mußte er aufgeben. »Wie ist denn die Lösung?« Großmutter Augusta konzentrierte sich. »Na ja, ich glaube, die hat er mir nie verraten. Das einzige, woran ich mich noch erinnere, ist, was er mir als Hilfestellung gesagt hat: »Man muß anders denken; wenn man so überlegt, wie man es gewohnt ist, erreicht man nichts.« Stell dir vor, ein Balg von elf Jahren, der solche Sachen von sich gibt! Ah, ich glaube, da pfeift der Teekessel. Ich glaube, das Wasser kocht.« Sie kehrte mit zwei Tassen zurück, die mit einer gelblichen, duftenden Flüssigkeit gefüllt waren. »Weißt du, ich freue mich, daß du dich so für deinen Onkel interessierst. Heutzutage sterben die Leute, und man vergißt sogar, daß sie auf der Welt waren.« Jonathan ließ die Streichhölzer fallen und trank vorsichtig einige Schlucke Kräutertee. »Und wie ging es dann weiter?« »Ich weiß es nicht. Kaum hatte er sein Studium an der Naturwissenschaftlichen Fakultät aufgenommen, haben wir nichts mehr von ihm gehört. Ich habe nur andeutungsweise von deiner Mutter erfahren, daß er mit Bravour habilitiert und anschließend für eine Nahrungsmittelgesellschaft gearbeitet hat, die er dann verließ, um nach Afrika zu gehen, und daß er wieder zurückgekehrt ist, um sich in der Rue des Sybarites niederzulassen. Danach hat bis zu seinem Tod niemand mehr etwas von ihm gehört.« »Woran ist er gestorben?« »Ja, weißt du das denn nicht? Eine unglaubliche Geschichte. Sie stand in sämtlichen Zeitungen. Stell dir vor, er ist von Wespen getötet worden.« »Von Wespen? Wie das?« »Er ist allein durch den Wald spaziert. Er muß aus Unachtsamkeit ein Nest umgestoßen haben. Sie sind allesamt über ihn hergefallen. >Ich habe noch nie so viele Stiche an einem einzigen Menschen gesehen<, hat der Gerichtsmediziner gesagt. Er ist mit 0,3 Gramm Gift pro Liter Blut gestorben. Absoluter Rekord.« »Gibt es ein Grab?« »Nein. Er hat darum gebeten, unter einer Kiefer im Wald beerdigt zu werden.« »Hast du ein Foto von ihm?« »Da, schau mal, an der Wand, über der Kommode. Rechts: Suzy, deine Mutter (hast du schon mal ein Bild von ihr gesehen, als sie noch so jung war?). Und links: Edmond.« Er hatte eine kahle Stirn, einen spitzen Schnurrbart, Ohren ohne Ohrläppchen wie Kafka, die bis über die Augenbrauenhöhe reichten. Er lächelte spöttisch. Ein wahres Teufelchen. Suzy neben ihm sah in ihrem weißen Kleid wunderschön aus. Sie hatte einige Jahre zuvor geheiratet, aber stets darauf bestanden, ihren Familiennamen Wells beizubehalten. Als wollte sie nicht, daß ihr Gefährte die Spur seines Namens auf ihren Sprößlingen hinterließ. Jonathan trat näher und erkannte, daß Edmond zwei ausgestreckte Finger über den Kopf seiner Schwester hielt. »Er war ein richtiger Schelm, oder?« Augusta gab keine Antwort. Trauer hatte ihren Blick verschleiert, als sie das strahlende Gesicht ihrer Tochter gesehen hatte. Suzy war vor sechs Jahren gestorben. Ein Fünfzehntonner, gesteuert von einem betrunkenen Fahrer, hatte ihren Wagen in eine Schlucht gestoßen. Der Todeskampf hatte zwei Tage gedauert. Sie hatte nach Edmond verlangt, aber Edmond war nicht gekommen. Wieder einmal war er woanders gewesen . »Kennst du noch mehr Leute, die mir von Edmond erzählen könnten?« »Hmm ... Da war ein Jugendfreund, den hat er öfters gesehen. Sie waren sogar zusammen an der Universität. Jason Bragel. Seine Nummer müßte ich noch haben.« Augusta sah rasch in ihrem Computer nach, dann gab sie Jonathan die Adresse. Sie schaute ihren Enkel liebevoll an. Er war der letzte Überlebende der Familie Wells. Ein braver Junge. »Komm, trink deinen Tee aus, sonst wird er kalt. Ich hab auch noch Sandplätzchen, wenn du willst. Ich backe sie selbst, mit Wachteleiern.« »Nein, danke, aber ich muß wieder los. Besuch uns doch mal in unserer neuen Wohnung, wir sind fertig mit dem Umzug.« »Gerne. Warte, geh nicht ohne den Brief.« Sie durchsuchte fieberhaft den großen Wandschrank, die eisernen Schubladen, schließlich fand sie einen weißen Umschlag, auf dem in eilig dahingeschriebenen Buchstaben stand: »Jonathan Wells.« Die Klappe des Umschlags war mit mehreren Klebestreifen verstärkt, um zu verhindern, daß er von selbst aufging. Jonathan riß ihn vorsichtig auf. Ein zerknittertes Blatt, wie aus einem Schulheft, fiel heraus. Nur ein einziger Satz war darauf notiert: Niemals den Keller betreten! Die Ameise zittert mit den Antennen. Sie ist wie ein Wagen, der lange im Schnee gestanden hat und nur mühsam wieder anspringt. Das Männchen versucht es mehrfach. Es reibt sie ein. Bestreicht sie mit warmem Speichel. Leben. Da ist es, der Motor springt wieder an. Eine Jahreszeit ist vorüber. Alles beginnt von vorn, als hätten sie nie diesen »kleinen Tod« erfahren. Es reibt sie weiter, um ihr Kalorien zu übertragen. Sie fühlt sich wohl jetzt. Während sich das Männchen weiter abmüht, richtet sie ihre Antennen in seine Richtung. Sie kitzelt es ganz sanft. Sie will wissen, wer es ist. Sie berührt das von seinem Kopf aus gesehen erste Segment und liest sein Alter: hundertdreiundsiebzig Tage. Auf dem zweiten erkennt die blinde Arbeiterin seine Kaste: zur Fortpflanzung bestimmtes Männchen. Auf dem dritten seine Rasse und seine Herkunft: rote Waldameise aus der Hauptstadt Bel-o-kan. Auf dem vierten entdeckt sie die Legenummer, die ihm als Benennung dient: es ist das 327. Männchen, das seit Herbstanfang geboren wurde. Dort bricht ihre olfaktorische Identifizierung ab. Die restlichen Segmente sind nicht fürs »Senden« bestimmt. Das fünfte dient dazu, die Pistenmoleküle aufzunehmen. Das sechste ist für einfache Dialoge bestimmt. Das siebte ermöglicht komplexere Dialoge geschlechtlicher Art. Das achte ist den Dialogen mit der Königin vorbehalten. Die drei letzten schließlich dienen als kleine Keulen. So, sie ist sämtliche elf Segmente der zweiten Hälfte der Antenne durchgegangen. Aber sie hat ihm nichts zu sagen. Also rückt sie von ihm ab und macht sich auf den Weg, um sich ihrerseits auf dem Dach der Stadt zu wärmen. Das Männchen tut es ihr nach. Schluß mit der Arbeit als Wärmebotschafter, jetzt beginnen die Instandsetzungsarbeiten! Oben angekommen, konstatiert das Männchen Nr. 327 die Schäden. Die Stadt ist kegelförmig gebaut, um den Unbilden der Witterung möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Dennoch war der Winter verheerend. Wind, Schnee und Hagel haben die oberste Schicht der Zweige weggefegt. Vogelmist verstopft die Ausgänge. Sie müssen sich schnell ans Werk machen. Nr. 327 huscht auf einen großen gelben Fleck zu und fällt mit seinen Mandibeln über die harten, übelriechenden Fäkalien her. Auf der anderen Seite erscheinen bereits die Umrisse eines Insekts, das von innen her gräbt. Der Spion hatte sich verdunkelt. Jemand betrachtete ihn durch die Tür. »Wer ist da?« »Mein Name ist Gougne ... Ich komme wegen des Einbands.« Die Tür öffnete sich halb. Gougnes Blick fiel auf einen blonden Jungen von ungefähr zehn Jahren, dann, tiefer noch, auf einen winzigen Hund, der seine Nase durch die Beine des Kindes schob und anfing zu knurren. »Papa ist nicht da!« »Sind Sie sicher? Professor Wells wollte bei mir vorbeikommen, und .« »Professor Wells ist mein Großonkel. Er ist aber tot.« Nicolas wollte die Tür wieder schließen, doch Gougne trat hartnäckig näher. »Aufrichtiges Beileid. Aber sind Sie sicher, daß er nicht einen dicken Aktendeckel voller Blätter hinterlassen hat? Ich bin der Buchbinder. Er hat mich im voraus dafür bezahlt, daß ich seine Aufzeichnungen in Leder binde. Ich glaube, er hatte vor, eine Enzyklopädie anzulegen. Er wollte bei mir vorbeikommen, aber jetzt habe ich lange nichts mehr von ihm gehört .« »Ich hab doch gesagt, er ist tot.« Der Mann schob seinen Fuß weiter vor und drückte mit dem Knie gegen die Tür, als wollte er den Jungen umstoßen und eintreten. Der Miniaturhund begann wütend zu kläffen. Der Mann blieb stehen. »Verstehen Sie, es wäre mir ungeheuer peinlich, wenn ich meinen Verpflichtungen nicht nachkäme, und sei es posthum. Schauen Sie doch bitte nach. Irgendwo muß hier ein großer roter Ordner sein.« »Eine Enzyklopädie, sagten Sie?« »Ja, er hat dem Ganzen sogar einen Namen gegeben: >Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissensc, aber es sollte mich wundern, wenn das auf dem Deckel stünde ...« »Wir hätten sie sicher gefunden, wenn sie hier wäre.« »Entschuldigen Sie, wenn ich nicht lockerlasse, aber ...« Der Zwergpudel begann wieder zu zetern. Der Mann wich einen kleinen Schritt zurück, was dem Jungen reichte, um ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Mittlerweile ist die ganze Stadt aufgewacht. Die Gänge sind voller Wärmeboten, die sich beeilen, die Bevölkerung zu wecken. An einigen Kreuzungen liegen jedoch noch reglose Städterinnen. Die Boten können sie noch so schütteln, ihnen Schläge versetzen, sie rühren sich nicht. Sie werden sich nie mehr rühren. Sie sind tot. Der Winterschlaf ist ihnen zum Verhängnis geworden. Man kann nicht gefahrlos drei Monate mit einem praktisch nicht vorhandenen Herzschlag leben. Sie haben nicht gelitten. Sie sind im Schlaf verschieden, während eines plötzlichen Windstoßes, der die Stadt eingehüllt hat. Ihre Körper werden abtransportiert und auf die Deponie geworfen. Auf diese Weise schafft die Stadt jeden Morgen ihre toten Zellen mit dem anderen Abfall weg. Kaum hat die Insektenstadt ihre Adern von allem Unrat gereinigt, beginnt ein buntes Treiben. Überall krabbeln Beine. Kiefer wühlen. Antennen zucken vor Informationen. Alles ist wieder wie zuvor. Wie vor dem einschläfernden Winter. Das Männchen Nr. 327 transportiert gerade einen Zweig, der bestimmt sechzigmal soviel wiegt wie es selbst, als sich eine Kriegerin von über fünfhundert Tagen nähert. Sie klopft ihm mit ihren keulenartigen Segmenten auf den Schädel, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Es hebt den Kopf. Sie drückt ihre Antennen der Länge nach gegen seine. Sie will, daß es die Instandsetzungsarbeiten aufgibt, um mit einer Gruppe von Ameisen ... auf eine Jagdexpedition zu gehen. Er berührt ihren Mund und ihre Augen. Was für eine Jagdexpedition? Sie läßt ihn an einem ziemlich trockenen Fleischstückchen riechen, das in einer Falte eines Gelenks ihres Thorax verborgen war. Das hat man anscheinend kurz vor Winteranfang im Westen gefunden, und zwar in einem Winkel von 23° zur Mittagssonne. Das Männchen probiert. Käfer, kein Zweifel. Blattkäfer, genauer gesagt. Komisch. Normalerweise müßten die Käfer noch im Winterschlaf sein. Wie jeder weiß, wachen die roten Ameisen bei 12° Außentemperatur, die Termiten bei 13°, die Fliegen bei 14° und die Käfer bei 15° auf. Die alte Kriegerin läßt sich von diesem Argument nicht aus der Fassung bringen. Sie erklärt ihm, daß dieses Fleischstückchen aus einer ungewöhnlichen Gegend stammt, die von einer unterirdischen Quelle künstlich erwärmt wird. Dort gibt es keinen Winter. Das ist ein Mikroklima, in dem sich eine spezielle Fauna und Flora entwickelt hat. Außerdem hat die Stadt immer großen Hunger, wenn sie wach wird. Sie braucht dringend Proteine, um wieder in Gang zu kommen. Die Wärme allein reicht nicht. Nr. 327 willigt ein. Die Expedition besteht aus achtundzwanzig Ameisen aus der Kaste der Kriegerinnen. Die meisten sind geschlechtslose alte Damen, so auch die, die Nr. 327 zum Mitkommen bewegt hat. Das Männchen Nr. 327 ist das einzige Mitglied aus der Kaste der Fortpflanzungsfähigen. Es mustert seine Gefährtinnen von weitem durch das Sieb seiner Augen. Mit ihren Tausenden von Facettenaugen sehen die Ameisen kein tausendfach wiederholtes Bild, sondern eine Art Gitter. Sie haben Schwierigkeiten, Details zu erkennen. Dafür nehmen sie die feinsten Bewegungen wahr. Die Kundschafterinnen dieser Expedition machen einen kampfeserprobten, weitgereisten Eindruck. Ihre schweren Bäuche sind mit Säure angefüllt. Ihre Köpfe sind mit überaus mächtigen Waffen behangen. Ihre Panzer weisen die Spuren feindlicher Mandibeln auf. Seit einigen Stunden gehen sie schnurgerade voran. Sie kommen an mehreren Städten der Förderation vorbei, die sich hoch in den Himmel oder unter Bäumen erheben. Töchterstädte aus der Ni-Dynastie: Jodu-lu-baikan (der größte Getreideproduzent), Giu-li-aikan (dessen Killerinneneinheiten vor zwei Jahren eine Koalition der Termiten des Südens besiegt haben), Zedi-bei-nakan (berühmt für seine Chemielabors, in denen hochkonzentrierte Säuren hergestellt werden), Li-wiu-kan (dessen Schildlausalkohol einen köstlichen Harzgeschmack hat). Die roten Ameisen schließen sich nämlich nicht nur in Städten, sondern auch in Koalitionen von Städten zusammen. Der Bund macht ihre Stärke aus. Im Jura hat man Föderationen von roten Ameisen angetroffen, die auf einem Gebiet von 80 Hektar 15 000 Ameisenhügel umfaßten und eine Gesamtbevölkerung von über 200 Millionen Individuen aufwiesen. So weit ist Bel-o-kan noch nicht. Das ist eine junge Föderation, dessen erste Dynastie vor fünftausend Jahren gegründet wurde. Der einheimischen Legende zufolge soll eine von einem fürchterlichen Sturm verwehte junge Königin einst hier gelandet sein. Da es ihr nicht gelungen sei, zu ihrer eigenen Föderation zurückzufinden, habe sie Bel-o-kan gegründet, und aus Bel-o-kan seien die Föderation und die Hunderte von Generationen Ni-Königinnen, die die Föderation bilden, hervorgegangen. Belo-kiu-kiuni lautete der Name dieser ersten Königin. Das bedeutet: »Verirrte Ameise«. Aber sämtliche Königinnen der Hauptstadt haben ihren Namen übernommen. Einstweilen besteht Bel-o-kan nur aus dieser großen Zentralstadt und 64 mit ihr verbündeten Töchterstädten, die in der Umgebung verstreut sind. Aber schon jetzt hat sich Bel-o-kan zur größten politischen Kraft in diesem Teil des Waldes von Fontainebleau entwickelt. Nachdem sie die verbündeten Städte, vor allem La-chola-kan, die westliche belokanische Stadt, hinter sich gelassen haben, erreicht die Gruppe kleine Erhebungen. Erdschollen ähnlich: die Sommernester oder »Vorposten«. Sie sind noch leer. Aber Nr. 327 weiß, daß sie sich, im Zuge der Jagdexpeditionen und der Kriege, mit Soldatinnen füllen werden. Sie gehen in einer Linie weiter. Der Trupp hastet eine weite türkisfarbene Wiese und einen von Disteln gesäumten Hügel hinunter. Gen Norden zeichnet sich in der Ferne bereits die feindliche Stadt Shi-gae-pu ab. Aber ihre Bewohner dürften um diese Zeit noch schlafen. Sie ziehen weiter. Die meisten Tiere ringsum liegen noch im Winterschlaf. Da und dort schieben ein paar Frühaufsteher den Kopf aus ihrem Bau. Kaum sehen sie die roten Panzer, verstecken sie sich verängstigt. Die Ameisen sind nicht gerade für ihre Geselligkeit bekannt. Vor allem nicht, wenn sie derart ausrücken, bewaffnet bis zu den Antennen. Mittlerweile ist der Trupp an den Grenzen des vertrauten Terrains angelangt. Weit und breit ist keine einzige Tochterstadt mehr zu sehen. Am Horizont nicht der geringste Vorposten. Nicht der geringste von spitzen Beinen gegrabene Pfad. Höchstens noch einige kaum wahrnehmbare Spuren einer alten Piste, mit Duftnoten markiert, die darauf schließen lassen, daß früher einmal Belokanerinnen hier vorbeigekommen sind. Sie zögern. Das Laubwerk, das vor ihnen aufragt, ist auf keiner Geruchskarte vermerkt. Es bildet ein dunkles Dach, durch das kein Licht dringt. Diese von allen möglichen Tieren bewohnte Pflanzenmasse scheint regelrecht nach ihnen zu schnappen. Wie sollte er sie davon abhalten, da hinunterzugehen? Er hängte sein Jackett auf und küßte seine Familie zur Begrüßung. »Seid ihr fertig mit Auspacken?« »Ja. Papa.« »Schön. Übrigens, habt ihr die Küche gesehen? Ganz hinten ist eine Tür.« »Das wollte ich dir gerade erzählen«, sagte Lucie. »Das muß ein Keller sein. Ich hab versucht, sie aufzumachen, aber sie ist abgeschlossen. Darunter ist ein großer Spalt. Man sieht nicht viel, aber anscheinend geht das dahinter tief hinunter. Du solltest das Schloß knacken. Dann hab ich auch mal was davon, einen Schlosser zum Mann zu haben.« Sie lächelte und schmiegte sich in seine Arme. Lucie und Jonathan lebten seit dreizehn Jahren zusammen. Sie hatten sich in der Metro kennengelernt. Ein Rowdy hatte eines Tages aus reiner Langeweile eine Tränenbombe in den Wagen geworfen. Sämtliche Fahrgäste waren zu Boden gegangen und hatten sich tränenüberströmt fast die Lunge aus dem Hals gehustet. Lucie und Jonathan waren übereinander gestürzt. Als sie sich von ihrem Husten und Heulen erholt hatten, hatte Jonathan angeboten, sie nach Hause zu begleiten. Danach hatte er sie in eine seiner ersten utopischen Gesellschaften eingeladen, ein Squatt in Paris, in der Nähe der Gare du Nord. Drei Monate später hatten sie beschlossen zu heiraten. »Nein.« »Was heißt das, nein?« »Nein, wir werden das Schloß nicht knacken, und wir werden auch diesen Keller nicht nutzen. Das Beste ist, wir reden nicht mehr davon, wir gehen gar nicht in seine Nähe und schlagen uns den Gedanken aus dem Kopf.« »Das ist doch nicht dein Ernst! Erklär mir das mal!« Jonathan hatte nicht daran gedacht, sich eine logische Erklärung für dieses Verbot zurechtzulegen. Unfreiwillig hatte er das Gegenteil dessen bewirkt, was er wollte. Jetzt waren seine Frau und sein Sohn neugierig geworden. Was sollte er tun? Ihnen erklären, den wohltätigen Onkel umgebe ein Geheimnis, letzterer habe sie vor der Gefahr, die im Keller lauerte, warnen wollen? Das war keine Erklärung. Das war bestenfalls Aberglaube. Die Menschen lieben die Logik, nie im Leben würden Lucie und Nicolas darauf hereinfallen. Er stammelte: »Der Notar hat mich gewarnt.« »Wovor hat er dich gewarnt?« »Der Keller ist von Ratten befallen!« »Brrr! Ratten? Die schlüpfen garantiert durch den Spalt«, behauptete der Junge. »Keine Bange, wir werden alles abdichten.« Jonathan war mit Nicolas’ Reaktion nicht unzufrieden. Ein Glück, daß er auf die Idee mit den Ratten gekommen war. »Na schön, niemand nähert sich dem Keller, abgemacht? « Er ging ins Badezimmer. Lucie kam nach. »Du warst bei deiner Großmutter?« »Stimmt.« »Und das hat den ganzen Vormittag gedauert?« »Ganz genau.« »Du wirst doch nicht deine Zeit mit Herumlungern vertun. Erinnere dich, was du auf dem Hof in den Pyrenäen gesagt hast: >Müßiggang ist aller Laster Anfang. < Du mußt wieder Arbeit finden. Unsere Rücklagen schmelzen.« »Wir haben gerade eine Wohnung von zweihundert Quadratmetern in einem feinen Viertel am Waldrand geerbt, und du redest von einem Job! Kannst du denn den Augenblick nicht genießen?« Er wollte sie umarmen, sie wich zurück. »Doch, das kann ich, aber ich kann dabei auch an die Zukunft denken. Ich habe keine Stellung, du bist arbeitslos, wovon sollen wir in einem Jahr leben?« »Wir haben noch Reserven.« »Sei nicht dumm, wir haben noch genug, um uns einige Monate über Wasser zu halten, aber dann ...« Sie stemmte ihre kleinen Fäuste in die Hüften und streckte die Brust heraus. »Hör zu, Jonathan, du hast deinen Job verloren, weil du nachts nicht durch gefährliche Gegenden fahren wolltest. Okay, das versteh ich, aber du müßtest doch woanders etwas finden können!« »Natürlich. Ich werde mir Arbeit suchen, laß mich nur erst auf andere Gedanken kommen. Ich verspreche dir, danach, sagen wir in einem Monat, stürze ich mich auf die Annoncen.« Ein blondes Köpfchen schaute herein, alsbald gefolgt von einem Plüschtier auf Beinen, Nicolas und Ouarzazate. »Papa, vorhin ist ein Mann gekommen, um ein Buch zu binden.« »Ein Buch? Was für ein Buch?« »Ich weiß nicht, er hat von einer großen Enzyklopädie geredet, die Onkel Edmond geschrieben hat.« »Ach nein, sieh an . War er in der Wohnung? Habt ihr sie gefunden?« »Nein, der sah nicht nett aus, und weil sowieso kein Buch da ist ...« »Bravo, mein Sohn, das hast du gut gemacht.« Jonathan war zunächst perplex ob dieser Kunde, dann wurde er stutzig. Er durchwühlte das ganze Untergeschoß. Vergeblich. Danach blieb er eine ganze Weile in der Küche und untersuchte die Kellertür, das große Schloß und den breiten Spalt. Welches Geheimnis verbarg sich dahinter? Sie müssen in diesen Busch hinein. Eine der alten Kundschafterinnen äußert einen Vorschlag. Sich zu einer »Schlange mit dickem Kopf« formieren, der beste Weg, auf ungastlichem Terrain vorzurücken. Sofortige Zustimmung, sie hatten alle die gleiche Idee. Fünf in einem umgedrehten Dreieck angeordnete Aufklärerinnen bilden die Augen der Truppe. Mit kleinen, gemessenen Schritten tasten sie den Boden ab, beschnuppern den Himmel, inspizieren das Moos. Wenn alles in Ordnung ist, sondern sie eine olfaktorische Botschaft ab mit dem Inhalt: »Vorne nichts!«. Dann reihen sie sich am Ende des Zugs ein, um von »neuen« Individuen ersetzt zu werden. Dieses Rotationssystem verwandelt die Gruppe in eine Art langes Tier, dessen »Nase« stets hypersensibel bleibt. Zwanzigmal kommt das »Vorne nichts!« klar und deutlich. Beim einundzwanzigsten Mal wird es von einem widerlichen falschen »Ton« unterbrochen. Eine der Aufklärerinnen hat sich unbesonnen einer fleischfressenden Pflanze genähert. Eine Dionaea. Ihr betörender Duft hat sie angelockt, ihr Leim hat die Beine der Ameise umschlossen. Von da an ist alles verloren. Der Kontakt mit den Härchen löst den Mechanismus des organischen Scharniers aus. Die beiden breiten Blätter, durch Gelenke miteinander verbunden, schließen sich unerbittlich. Die langen »Fransen« dienen als Zähne. Sie verschränken sich und werden zu festen Stäben. Wenn das Opfer gänzlich platt gedrückt ist, sondert das pflanzliche Raubtier seine gefräßigsten Enzyme ab, die imstande sind, die härtesten Panzer zu verdauen. Und so schmilzt die Ameise. Ihr ganzer Körper verwandelt sich in einen schäumenden Saft. Sie stößt einen Duft von Verzweiflung aus. Aber man kann nichts mehr für sie tun. Das gehört zu den Unwägbarkeiten sämtlicher Expeditionen, die über weite Strecken führen. Es bleibt nur noch, die Umgebung der natürlichen Falle mit »Achtung, Gefahr« zu markieren. Sie vergessen den Zwischenfall und machen sich wieder auf den von Duftstoffen gekennzeichneten Weg. Die Pistenpheromone zeigen die Richtung an. Nachdem sie das Gestrüpp durchquert haben, ziehen sie gen Westen weiter. Immer noch in einem Winkel von 23° zur Mittagssonne. Sie ruhen sich kaum aus, wenn es zu kalt oder zu warm wird. Sie müssen sich beeilen, wenn sie nicht mitten in einen Krieg zurückkehren wollen. Es ist bereits vorgekommen, daß Kundschafterinnen bei ihrer Rückkehr feststellen müssen, daß ihre Stadt von feindlichen Truppen eingeschlossen ist. Und eine solche Blockade zu durchbrechen ist kein Kinderspiel. Da ist es, sie haben das Pistenpheromon gefunden, das den Eingang der Höhle anzeigt. Wärme steigt aus dem Boden auf. Sie dringen in die Tiefen der steinigen Erde ein. Je tiefer sie kommen, um so deutlicher nehmen sie das leise Plätschern einer Abflußrinne wahr. Das ist die warme Quelle. Sie dampft und verströmt einen starken Schwefelgeruch. Die Ameisen löschen ihren Durst. Kurz darauf entdecken sie ein komisches Tier: eine Kugel mit Beinen, könnte man glauben. In Wirklichkeit ist das ein Skarabäus, ein Pillendreher, der eine Kugel aus Kuhmist und Sand, in der seine Eier luftdicht gelagert sind, vor sich herschiebt. Wie der legendäre Atlas trägt er seine »Welt«. Wenn die Neigung des Geländes günstig ist, rollt die Kugel von allein, und er braucht ihr nur zu folgen. Wenn nicht, muß er sich abrackern, er rutscht aus und muß sie oft unten wieder holen. Erstaunlich, einen Skarabäus hier anzutreffen. Normalerweise hält der sich eher in wärmeren Zonen auf ... Die Belokanerinnen lassen ihn ziehen. Sein Fleisch ist ohnehin nicht besonders schmackhaft, und sein Panzer ist zum Transport viel zu schwer. Links von ihnen huscht eine schwarze Gestalt davon, um sich in einem Felsspalt zu verstecken. Ein Ohrwurm. Der allerdings, der ist lecker. Die älteste Kundschafterin reagiert am schnellsten. Sie klemmt ihren Hinterleib unter ihren Hals, begibt sich in Schußposition, indem sie sich auf die Hinterbeine stützt, zielt mit untrüglichem Gespür und feuert aus weiter Entfernung einen Tropfen Ameisensäure ab. Der ätzende, zu über vierzig Prozent konzentrierte Saft schießt durch den Raum. Treffer. Der Ohrwurm bricht in vollem Lauf, wie vom Blitz erschlagen, zusammen. Vierzigprozentige Säure, das ist kein Fruchtsaft. Die beißt schon bei vierzig Promille, bei vierzig Prozent verätzt sie alles! Das Insekt bleibt tot liegen, und alle stürzen herbei, um sein verbranntes Fleisch zu verschlingen. Die Herbstkundschafterinnen haben gute Pheromone hinterlassen. Die Ecke scheint reich an Wild. Die Jagd wird gut ausfallen. Sie steigen in einen artesischen Brunnen hinab und terrorisieren alle möglichen Arten von bislang unbekannten unterirdischen Bewohnern. Eine Fledermaus versucht zwar, ihrer Visite ein Ende zu machen, aber sie vertreiben sie, indem sie sie in eine Wolke von Ameisensäure hüllen. In den folgenden Tagen lassen sie nicht davon ab, die warme Höhle zu durchkämmen. Sie stapeln die Kadaver kleiner weißer Tiere und die Überreste hellgrüner Pilze. Mit ihrer analen Drüse streuen sie weitere Pheromone aus, die es ihren Schwestern ermöglichen werden, hier ungehindert zu jagen. Die Mission ist gelungen. Das Territorium hat einen Arm bis hierher, über das Dickicht im Westen hinaus, ausgestreckt. Schwerbeladen mit Nahrungsmitteln, setzen sie, kurz bevor sie sich auf den Rückweg machen, die chemische Flagge der Föderation. Ihr Duft schwingt durch die Lüfte: »Bel-o-Kan!« »Wie war der Name?« »Wells, ich bin der Neffe von Edmond Wells.« Die Tür geht auf, und es erscheint ein großer Kerl von fast zwei Metern. »Monsieur Jason Bragel ...? Entschuldigen Sie die Störung, aber ich würde gern mit Ihnen über meinen Onkel reden. Ich habe ihn nicht gekannt, und meine Großmutter hat mir erzählt. Sie seien sein bester Freund gewesen.« »Treten Sie ein ... Was möchten Sie über Edmond wissen?« »Alles. Ich habe ihn nicht gekannt, und ich bedaure es ...« »Hm. Verstehe. Auf jeden Fall gehörte Edmond zu den Leuten, die ein lebendiges Geheimnis darstellen.« »Kannten Sie ihn gut?« »Wer kann schon behaupten, jemanden zu kennen? Sagen wir, daß unsere Körper oft Seite an Seite gingen und daß keiner von uns etwas dagegen hatte.« »Wo sind Sie einander begegnet?« »An der Universität, am Institut für Biologie. Ich habe mich mit Pflanzen herumgeplagt, er mit Bakterien.« »Immerhin zwei ähnlich gelagerte Welten.« »Ja, nur daß meine trotz allem wilder ist«, korrigierte ihn Jason Bragel und deutete auf das Wirrwarr von Pflanzen, das sich über das ganze Eßzimmer erstreckte. »Sehen Sie die? Die sind allesamt Kontrahenten, bereit, sich gegenseitig für einen Lichtstrahl oder einen Tropfen Wasser umzubringen. Kaum ist ein Blatt im Schatten, stößt die Pflanze es ab, und die benachbarten Blätter wachsen breiter. Die Pflanzen, das ist wirklich eine Welt ohne Erbarmen ...« »Und Edmonds Bakterien?« »Er selbst hat erklärt, daß er nur seine Vorfahren studiere. Sagen wir, daß er seinen Stammbaum etwas weiter zurückverfolgte als andere ...« »Und weshalb Bakterien? Warum nicht Affen oder Fische?« »Er wollte die Zelle in ihrem Urzustand verstehen. Da der Mensch nur ein Konglomerat von Zellen ist, meinte er die >Psychologie< einer Zelle von Grund auf verstehen zu müssen, um daraus das Funktionieren des Ganzen abzuleiten. >Ein großes, komplexes Problem ist in Wirklichkeit nur die Summe kleiner, einfacher Probleme.< Er hat diese Weisheit wörtlich genommen.« »Hat er nur über Bakterien gearbeitet?« »Nein, nein. Er war eine Art Mystiker, ein wahrer Generalist, am liebsten hätte er alles gewußt. Er hatte auch seine Schrullen ... Zum Beispiel wollte er seinen eigenen Herzschlag kontrollieren.« »Das ist doch unmöglich!« »Angeblich bringen einige hinduistische und tibetanische Yogis dieses Wunder zustande.« »Und was hat man davon?« »Keine Ahnung ... Er wollte dahin gelangen, um jederzeit Selbstmord begehen zu können, indem er nur mit seiner Willenskraft sein Herz anhalten würde. Auf diese Weise glaubte er in der Lage zu sein, das Spiel jederzeit abzubrechen.« »Und zu welchem Zweck?« »Vielleicht hatte er Angst vor den Schmerzen, die mit dem Alter einhergehen.« »Hmm ... Und was hat er nach seiner Habilitation in Biologie gemacht?« »Er hat in der Wirtschaft gearbeitet, in einer Firma, die lebende Bakterien für Joghurts herstellte. Die >Sweetmilk Corporations Das hat sich für ihn gelohnt. Er hat eine Bakterie entdeckt, die nicht nur einen Geschmack, sondern auch noch einen Geruch entwickelte! Er hat dafür den Preis für die beste Erfindung des Jahres 1963 erhalten ...« »Und danach?« »Danach hat er eine Chinesin geheiratet. Ling Mi. Ein sanftes, fröhliches Mädchen. Er, der Brummbär, ist auf der Stelle umgänglicher geworden. Er war sehr verliebt. Von da an habe ich ihn seltener gesehen. Das ist geradezu klassisch.« »Ich habe gehört, er sei nach Afrika gegangen.« »Ja, aber erst danach.« »Wonach?« »Nach dem Drama. Ling Mi hatte Leukämie. Blutkrebs, da war nichts zu machen. Innerhalb von drei Monaten hat sie der Tod ereilt. Der Ärmste ... Da hatte er nun bekundet, nur die Zellen seien spannend und die Menschen Nebensache ... Die Lektion war grausam. Und er hatte nichts dagegen tun können. Parallel zu diesem Desaster bekam er Streit mit seinen Kollegen in der > Sweetmilk Corporations Er hat die Arbeit aufgegeben und sich, schwer deprimiert, in seiner Wohnung eingeschlossen. Ling Mi hatte ihm den Glauben an die Menschheit wiedergeschenkt, und ihr Verlust ließ ihn endgültig in seine Misanthropie zurückfallen.« »Ist er nach Afrika gegangen, um Ling Mi zu vergessen?« »Vielleicht. Zumindest hat er gehofft, die Wunde werde vernarben, wenn er sich Hals über Kopf in seine Arbeit als Biologe stürzen würde. Er muß einen anderen, ebenso fesselnden Gegenstand gefunden haben. Ich weiß nicht genau, was das war, aber die Bakterien waren es nicht mehr. Wahrscheinlich hat er sich in Afrika niedergelassen, weil der Gegenstand dieser Arbeit dort leichter zu untersuchen war. Er hat mir eine Postkarte geschickt mit der Mitteilung, daß er dort unten mit einem Team des Nationalen Forschungszentrums sei und mit einem gewissen Professor Rosenfeld zusammenarbeite. Ich kenne diesen Herrn nicht.« »Haben Sie Edmond anschließend wiedergesehen?« »Ja, einmal zufällig auf den Champs-Elysées. Wir haben ein wenig miteinander geplaudert. Er hatte offenkundig neuen Lebensmut geschöpft. Aber seine Antworten waren sehr vage, allen Fragen, die seinen Beruf betrafen, ist er geschickt ausgewichen.« »Es heißt, er habe eine Enzyklopädie geschrieben.« »Jaja, das wollte er schon immer. Das war sein großer Traum. All seine Kenntnisse in einem Werk vereinigen.« »Haben Sie sie schon gesehen?« »Nein. Und ich glaube auch nicht, daß er sie jemals irgendwem gezeigt hat. So wie ich Edmond kenne, hat er sie im entlegensten Winkel von Alaska mit einem feuerspeienden Drachen als Wächter versteckt. Er hatte so eine geheimnisvollskurrile Art.« Jonathan wollte sich schon verabschieden. »Ach, noch eine Frage: Wissen Sie, wie man vier gleichseitige Dreiecke mit sechs Streichhölzern legt?« »Natürlich. Das war sein liebster Intelligenztest.« »Und, wie ist die Lösung?« Jason lachte laut auf. »Nein, das verrate ich Ihnen bestimmt nicht! Wie sagte Edmond? >Jeder muß allein seinen Weg finden. < Und Sie werden sehen, die Befriedigung, wenn Sie es entdeckt haben, wird zehnmal so groß sein.« Mit all diesem Fleisch auf dem Rücken kommt ihnen die Strecke länger vor als auf dem Hinweg. Die Truppe schreitet kräftig aus, um nicht von den Unwegbarkeiten der Nacht überrascht zu werden. Ameisen sind in der Lage, von März bis November vierundzwanzig Stunden am Tag ohne die geringste Pause zu arbeiten; jeder Temperatursturz schläfert sie jedoch ein. Aus diesem Grund kommt es selten zu Expeditionen, die länger als einen Tag dauern. Die Stadt der roten Ameisen hatte lange über dieses Problem nachgedacht. Man wußte, wie wichtig es war, die Jagdgebiete auszudehnen und ferne Länder kennenzulernen, in denen andere Pflanzen wuchsen und andere Tiere mit anderen Sitten lebten. Im achthundertfünfzigsten Jahrtausend hatte Bi-stin-ga, eine rote Königin aus der Ga-Dynastie (eine Dynastie im Osten, die seit hunderttausend Jahren verschwunden war), den wahnwitzigen Plan verfolgt, die »äußersten Enden« der Welt kennenzulernen. Sie hatte Hunderte von Expeditionen in alle vier Himmelsrichtungen losgeschickt. Keine war je zurückgekehrt. Die derzeitige Königin, Belo-kiu-kiuni, war nicht so ehrgeizig. Ihre Neugierde beschränkte sich auf die Entdeckung dieser kleinen goldfarbenen Käfer, die wie kostbare Steine aussahen (und die tief im Süden zu finden waren), oder auf die Betrachtung der fleischfressenden Pflanzen, die man ihr zuweilen lebendig, mit Wurzel, brachte und die sie eines Tages zu zähmen hoffte. Belo-kiu-kiuni wußte, der beste Weg, neue Territorien kennenzulernen, bestand darin, die Föderation weiter zu vergrößern. Noch mehr Expeditionen in ferne Gegenden, noch mehr Tochterstädte, noch mehr Vorposten, und all denen, die sich diesem Vorrücken entgegenstemmen, den Krieg erklären. Sicher, bis zur Eroberung des Randes der Welt war es noch ein langer Weg, aber diese Politik der kleinen, hartnäckigen Schritte stand im Einklang mit der allgemeinen Ameisenphilosophie: »Langsam, aber stetig voran.«. Die Föderation von Bel-o-kan umfaßte mittlerweile vierundsechzig Tochterstädte. Vierundsechzig Städte mit dem gleichen Duft. Vierundsechzig Städte, die mit einem Netz von insgesamt einhundertfünfundzwanzig Kilometern gegrabener Pfade und siebenhundertachtzig Kilometern Geruchspisten verbunden waren. Vierundsechzig Städte, die in Schlachten und Hungersnöten zusammenhielten. Das Konzept der Föderation ermöglichte es einigen Städten, sich zu spezialisieren. Und Belo-kiu-kiuni träumte sogar davon, daß eines Tages eine Stadt nur Getreide produzierte, eine andere den Rest mit Fleisch versorgte, eine dritte sich ausschließlich mit dem Krieg befaßte. Noch war man nicht soweit. Jedenfalls war das ein Konzept, das mit einem anderen Grundsatz der Ameisenphilosophie übereinstimmte: »Die Zukunft gehört den Spezialisten.« Die Kundschafterinnen sind noch weit von den Vorposten entfernt. Sie beeilen sich. Als sie an der fleischfressenden Pflanze vorbeikommen, schlägt eine der Kriegerinnen vor, sie samt Wurzel auszurupfen, um sie Belo-kiu-kiuni mitzubringen. Allgemeine Antennenberatung. Sie diskutieren, indem sie winzige Geruchsmoleküle senden und empfangen. Die Pheromone. In Wirklichkeit Hormone, die aus ihrem Körper austreten. Man könnte jedes dieser Moleküle visualisieren wie ein Goldfischglas, in dem jeder Fisch ein Wort wäre. Dank dieser Pheromone sind die Ameisen einer Kommunikation fähig, deren Nuancen praktisch unendlich sind. Den nervösen Antennenbewegungen nach zu urteilen, scheint die Diskussion lebhaft zu sein. Das ist zu hinderlich. Mutter kennt diese Art von Pflanze nicht. Wir riskieren Verluste, außerdem haben wir dann weniger Arme, um die Beute zu transportieren. Wenn die fleischfressenden Pflanzen erst einmal gezähmt sind, werden sie hervorragende Waffen sein. Man könnte ganze Fronten halten, indem man sie einfach in einer Reihe anpflanzt. Wir sind müde, und es wird bald Nacht. Sie beschließen, davon abzusehen, krabbeln um die Pflanze herum und setzen ihren Weg fort. Als sich die Gruppe einer Wiese nähert, erblickt das Männchen Nr. 327, das sich am Ende des Zuges befindet, ein rotes Gänseblümchen. Ein solches Exemplar hat es noch nie gesehen. Da gibt es kein Zögern. Auf die Dionaea haben wir verzichtet, aber das da nehmen wir mit. Es läßt sich ein wenig zurückfallen und schneidet vorsichtig den Stengel der Blume durch. Klick! Es drückt seinen Fund an sich und läuft los, um seine Kolleginnen wieder einzuholen. Nur diese Kolleginnen, die gibt es nicht mehr. Die Expedition Nr. 1 des neuen Jahres ist zwar noch vor ihm, aber in welchem Zustand ... Emotionaler Schock. Streß. Die Beine von Nr. 327 beginnen zu zittern. Sie hatten nicht einmal Zeit, sich in Gefechtsposition zu begeben, sie sind alle noch zu der »Schlange mit dickem Kopf« formiert. Das Männchen mustert die Kadaver. Kein einziger Säurestrahl ist abgefeuert worden. Die Ameisen sind nicht einmal dazu gekommen, ihre Alarmpheromone auszustoßen. Nr. 327 nimmt die Ermittlungen auf. Es untersucht die Antennen des Kadavers einer Schwester. Olfaktorischer Kontakt. Keinerlei chemisches Bild ist aufgezeichnet. Sie zogen dahin, und plötzlich: Exitus. Unbegreiflich, unbegreiflich. Und doch muß es eine Erklärung geben. Zunächst einmal die Rezeptoren reinigen. Mit Hilfe der beiden gebogenen Krallen seines Vorderbeins schabt Nr. 327 die Stengel auf seiner Stirn ab, entfernt den Säureschaum, der sich durch den Anflug von Streß gebildet hat. Es biegt sie zu seinem Mund und leckt sie ab. Wischt sie an dem kleinen bürstenartigen Sporn ab, den die Natur klugerweise über seinem dritten Ellbogen angebracht hat. Danach senkt es seine Antennen auf Augenhöhe und bringt sie langsam, mit 300 Schwingungen pro Sekunde, in Bewegung. Nichts. Es erhöht die Frequenz: 500, 1000, 2000. 5000, 8000 Schwingungen pro Sekunde. Es ist bei zwei Dritteln seiner rezeptiven Fähigkeit angelangt. Sogleich nimmt es die feinsten Gerüche wahr, die durch die Luft schweben: der Dunst des Taus, Pollen, Sporen sowie ein schwacher Duft, den es schon gerochen hat, den zu identifizieren jedoch schwerfällt. Es beschleunigt weiter. Maximale Frequenz: 12 000 Schwingungen pro Sekunde. In ihrem Wirbel erzeugen seine Antennen einen Saugeffekt, der sämtliche Staubkörnchen anzieht. Da, es hat diesen schwachen Duft identifiziert. Das ist der Geruch der Schuldigen. Ja, sie müssen es sein, die unerbittlichen Nachbarn im Norden, die ihnen schon letztes Jahr so viele Sorgen bereitet haben. Sie: die Zwergameisen aus Shi-gae-pu. Sie sind also auch schon wach. Sie müssen einen Hinterhalt gelegt und eine neue, unheimliche Waffe benutzt haben. Das Männchen Nr. 327 darf keine Sekunde verlieren, es muß unverzüglich die ganze Föderation alarmieren. »Sie sind alle von einem Laserstrahl mit sehr starker Amplitude getötet worden, Chef.« »Von einem Laserstrahl?« »Ja, eine neue Waffe, die unsere schwersten Raumschiffe aus großer Entfernung in nichts auflöst.« »Und Sie denken, das waren ...« »Ja. Chef, das können nur die Venusianer gewesen sein. Das trägt ihre Handschrift.« »In diesem Fall werden wir Vergeltung üben. Wieviel Gefechtsraketen haben wir noch im Gürtel des Orion?« »Vier, Chef.« »Das wird nicht reichen. Wir müssen Hilfstruppen anfor...« »Willst du noch ein wenig Suppe?« »Nein, danke«, sagte Nicolas, der wie gebannt auf den Bildschirm starrte. »Jetzt schau mal auf deinen Teller, sonst wird der Fernseher ausgeschaltet!« »Och, Mama! Bitte .« »Hast du immer noch nicht die Nase voll von diesen kleinen grünen Männchen und diesen Planeten, die Namen haben wie Waschmittelmarken?« fragte Jonathan. »Ich finde das spannend. Ich bin sicher, eines Tages begegnen wir außerirdischen Wesen.« »Na ja ... Das ist doch ein alter Hut!« »Die haben eine Sonde zu dem Stern geschickt, der der Erde am nächsten ist. Die heißt Marco Polo, die Sonde, und bald werden wir wissen, wer unsere Nachbarn sind.« »Das wird genauso in die Hose gehen wie mit all den anderen Sonden, die man losgeschickt hat, um den Weltraum zu verschmutzen. Das ist zu weit, glaub’s mir.« »Vielleicht, aber woher willst du wissen, daß die Außerirdischen nicht uns besuchen? Man hat längst nicht alle Rätsel um die Ufos geklärt.« »Und wenn schon ... Was hätten wir davon, wenn wir anderen intelligenten Wesen begegneten? Eines Tages würden wir unweigerlich mit ihnen im Krieg liegen, und findest du nicht auch, daß wir schon genug Probleme unter uns Erdbewohnern haben?« »Das wäre exotisch. Vielleicht hätten wir dann neue Gegenden, in die man in Urlaub fahren kann.« »Wir hätten vor allem neue Sorgen.« Er faßte Nicolas am Kinn. »Wenn du groß bist, mein Junge, wirst du auch so denken wie ich: Das einzig wirklich interessante Wesen, das einzige Wesen, dessen Intelligenz sich wirklich von unserer unterscheidet, das ist ... die Frau!« Lucie protestierte der Form halber, dann stimmte sie in Jonathans Lachen ein. Nicolas verzog das Gesicht. Einen seltsamen Humor hatten die, diese Erwachsenen ... Seine Hand machte sich auf die Suche nach dem beruhigenden Fell des Hundes. Unter dem Tisch war nichts. »Wo ist denn Ouarzazate?« Er war nicht im Eßzimmer. »Ouarzi! Ouarzi!« Nicolas pfiff durch die Finger. Gewöhnlich wirkte das sofort: als Antwort ein Bellen, dann ein Tapsen. Er pfiff erneut. Keine Antwort. Er stand auf und schaute in den zahlreichen Zimmern der Wohnung nach. Seine Eltern folgten ihm. Kein Hund zu sehen. Die Wohnungstür war abgeschlossen. Und aus eigener Kraft hatte er sich nicht davonstehlen können, noch wissen Hunde nicht, wie man mit einem Schlüssel umgeht. Unwillkürlich gingen sie alle in die Küche, genauer gesagt: zu der Kellertür. Der Spalt war immer noch nicht abgedichtet. Und für ein Tier von Ouarzazates Größe war er gerade breit genug. »Er ist da drin, ich bin sicher, er ist da drin!« wimmerte Nicolas. »Wir müssen ihn rausholen.« Wie zur Antwort drang ein abgehacktes Kläffen aus dem Keller nach oben. Es schien von weit her zu kommen. Sie gingen auf die verbotene Tür zu. Jonathan griff ein: »Papa hat dir gesagt, wir gehen nicht in den Keller!« »Aber Schatz«, sagte Lucie. »wir müssen ihn doch holen. Vielleicht haben ihn die Ratten angefallen. Du hast gesagt, da unten seien Ratten ...« Sein Gesicht wurde hart. »Pech für den Hund. Wir kaufen morgen einen anderen.« Der Junge war entsetzt. »Aber Papa, ich will keinen anderen. Ouarzazate ist mein Freund, du kannst ihn doch nicht einfach so sterben lassen.« »Was ist denn in dich gefahren?« fragte Lucie. »Laß mich gehen, wenn du Angst hast!« »Hast du Angst. Papa, bist du feige?« Jonathan beherrschte sich mühsam, er murmelte ein »Schon gut, ich guck nach« und holte eine Taschenlampe. Er leuchtete durch den Spalt. Es war schwarz dahinter, absolut schwarz, ein Schwarz, das alles verschluckte. Er schauderte. Am liebsten wäre er davongerannt. Aber seine Frau und sein Sohn drängten ihn zu diesem Abgrund. Herbe Bilder schossen ihm durch den Kopf. Seine Angst vor der Dunkelheit gewann die Oberhand. Nicolas brach in ein Schluchzen aus. »Er ist tot! Er ist ganz bestimmt tot! Und du bist schuld!« »Vielleicht ist er nur verletzt«, beschwichtigte Lucie, »wir müssen schnell nachsehen.« Jonathan dachte an Edmonds Botschaft. Der Ton war kategorisch. Nur, was sollte er tun? Eines Tages würde sowieso einer von ihnen schwach werden und hinuntersteigen. Er mußte den Stier bei den Hörnern packen. Jetzt oder nie. Er fuhr sich mit der Hand über seine schweißnasse Stirn. Nein, so würde das nicht ablaufen. Endlich hatte er die Gelegenheit, seine Ängste zu überwinden, sich einen Ruck zu geben, sich der Gefahr zu stellen. Würde ihn die Dunkelheit verschlingen? Um so besser. Er war bereit, den Dingen auf den Grund zu gehen. Er hatte ohnehin nichts mehr zu verlieren. »Ich gehe!« Er holte sein Werkzeug und knackte das Schloß. »Ganz gleich, was passiert, rührt euch nicht fort. Versucht auf keinen Fall, nachzukommen oder die Polizei zu rufen. Wartet auf mich!« »Du redest so sonderbar. Das ist doch nur ein Keller, wie es in jedem Haus einen gibt.« »Da bin ich mir nicht so sicher ...« Angestrahlt von dem orangefarbenen Oval einer untergehenden Sonne läuft das Männchen Nr. 327, einziger Überlebender der ersten Jagdexpedition des Frühjahrs, allein weiter. Unerträglich allein. Seit einer Weile schon waten seine Beine durch Pfützen. Schlamm und schimmelige Blätter. Der Wind hat all seine Lippen ausgetrocknet. Staub hat seinen Körper in einen bernsteinfarbenen Mantel gehüllt. Es spürt seine Muskeln nicht mehr. Einige seiner Krallen sind abgebrochen. Aber am Ende der olfaktorischen Bahn, über die es zieht, erkennt es allmählich sein Ziel. Unter den Anhöhen, welche die belokanischen Städte bilden, ist eine, die mit jedem seiner Schritte größer wird, die riesige Pyramide von Bel-o-kan, die Mutterstadt, der duftende Leuchtturm, der es in seinen Bann schlägt und anzieht. Endlich kommt Nr. 327 am Fuße dieses imposanten Ameisenhügels an, hebt den Kopf. Seine Stadt ist noch größer geworden. Man hat mit der Konstruktion einer neuen Schutzschicht begonnen. Der Gipfel des Berges aus Zweigen kitzelt den Mond. Das junge Männchen läuft einen Augenblick suchend umher, dann findet es dicht über dem Boden einen noch offenen Eingang und zwängt sich hinein. Es war höchste Zeit. Sämtliche Arbeiterinnen und Soldatinnen, die draußen gearbeitet hatten, sind bereits zurück. Die Wärterinnen wollten schon die Ausgänge verstopfen, um die Wärme im Innern zu bewahren. Kaum hat es die Schwelle überschritten, machen sich die Maurerinnen an die Arbeit, und das Loch hinter ihm ist im Nu verschlossen. Fast wie eine Tür, die zuschlägt. Von der barbarischen und kalten Außenwelt ist nichts mehr zu sehen. Das Männchen Nr. 327 ist wieder in den Schoß der Zivilisation zurückgekehrt. Es kann wieder mit der beruhigenden Menge verschmelzen. Es ist nicht mehr allein, es ist zahlreich. Schildwachen kommen auf das Männchen zu. Sie haben es unter seinem Staubfilm nicht erkannt. Schnell stößt es seine Identifizierungsdüfte aus, die Posten sind beruhigt. Eine Arbeiterin bemerkt seine Müdigkeitsgerüche. Sie schlägt ihm eine Trophallaxie vor, diese rituelle Nahrungsübermittlung aus ihrem Körper. Jede Ameise besitzt in ihrem Hinterleib eine Art Tasche, in Wirklichkeit ein zweiter Magen, in dem die Nahrung nicht verdaut wird. Der Sozialkropf. Dort kann sie Vorräte anlegen, die unbegrenzt frisch und einwandfrei bleiben und die sie jederzeit in ihren »normalen« Magen zurückbefördern kann. Oder sie würgt sie wieder hoch, um sie einer Artgenossin anzubieten. Die Gesten sind stets die gleichen. Die Spenderin spricht das Objekt ihres Trophallaxiewunsches an, indem sie gegen dessen Kopf klopft. Wenn jenes einverstanden ist, senkt es die Antennen. Reckt es sie ganz nach oben, bedeutet das Ablehnung, es hat keinen Hunger. Das Männchen Nr. 327 zögert nicht. Seine Energiereserven sind so sehr erschöpft, daß es kurz davor steht, in Katalepsie zu fallen. Sie pressen ihre Münder aufeinander. Die Nahrung steigt hoch. Die Spenderin befördert zunächst Speichel, dann Honigtau und einen Getreidebrei in seinen Mund. Das schmeckt gut und ist sehr stärkend. Die Gabe geht zu Ende. Sogleich löst sich Nr. 327. Ihm fällt alles wieder ein. Die Toten. Der Hinterhalt. Keine Sekunde zu verlieren. Er hebt seine Antennen und versprüht die Information in kleinen Tröpfchen in die Runde. Alarm. Es ist Krieg. Die Zwerginnen haben unsere erste Expedition vernichtet. Sie haben eine neue Waffe von verheerender Wirkung. Klarmachen zum Kampf. Der Krieg ist ausgebrochen. Die Schildwache weicht zurück. Diese Alarmierungsdüfte reizen ihr Hirn. Schon umringt eine Schar von Ameisen das Männchen Nr. 327. Was ist los? Was geht vor? Er sagt, der Krieg sei ausgebrochen. Hat er Beweise? Von überall strömen Ameisen herbei. Er spricht von einer neuen Waffe und einer dezimierten Expedition. Das ist schwerwiegend. Hat er Beweise? Nr. 327 befindet sich jetzt inmitten eines ganzen Klumpens von Ameisen. Alarm, Alarm, der Krieg ist ausgebrochen, klarmachen zum Kampf! Hat er Beweise? Diese Frage wird von allen gestellt. Nein, er hat keine Beweise. Er war dermaßen entsetzt gewesen, daß er nicht daran gedacht hatte, welche mitzubringen. Antennen rühren sich. Zweifelnde Kopfbewegungen. Wo ist das passiert? Westlich von La-chola-kan, zwischen dem neuen Jagdgebiet, das unsere Kundschafterinnen entdeckt haben, und unseren Städten. Eine Gegend, durch die die Zwerginnen häufig streifen. Das ist unmöglich, unsere Spioninnen sind zurück. Sie berichten ausdrücklich: Die Zwerginnen sind noch nicht aufgewacht! Eine anonyme Antenne hat diesen Pheromonensatz von sich gegeben. Die Menge zerstreut sich. Ihr, ihr glaubt man. Ihm glaubt man nicht. Obwohl einiges davon wahr klingt, ist sein Bericht zu unwahrscheinlich. Die Frühjahrskriege beginnen niemals so früh. Die Zwerginnen wären verrückt, jetzt anzugreifen, wo sie nicht einmal alle aufgewacht sind. Jeder macht sich wieder an seine Arbeit, ohne sich über die Botschaft des Männchens Nr. 327 Gedanken zu machen. Der einzige Überlebende der ersten Jagdexpedition ist wie vor den Kopf geschlagen. Diese Toten, meine Güte, die hat er doch nicht erfunden! Irgendwann werden sie merken, daß Mitglieder innerhalb der Kaste fehlen. Seine Antennen sinken schlaff auf seine Stirn zurück. Das Männchen hat das erniedrigende Gefühl, daß seine Existenz überflüssig ist. Als lebe es nicht mehr für die anderen, sondern nur noch für sich selbst. Bei dieser Vorstellung erschaudert er vor Entsetzen. Stürmt los, läuft fieberhaft umher, macht die Arbeiterinnen auf sich aufmerksam und nimmt sie zu Zeugen. Doch man zögert sogar, stehenzubleiben, als er die heilige Formel aufsagt: Als Kundschafter war ich Bein Am Ort war ich Auge Wieder zurück, bin ich nervlicher Stimulus. Niemand schert sich darum. Man hört hin, ohne ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Dann geht man weiter, ohne sich verrückt zu machen. Soll er doch aufhören zu stimulieren! Jonathan war jetzt schon vier Stunden in dem Keller. Seine Frau und sein Sohn schwitzten Blut und Wasser. »Mama, sollen wir die Polizei rufen?« »Nein, noch nicht.« Sie ging auf die Kellertür zu. »Ist Papa tot? Sag schon. Mama, ist Papa genauso gestorben wie Ouarzi?« »Aber nein, aber nein, mein Schatz, was erzählst du denn für einen Unsinn!« Lucie verzehrte sich vor Angst. Sie beugte sich vor, um den Spalt zu untersuchen. Ihr war, als könnte sie im Licht der starken Halogenlampe, die sie gekauft hatte, ein Stück weiter etwas erkennen ... Eine Wendeltreppe. Sie setzte sich auf den Boden. Nicolas gesellte sich zu ihr. Sie umarmte ihn. »Er kommt schon zurück, wir müssen nur Geduld haben. Er hat gesagt, wir sollen warten, also warten wir.« »Und wenn er gar nicht mehr kommt?« Nr. 327 ist müde. Er hat den Eindruck, als kämpfe er im Wasser. Man bewegt sich, aber man kommt nicht voran. Er beschließt, sich an Belo-kiu-kiuni persönlich zu wenden. Mit ihren vierzehn Wintern (die geschlechtslosen Ameisen, die den Großteil der Bevölkerung bilden, leben höchstens drei Jahre) verfügt die Königin über eine unvergleichliche Erfahrung. Sie allein kann ihm helfen, die Botschaft unter das Volk zu bringen. Das junge Männchen nimmt die Hauptstraße, die ins Zentrum der Stadt führt. Einige Tausend von Eiern beladene Arbeiterinnen trotten durch diesen breiten Gang. Sie tragen ihre Last vom vierzigsten Untergeschoß in die Krippen des Solariums, die im fünfunddreißigsten Stock oberhalb der Erde angesiedelt sind. Das ist eine breite Flut von weißen, auf den Fußspitzen getragenen Schalen, die von oben bis unten und von rechts nach links reicht. Er muß rückwärts gehen. Nicht einfach. Nr. 327 rempelt einige Ammen an, die ihn sogleich einen Wandalen schimpfen. Er wird selbst gestoßen, getreten, zurückgeschoben, zerkratzt. Zum Glück ist der Gang nicht völlig verstopft. Es gelingt ihm, sich einen Weg durch die wimmelnde Masse zu bahnen. Danach zweigt er in die kleinen Tunnel ab, eine Strecke, die zwar länger, aber wenig mühselig ist. Er trottet rasch voran. Er wechselt von den Hauptverkehrsadern in die Arteriolen über, von den Arteriolen in die Venen und von den Venen in die kleinsten Äderchen. So legt er Kilometer um Kilometer zurück, überquert Brücken, Brückenbögen, leere und überfüllte Plätze. Dank seiner drei Infrarot-Ozellen orientiert er sich mühelos in der Dunkelheit. Je mehr er sich der Verbotenen Stadt nähert, um so stärker wird der süßliche Geruch der Königin, und die Anzahl der Wachen nimmt zu. Sie stammen aus allen möglichen Unterkasten der Kriegerinnen. Kriegerinnen unterschiedlichster Größe, mit allen möglichen Waffen: kleine mit langen, geschliffenen Mandibeln, kräftige mit stahlharten Brustpanzern, gedrungene mit kurzen Antennen, Artilleristinnen, deren Hinterleiber vor Gift fast platzen. Das Männchen Nr. 327 verfügt über einen gültigen »Paß«, sprich die richtigen Düfte, und passiert ohne Schwierigkeiten die Kontrollposten. Die Soldatinnen sind gelassen. Man spürt, daß die großen Territorialkriege noch nicht begonnen haben. Inzwischen schon ganz nah an seinem Ziel, weist sich Nr. 327 bei den Pförtnerinnen aus, dann biegt er in den letzten Gang ein, der zum königlichen Gemach führt. Auf der Schwelle bleibt er stehen, überwältigt von der Schönheit dieses einzigartigen Ortes. Das ist ein großer, kreisrunder Saal, der nach den architektonischen und geometrischen Regeln gebaut worden ist, die die Königinnen ihren Töchtern von Antenne zu Antenne übermitteln. Das Hauptgewölbe ist zwölf Kopf hoch bei einem Durchmesser von sechsunddreißig Kopf (der Kopf ist das Längenmaß der Förderation; ein Kopf entspricht drei Millimetern nach der gängigen menschlichen Bezeichnung). Pilaster aus seltenem Zement stützen diesen Insektentempel, der mit der konkaven Form seines Bodens so konstruiert ist, daß die von den einzelnen Wesen freigesetzten Geruchsmoleküle so lange wie möglich abprallen, ohne in die Wände einzudringen. Das Ganze ist ein bemerkenswertes olfaktorisches Amphitheater. In der Mitte ruht eine schwere Dame. Sie liegt auf dem Bauch und streckt von Zeit zu Zeit ein Bein nach einer gelben Blume aus. Manchmal schnappt die Blume unfreundlich zu. Aber das Bein ist schon wieder fort. Diese Dame ist Belo-kiu-kiuni. Belo-kiu-kiuni, die letzte rote Ameisenkönigin der Hauptstadt. Belo-kiu-kiuni, die bereits während des großen Krieges mit den Bienen regierte, während die Eroberung der Termitenhügel im Süden, während der Befriedung der Spinnenterritorien, während des schrecklichen Zermürbungskrieges, der ihnen von den Eichenwespen auf gezwungen wurde. Und seit dem letzten Jahr koordiniert sie die Bemühungen der Städte, dem Druck der Zwergenameisen an der Nordgrenze zu widerstehen. Belo-kiu-kiuni, die sämtliche Rekorde an Langlebigkeit schlägt. Belo-kiu-kiuni, seine Mutter. Dieses lebende Denkmal liegt da, ganz nah vor ihm, wie früher. Nur daß sie jetzt von rund zwanzig jungen Dienerinnen angefeuchtet und gestreichelt wird, während sie sich einst von seinen kleinen, noch ungeschickten Beinen hat pflegen lassen. Die junge fleischfressende Pflanze klappert mit den Kiefern, und die Königin stößt eine schwach duftende Klage aus. Niemand weiß, woher ihre Leidenschaft für die pflanzlichen Raubtiere kommt. Nr. 327 tritt näher. Aus der Nähe betrachtet, ist die Königin nicht besonders schön. Ihr länglicher Schnabel ist mit zwei großen, hervortretenden Augen versehen, die in alle Richtungen auf einmal zu schauen scheinen. Ihre Infrarot-Ozellen liegen eng beieinander mitten auf der Stirn. Ihre Antennen hingegen sitzen übertrieben weit auseinander. Sie sind sehr lang, sehr leicht und vibrieren in kurzen Stößen, die vermutlich bestens kontrolliert sind. Seit einigen Tagen ist Belo-kiu-kiuni aus dem großen Schlaf erwacht, und seitdem hat sie nicht aufgehört. Eier zu legen. Ihr Hinterleib, zehnmal größer als üblich, wird regelmäßig von Zuckungen erschüttert. Im gleichen Augenblick legt sie acht magere, hellgraue, wie Perlmutt schimmernde Eier, die neuste Generation von Belokanerinnen. Die kreisrunde und klebrige Zukunft entweicht ihren Gedärmen, um durch das Zimmer zu kullern und sogleich von den Ammen aufgelesen zu werden. Das junge Männchen erkennt den Geruch dieser Eier. Das sind unfruchtbare Soldatinnen und Männchen. Es ist noch kalt, und die Drüse, die die »Mädchen« erzeugt, ist noch nicht aktiv. Sobald es das Wetter zuläßt, wird die Königin für jede Kaste legen, ganz nach den Bedürfnissen der Stadt. Arbeiterinnen werden ihr sagen, daß »Getreidebrecherinnen und Artilleristin-nen fehlen«, und sie wird wunschgemäß liefern. Es kommt auch vor, daß Belo-kiu-kiuni ihre Loge verläßt und den Geruch der Gänge aufnimmt. Ihre Antennen sind fein genug, um das geringste Defizit in dieser oder jener Kaste zu registrieren. Dann füllt sie umgehend das Personal auf. Die Königin legt noch fünf kümmerliche Einheiten, dann wendet sie sich ihrem Besucher zu. Sie berührt ihn und beleckt ihn. Der Kontakt mit dem königlichen Speichel ist stets ein außergewöhnlicher Moment. Dieser Speichel ist nicht nur allgemein desinfizierend, sondern auch ein wahres Wundermittel, das alle Wunden heilt, ausgenommen die im Innern des Kopfes. Wenn Belo-kiu-kiuni auch nicht imstande ist, ein einziges ihrer unzähligen Kleinen persönlich wiederzuerkennen, zeigt sie doch durch diesen Speichel, daß sie ihre Düfte identifiziert hat. Es ist ihr Kind. Der Antennendialog kann beginnen. Willkommen im Schoß des Volkes. Du hast mich verlassen, aber du kannst nicht umhin, zurückzukehren. Der rituelle Satz einer Königin zu ihren Kindern. Kaum hat sie ihn übermittelt, nimmt sie mit einer Gelassenheit, die dem jungen Männchen imponiert, die Pheromone der elf Segmente auf ... Sie hat den Grund seines Kommens bereits erfaßt ... Die erste Expedition in den Westen ist vollständig aufgerieben worden. In der Umgebung schwebte der Geruch der Zwergameisen. Wahrscheinlich haben sie eine Geheimwaffe entdeckt. Als Kundschafter war er Bein Am Ort war er Auge Wieder zurück, war er nervlicher Stimulus. Sicher. Nur, das Problem ist, daß es ihm nicht gelingt, die Bevölkerung zu stimulieren. Seine Düfte überzeugen niemanden. Er ist der Ansicht, daß allein sie, Belo-kiu-kiuni, weiß, wie man die Botschaft durchsetzt und Alarm schlägt. Die Königin empfängt seine Pheromone mit gesteigerter Aufmerksamkeit. Sie erfaßt die geringsten, noch so flüchtigen Moleküle an seinen Gelenken und Beinen. Ja, da sind Spuren von Tod und von Geheimnis. Das könnte der Krieg sein ... Das könnte aber auch sehr gut etwas ganz anderes sein. Sie erklärt ihm, daß sie, wie dem auch sei, keinerlei politische Macht habe. In der Stadt werden sämtliche Beschlüsse durch ständige Absprache gefaßt, und zwar durch die Bildung von Arbeitsgruppen, die auf frei gewählte Projekte ausgerichtet sind. Wenn das Männchen nicht in der Lage ist, eines dieser nervlichen Zentren zu erzeugen, kurz: eine Gruppe aufzustellen, wird ihm ihre Erfahrung nichts nutzen. Sie kann ihm nicht einmal helfen. Das Männchen Nr. 327 bleibt hartnäckig. Endlich hat er eine Gesprächspartnerin, die bereit scheint, bis zum Ende zuzuhören. Also stößt er mit aller Macht seine verführerischsten Moleküle aus. Seiner Meinung nach sollte diese Katastrophe die vorrangige Sorge sein. Man muß unverzüglich Spioninnen losschicken, um zu erfahren, was für eine Waffe das ist. Belo-kiu-kiuni antwortet, daß das Volk vor lauter »vorrangigen Sorgen« fast zusammenbricht. Nicht nur, daß längst nicht alle Ameisen erweckt worden sind, auch das Dach der Stadt ist noch eine einzige Baustelle. Und solange die letzte Schicht von Zweigen nicht angebracht ist, wäre es tollkühn, in den Krieg zu ziehen. Schließlich darf man auch nicht vergessen, das Fest der Wiedergeburt vorzubereiten. All das erfordert ungeheure Energien. Selbst die Spioninnen sind überlastet. Das ist auch der Grund, weshalb seine Botschaft nicht gehört wurde. Pause. Man hört nur die Lippen der Arbeiterinnen, die den Panzer der Königin lecken, die ihrerseits wieder begonnen hat, mit ihrer fleischfressenden Pflanze zu spielen. Sie windet sich, bis ihr Hinterleib unter ihrem Thorax liegt und ihre Vorderbeine baumeln. Sie zieht ihr Bein rasch zurück, wenn sich die pflanzlichen Kiefer schließen, dann nimmt sie Nr. 327 zum Zeugen, welch gewaltige Waffe das sein könnte. Man könnte eine Mauer aus fleischfressenden Pflanzen errichten, um die gesamte Nordwestgrenze zu schützen. Das einzige Problem ist, daß diese kleinen Monster keinen Unterschied machen zwischen den Bewohnern der Stadt und den Fremden ... Nr. 327 kommt auf das Thema zurück, von dem er besessen ist. Belo-kiu-kiuni fragt, wieviel Tote es bei dem »Unfall« gegeben habe. Achtundzwanzig. Alle aus der Unterkaste der Kundschafterinnen? Kein Zweifel, Nr. 327 war das einzige Männchen der Expedition. Daraufhin konzentriert sie sich und legt nacheinander achtundzwanzig Perlen. Achtundzwanzig Ameisen sind gestorben, diese achtundzwanzig Eier werden sie ersetzen. eines tages, unweigerlich: Eines Tages werden sich unweigerlich Finger auf diese Seiten legen. Augen werden diese Worte aufsaugen, Gehirne ihren Sinn interpretieren. Ich will nicht, daß dieser Augenblick zu früh kommt. Die Folgen könnten fürchterlich sein. Und zu dieser Stunde, da ich diese Sätze schreibe, kämpfe ich noch, um mein Geheimnis zu wahren. Dennoch wird man eines Tages erfahren müssen, was geschehen ist. Selbst die am tiefsten vergrabenen Geheimnisse steigen zu guter Letzt zur Oberfläche des Sees auf. Die Zeit ist ihr ärgster Feind. Wer immer Sie sind, als erstes grüße ich Sie. Zu dem Zeitpunkt, da Sie dies lesen, bin ich wahrscheinlich schon seit zehn oder vielleicht sogar hundert Jahren tot. Zumindest hoffe ich es. Manchmal bedauere ich, daß ich zu diesem Wissen vorgedrungen bin. Aber ich bin ein menschliches Wesen, und selbst wenn meine Verbundenheit mit meinen Artgenossen zur Zeit auf ihrem tiefsten Punkt angelangt ist, weiß ich doch um die Pflichten, die mir der schlichte Umstand auferlegt, daß ich eines Tages unter Euch, Menschen dieses Universums, geboren wurde. Ich muß meine Geschichte weitergeben. All diese Geschichten ähneln sich, wenn man sie ein wenig genauer betrachtet. Am Anfang gibt es ein Subjekt »im Werden«, das schläft. Es erlebt eine Krise. Diese Krise zwingt es, zu reagieren. Seinem Verhalten gemäß wird es sterben oder sich entwickeln. Die erste Geschichte, die ich Ihnen erzählen werde, ist die Geschichte unseres Universums. Weil wir darin leben. Und weil sämtliche Dinge, ob groß oder klein, den gleichen Gesetzen folgen und die gleichen Bezeichnungen wechselseitiger Abhängigkeit kennen. Wenn Sie zum Beispiel diese Seite umblättern, reiben Sie an einer Stelle Ihren Zeigefinger am Zellstoff des Papiers. Bei dieser Berührung entsteht eine verschwindend geringe Erwärmung. Dennoch ist diese Erwärmung durchaus real. Im Bereich des unendlich Kleinen bewirkt sie dadurch den Sprung eines Elektrons, das sein Atom verläßt und gegen ein anderes Teilchen prallt. Aber tatsächlich ist dieses Teilchen, in Relation zu sich selbst, sehr groß. So daß der Aufprall des Elektrons für dieses Teilchen eine regelrechte Erschütterung bedeutet. Vorher war es träge, leer, kalt. Wegen dieses Umblätterns gerät es in eine Krise. Gigantische Funken stieben an ihm empor. Durch diese schlichte Bewegung haben Sie etwas ausgelöst, dessen Folgen Sie niemals vollständig kennen werden. Vielleicht entstehen dabei ganze Welten mit Wesen darauf, und diese Wesen werden die Metallurgie, die provenzalische Küche und die Raumfahrt entdecken. Vielleicht erweisen sie sich sogar als intelligenter als wir. Und sie hätten niemals existiert, wenn Sie nicht dieses Buch in die Hand genommen hätten und Ihr Finger nicht eine Erwärmung an ebendieser Stelle des Papiers bewirkt hätte. Ebenso findet unser Universum sicher seinen Platz auf der Ecke einer Buchseite, einer Schuhsohle oder dem Schaum einer Bierflasche einer anderen riesigen Zivilisation. Unsere Generation wird wahrscheinlich niemals die Möglichkeit haben, dies zu bestätigen. Aber so viel wissen wir: daß unser Universum oder zumindest das Teilchen, das unser Universum enthält, vor langer Zeit leer, kalt, schwarz, träge war. Bis irgend jemand oder irgend etwas die Krise ausgelöst hat. Man hat eine Seite umgeblättert, ist auf einen Stein getreten, hat den Schaum einer Bierflasche abgestrichen. Fest steht, daß es einen Schock gegeben hat. Unser Teilchen ist aufgewacht. Bei uns, das weiß man, war das eine gewaltige Explosion. Man hat sie Urknall genannt. Jede Sekunde vielleicht entsteht im unendlich Großen, im unendlich Kleinen, im unendlich Weiten ein neues Universum, so wie unser Universum vor über fünfzehn Milliarden Jahren entstanden ist. Wir kennen diese anderen Universell nicht. Aber von unserem wissen wir, daß alles mit der Explosion des »kleinsten« und »einfachsten« Atoms angefangen hat: des Wasserstoffs. Stellen Sie sich also diesen weiten, stillen Raum vor, der plötzlich von einer gewaltigen Explosion geweckt wird. Weshalb hat man da oben die Seite umgeblättert? Weshalb hat man den Schaum des Bieres weggewischt? Unwichtig. Sicher ist, der Wasserstoff brennt, explodiert, knallt. Ein ungeheures Licht zerschrammt den makellosen Raum. Krise. Krise. Die reglosen Dinge geraten in Bewegung. Die kalten Dinge werden warm. Die stillen Dinge dröhnen. In der Feuersglut, die am Anfang steht, verwandelt sich der Wasserstoff in Helium, ein nur unwesentlich komplexeres Atom. Aber schon aus dieser Umwandlung kann man die erste große Spielregel unseres Universums ableiten: immer komplexer. Diese Regel erscheint evident. Aber nichts beweist, daß das in unseren Nachbaruniversen nicht anders ist. Woanders heißt es vielleicht »IMMER wärmer« oder »immer härter« oder »immer komischer«. Auch bei uns werden die Dinge wärmer oder härter oder komischer, aber das ist nicht das Gesetz, das am Anfang steht. Das sind nur Begleiterscheinungen. Unser Grundgesetz, um das sich alle anderen Gesetze ranken, lautet: »IMMER KOMPLExER«. Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens Nr. 327 irrt durch die südlichen Gänge der Stadt. Er ist nicht beruhigt. Er kommt nicht von dem berühmten Satz los: Als Kundschafter war er Bein, Am Ort war er Auge, Wieder zurück, ist er nervlicher Stimulus. Warum klappt das nicht? Wo ist der Fehler? Sein Körper brodelt ob dieser unbeachteten Botschaft. Das Männchen ist der Meinung, daß das Volk verletzt wurde und es nicht einmal bemerkt hat. Nun, der Schmerzstimulus ist niemand anders als er selbst, Nr. 327. Es ist also seine Aufgabe, die Stadt zu einer Reaktion zu bewegen. Ah, wie ist das doch schwer, eine Leidensbotschaft zu tragen, sie in sich zu behalten, ohne eine Antenne zu finden, die sie empfangen möchte. Er würde sich so gern von diesem Gewicht befreien, dieses furchtbare Wissen mit anderen teilen. Eine Wärmebotschafterin begegnet ihm. Sie spürt seine Niedergeschlagenheit, glaubt, er sei schlecht aufgewacht, und bietet ihm ihre Sonnenkalorien an. Das verleiht ihm wieder ein wenig Kraft, die er sofort zu dem Versuch nutzt, sie zu überzeugen. Alarm, eine Expedition ist in einem Hinterhalt, den die Zwerginnen gelegt haben, vernichtet worden, Alarm! Aber das klingt nicht mehr so überzeugend wie am Anfang. Die Wärmebotschafterin geht weiter, als ob nichts wäre. Nr. 327 gibt nicht auf. Er läuft durch die Gänge und verbreitet seine Alarmbotschaft. Zuweilen bleiben einige Kriegerinnen stehen, hören ihm zu, treten sogar mit ihm in einen Dialog, aber seine Geschichte von der verheerenden Waffe ist zu unglaubwürdig. Es bildet sich keine Gruppe, die fähig wäre, eine militärische Mission zu übernehmen. Bedrückt geht Nr. 327 weiter. Plötzlich, er läuft gerade durch einen verlassenen Tunnel im vierten Untergeschoß, registriert er hinter sich ein Geräusch. Jemand folgt ihm. Nr. 327 dreht sich um. Er inspiziert mit seinen Infrarot-Ozellen den Gang. Rote und schwarze Punkte. Niemand da. Seltsam. Er muß sich geirrt haben. Aber wieder ertönt hinter ihm das Geräusch von Schritten. Skritsch ... tssss, skritsch ... tssss. Das muß jemand sein, der auf zweien seiner sechs Beine hinkt. Und der näher kommt. Um sich Gewißheit zu verschaffen, biegt er bei jeder Kreuzung ab, dann bleibt er einen Moment stehen. Das Geräusch verstummt. Kaum geht das Männchen weiter, ist es wieder da: Skritsch . tss, skritsch, tss, skritsch . tss. Kein Zweifel: jemand folgt ihm. Jemand, der sich versteckt, wenn es sich umdreht. Ein sonderbares Verhalten, völlig abwegig. Warum sollte eine Zelle des Volkes einer anderen nachschleichen, ohne sich auszuweisen? Hier gehört jeder zu jedem und hat vor niemandem etwas zu verbergen. Die seltsame »Gegenwart« dauert indes an. Immer auf Distanz, immer versteckt. Skritsch ... tss, skritsch ... tss. Wie soll er reagieren? Als er noch eine Larve war, haben ihn die Ammen gelehrt, sich der Gefahr stets zu stellen. Er bleibt stehen und tut so, als würde er sich säubern. Die Gegenwart ist nicht mehr weit. Er spürt sie beinahe. Während er seinen Säuberungsvorgang mimt, bewegt er seine Antennen. Da, er nimmt die Geruchsmoleküle des Verfolgers wahr. Eine kleine Kriegerin, ein Jahr alt. Sie verströmt einen eigenartigen Duft, der die üblichen Identifizierungsmerkmale überlagert. Nicht leicht zu definieren. Ein Felsengeruch, könnte man meinen. Die Kriegerin versteckt sich nicht mehr. Skritsch ... tssss ... Jetzt sieht er sie in Infrarot. Sie hat tatsächlich zwei Beine verloren. Ihr Felsengeruch wird stärker. Nr. 327 sendet. Wer da? Keine Antwort. Warum folgen Sie mir? Keine Antwort. Er will den Vorfall vergessen und macht sich wieder auf den Weg, aber bald registriert er eine zweite Gegenwart, die ihm entgegenkommt. Eine schwere Kriegerin diesmal. Der Gang ist schmal, er wird nicht vorbeischlüpfen können. Umkehren? Das hieße, sich mit der Hinkenden anzulegen, die überdies hastig näher kommt. Nr. 327 ist eingekeilt. Jetzt ist es deutlich zu spüren: das sind zwei Kriegerinnen. Und sie haben den gleichen Felsengeruch. Die Große öffnet ihre langen Scheren. Eine Falle! Es ist undenkbar, daß eine Ameise der Stadt eine andere töten will. Sollte das eine Störung des Immunsystems sein? Haben sie seine Identifizierungsdüfte nicht erkannt? Halten sie ihn für einen Fremdkörper? Das ist doch verrückt, das ist, als wollte sein Magen seinen Darm umbringen ... Nr. 327 erhöht die Stärke seines Ausstoßes: Ich bin wie ihr eine Zelle des Volkes. Wir gehören zum gleichen Organismus. Das sind junge Soldatinnen, sie müssen sich irren. Aber seine Äußerungen beschwichtigen die beiden keineswegs. Die kleine Hinkende springt ihm auf den Rücken und packt ihn an den Flügeln, während die Große seinen Kopf zwischen ihre Mandibeln nimmt. Und so schleifen sie das Männchen in Richtung Deponie. Nr. 327 wehrt sich. Mit seinem Segment für sexuelle Dialoge stößt er alle möglichen Emotionen aus, die die Geschlechtslosen nicht einmal kennen. Sein Unverständnis weicht der Panik. Um nicht von diesen »abstrakten« Gedanken besudelt zu werden, schabt ihm die Hinkende, die immer noch auf seinem Rücken sitzt, mit ihren Mandibeln die Antennen ab. Dadurch beraubt sie ihn aller Pheromone und vor allem seines »Passes«. Dort, wo sie es hinbringen, wird er ihm ohnehin nicht mehr viel nutzen ... Das unheimliche Trio schleppt sich durch die einsamsten Gänge. Die kleine Hinkende setzt systematisch ihre Säuberungsaktion fort. Anscheinend will sie keinerlei Information auf diesem Kopf lassen. Das Männchen wehrt sich nicht mehr. Resigniert bereitet es sich darauf vor, zu entschlummern, indem es seinen Herzschlag verlangsamt. »Brüder, warum all diese Gewalt, warum all dieser Haß? Warum? Eins sind wir, eins, wir sind allesamt Kinder der Erde und Gottes. Lassen wir von unserem eitlen Streiten ab. Das 22. Jahrhundert wird ein Jahrhundert im Geiste sein oder gar nichts. Verzichten wir auf unsere alten Zwistigkeiten, die sich auf Stolz und Falschheit gründen. Der Individualismus, das ist der wahre Feind! Ein Bruder leidet Not, und ihr laßt ihn Hungers sterben, ihr seid nicht mehr würdig, der großen Gemeinschaft der Welt anzugehören. Ein in die Irre gegangenes Geschöpf bittet euch um Hilfe und Beistand, und ihr schlagt ihm die Tür zu. Ihr gehört nicht zu den Unsern. Ich kenne euch, ihr mit eurem ruhigen, in Seide gepacktem Gewissen! Ihr denkt nur an eure persönliche Bequemlichkeit, ihr wünscht nur den individuellen Ruhm. Glück ja, aber nur das eure und das eurer Nächsten. Ich sage, ich kenne euch. Dich, dich, und dich! Hört auf, vor euren Bildschirmen zu lächeln, ich rede von ernsten Dingen zu euch. Ich rede von der Zukunft der Menschheit. Das kann so nicht andauern. Dieser Lebensweg hat keinen Sinn. Wir verschwenden, zerstören alles. Die Wälder werden gerodet, um wegwerfbare Taschentücher herzustellen. Alles ist wegwerfbar geworden: Geschirr, Federhalter. Kleidung, Fotoapparat. Fahrzeuge. Und ohne daß ihr es merkt, werdet auch ihr wegwerfbar. Verzichtet auf diese oberflächliche Lebensform. Verzichtet noch heute darauf, bevor man euch morgen dazu zwingt. Kommt zu uns, reiht euch in unser Heer von Getreuen ein. Wir sind alle Soldaten Gottes, Bruder.« Das Bild einer Ansagerin. »Diese Sendung des Evangelismus wurde für Sie übertragen im Auftrag von Pater Mac Donald von der Neuen Adventistenkirche des 45. Tages und von der Firma für Gefriergut >Sweetmilk<. Sie wurde über Satellit in alle Welt ausgestrahlt. Und jetzt, vor unserer Serie >Außerirdisch und stolz, es zu sein<, noch ein wenig Werbung.« Im Gegensatz zu Nicolas vermochte Lucie vor dem Fernseher nicht völlig abzuschalten. Acht Stunden war Jonathan nun da unten, und immer noch keine Nachricht! Ihre Hand langte nach dem Telefon. Er hatte gesagt, sie solle nichts unternehmen, aber wenn er nun tot war oder unter Schutt begraben? Sie hatte noch nicht den Mut, in den Keller zu gehen. Sie hob den Hörer ab und wählte den Polizeinotruf. »Hallo, ist dort die Polizei?« »Ich hatte dich gebeten, nicht anzurufen«, sagte eine schwache und tonlose Stimme, die aus der Küche kam. »Papa! Papa!« Sie legte auf, während es aus dem Hörer noch klang: »Hallo, reden Sie, geben Sie uns Ihre Adresse.« Klack. »Aber ja, klar doch, ich bin’s, ihr brauchtet euch keine Sorgen zu machen. Ich hab doch gesagt, ihr sollt ruhig auf mich warten.« Sich keine Sorgen machen? Der hatte Nerven! Jonathan hatte auf dem Arm, was von Ouarzazate übriggeblieben war, ein blutiger Klumpen Fleisch. Und auch er selbst war verändert, wie verklärt. Er war keineswegs bedrückt, er erschien sogar eher heiter. Nein, nicht heiter, wie sollte man es nennen? Man hatte den Eindruck, er sei gealtert oder er sei krank. Seine Augen blickten fiebrig, seine Haut war aschfahl, er zitterte und wirkte abgehetzt. Nicolas brach in Tränen aus, als er den zerhackten Körper seines Hundes sah. Man hätte meinen können, der arme Pudel sei mit Rasiermessern zerfetzt worden. Sie legten ihn auf eine ausgebreitete Zeitung. Nicolas weinte bitterlich über den Verlust seines Freundes. Es war vorbei. Nie wieder würde er ihn gegen die Wand springen sehen, wenn man »Katze« sagte. Nie wieder würde er sehen, wie er mit einem fröhlichen Hüpfer eine Türklinke herunterdrückte. Nie wieder würde er ihn vor den großen homosexuellen Schäferhunden retten müssen. Es gab keinen Ouarzazate mehr. »Morgen bringen wir ihn zum Hundefriedhof von Père-Lachaise«, meinte Jonathan resignierend. »Wir kaufen ihm dieses Grab zu viertausendfünfhundert Francs, an dem man ein Foto von ihm anbringen kann.« »Ja! Au ja!« sagte Nicolas schluchzend. »Das ist das mindeste, was er verdient.« »Und danach gehen wir zum Tierschutzverein, und da suchst du dir einen anderen Hund aus. Was hältst du von einem kleinen Malteser? Die sind auch sehr niedlich.« Lucie konnte es immer noch nicht fassen. Sie wußte nicht, was sie als erstes fragen sollte. Warum war er so lange fortgeblieben? Was war mit dem Hund geschehen? Und was mit ihm selbst? Wollte er etwas essen? Hatte er nicht bedacht, wieviel Angst sie um ihn haben mußten? »Was gibt es denn da unten?« fragte sie schließlich mit matter Stimme. »Nichts, nichts.« »Guck dir doch an, in welchem Zustand du zurückgekommen bist! Und der Hund ... Der sieht aus, als wäre er durch den Fleischwolf gedreht worden. Was ist mit ihm passiert?« Jonathan wischte sich mit seiner schmutzigen Hand über die Stirn. »Der Notar hatte recht, es wimmelt von Ratten da unten. Ouarzazate ist von ihnen in Stücke gerissen worden.« »Und du?« Er grinste. »Ich bin ein großes Tier, vor mir haben sie Angst.« »Das ist doch verrückt! Was hast du denn acht Stunden lang da unten getrieben? Was ist in diesem verdammten Keller?« brauste sie auf. »Ich weiß es nicht genau. Ich bin nicht ganz hinuntergestiegen.« »Du bist nicht ganz hinuntergestiegen?« »Nein, das ist sehr, sehr tief.« »In acht Stunden hast du es nicht bis zum Ende ... zum Ende unseres Kellers geschafft?« »Nein. Ich bin nicht mehr weitergegangen, als ich den Hund gefunden habe. Da war überall Blut. Weißt du, Ouarzazate hat sich verzweifelt gewehrt. Es ist unglaublich, daß ein so kleiner Hund so lange standhalten kann.« »Und wie weit bist du gekommen? Bis zur Hälfte?« »Woher soll ich das wissen? Jedenfalls konnte ich nicht mehr weiter. Ich hatte auch Angst. Du weißt, ich kann Dunkelheit und Gewalt nicht ausstehen. Jeder an meiner Stelle wäre umgekehrt. Man kann nicht ewig ins Ungewisse gehen. Außerdem habe ich an dich, an euch denken müssen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie das da ist ... Das ist so finster. Das ist der Tod.« Bei seinen letzten Worten erfaßte ein Zucken seinen linken Mundwinkel. So hatte sie ihn noch nicht erlebt. Sie erkannte, daß sie ihn nicht noch mehr bedrängen durfte. Sie legte ihre Arme um seine Taille und küßte seine kalten Lippen. »Beruhige dich, es ist vorbei. Wir werden diese Tür zumauern, und dann reden wir nicht mehr davon.« Er wich zurück. »Nein. Es ist nicht vorbei. Ich habe mich da unten von diesem Blut abschrecken lassen. Jeder wäre zurückgeschreckt. Gewalt erschreckt einen immer, selbst wenn sie sich gegen Tiere richtet. Aber ich kann jetzt nicht aufgeben, vielleicht ganz kurz vor dem Ziel .« »Du willst doch nicht etwa dahin zurück?« »Doch. Edmond ist dahin gegangen, also werde ich es auch.« »Edmond? Dein Onkel Edmond?« »Er hat irgend etwas da unten gemacht, und ich will wissen, was.« Lucie unterdrückte ein Stöhnen. »Bitte, um meinet- und um Nicolas’ willen, geh nicht mehr da runter.« »Ich habe keine Wahl.« Wieder hatte er dieses Zucken am Mundwinkel. »Ich habe immer alles nur halb gemacht. Immer bin ich stehengeblieben, wenn mir mein Verstand sagte, daß Gefahr droht. Sieh doch, was aus mir geworden ist. Ein Mann, der zwar der Gefahr aus dem Weg gegangen ist, der es aber auch zu nichts gebracht hat. Nie bin ich den Dingen auf den Grund gegangen, weil ich ständig auf halbem Weg stehengeblieben bin. Ich hätte weiter als Schlosser arbeiten sollen, und wenn ich überfallen worden wäre, Pech für den Boß. Das wäre eine Art Feuertaufe gewesen, ich hätte die Gewalt erlebt und gelernt, mit ihr umzugehen. Statt dessen bin ich wie ein Baby ohne jede Erfahrung, weil ich Schwierigkeiten immer ausgewichen bin.« »Du spinnst.« »Nein, ich spinne nicht. Man kann nicht ewig in Watte leben. Dieser Keller ist die Gelegenheit, den Schritt zu wagen. Wenn ich es nicht tue, werde ich nie mehr in den Spiegel schauen können, ich müßte mir immer sagen, daß ich ein Feigling bin. Außerdem, erinnere dich, du selbst hast mich gedrängt, da runterzugehen.« Er zog sein blutbeflecktes Hemd aus. »Na schön, dann komme ich aber mit!« erklärte sie und packte die Taschenlampe. »Nein, du bleibst hier!« Er hatte ihre Handgelenke gepackt. »Laß mich los, was ist in dich gefahren?« »Entschuldige, aber du mußt einsehen, dieser Keller geht nur mich etwas an. Das ist mein Sprung ins kalte Wasser, das ist mein Weg. Und niemand darf sich da einmischen, verstehst du?« Hinter ihnen weinte Nicolas immer noch über Ouarzazates Überresten. Jonathan ließ Lucies Handgelenke los und ging zu seinem Sohn. »Na komm, mein Junge, ist ja gut!« »Ich hab’s satt. Ouarzi ist tot, und ihr habt nichts Besseres zu tun, als euch zu streiten.« Jonathan versuchte ihn abzulenken. Er nahm eine Schachtel Streichhölzer, entnahm ihr sechs Stück und legte sie auf den Tisch. »Da, guck mal, ich zeig dir ein Rätsel. Man kann mit diesen sechs Streichhölzern vier gleichseitige Dreiecke bilden. Denk gut nach, dann bekommst du’s raus.« Der Junge trocknete überrascht seine Tränen und zog die Nase hoch. Dann fing er an, die Streichhölzer auf unterschiedliche Weise anzuordnen. »Ich geb dir noch einen Tip. Um die Lösung zu finden, mußt du anders denken. Wenn man überlegt, wie man es gewohnt ist, kommt man nicht darauf.« Nicolas schaffte es, drei Dreiecke zu bilden. Keine vier. Er blickte auf, blinzelte mit seinen großen blauen Augen. »Hast du die Lösung gefunden, Papa?« »Nein, noch nicht, aber ich spüre, daß ich nicht mehr lange brauche.« Jonathan hatte seinen Sohn vorläufig beruhigt, nicht jedoch seine Frau. Lucie warf ihm wütende Blicke zu. Und am Abend hatten sie einen ziemlich heftigen Streit. Es nutzte nichts, Jonathan wollte nichts über diesen Keller und sein Geheimnis sagen. Am nächsten Morgen stand er früh auf und brachte den ganzen Vormittag damit zu, eine Eisentür mit einem schweren Vorhängeschloß am Eingang des Kellers anzubringen. Den einzigen Schlüssel hängte er um seinen Hals. Die Rettung kommt unerwartet in Form eines Erdbebens. Als erstes erhalten die Wände einen schweren seitlichen Schlag. Sand beginnt, einem Wasserfall gleich, von den Decken zu rieseln. Ein zweiter Stoß folgt fast unmittelbar danach, dann ein dritter, ein vierter . Die dumpfen Erschütterungen folgen immer schneller aufeinander, kommen dem ungewöhnlichen Trio immer näher. Das ist ein gewaltiges Grollen, das nicht aufhört und alles erzittern läßt. Von diesem Vibrieren wiederbelebt, beschleunigt das junge Männchen wieder seinen Herzschlag, kneift zweimal mit seinen Mandibeln zu, was seine Peiniger überrascht, und verdrückt sich in einem beschädigten Tunnel. Es bewegt seine noch unentwickelten Flügel, um seine Flucht zu beschleunigen und seine Sprünge über den Schutt zu verlängern. Jeder neue, noch stärkere Stoß zwingt es, stehenzubleiben und, auf den Boden gepreßt, das Ende der Sandlawinen abzuwarten. Ganze Wandstücke prasseln mitten in die Gänge, Brücken, Brückenbögen, Krypten stürzen ein, reißen Millionen benommener Gestalten mit. Die Gerüche höchsten Alarms steigen auf und verbreiten sich. In der ersten Phase erfassen diese stimulierenden Pheromone die oberen Gänge. Wer diesen Duft wahrnimmt, beginnt augenblicklich zu zittern, kreuz und quer zu laufen und noch aufreizendere Pheromone zu produzieren. So daß die Aufregung nach dem Schneeballprinzip wächst. Die Alarmwolke verbreitet sich wie Nebel, kriecht in sämtliche Äderchen des »schmerzenden« Bereichs, dringt in die Hauptschlagadern. Das fremde Element, das den Körper des Volkes infiltriert hat, bewirkt, was das junge Männchen vergeblich auszulösen versucht hat:  Schmerztoxine. Schlagartig beginnt das von den Massen von Belokanerinnen gebildete schwarze Blut schneller zu pulsieren. Die in der Nähe der geschädigten Zone liegenden Eier werden fortgeschafft. Die Soldatinnen schließen sich zu Kampfeinheiten zusammen. Als sich das Männchen Nr. 327 auf einer breiten, vom Sand und der Menge halb verstopften Kreuzung befindet, nehmen die Stöße ein Ende. Es folgt eine beängstigende Stille. Jeder bleibt reglos stehen, fürchtet den weiteren Gang der Ereignisse. Die aufgerichteten Antennen zucken. Warten. Plötzlich wird das quälende Pochen von vorhin durch eine Art dumpfes Fauchen abgelöst. Alle spüren, daß die Füllung zwischen den Zweigen durchlöchert worden ist. Irgend etwas Riesiges ist in die Kuppel eingedrungen, zermalmt die Wände, zwängt sich durch die Zweige. Ein feiner rosiger Fangarm taucht mitten über der Kreuzung auf. Er peitscht durch die Luft und fährt auf der Suche nach möglichst vielen Bewohnern der Stadt irrsinnig schnell über den Boden. Als sich die Soldatinnen darauf stürzen, um mit ihren Mandibeln zuzubeißen, bildet sich bloß eine große schwarze Traube an seinem Ende. Reich garniert zieht sich die Zunge nach oben zurück und verschwindet, um die Menge in einen Schlund zu entleeren, dann erscheint sie wieder, immer länger, immer gieriger, tödlicher. Die zweite Alarmstufe wird ausgelöst. Die Arbeiterinnen trommeln mit dem Ende ihres Hinterleibs auf den Boden, um die Soldatinnen in den unteren Etagen, die von dem Drama noch nichts gemerkt haben, herbeizurufen. Die ganze Stadt hallt unter diesem simplen Getrommel wider. Man meint, der ganze Organismus hechele: »Tac, tac, tac!« »Tok . tok . tok . «, antwortet der Fremdling, der wieder begonnen hat, die Kuppel zu behämmern, um tiefer einzudringen. Alles drängt sich gegen die Wände, um dieser hellroten, entfesselten Schlange zu entkommen, die die Gänge peitscht. Wenn ihr ein Happen zu kümmerlich erscheint, dreht sich die Zunge noch mehr. Ein Schnabel folgt ihr, dann ein gigantischer Kopf. Ein Grünspecht! Der Schrecken des Frühjahrs ... Diese gefräßigen, insektenverzehrenden Vögel schlagen bis zu sechzig Zentimeter lange Löcher in das Dach der Ameisenstädte und stopfen sich mit ihrer Bevölkerung voll. Es ist höchste Zeit, die dritte Alarmstufe einzuläuten. Einige Arbeiterinnen, dem Wahnsinn nahe, beginnen in ihrer Übererregung, die nicht in Aktivität umgesetzt werden kann, den Tanz der Angst zu tanzen. Die Bewegungen sind sehr ruckartig: Sprünge, Mandibelknallen, Spucken ... Andere, vollkommen hysterisch, laufen durch die Gänge und beißen alles, was ihnen in den Weg kommt. Perverser Effekt der Angst: die Stadt, die das angreifende Objekt nicht vernichten kann, zerstört sich schließlich selbst. Die Katastrophe findet im fünfzehnten westlichen Obergeschoß statt, aber jetzt, da der Alarm seine drei Stufen durchlaufen hat, ist die ganze Stadt zum Krieg gerüstet. Die Arbeiterinnen suchen die untersten Etagen auf, um die Eier in Sicherheit zu bringen. Sie begegnen Kolonnen von Soldatinnen, die mit aufgerichteten Mandibeln nach oben hasten. Die Ameisenstadt hat über zahllose Generationen hinweg gelernt, sich gegen derlei Unannehmlichkeiten zur Wehr zu setzen. Inmitten des ganzen Aufruhrs formieren sich die Ameisen aus der Kaste der Artilleristinnen zu Kommandos und teilen die zu treffenden Maßnahmen unter sich auf. Sie umzingeln den Grünspecht an seiner verwundbarsten Stelle: dem Hals. Dann drehen sie sich um und begeben sich in nächster Nähe in Schußposition. Ihre Hinterleiber sind auf das gefiederte Tier gerichtet. Feuer! Mit aller Kraft ihrer Schließmuskeln stoßen sie Strahlen hyperkonzentrierter Säure aus. Der Vogel hat plötzlich das unangenehme Gefühl, daß sich ein Schal aus Nadeln um seinen Hals legt. Er kämpft, will sich befreien. Aber ist zu weit vorgedrungen. Seine Flügel sind in der Erde und den Zweigen der Kuppel gefangen. Erneut streckt er seine Zunge vor, um möglichst viele dieser winzigen Gegner zu töten. Eine neue Welle von Soldatinnen rückt vor. Feuer! Der Grünspecht zuckt zusammen. Diesmal sind das keine Nadeln, sondern Dornen. Er klopft nervös mit dem Schnabel. Feuer! Die Säure spritzt abermals. Der Vogel zittert, langsam fällt ihm das Atmen schwer, Feuer! Die Säure verätzt seine Nerven, und er ist vollkommen eingeklemmt. Das Feuer wird eingestellt. Von überall laufen Soldatinnen mit langen Mandibeln herbei, beißen in die Wunden, die die Ameisensäure gefressen hat. Zudem begibt sich eine Einheit nach draußen, auf das, was von der Kuppel noch übrig ist, ortet den Schwanz des Tieres und macht sich daran, die meistriechende Stelle anzubohren: den Anus. Diese Pioniere haben schon bald den Eingang verbreitert und zwängen sich in die Gedärme des Vogels. Der ersten Einheit ist es gelungen, die Haut der Kehle aufplatzen zu lassen. Als das erste Blut fließt, endet der Ausstoß von Alarmpheromonen. Der Kampf wird als gewonnen betrachtet. Der Schlund steht weit offen, sie stürzen sich mit Bataillonsstärke hinein. Im Kehlkopf sind noch lebende Ameisen. Sie werden gerettet. Dann dringen Soldatinnen in das Innere des Kopfes ein, suchen die Öffnungen, die es ihnen ermöglichen, das Hirn zu erreichen. Eine Arbeiterin findet einen Durchgang: die Halsschlagader. Allerdings muß man die richtigen erwischen: die, die vom Herzen zum Hirn führt, nicht umgekehrt. Da ist sie! Vier Soldatinnen schlitzen die Röhre auf und stürzen sich in die rote Flüssigkeit. Sie lassen sich von der vom Herzen kommenden Strömung tragen und landen rasch mitten in den Großhirnhemisphären. Dort sind sie am rechten Platz, um die graue Masse zu zerhacken. Der Grünspecht, wahnsinnig vor Schmerz, flattert hin und her, aber er hat keine Chance, diese Eindringlinge abzuschütteln, die ihn von innen in Stücke schneiden. Ein Zug von Ameisen pfercht sich in die Lunge und läßt dort Säure ab. Der Vogel hustet fürchterlich. Andere, ein ganzes Armeekorps, dringen in die Speiseröhre ein, um sich im Verdauungsapparat mit ihren Kolleginnen, die durch den Anus gekommen sind, zusammenzuschließen. Letztere steigen schnell den großen Grimmdarm hinauf. Auf ihrem Weg verletzen sie sämtliche Organe, die in Reichweite ihrer Mandibeln sind. Sie wühlen sich durch das lebende Fleisch, wie sie sich sonst durch die Erde wühlen, machen sich über Magen, Leber, Herz, Milz und Bauchspeicheldrüse her, als wären es sturmreife Festungen. Mitunter spritzt ungewollt Blut oder Lymphe heraus und ertränkt einige Ameisen. Das passiert jedoch nur den Ungeschickten, die nicht wissen, wo und wie man sauber zubeißt. Die anderen rücken systematisch inmitten des roten und schwarzen Fleisches vor. Sie springen geschickt zurück, bevor sie von einem Zucken erdrückt werden. Sie meiden die Bereiche, die mit Galle oder Magensäure gefüllt sind. Schließlich vereinigen sich die beiden Armeen in Höhe der Nieren. Der Vogel ist immer noch nicht tot. Sein von den Mandibeln zerkratztes Herz pumpt weiter Blut in das kaputte Röhrensystem. Ketten von Arbeiterinnen haben sich gebildet, die, ohne den letzten Atemzug ihres Opfers abzuwarten, noch zuckende Fleischstückchen von Bein zu Bein reichen. Nichts widersteht den kleinen Chirurginnen. Als sie beginnen, das Hirn abzubauen, wird der Vogel von einem Krampf geschüttelt, dem letzten. Die ganze Stadt läuft herbei, um das Ungetüm zu zerlegen. Die Gänge wimmeln von Ameisen, die alle etwas transportieren, diese eine Feder, jene ein wenig Flaum. Die Maurerinnen sind bereits am Werk. Sie werden die Kuppel und den beschädigten Tunnel wieder aufbauen. Von weitem könnte man glauben, der Ameisenhaufen verspeise einen Vogel. Erst verschlingt er ihn, dann wird er verdaut, und sein Fleisch und sein Fett, seine Federn und seine Haut werden an die Stellen verteilt, wo sie der Stadt am meisten nützen. GENESIS: Wie ist die Ameisenzivilisation entstanden? Um es zu VERSTEHEN, MUß MAN EIN PAAR HUNDERT MILLIONEN JAHRE ZURÜCKGEHEN, ZU JENER ZEIT, DA SICH DAS LEBEN AUF DER ERDE ENTWICKELT HAT. Unter den ersten Ankömmlingen waren die Insekten. Offenbar waren sie an ihre Welt schlecht angepaßt. Sie waren klein, schwach, die idealen Opfer für alle möglichen Räuber. Um sich am Leben zu halten, wählten einige, so die Heuschrecken, den Weg der Reproduktion. Sie legten dermaßen viele Eier, daß es zwangsläufig Überlebende geben mußte. Andere, wie die Wespen oder die Bienen, wählten das Gift, rüsteten sich im Laufe der Generationen mit Giftstacheln aus, die Furcht einflößten. Wieder andere, wie beispielsweise die Schaben, wurden ungenießbar. Eine spezielle Drüse verlieh ihnen einen solch üblen Geschmack, daß niemand sie verzehren mochte. Noch andere, wie die Gottesanbeterinnen oder die Nachtfalter, wählten die Tarnung. Gräsern oder Baumrinden ähnlich, fleuchten sie unerkannt durch die unwirtliche Natur. Viele Insekten jedoch hatten in diesem Dschungel der ersten Tage keinen »Trick« gefunden, um zu überleben und schienen zum Aussterben verdammt. Unter diesen Benachteiligten waren zunächst die Termiten. Diese »Holzfresser«, vor ungefähr einhundertfünfzig Millionen Jahren auf der Erdkruste erschienen, hatten keine Aussicht auf ein langes Leben. Zu viele Räuber, nicht genügend natürliche Trümpfe, um ihnen zu widerstehen ... Was sollte aus den Termiten werden? Viele starben, und die Überlebenden steckten arg in der Klemme, bis sie rechtzeitig auf eine originelle Lösung verfielen: »Nicht mehr allein kämpfen, sondern solidarische Gruppen bilden. Es wird unseren Feinden schwerer fallen, zwanzig Termiten auf einmal anzugreifen, die eine gemeinsame Front bilden, als eine einzige, die zu fliehen versucht.« Und so erschloß die Termite einen der Königspfade der Komplexität: den sozialen Bund. Diese Insekten begannen in kleinen Zellen, zunächst auf Familienebene, zu leben: alle um die eierlegende Mutter geschart. Dann wurden die Familien zu Dörfern, die Dörfer nahmen an Größe zu und verwandelten sich in Städte. Schon bald erhoben sich ihre Städte aus Sand und Zement auf der ganzen Erdoberfläche. Die Termiten waren die ersten intelligenten Herren unseres Planeten, und seine erste Gesellschaft. Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens Nr. 327 sieht die beiden Killerinnen mit dem Felsengeruch nicht mehr. Er hat sie tatsächlich abgeschüttelt. Mit ein wenig Glück sind sie sogar tot unter dem Geröll begraben. Nicht träumen. Und selbst wenn, wäre er längst nicht aus dem Schneider. Er hat keinen »Paß« mehr. Sobald er irgendeiner Kriegerin begegnet, ist er geliefert. Er würde von seinen Schwestern automatisch als Fremdkörper betrachtet. Man würde ihm nicht einmal die Möglichkeit geben, sich zu rechtfertigen. Säurestrahl oder Mandibelbiß ohne Vorwarnung, so die Behandlung, die für diejenigen vorgesehen ist, die nicht die Duftmerkmale der Föderation ausstoßen können. Das ist verrückt. Wie konnte es nur dazu kommen? Das ist alles die Schuld dieser beiden verfluchten Kriegerinnen mit den Felsenausdünstungen. Was war in sie gefahren? Sie müssen wahnsinnig sein. Auch wenn es nur selten der Fall ist, es kommt vor, daß Fehler im genetischen Programm psychologische Störungen dieser Art nach sich ziehen, ein Phänomen, das ähnlich gelagert ist wie das dieser hysterischen Ameisen, die während der dritten Alarmstufe über alle Welt herfallen. Die beiden wirkten jedoch weder hysterisch noch degeneriert. Sie schienen sogar sehr genau zu wissen, was sie taten. Als ob ... Man kennt nur einen einzigen Fall, in dem Zellen bewußt andere Zellen des gleichen Organismus zerstören. Die Ammen nennen das Krebs. Als ob ... irgendwelche Zellen von Krebs befallen wären. Dieser Felsengeruch wäre demzufolge der Geruch von Krankheit. Auch da müßte er Alarm schlagen. Nr. 327 hat fortan zwei Rätsel zu lösen:    die Geheimwaffe der Zwergameisen und die Krebszellen von Bel-o-kan. Und er kann mit niemandem reden. Er muß nachdenken. Es könnte gut sein, daß er in sich irgendeine verborgene Ressource hat ... eine Lösung. Er macht sich daran, seine Antennen zu waschen. Anfeuchten (ein merkwürdiges Gefühl, Antennen zu lecken, ohne den charakteristischen Geruch der »Paß«-Pheromone aufzunehmen), abbürsten, glätten an der Ellbogenbürste, abtrocknen. Was tun, verflixt? Zunächst einmal überleben. Nur ein einziges Wesen kann sich seines Infrarotbildes erinnern, ohne auf die Bestätigung der Identifikationsdüfte angewiesen zu sein: Mutter. Allerdings wimmelt es in der Verbotenen Stadt von Soldatinnen. Auch gut. Wie lautet der alte Satz von Belo-kiu-kiuni: Oft ist man im Zentrum der Gefahr am sichersten aufgehoben. »An Edmond Wells erinnert man sich hier nicht gern. Als er gegangen ist, hat ihn niemand aufgehalten.« Der da so redete, war ein alter Mann mit einem liebenswürdigen Gesicht, einer der stellvertretenden Direktoren der »Sweetmilk Corporation«. »Dabei hat er doch, wie es heißt, eine neue Bakterie entdeckt, die einen intensiven Joghurtgeruch verströmt .« »Ja, als Chemiker, das muß man ihm lassen, hatte er geniale Eingebungen. Aber sie kamen nicht regelmäßig, sondern stoßweise.« »Hatten Sie Schwierigkeiten mit ihm?« »Ehrlich gesagt, nein. Sagen wir so: Er hat sich nicht in das Team eingefügt. Er hielt sich abseits. Und auch wenn seine Bakterie Millionen eingebracht hat, ich glaube, geschätzt hat ihn hier niemand.« »Könnten Sie das genauer erklären?« »In einem Team gibt es Chefs. Edmond mochte keine Vorgesetzten, überhaupt ertrug er keinerlei Form von Hierarchie. Für die Geschäftsführer, die, wie er sagte, >nur um des Dirigierens willen dirigieren und nichts produzierenc, hatte er nur Verachtung übrig. Nun, wir sind alle gezwungen, die Stiefel unserer Vorgesetzten zu lecken. Was ist schon dabei? Das System will es so. Er hingegen spielte den Stolzen. Ich glaube, uns, seine Kollegen, ärgerte das noch mehr als die Vorgesetzten selbst.« »Weshalb ist er gegangen?« »Er hat sich mit einem unserer stellvertretenden Direktoren gestritten, und zwar einer Sache wegen, in der er, wie ich zugeben muß, vollkommen recht hatte. Dieser stellvertretende Direktor hatte sein Büro durchsucht, worauf Edmond einen Anfall bekam. Als er merkte, daß alle zu dem anderen hielten, mußte er wohl oder übel gehen.« »Aber Sie sagten doch, er hatte recht ...« »Mitunter bringt es mehr, sich feige auf die Seite von womöglich unsympathischen Leuten zu schlagen, die man kennt, als mutig einen vielleicht sogar sympathischen Unbekannten zu unterstützen. Edmond hatte keine Freunde hier. Er aß nicht mit uns, trank nicht mit uns, er schien stets mit den Gedanken woanders.« »Warum gestehen Sie mir dann Ihre >FeigheitForschungen< sage, dann meine ich damit ein totales Engagement. Niemand anders als er hat das Gesuch zum Verbot der Spielzeugameisenhaufen eingereicht, jener Plastikdosen mit einer Königin und sechshundert Arbeiterinnen, die in den Supermärkten verkauft wurden. Und er hat sich dafür eingesetzt, Ameisen als >Insektizide< zu verwenden. Er wollte, daß systematisch Städte roter Ameisen in den Wäldern eingerichtet werden, um sie von Parasiten zu befreien. Das war gar nicht so dumm. Schon früher hat man Ameisen benutzt, um die Raupen des Prozessionsspinners an den italienischen Kiefern und die Pamphiliide (??) der polnischen Tannen zu bekämpfen, zwei Schädlinge, die ganze Wälder heimsuchen.« »Die Insekten gegeneinander aufzuhetzen, war das seine Idee?« »Mmmh ... Er nannte das >sich in ihre Diplomatie einmischen<. Im letzten Jahrhundert ist mit den chemischen Insektiziden dermaßen viel Unfug angestellt worden. Man darf die Insekten nie frontal angreifen, und erst recht darf man sie nicht unterschätzen und hoffen, sie zu bezwingen, wie man es mit den Säugetieren gemacht hat. Das Insekt hat beispielsweise eine Parade gegen sämtliche chemischen Giftstoffe: den Mithridatismus. Daß man es immer noch nicht geschafft hat, der Heuschreckenplage Herr zu werden, wissen Sie, das liegt daran, daß sie sich an alles gewöhnen, diese Teufelchen. Pumpen Sie sie mit Vertilgungsmittel voll, zu neunundneunzig Prozent krepieren sie, aber ein Prozent überlebt. Und dieses eine Prozent ist nicht nur immunisiert, sondern bringt kleine Heuschrecken zu Welt, die zu hundert Prozent gegen dieses Insektizid >geimpft< sind. So hat man vor zweihundert Jahren den Fehler begangen, ständig die Giftigkeit der Produkte zu erhöhen. So daß sie mehr Menschen als Insekten töteten. Und wir haben hyperresistente Insektenstämme geschaffen, die imstande sind, die giftigsten Stoffe ohne jeden Schaden zu konsumieren.« »Wollen Sie damit sagen, daß es kein wirksames Mittel gibt, die Insekten zu bekämpfen?« »Überzeugen Sie sich selbst. Es gibt immer noch Mücken, Heuschrecken, Rüsselkäfer, Tsetsefliegen - und Ameisen. Sie widerstehen allem. 1945 hat man festgestellt, daß einzig die Ameisen und die Skorpione die nukleare Explosion überlebt haben. Sogar daran haben sie sich gewöhnt!« Nr. 327 hat das Blut einer Zelle des Volkes vergossen. Er hat seinem eigenen Organismus schlimmste Gewalt angetan. Das hinterläßt einen bitteren Beigeschmack. Aber hatte er eine andere Wahl, wo er doch überleben mußte, um als Hormon der Information seinen Auftrag zu erfüllen? Nur weil man versucht hat, es zu töten, hat es selbst getötet. Das ist eine Kettenreaktion. Wie der Krebs. Wenn sich das Volk ihm gegenüber unnormal verhält, ist es gezwungen, ebenso zu handeln. Es muß sich mit diesem Gedanken vertraut machen. Es hat eine Schwesterzelle getötet. Es wird vielleicht weitere töten. »Aber was hat er in Afrika gewollt? Ameisen gibt es doch überall, wie Sie selbst sagen.« »Sicher, aber nicht die gleichen Ameisen ... Ich glaube, nach dem Verlust seiner Frau war ihm alles einerlei; heute frage ich mich sogar, ob er nicht darauf wartete, daß die Ameisen seinen Selbstmord besorgten.« »Wie bitte?« »Sie haben ihn um ein Haar aufgefressen, verdammt noch mal! Die afrikanischen Seidenameisen ... Haben Sie nie den Film Wenn die Marabunta grollt gesehen?« Jonathan schüttelte den Kopf. »Die Marabunta nennt man die Masse von Seidenameisen, oder auch annoma nigricans, die durch das Flachland zieht und auf ihrem Weg alles zerstört.« Prof. Rosenfeld stand auf, als wollte er sich einer unsichtbaren Welle entgegenstemmen. »Zuerst hört man eine Art gewaltiges Rauschen, das sich aus den Schreien und dem Kreischen, dem Flügelschlagen und Stampfen sämtlicher Kleintiere zusammensetzt, die die Flucht ergreifen. In diesem Stadium ist von den Seidenameisen noch nichts zu sehen. Dann tauchen einige Kriegerinnen auf einem Hügel auf. Nach diesen Kundschafterinnen kommen die anderen ganz schnell, in Kolonnen, so weit das Auge reicht. Das ist wie ein Lavastrom, der alles einschmelzt, was er berührt.« Der Professor ging gestikulierend, von seinem Gegenstand hingerissen, auf und ab. »Das ist das giftige Blut Afrikas. Lebende Säure. Ihre Anzahl ist erschreckend. Eine Kolonie von Seidenameisen legt Tag für Tag durchschnittlich fünfhunderttausend Eier. Ganze Eimer könnte man damit füllen ... Und dieser Strom aus schwarzer Schwefelsäure fließt dahin, klettert Böschungen und Bäume hinauf, nichts kann ihn aufhalten. Die Vögel, Eidechsen oder insektenfressenden Säugetiere, die das Pech haben, ihnen zu nahe zu kommen, werden sogleich zerstückelt. Die reinste Apokalypse! Die Seidenameisen haben vor keinem Tier Angst. Einmal habe ich eine zu neugierige Katze gesehen, die sich im Handumdrehen in nichts auflöste. Sie überqueren sogar Flüsse, indem sie Pontonbrücken mit ihren eigenen Kadavern errichten . ! An der Elfenbeinküste, in der Gegend, die an das ökologische Institut von Lamto grenzt, in dem wir arbeiteten, hat die Bevölkerung immer noch kein Mittel gegen ihre Invasion gefunden. Sobald es heißt, daß diese winzigen Attilas ihr Dorf durchqueren werden, raffen die Leute ihr wertvollstes Hab und Gut zusammen und fliehen. Sie stellen Tisch- und Stuhlbeine in Eimer voll Essig und beten zu ihren Göttern. Wenn sie zurückkommen, ist alles blitzblank, als wäre ein Taifun hindurchgefegt. Es gibt nicht mehr das kleinste Bröckchen Nahrung oder irgendeiner organischen Substanz. Auch kein Ungeziefer mehr. Letztlich sind die Seidenameisen das beste Mittel, seine Hütte von Grund auf zu reinigen.« »Und wie haben Sie sie dann studieren können, wenn sie so blutdürstig sind?« »Wir haben gewartet, bis es Mittag war. Die Insekten haben keinen Wärmehaushalt wie wir. Ist es draußen 18°, ist es auch in ihrem Körper 18°, und wenn Hitze herrscht, fängt ihr Blut an zu kochen. Das ist unerträglich für sie. Also graben sich die Seidenameisen bei den ersten heißen Strahlen ein Nest, sozusagen ein Biwak, in dem sie eine mildere Witterung abwarten. Das ist eine Art Miniwinterschlaf, nur daß sie nicht von der Kälte, sondern von der Hitze lahmgelegt werden.« »Und dann?« Jonathan hatte Schwierigkeiten, ein richtiges Zwiegespräch zu führen. Für ihn waren solche Gespräche wie kommunizierende Röhren. Es gibt einen, der Bescheid weiß, die volle Röhre, und einen, der nicht Bescheid weiß, die leere Röhre, in der Regel er selbst. Jener, der nichts weiß, sperrt die Ohren auf und kurbelt von Zeit zu Zeit den Redeschwung seines Gesprächspartners mit einem »Und dann?«, einem »Erzählen Sie mir davon« und einem Kopfnicken an. Wenn es andere Mittel gab, sich zu unterhalten, so kannte er sie nicht. Außerdem kam es ihm vor, wenn er seine Zeitgenossen betrachtete, als hielte ein jeder nur parallele Monologe und benutzte den anderen als kostenlosen Psychiater. Unter diesen Umständen zog er seine eigene Technik vor. Es hatte vielleicht den Anschein, als wüßte er nichts, aber zumindest lernte er so unaufhörlich dazu. Besagt nicht ein chinesisches Sprichwort: Wer eine Frage stellt, ist fünf Minuten dumm, wer keine stellt, ist es sein Leben lang? »Und dann? Wir sind hingegangen, verflixt! Und das war was, glauben Sie mir. Wir hatten vor, diese verfluchte Königin zu finden. Besagtes dickes Tierchen, das fünfhunderttausend Eier am Tag legt. Wir wollten sie nur sehen und fotografieren. Wir haben dicke Kanal arb ei ter stiefel angezogen. Pech für Edmond, er hatte Größe 43, und es war nur noch ein Paar in 40 da. Er ist in Pataugas mitgekommen ... Ich erinnere mich, als wäre das gestern gewesen. Um 12.30 Uhr haben wir die vermutliche Form des Nest-Biwaks auf den Boden gekratzt und haben ringsum einen Graben von einem Meter Tiefe gebuddelt. Um 13.30 Uhr haben wir die äußeren Kammern erreicht. Eine schwarze und knisternde Flüssigkeit kam uns entgegen. Tausende höchst aufgeregte Kriegerinnen knallten mit ihren Mandibeln, die bei dieser Art scharf sind wie Rasierklingen. Sie pflanzten sie in unsere Stiefel, während wir uns mit Schaufel und Hacke weiter in Richtung Königin vorkämpften. Schließlich haben wir unseren Schatz gefunden. Ein Insekt, zehnmal größer als unsere europäischen Königinnen. Wir haben sie von allen Seiten genauestens fotografiert, während sie in ihrer Duftsprache sicher ein ums anderemal God save the Queen rief ... Das Ergebnis ließ nicht lange auf sich warten. Von überall her tauchten Kriegerinnen zusammen und bildeten Klumpen auf unseren Füßen. Einigen gelang es sogar, über ihre Kolleginnen hinweg, die sich in das Gummi verbissen hatten, nach oben zu klettern. Von dort krabbelten sie uns unter die Hose, dann unters Hemd. Wir wurden alle zu Gullivern, aber unsere Liliputaner hatten nur den einen Gedanken, uns in mundgerechte Portionen zu zerlegen! Wir mußten vor allem aufpassen, daß sie nicht in unsere Körperöffnungen eindrangen: Nase, Mund, Anus, Trommelfell. Sonst ist es aus, sie graben sich innen durch!« Jonathan schwieg beeindruckt. Der Professor schien die ganze Szene noch einmal zu erleben, er führte sie mit der Kraft des jungen Mannes vor, der er nicht mehr war. »Wir gaben uns heftige Klapse, um sie zu vertreiben. Sie, sie ließen sich von unserem Atem und unserem Schweiß leiten. Wir hatten allesamt Yogaübungen gemacht, um langsam zu atmen und unsere Angst zu kontrollieren. Wir haben versucht, nicht zu denken, diese Trauben von Kriegerinnen zu vergessen, die uns töten wollten. Und wir haben zwei ganze Filme verknipst, zum Teil mit Blitz. Kaum waren wir damit fertig, sprangen wir alle aus dem Graben. Außer Edmond. Die Ameisen hatten ihn von Kopf bis Fuß eingehüllt, sie schickten sich an, ihn aufzufressen! Wir haben ihn schnell an den Armen herausgezogen, haben ihn entkleidet und mit dem Buschmesser sämtliche Kiefer und Köpfe abgeschabt, die in seinem Körper steckten. Wir waren alle zerschunden, aber nicht so wie er mit seinen Pataugas. Und vor allem: er war in Panik geraten, er hatte Angstpheromone ausgeschieden.« »Schrecklich.« »Nein, prima, daß er mit dem Leben davongekommen ist. Das hat ihm die Ameisen überdies nicht verleidet. Im Gegenteil, er hat sie noch besessener erforscht.« »Und danach?« »Er ist nach Paris zurückgekehrt. Wir haben nichts mehr von ihm gehört. Er hat seinen alten Rosenfeld kein einziges Mal angerufen, der Schuft. Schließlich habe ich in der Zeitung gelesen, daß er tot ist. Frieden seiner Asche.« Er ging zum Fenster, um den Vorhang zur Seite zu schieben und ein altes Thermometer in emailliertem Blech zu betrachten. »Hm, 30° mitten im April, unglaublich. Es wird von Jahr zu Jahr heißer. Wenn das so weitergeht, ist Frankreich in zehn Jahren ein tropisches Land.« »Steht es so schlimm?« »Man merkt es kaum, weil das langsam fortschreitet. Aber wir Insektenforscher stellen es an einigen ganz präzisen Details fest: Plötzlich gibt es im Pariser Becken Insektenarten, die für die Äquatorgegenden typisch sind. Ist Ihnen nie aufgefallen, daß die Schmetterlinge immer schillernder werden?« »In der Tat, gestern habe ich einen auf einem Wagen gesehen, rot und schwarz schimmernd .« »Wahrscheinlich eine Zygäne mit fünf Flecken. Ein Giftschmetterling, der bislang nur in Madagaskar zu finden war. Wenn das so weitergeht . Können Sie sich vorstellen, Seidenameisen in Paris? Bonjour Panique. Das wäre ein lustiger Anblick ...« Nachdem er sich die Antennen gesäubert und einige warme Stücke der »eingetretenen« Pförtnerin verzehrt hat, huscht Nr. 327 durch die hölzernen Gänge. Das königliche Gemach ist in der Nähe, er kann es riechen. Zum Glück ist es 25°, bei dieser Temperatur ist in der Verbotenen Stadt nicht allzuviel Betrieb. Er dürfte sich ohne Schwierigkeiten hindurchschlängeln können. Plötzlich nimmt er den Geruch von zwei Kriegerinnen wahr, die ihm entgegenkommen. Eine große und eine kleine. Und der Kleinen fehlen zwei Beine ... Sie saugen aus der Ferne gegenseitig ihre Düfte auf. Unglaublich, das ist das Männchen! Unglaublich, das sind die beiden! Nr. 327 nimmt schleunigst Reißaus, um sie abzuhängen. Er kreist durch dieses dreidimensionale Labyrinth. Er verläßt die Verbotene Stadt. Die Pförtnerinnen halten ihn nicht auf, da sie nur darauf programmiert sind, zu verhindern, daß jemand von draußen nach drinnen eindringt. Seine Beine treten jetzt auf lockeren Boden. Er nimmt Kurve um Kurve. Aber die beiden anderen sind auch sehr schnell und lassen sich nicht abschütteln. In diesem Moment rempelt das Männchen eine mit einem Grashalm beladene Arbeiterin an und stößt sie um. Das war keine Absicht, aber die Killerinnen mit dem Felsenduft werden in ihrem Schwung gebremst. Er muß diese Atempause ausnutzen. Er versteckt sich schnell in einer Spalte. Die Hinkende nähert sich. Er zwängt sich noch ein wenig weiter in sein Versteck. »Wo ist er hin?« »Er ist wieder unten.« »Wie, wieder unten?« Lucie nahm Augustas Arm und führte sie zu der Kellertür. »Seit gestern abend steckt er da drin.« »Und er ist immer noch nicht zurück?« »Nein, ich weiß nicht, was da unten vorgeht, aber er hat mir strikt verboten, die Polizei anzurufen ... Er ist schon ein paarmal da runtergegangen, und er ist jedesmal zurückgekommen.« Augusta war verblüfft. »Das ist verrückt! Sein Onkel hat es ihm doch ausdrücklich verboten .« »Jetzt nimmt er schon Berge von Werkzeugen mit, Stahlteile, große Betonplatten. Keine Ahnung, was er sich da unten zurechtbastelt .« Lucie schlug die Hände vors Gesicht. Sie war am Ende, sie spürte, daß sie wieder depressiv wurde. »Und wir können ihm nicht nachgehen und ihn suchen?« »Nein. Er hat ein Schloß angebracht und von innen abgeschlossen.« Augusta setzte sich mit betretener Miene. »O wei, o wei ... Wenn ich gewußt hätte, daß Edmonds Geist soviel Scherereien macht ...« Spezialisten:    Die    über Millionen von Jahren vollzogene Arbeitsaufteilung in den großen modernen Ameisen Städten hat genetische Mutationen erzeugt. So kommen bestimmte Ameisen mit riesigen, scherenförmigen Mandibeln zu Welt, um Soldaten zu werden; andere haben stumpfe Mandibeln, um Getreidemehl herzustellen; wieder andere sind mit hochentwickelten Speicheldrüsen ausgestattet, um die jungen Larven zu befeuchten und zu desinfizieren. Das ist ein wenig so, als kämen bei uns die Soldaten mit Fingern in Form von Messern zur Welt, die Bauern mit zangenartigen Füßen, damit sie die Obstbäume hinaufklettern können, die Ammen mit zehn Brüsten. Aber von allen »berufsbedingten« Mutationen ist die der Liebe am eindrucksvollsten. Damit sich die Masse der Arbeiterinnen nicht durch erotische Triebe ablenken läßt, werden sie geschlechtslos geboren. Sämtliche Fortpflanzungsorgane sind auf Spezialisten konzentriert: Männchen und Weibchen, die Prinzen und Prinzessinnen dieser parallelen Zivilisation. Jene kommen einzig der Liebe wegen zur Welt, einzig zu diesem Zweck sind sie ausgerüstet. Sie verfügen über allerlei »Zubehör«, das ihnen bei ihrer Paarung dienlich ist. Das geht von den Flügeln über die zum Senden und Empfangen abstrakter Emotionen fähigen Antennen bis hin zu den Infrarot-Ozellen. Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens Das Versteck ist keine Sackgasse, es führt zu einer kleinen Grotte. Nr. 327 kriecht hinein. Die Kriegerinnen mit dem Felsenduft gehen vorbei, ohne es zu entdecken. Die Grotte ist jedoch nicht unbewohnt. Jemand ist darin, warm und duftend. Jemand, der deutlich, klipp und klar wissen will: »Wer sind Sie?« Dank seiner Infrarot-Ozellen nimmt das Männchen das Tier wahr, das ihn befragt. Ein großes Tier, das schätzungsweise neunzig Sandkörner wiegt. Mindestens. Aber eine Soldatin ist das nicht. Das ist etwas, was es bislang noch nie gerochen, noch nie gesehen hat. Ein Weibchen. Und was für ein Weibchen! Feine Härchen, angenehm mit Sexualhormonen versehen, zieren die anmutig geschwungenen Beine. Die kräftigen Antennen knistern vor starken Düften. Die Augen mit den roten Reflexen sind wie Blaubeeren. Sie hat einen wuchtigen, glatten, stromlinienförmigen Hinterleib. Einen breiten Brustschild, darüber ein wunderbar körniges Mesotonum. Und schließlich lange Flügel, doppelt so groß wie seine. Das Weibchen spreizt seine niedlichen kleinen Mandibeln und . springt dem Männchen an die Kehle, um es zu enthaupten. Nr. 327 kann kaum schlucken, er bekommt keine Luft. In Anbetracht des fehlenden Duftausweises hat das Weibchen nicht vor, seinen Würgegriff zu lockern. Es hat einen Fremdkörper vor sich, den es zu vernichten gilt. Aufgrund seines kleinen Wuchses kann sich Nr. 327 letztlich doch befreien. Er klettert auf die Schultern des Weibchens, preßt seinen Kopf. Das Blatt wendet sich. Jetzt ist es an ihr, sich Sorgen zu machen. Sie wehrt sich. Als ihre Kräfte schwinden, schiebt Nr. 327 seine Antennen vor. Er will sie nicht töten, will nur, daß sie ihm zuhört. Die Sache ist nicht einfach. Er will eine AK mit ihr. Ja, eine absolute Kommunikation. Das Weibchen (Nr. 327 identifiziert ihre Legenummer, sie ist die Nr. 56) spreizt die Antennen, meidet den Kontakt. Dann bäumt sie sich auf, um sich von ihm zu befreien. Aber das Männchen bleibt wie verwurzelt auf ihrem Mesotonum und verstärkt den Druck seiner Mandibeln. Wenn er so weitermacht, wird er ihr den Kopf ausrupfen wie Unkraut. Sie hält still. Nr. 327 auch. Mit ihren Ozellen, die ein Blickfeld von hundertachtzig Grad haben, kann sie den auf ihrem Thorax sitzenden Peiniger deutlich sehen. Er ist ganz klein. Ein Männchen. Sie erinnert sich an die Lektionen der Ammen: Die Männchen sind Halbwesen. Im Gegensatz zu allen anderen Zellen der Stadt sind sie nur mit der Hälfte der Chromosomen ausgestattet. Sie gehen aus unbefruchteten Eiern hervor. Sie sind also große Eizellen oder vielmehr große Samenzellen, die im Freien leben. Sie hat also eine Samenzelle auf dem Rücken, die sie erwürgen möchte. Die Vorstellung amüsiert sie fast. Warum werden bestimmte Eier befruchtet und andere nicht? Wahrscheinlich aufgrund der Temperatur. Unterhalb von 20° kann die Spermathek nicht aktiviert werden, und die Königin legt unbefruchtete Eier. Die Männchen sind also aus der Kälte hervorgegangen. Wie der Tod. Zum erstenmal sieht sie einen aus Fleisch und Chitin. Was hat er hier zu suchen, im Gemach der Jungfrauen? Dieser Bereich ist tabu, den weiblichen Zellen vorbehalten. Wenn irgendeine fremde Zelle in ihr zerbrechliches Heiligtum einbrechen kann, dann steht die Tür sämtlichen Infektionen offen! Das Männchen Nr. 327 versucht erneut, den Antennenkontakt herzustellen. Aber das Weibchen läßt sich nicht überrumpeln. Kaum spreizt er seine Antennen, klappt sie ihre auf den Kopf; kaum streift er das zweite Segment, zieht sie sie unverzüglich zurück. Sie will nicht. Er erhöht den Druck seiner Kiefer, und es gelingt ihm, sein siebtes Antennensegment mit ihrem siebten in Berührung zu bringen. Das Weibchen Nr. 56 hat noch nie mit jemandem auf diese Weise in Verbindung gestanden. Man hat sie gelehrt, jeglichen Kontakt zu meiden, lediglich Düfte auszuscheiden oder aus der Luft zu empfangen. Aber sie weiß, daß diese ätherische Kommunikation trügerisch ist. Belo-kiu-kiuni hat eines Tages ein diesbezügliches Pheromon ausgestoßen: Zwischen zwei Gehirnen gibt es stets allerlei Unverständnis und Lügen, hervorgerufen durch parasitäre Düfte, Luftströme und die schlechte Qualität von Sender und Empfang. Das einzige Mittel, diese Unannehmlichkeiten abzustellen: die absolute Kommunikation. Der direkte Kontakt der Antennen. Der ungestörte Übergang der Informationen von einem Gehirn zum andern. Für sie ist das wie eine Entjungferung ihres Geistes. Jedenfalls etwas Hartes und Unbekanntes. Aber sie hat keine Wahl. Wenn er weiter so zudrückt, wird er sie töten. Sie zieht die Antennen auf ihre Schultern zurück zum Zeichen der Unterwerfung. Die AK kann beginnen. Die beiden Antennenpaare rücken entschlossen zusammen. Leichter elektrischer Schlag. Die Nervosität. Langsam, dann immer schneller, reiben die beiden Insekten ihre gezackten elf Segmente aneinander. Ein Schaum bildet sich, mit konfusen Äußerungen gefüllt und voller Bläschen. Diese fette Substanz schmiert die Antennen ein und ermöglicht es, den Rhythmus des Reibens noch zu beschleunigen. Die beiden Insektenköpfe beben eine Weile unkontrolliert, dann beenden die Antennenstengel ihren Tanz und pressen sich der Länge nach aneinander. Jetzt gibt es nur ein Wesen mit zwei Köpfen, zwei Körpern und einem einzigen Antennenpaar. Das natürliche Wunder vollzieht sich. Die Pheromone wandern über die tausend und abertausend kleinen Poren und Kapillaren der Segmente von einem Körper in den anderen. Das Denken vereint sich. Die Gedanken werden nicht mehr kodiert oder dekodiert. Sie werden in ihrem Zustand ursprünglicher Schlichtheit überreicht: Bilder, Musik, Gefühle, Düfte. Und in dieser ganz und gar unmittelbaren Sprache erzählt das 327. Männchen dem 56. Weibchen sein ganzes Abenteuer: die Vernichtung der Expedition, die Duftspuren der Zwerginnen, sein Treffen mit der Mutter, wie man versucht hat, ihn auszuschalten, den Verlust seines Duftausweises, sein Kampf mit der Pförtnerin, die Killerinnen mit dem Felsengeruch, die immer noch hinter ihm her sind. Kaum ist die AK beendet, zieht sie ihre Antennen zum Zeichen des Wohlwollens zurück. Er steigt von ihrem Rücken. Jetzt ist er ihr ausgeliefert, sie kann ihm mühelos den Garaus machen. Sie kommt näher. Mandibeln weit aufgesperrt, und ... überträgt ihm einige ihrer »Paß«-Pheromone. Damit ist er vorläufig aus dem Schneider. Sie schlägt ihm eine Trophallaxie vor. Er willigt ein. Dann läßt sie ihre Flügel kreisen, um sämtliche Ausdünstungen ihrer Unterhaltung zu verwehen. Endlich. Er hat es geschafft, jemand zu überzeugen. Die Information ist angekommen, ist von einer anderen Zelle verstanden, akzeptiert worden. Er hat seine Arbeitsgruppe gegründet. zeit: Die Wahrnehmung des Ablaufs der Zeit ist bei Menschen und Ameisen völlig verschieden. Für die Menschen ist die Zeit absolut. Die Dauer einer Sekunde ist stets und immer wieder gleich, einerlei, was passiert. Bei den Ameisen hingegen ist die Zeit relativ. Wenn es warm ist, sind die Sekunden sehr kurz. Wenn es kalt ist, dehnen sie sich endlos in die Länge, bis hin zum winterlichen Bewußtseinsverlust. Diese elastische Zeit verleiht ihnen eine Wahrnehmung der Geschwindigkeit der Dinge, die sich von unserer grundlegend unterscheidet. Um eine Bewegung zu definieren, zählt für die Insekten nicht nur der Raum und die Zeit, sie fügen eine dritte Dimension hinzu: die Temperatur. Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens Fortan sind sie zu zweit darum bemüht, möglichst viele Schwestern von der Bedeutung der »Affäre der zerstörerischen Geheimwaffe« zu überzeugen. Es ist noch nicht zu spät. Sie müssen jedoch zwei Punkte in Betracht ziehen. Zum einen wird es ihnen vor dem Fest der Wiedergeburt, das sämtliche Energien in Anspruch nehmen wird, nicht gelingen, genügend Arbeiterinnen auf ihre Seite zu ziehen. Sie brauchen also einen dritten Komplizen. Zum andern müssen sie Vorsorge treffen für den Fall, daß die Kriegerinnen mit dem Felsenduft wieder auftauchen. Sie brauchen ein Versteck. Nr. 56 schlägt ihr Gemach vor. Sie hat dort einen Geheimgang gegraben, der ihr im Notfall die Flucht ermöglicht. Nr. 327 ist nicht sonderlich überrascht. Das ist zur Zeit schwer in Mode, Geheimgänge zu graben. Angefangen hat das vor hundert Jahren, während des Krieges gegen die Leimspuckerinnen. Eine Königin einer föderierten Stadt, Ha-yekte-duni, hatte sich in einen Sicherheitswahn gesteigert. Sie hatte sich eine »gepanzerte« verbotene Stadt bauen lassen. Die Seitenwände waren mit dicken Kieselsteinen bewehrt, die wiederum mit Termitenzement zusammengefügt waren! Das Problem war, daß es nur einen Ausgang gab. So daß sie in ihrem eigenen Palast festsaß, als ihre Stadt von den Einheiten der leimspuckenden Ameisen umzingelt wurde. Die Leimspuckerinnen hatten keine Schwierigkeiten, sie zu fangen und in ihrem ekelhaften, schnell trocknenden Klebstoff zu ersticken. Die Königin Ha-yekte-duni wurde in der Folge gerächt und ihre Stadt befreit, aber ihr schreckliches und dummes Ende prägte auf lange Zeit das Denken der Belokanerinnen. Da die Ameisen das ungeheure Glück haben, mit einem Mandibelhieb die Form ihrer Behausung zu verändern, begann jeder, seinen Geheimgang zu bohren. Eine Ameise, die ihr Loch gräbt, das mag noch angehen, aber wenn sich eine Million daranmacht, ist das eine Katastrophe. Die »offiziellen« Gänge brachen zusammen, so sehr waren sie von den »Privatgängen« unterhöhlt. Man benutzte seinen Geheimgang und landete dabei in einem wahren Labyrinth, das von »denen der anderen« gebildet wurde. Das ging so weit, daß ganze Viertel baufällig wurden und sogar die Zukunft von Bel-o-kan gefährdet war. Belo-kiu-kiuni hatte dem einen Riegel vorgeschoben. Niemand durfte mehr auf eigene Faust graben. Aber wie sollte man sämtliche Gemächer kontrollieren? Nr. 56 schiebt einen kleinen Stein zur Seite, der eine dunkle Öffnung freigibt. Dort ist es. Nr. 327 untersucht das Versteck, findet es perfekt. Bleibt nur noch, einen dritten Komplizen aufzustöbern. Sie gehen hinaus, verschließen das Loch sorgfältig. Das Weibchen Nr. 56 meint: Wir nehmen die erstbeste. Laß mich machen. Schon bald begegnen sie jemandem, einer großen geschlechtslosen Soldatin, die ein Stück eines Schmetterlings mit sich schleift. Das Weibchen redet sie von weitem mit emotionsgeladenen Botschaften an, spricht von einer großen Bedrohung für das Volk. Sie bedient sich der Sprache der Emotionen mit solch virtuoser Feinheit, daß das Männchen baß erstaunt ist. Die Soldatin läßt augenblicklich ihr Wildbret fallen und kommt herbei. Eine große Bedrohung für das Volk? Wo, wer, inwiefern, warum? Das Weibchen schildert ihr kurz die Katastrophe, die die erste Expedition des Frühjahrs ereilt hat. Ihre Art, sich auszudrücken, verströmt köstliche Düfte. Sie hat bereits den Anmut und das Charisma einer Königin. Die Kriegerin ist schnell gewonnen. Wann ziehen wir los? Wieviel Soldatinnen brauchen wir, um die Zwerginnen anzugreifen? Sie stellt sich vor. Sie ist die geschlechtslose Nr. 103 683 aus dem Gelege des vergangenen Sommers. Ein großer leuchtender Schädel, lange Mandibeln, Augen kaum vorhanden, kurze Beine, kurzum, eine mächtige Verbündete. Und eine geborene Enthusiastin. Das Weibchen Nr. 56 muß ihren Feuereifer sogar zügeln. Sie erklärt ihr, daß es unter ihnen, inmitten des Volkes, Spioninnen gibt, womöglich Söldnerinnen, die für die Zwergameisen arbeiten und verhindern sollen, daß die Belokanerinnen das Rätsel der geheimen Waffe lösen. Man erkennt sie an ihrem charakteristischen Felsengeruch. Wir müssen schnell machen. Verlaßt euch auf mich. Sie teilen untereinander die Stadt in Einflußzonen auf. Nr. 327 wird sich bemühen, die Ammen des Solariums zu überzeugen, die im allgemeinen recht naiv sind. Nr. 103 683 wird versuchen. Soldatinnen anzuheuern. Wenn es ihr gelingt, ein Heer aufzustellen, wäre das schon toll. Ich kann auch die Kundschafterinnen befragen, um weitere Informationen über diese Geheimwaffe der Zwerginnen zu erhalten. Nr. 56 wird ihrerseits die Pilzkulturen und die Stallungen aufsuchen, um strategische Unterstützung zu erlangen. Treffpunkt 23°-Zeit an gleicher Stelle, um Bilanz zu ziehen. Diesmal lief im Fernsehen, im Rahmen der Serie »Kulturen der Welt«, ein Bericht über die japanischen Sitten: »Die Japaner, ein Inselvolk, leben seit Jahrtausenden in Autarkie. Die Welt ist für sie zweigeteilt: die Japaner und die anderen, die Fremden mit den unbegreiflichen Bräuchen, die Barbaren, bei ihnen Gai jin genannt. Die Japaner haben seit jeher einen sehr ausgeprägten Nationalsinn. Läßt sich beispielsweise ein Japaner in Europa nieder, wird er automatisch aus der Gruppe ausgeschlossen. Kommt er dann ein Jahr später zurück, sehen ihn seine Eltern nicht mehr als einen der Ihren an. Bei den Gai jin leben heißt ihren Geist annehmen, mit anderen Worten: ein Gai jin werden. Selbst seine Freunde aus der Kindheit werden ihn behandeln wie irgendeinen Touristen.« Auf dem Bildschirm zogen die Bilder verschiedener Tempel und der geheiligten Orte von Shinto vorbei. Die Stimme aus dem Off fuhr fort: »Ihre Vorstellung vom Leben und vom Tod unterscheidet sich von unserer. Hier hat der Tod eines Individuums keine große Bedeutung. Besorgniserregend ist der Verlust einer produktiven Zelle. Um den Tod zu zähmen, lieben es die Japaner, die Kunst des Kampfes zu kultivieren. Der Kendo wird von der Grundschule an gelehrt .« Zwei Kämpfende, gekleidet wie alte Samurai, tauchten auf dem Bildschirm auf. Ihre Oberkörper waren mit schwarzen, beweglichen Platten bedeckt. Auf dem Kopf trugen sie einen ovalen, mit zwei langen Federn in Ohrhöhe geschmückten Helm. Sie stürzten mit einem Kriegsschrei aufeinander zu, begannen mit ihren langen Säbeln zu fechten. Neue Bilder. Ein Mann sitzt auf seinen Fersen und hält mit beiden Händen ein kurzes Schwert gegen seinen Bauch. »Der rituelle Selbstmord, Seppuku, ist ein weiteres Kennzeichen der japanischen Kultur. Es ist für uns sicher schwer zu verstehen, was .« »Fernsehen, immer nur Fernsehen! Da wird man blöd von! Ständig werden einem die gleichen Bilder in den Kopf gepfropft. Die erzählen doch nur irgendwas. Habt ihr nicht langsam die Nase voll?« rief Jonathan, der seit einigen Stunden zurück war. »Laß ihn. Das beruhigt ihn. Seit dem Tod des Hundes ist er nicht ganz auf der Höhe ...«, sagte Lucie mit mechanischer Stimme. Er streichelte seinem Sohn über das Kinn. »Geht’s dir nicht gut, Großer?« »Pst, ich kann nichts hören.« »Hoppla! Wie redet der jetzt mit uns!« »Wir redet er mit dir! Du mußt zugeben, er sieht dich nicht sehr oft. Kein Wunder, daß er dir ein wenig die kalte Schulter zeigt.« »He, Nicolas! Hast du die vier Dreiecke geschafft?« »Nein, das geht mir auf die Nerven. Ich will zuhören.« »Na schön, wenn dir das auf die Nerven geht ...« Jonathan spielte nachdenklich mit den Streichhölzern, die auf dem Tisch liegen. »Schade. Das ist ... lehrreich.« Nicolas hörte nicht hin, sein Verstand war direkt an den Fernseher angeschlossen. Jonathan ging in sein Zimmer. »Was machst du?« fragte Lucie. »Das siehst du doch, ich packe meine Sachen. Ich gehe wieder hinunter.« »Was? O nein!« »Ich habe keine Wahl.« »Jonathan, sag mir endlich, was gibt es da unten, was dich so fasziniert? Immerhin bin ich deine Frau!« Er gab keine Antwort. Seine Augen wichen ihr aus. Und immer wieder dieses unschöne Zucken. Des Streitens müde, seufzte sie: »Hast du die Ratten getötet?« »Meine bloße Gegenwart reicht, um sie auf Distanz zu halten. Wenn nicht, dann komme ich ihnen damit.« Er zückte ein großes Küchenmesser, das er ausgiebig geschärft hatte. Mit der anderen Hand ergriff er seine Taschenlampe und ging zur Kellertür, einen Rucksack mit reichlich Proviant und modernstem Schlosserwerkzeug umgeschnallt. Er sagte lediglich: »Auf Wiedersehen, Nicolas. Auf Wiedersehen, Lucie.« Lucie wußte nicht, was sie tun sollte. Sie packte Jonathans Arm. »So kannst du nicht gehen! Das ist zu einfach. Du mußt mit mir reden!« »Ah, ich bitte dich!« »Wie soll ich’s dir nur sagen? Du bist nicht mehr derselbe, seit du in diesen verdammten Keller gegangen bist. Wir haben kein Geld mehr, und du kaufst für mindestens fünftausend Francs Material und Bücher über Ameisen.« »Ich interessiere mich für die Schlosserei und für Ameisen. Das ist mein gutes Recht.« »Nein, das ist nicht dein Recht. Nicht, wenn du einen Sohn und eine Frau zu ernähren hast. Wenn du das ganze Arbeitslosengeld für Bücher über Ameisen ausgibst, werde ich mich noch .« »Scheiden lassen? Wolltest du das sagen?« Niedergeschlagen ließ sie seinen Arm los. »Nein.« Er faßte sie an den Schultern. Zuckender Mundwinkel. »Du mußt mir vertrauen. Ich darf nicht auf halbem Weg stehenbleiben. Ich bin nicht verrückt.« »Ach nein? Schau dich doch an! Du bist leichenblaß, man könnte meinen, du hast ständig Fieber!« »Mein Körper altert, mein Kopf wird jünger.« »Jonathan, sag mir, was da unten vorgeht!« »Aufregende Dinge. Man muß tiefer gehen, immer tiefer, wenn man eines Tages wieder hinaufkommen will ... Weißt du, das ist wie ein Schwimmbad, erst auf dem Grund findet man Halt, um nach oben zu gelangen.« Und er brach in ein irres Lachen aus, das noch dreißig Sekunden später unheimlich die Wendeltreppe heraufschallte. 35. OG. Die feine Schicht aus dünnen Zweigen hat die Wirkung eines Kirchenfensters. Die Sonnenstrahlen dringen gleißend durch diesen Filter, um wie ein Sternenregen auf den Boden zu fallen. Wir sind im Solarium der Stadt, der »Fabrik«, in der die belokanischen Bürger erzeugt werden. Es herrscht eine fürchterliche Hitze. 38°. Das ist normal, das Solarium liegt nach Süden, damit es so lange wie möglich der Glut des weißen Gestirns ausgesetzt ist. Manchmal steigen die Temperaturen durch den Katalysatoreffekt der Zweige auf bis zu 50° an. Hunderte von Beinen sind in emsiger Bewegung. Am zahlreichsten ist die Kaste der Ammen vertreten. Sie schichten die Eier auf, die Belo-kiu-kiuni gelegt hat. Vierundzwanzig Stapel bilden einen Haufen, vierzig Haufen eine Reihe. Die Reihen verlieren sich in der Ferne. Wenn eine Wolke für Schatten sorgt, verschieben die Ammen die Stapel. Die jüngsten müssen stets gut gewärmt sein. »Feuchte Hitze für die Eier, trockene Hitze für die Kokons«, so ein altes Ameisenrezept, um schöne Junge zu erzeugen. Links sieht man Arbeiterinnen, die damit beschäftigt sind, schwarze Holzbröckchen zu stapeln, in denen sich die Hitze speichert, und kompostierte Humusstückchen, die Hitze erzeugen. Dank dieser beiden »Radiatoren« weist das Solarium ständig eine Temperatur zwischen 25° und 40° auf, selbst wenn die Außentemperatur nur 15° beträgt. Artilleristinnen gehen auf und ab. Für den Fall, daß sich ein Grünspecht blicken läßt ... Rechts erkennt man ältere Eier. Eine lange Metamorphose: Durch das dauernde Lecken der Ammen und der Zeit werden die kleinen Eier größer und gelb. Nach ein bis sieben Wochen verwandeln sie sich in Larven mit goldfarbenen Härchen. Auch das hängt von der Witterung ab. Die Ammen sind äußerst konzentriert. Sie sparen weder mit ihrem antibiotischem Speichel, noch lassen sie in ihrer Aufmerksamkeit nach. Nicht der geringste Dreck darf die Eier besudeln. Sie sind so zerbrechlich. Selbst die Dialogpheromonen werden auf das Allernötigste beschränkt. Hilf mir, sie in diese Ecke zu tragen ... Achtung, dein Stapel droht einzustürzen ... Eine Amme transportiert eine Larve, die doppelt so groß ist wie sie selbst. Bestimmt eine Artilleristin. Sie setzt die »Waffe« in einer Ecke ab und beleckt sie. In der Mitte dieses weitläufigen Brutkastens schreien Haufen von Larven, deren zehn Körpersegmente sich allmählich abzeichnen, nach ihrem Futter. Sie schütteln den Kopf hin und her, recken den Hals und lamentieren so lange, bis sich die Ammen dazu bequemen, ihnen ein wenig Honigtau oder ein Stück Insektenfleisch zu übergeben. Nach drei Wochen, wenn sie genügend »gereift« sind, hören die Larven auf zu fressen und sich zu bewegen. Es folgt eine Pause der Lethargie, in der sie sich auf die große Anstrengung vorbereiten. Sie sammeln ihre Energien, um den Kokon auszuscheiden, der sie in Puppen verwandeln wird. Die Ammen schleppen diese dicken gelben Pakete in einen benachbarten Saal, der mit Sand gefüllt ist, um die Luftfeuchtigkeit zu absorbieren. »Feuchte Hitze für die Eier, trockene Hitze für die Kokons«, man kann es nicht oft genug wiederholen. In diesem Brutofen wird der weiße Kokon mit dem bläulichen Schimmer gelb, dann grau, schließlich braun. Der Stein der Weisen in umgekehrter Richtung. Unter der Schale vollzieht sich das Wunder der Natur. Alles ändert sich. Nervensystem, Atmungs- und Verdauungsapparat, Sinnesorgane, Panzer . Die in diesem Brutkasten untergebrachte Puppe wird in wenigen Tagen anschwellen. Das Ei kocht, der große Augenblick naht. Die Puppe, die kurz davor ist, auszuschlüpfen, wird zur Seite gezogen, zu den anderen, die im gleichen Zustand sind. Die Ammen schlitzen behutsam den Schleier des Kokons auf, legen eine Antenne frei, ein Bein, bis eine Art weiße Ameise erscheint, die zittert und wankt. Ihr noch weiches und helles Chitin wird in einigen Tagen so rot sein wie das der anderen Belokanerinnen. Nr. 327, der inmitten dieses Trubels steht, weiß nicht, an wen er sich wenden soll. Er stößt einen schwachen Duft in Richtung einer Amme aus, die einem Neugeborenen hilft, die ersten Schritte zu tun. Es geschieht etwas Wichtiges. Die Amme wendet nicht einmal den Kopf. Sie gibt einen Satz von sich, dessen Duft kaum wahrnehmbar ist. Pst. Es gibt nichts Wichtigeres als die Geburt eines Wesens. Eine Artilleristin stößt ihn zur Seite, indem sie mit den keulenartigen Enden ihrer Antennen auf ihn einklopft. Tip, tip, tip. Sie dürfen nicht stören. Gehen Sie. Er hat nicht das richtige Niveau an Energie, er vermag andere nicht zu überzeugen. Ah, wenn er die Begabung von Nr. 56 hätte! Dennoch versucht er sein Glück bei anderen Ammen, doch sie schenken ihm nicht die geringste Aufmerksamkeit. Allmählich fragt er sich, ob seine Mission wirklich so bedeutsam ist, wie er glaubt. Vielleicht hat Belo-kiu-kiuni recht. Es gibt wichtigere Aufgaben. Zum Beispiel das Leben zu erhalten, fortzupflanzen, statt einen Krieg vom Zaun zu reißen. Während er noch bei diesem merkwürdigen Gedanken ist, streift ein Strahl Ameisensäure seine Antennen! Eine Amme hat ihn abgefeuert. Sie hat den Kokon fallen lassen, der ihr anvertraut war, und auf ihn angelegt. Zum Glück hat sie schlecht gezielt. Er saust los, um die Terroristin zu fassen, aber sie ist bereits in die erste Krippe davongelaufen und hat einen Stapel Eier umgestoßen, um ihm den Weg zu versperren. Die Schalen zerbrechen und geben eine transparente Flüssigkeit frei. Sie hat Eier zerstört! Was ist in sie gefahren? Es herrscht helle Aufregung, die Ammen laufen kreuz und quer, voller Sorge, die im Entstehen begriffene Generation zu schützen. Nr. 327 erkennt, daß er die Flüchtige nicht einholen kann. Also schiebt er den Hinterleib unter seinen Thorax und legt seinerseits an. Aber bevor er zum Schießen kommt, wird sie bereits von einer Artilleristin getroffen, die sie beobachtet hat, als sie die Eier umstieß. Ein Auflauf bildet sich um den von der Ameisensäure verätzten Körper. Nr. 327 neigt seine Antennen über den Kadaver. Kein Zweifel, er verströmt einen schwachen Geruch. Einen Felsenduft. Soziabilität: Bei den Ameisen wie bei den Menschen ist die Soziabilität vorherbestimmt. Die neugeborene Ameise ist zu schwach, um den Kokon, der sie umhüllt, allein zu durchbrechen. Das menschliche Baby ist nicht einmal in der Lage, zu gehen oder sich allein zu ernähren. Ameisen und Menschen sind zwei Arten, die sich so entwickelt haben, daß sie auf die Hilfe ihrer Umgebung angewiesen sind; sie können nicht allein, von sich aus lernen. Diese Abhängigkeit von den Erwachsenen ist sicher eine Schwäche, aber sie leitet einen anderen Prozeß ein: den der Suche nach Wissen. Wenn die Erwachsenen überleben können, die Jungen jedoch nicht, sind letztere von Beginn an gezwungen, von den älteren die Vermittlung von Kenntnissen zu verlangen. Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens 20. UG. Das Weibchen Nr. 56 ist noch nicht dazu gekommen, mit den Bäuerinnen über die Geheimwaffe der Zwerginnen zu reden, denn was sie da sieht, fesselt sie viel zu sehr, als daß sie irgend etwas äußern könnte. Da die Kaste der Weibchen besonders wertvoll ist, bleiben diese während ihrer ganzen Kindheit in ihrer Kammer eingesperrt. Oft kennen sie von der Welt nicht viel mehr als ein paar hundert Gänge, und nur wenige von ihnen haben sich bereits über das 10. Ober- oder das 10. Untergeschoß hinausgewagt. Einmal hat Nr. 56 versucht, hinauszugehen und die Große Außenwelt zu betrachten, von der ihr die Ammen erzählt hatten, aber die Schildwachen haben sie zurückgedrängt. Man könne mehr oder weniger ihre Gerüche tarnen, nicht aber ihre langen Flügel. Also haben ihr die Wachen erzählt, daß draußen riesige Ungetüme lauerten. Sie fräßen die kleinen Prinzessinnen auf, die vor dem Fest der Wiedergeburt hinauswollten. Seitdem war Nr. 56 zwischen Neugier und Schrecken hin- und hergerissen. Im 20. Untergeschoß angelangt, wird ihr klar, daß sie, bevor sie die wilde Große Außenwelt erkundet, noch viele Wunder in ihrer eigenen Stadt zu entdecken hat. Hier sieht sie zum erstenmal die Pilzkulturen. In der belokanischen Mythologie heißt es, daß die ersten Pilzkulturen im fünfzigtausendsten Jahrtausend, während des Getreidekrieges, entdeckt wurden. Ein Artilleristinnen-kommando hatte eine Termitenstadt eingenommen. Plötzlich stießen sie auf einen Saal mit kolossalen Ausmaßen. In der Mitte erhob sich ein riesiger weißer Kuchen, den die Termitenarbeiterinnen unaufhörlich polierten. Sie hatten ihn probiert und äußerst schmackhaft gefunden. Das war ... das war wie ein ganzes eßbares Dorf! Gefangene gestanden, daß es sich um Pilze handelte. Tatsächlich leben die Termiten nur von Zellulose; da sie diese jedoch nicht verdauen können, greifen sie auf diese Pilze zurück, um sie assimilierbar zu machen. Die Ameisen verdauen Zellulose zwar sehr gut und sind nicht auf derlei Tricks angewiesen, aber den Vorteil, solche Kulturen innerhalb ihrer Stadt zu haben, erfaßten sie nichtsdestoweniger: Das gab ihnen die Möglichkeit, Belagerungen und Hungersnöten zu trotzen. Heute werden in den großen Sälen im 20. UG von Bel-o-kan die Stämme ausgewählt. Die Ameisen verwenden allerdings nicht mehr die gleichen Pilze wie die Termiten, in Belo-kan werden vor allem Lamellenpilze angebaut. Und ausgehend von diesen landwirtschaftlichen Tätigkeiten hat sich eine ganze Technologie entwickelt. Nr. 56 irrt zwischen den Beeten dieses weißen Gartens umher. Auf einer Seite bereiten Arbeiterinnen das »Bett« vor, auf dem der Pilz wachsen wird. Sie schneiden Blätter in kleine Vierecke, die anschließend zerkratzt, zerstoßen, durchgeknetet und zu einer Paste verarbeitet werden. Die Blätterpaste wird auf einem aus Exkrementen gebildeten Kompost aufgetragen (die Ameisen sammeln ihre Exkremente in dafür vorgesehenen Becken) und mit Speichel befeuchtet. Die Arbeit, dieses Erzeugnis zum Keimen zu bringen, wird der Zeit überlassen. Die bereits vergorenen Pasten sind von einem Knäuel weißer eßbarer Fasern umgeben. Dort links sind welche zu sehen. Die Arbeiterinnen begießen sie daraufhin mit ihrem desinfizierenden Speichel und schneiden alles ab, was über den kleinen weißen Kegel hinausragt. Wenn man die Pilze wachsen ließe, würden sie bald den Saal sprengen. Aus den von den Arbeiterinnen mit den flachen Mandibeln abgeschnittenen Fasern wird ein ebenso schmackhaftes wie stärkendes Mehl gewonnen. Auch dort sind die Arbeiterinnen höchst konzentriert. Nicht das geringste Unkraut, nicht der geringste parasitäre Pilz darf von ihren Anstrengungen profitieren. Unter diesen nicht gerade günstigen Umständen versucht Nr. 56, einen Antennenkontakt mit einer Gärtnerin herzustellen, die gerade sorgfältig einen der weißen Kegel beschneidet. Eine große Gefahr bedroht die Stadt. Wir brauchen Hilfe. Wollt ihr euch unserer Arbeitszelle anschließen? Was für eine Gefahr? Die Zwerginnen haben eine Geheimwaffe von verheerender Wirkung entdeckt. Wir müssen so schnell wie möglich handeln. Die Gärtnerin fragt sie sanftmütig, was sie von ihrem Pilz hält, einem schönen Lamellenpilz. Nr. 56 beglückwünscht sie dazu. Die andere bietet ihr an, davon zu kosten. Das Weibchen beißt in die weiße Paste und verspürt sogleich ein heftiges Brennen in ihrer Speiseröhre. Gift! Der Lamellenpilz ist mit Myrmikazin getränkt worden, einer tödlichen Säure, die normalerweise in verdünnter Form als Unkrautvertilgungsmittel verwendet wird. Nr. 56 hustet und spuckt die giftige Speise rechtzeitig wieder aus. Die Gärtnerin hat ihren Pilz fahrenlassen und springt ihr mit geöffneten Mandibeln an die Brust. Sie wälzen sich in dem Kompost, biegen ihre Antennenkeulen ruckartig zurück und schlagen einander auf den Schädel. Klack! Klack! Klack! Die Schläge geschehen in der eindeutigen Absicht zu töten. Die Bäuerinnen trennen die beiden. Was ist denn mit euch los? Die Gärtnerin flieht. Nr. 56 öffnet ihre Flügel, setzt ihr mit einem wunderbaren Sprung nach und preßt sie auf den Boden. In diesem Augenblick identifiziert sie einen schwachen Felsengeruch. Kein Zweifel, auch sie ist an ein Mitglied dieser unerhörten Mörderbande geraten. Sie kneift ihr in die Antennen. Wer bist du? Warum hast du versucht, mich zu töten? Woher kommt dieser Felsenduft? Schweigen. Sie verdreht ihr die Antennen. Das ist sehr schmerzhaft, die Gärtnerin beginnt zu strampeln, antwortet jedoch nicht. Es ist an sich nicht die Art von Nr. 56, einer Schwesterzelle weh zu tun, dennoch verdreht sie die Antennen weiter. Die andere rührt sich nicht. Sie ist in die freiwillige Starre eingetreten. Ihr Herz schlägt kaum noch, sie wird bald sterben. Verärgert trennt ihr Nr. 56 beide Antennen ab, aber sie ereifert sich nur noch an einem Kadaver. Die Bäuerinnen umringen sie erneut. Was ist los? Was haben Sie mit ihr gemacht? Nr. 56 denkt, daß dies nicht der Moment ist, sich zu rechtfertigen. Es ist besser, sich aus dem Staub zu machen, was ihr mit einem Flügelschlag auch gelingt. Nr. 327 hat recht. Es spielt sich etwas Unglaubliches ab, Zellen innerhalb des Volkes sind verrückt geworden. 2 Immer tiefer 45. UG: Die 103 683. Geschlechtslose dringt in die Kampfsäle ein. Räume mit niedrigen Decken, in denen die Soldatinnen im Hinblick auf die Frühjahrskriege üben. Überall duellieren sich Kriegerinnen. Die Kontrahentinnen tasten zunächst einander ab, um ihren Wuchs und die Größe der Beine abzuschätzen. Sie drehen sich, befühlen die Flanken, ziehen sich an den Haaren, scheiden herausfordernde Düfte aus, kitzeln sich mit dem keulenartigen Ende ihrer Antennen. Schließlich stürmen sie aufeinander ein. Zusammenprall der Panzer. Beide bemühen sich, die Gelenke des Thorax der anderen zu packen. Sobald es einer gelungen ist, versucht die andere, ihr in die Knie zu beißen. Ihre Bewegungen sind ruckartig. Sie richten sich auf den beiden Hinterbeinen auf, stürzen, wälzen sich wütend. In der Regel verharren sie reglos, wenn sie einmal zugepackt haben, dann plötzlich schlagen sie auf ein anderes Glied. Achtung, das ist nur Training, es wird nichts gebrochen, es fließt kein Blut. Der Kampf ist beendet, wenn eine der beiden Ameisen auf dem Rücken liegt. Dann biegt sie ihre Antennen zum Zeichen der Aufgabe zurück. Trotzdem sind diese Duelle sehr realistisch. Oftmals wird ein Griff in den Augen angesetzt, um Halt zu finden. Die Mandibeln knallen in der Luft zusammen. In einiger Entfernung sitzen Artilleristinnen auf ihren Hinterleibern und schießen auf Kieselsteine, die fünfhundert Kopf weit weg aufgestellt sind. Nicht selten treffen die Säurestrahlen ihr Ziel. Eine alte Kriegerin erklärt einer Anfängerin, daß sich alles schon vor dem Zusammenprall entscheidet. Mandibel oder Säurestrahl bestätigen nur eine Überlegenheit, die bereits vorher von den beiden Streitenden anerkannt wird. Schon vor der Auseinandersetzung gibt es unweigerlich einen, der beschlossen hat zu siegen, und einen, der darin einwilligt, besiegt zu werden. Das ist nur eine Frage der Rollenaufteilung. Wenn jeder erst einmal seine Wahl getroffen hat, kann der Sieger einen Säurestrahl abfeuern, ohne zu zielen, er wird ins Schwarze treffen; und der Besiegte kann noch so gut mit den Mandibeln zuschnappen, er wird seinen Gegner nicht einmal verletzen. Ein einziger Ratschlag nur: Man muß den Sieg akzeptieren. Das Ganze ist eine Sache des Kopfes. Man muß den Sieg akzeptieren, und nichts wird einem widerstehen. Zwei Duellanten rempeln die 103 683. Soldatin an. Sie stößt sie kräftig zurück und geht weiter. Sie sucht das Quartier der Söldnerinnen, das unterhalb der Kampfarena eingerichtet ist. Da ist der Durchgang. Der Saal ist noch größer als der Saal der Kriegerinnen. Die Söldnerinnen leben allerdings ständig in ihrem Übungsraum. Sie sind nur für den Krieg da. Sämtliche Volksstämme der Gegend sind dort in enger Berührung, verbündete Stämme und unterworfene Stämme: gelbe Ameisen, rote Ameisen, schwarze Ameisen, Leimspuckerinnen, primitive Ameisen mit Giftstachel und sogar Zwergameisen. Auch das ging auf die Termiten zurück, die Idee nämlich, fremde Bevölkerungen zu ernähren, um sie dazu zu bringen, sich im Falle einer Invasion auf die Seite der Belokanerinnen zu schlagen. Was die Ameisenstädte anging, war es durchaus schon vorgekommen, daß sie sich aufgrund diplomatischer Feinheiten mit den Termiten gegen andere Ameisen verbündet hatten. Das hatte folgende Überlegung ausgelöst: Warum nicht einfach Ameisenlegionen aufstellen, die sich ständig in dem Termitenhügel aufhielten? Die Idee war revolutionär. Und die Überraschung war gewaltig, als sich die Ameisenheere Schwestern von ihrer eigenen Art gegenübersahen, die für die Termiten kämpften. In diesem Fall hatte sich die Ameisenzivilisation, die sich so prompt anzupassen wußte, ein wenig übernommen. Gerne hätten die Ameisen als Reaktion ihre Feinde kopiert und Termitenlegionen gedungen, die gegen Termiten kämpfen sollten. Das Vorhaben scheiterte jedoch an einem kapitalen Hindernis: Die Termiten sind absolute Royalisten. Ihre Loyalität ist unbedingt, sie sind unfähig, gegen Artgenossen zu kämpfen. Einzig die Ameisen, deren politische Systeme ebenso vielfältig sind wie ihre Physiologie, sind in der Lage, all die perversen Verwicklungen des Söldnertums auf sich zu nehmen. Dann eben nicht! Die großen Ameisenföderationen hatten sich damit begnügt, ihr Heer mit zahlreichen Legionen fremder Ameisen zu verstärken, die samt und sonders unter dem belokanischen Duftbanner vereint waren. Nr. 103 683 geht auf die gedungenen Zwergameisen zu. Sie fragt sie, ob sie etwas von der Entwicklung einer Geheimwaffe in Shi-gae-pu gehört hätten, eine Waffe, die fähig sei, eine ganze Expedition von achtundzwanzig roten Ameisen blitzartig zu vernichten. Sie antworten, eine solch wirksame Waffe hätten sie noch nie gesehen noch hätten sie je davon gehört. Nr. 103 683 befragt andere Söldnerinnen. Eine gelbe Ameise behauptet, solch ein Wunder habe sie selbst erlebt. Das sei allerdings keine Attacke der Zwerginnen gewesen, sondern ... eine verfaulte Birne, die unvermutet von einem Baum gefallen sei. Alle brechen in ein schallendes Pheromonenlachen aus. Das ist der Humor der gelben Ameisen. Nr. 103 683 steigt in einen Saal, wo ihre nächsten Kolleginnen trainieren. Sie kennt sie allesamt persönlich. Man hört ihr aufmerksam zu, man vertraut ihr. Die Gruppe »Suche nach der Geheimwaffe der Zwerginnen« umfaßt alsbald mehr als dreißig entschlossene Kriegerinnen. Ah, wenn Nr. 327 das sähe! Achtung, eine organisierte Bande versucht alle zu vernichten, die etwas in Erfahrung bringen wollen. Bestimmt rote Söldnerinnen im Dienst der Zwerginnen. Man kann sie identifizieren, sie riechen alle nach Felsen. Zur Sicherheit beschließen sie, ihre erste Versammlung ganz unten in der Stadt, in einem der tiefsten Säle der fünfzigsten Etage, abzuhalten. Niemand verirrt sich jemals dorthin. Dort dürften sie ungestört ihre Offensive vorbereiten können. Aber der Körper von Nr. 103 683 signalisiert eine jähe Beschleunigung der Zeit. Es ist 23°. Sie verabschiedet sich und hastet zu ihrem Treffen mit Nr. 327 und Nr. 56. Ästhetik: Was gibt es Schöneres als eine Ameise? Ihre Linien sind geschwungen und edel, ihre Aerodynamik vollkommen. Die gesamte Karosserie des Insekts ist so angelegt, daß jedes Glied perfekt in die dazu vorgesehene Raste paßt. Jedes Gelenk ist ein mechanisches Wunder. Die Platten fügen sich ineinander, als wären sie von einem computergestütztenDesignerentworfen worden. Da knirscht nichts, da reibt sich nichts. Der dreieckige Kopf zerschneidet die Luft, die langen, elastischen Beine verleihen dem Körper eine bequeme Spannung unmittelbar über dem Boden. Ein italienischer Sportwagen, könnte man sagen. Die Krallen ermöglichen es ihr, an der Decke zu gehen. Die Augen haben ein Gesichtsfeld von hundertachtzig Grad. Die Antennen erfassen Tausende von Informationen, die für uns unsichtbar sind, und ihre Enden können als Hammer verwendet werden. Der Hinterleib ist voller Taschen, Säcke, Fächer, in denen das Insekt chemische Produkte speichern kann. Die Mandibeln schneiden, kneifen, packen. Ein großartiges inneres Röhrensystem erlaubt es, Duftnachrichten zu hinterlassen. Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens Nicolas wollte nicht schlafen. Er saß immer noch vor dem Fernseher. Die Nachrichten hatten mit der Mitteilung geendet, daß die Sonde Marco Polo auf dem Rückweg sei. Schlußfolgerung: Es gab nicht das geringste Anzeichen von Leben in den benachbarten Sonnensystemen. Sämtliche Planeten, die die Sonde aufgesucht hatte, boten nur das immergleiche Bild von felsigen Wüsten oder flüssiger, ammoniakhaltiger Oberflächen. Nicht die kleinste Moospflanze, nicht die geringste Amöbe, nicht die geringste Mikrobe. »Und wenn Papa recht hat?« sagte sich Nicolas. »Wenn wir wirklich die einzige Form intelligenten Lebens im ganzen Weltall wären?« Sicher, das war enttäuschend, aber es drohte zu stimmen. Nach den Nachrichten lief im Rahmen der Serie »Kulturen der Welt« ein großer Bericht, der sich mit dem Problem der Kasten in Indien befaßte. »Die Hindus gehören ihr Leben lang der Kaste an, in der sie geboren sind. Jede Kaste hat ihre eigenen Regeln, einen strengen Kode. Regeln, die niemand übertreten darf, ohne von seiner ursprünglichen sowie allen anderen Kasten geächtet zu werden. Um ein solches Verhalten zu verstehen, müssen wir uns erinnern, was .« »Es ist ein Uhr nachts«, schaltete sich Lucie ein. Nicolas war mit Bildern übersättigt. Seit dem Problem mit dem Keller hockte er gut vier Stunden pro Tag vor dem Fernseher. Das war sein Weg, nicht mehr zu denken und nicht mehr er selbst zu sein. Die Stimme seiner Mutter rief ihn in die schmerzliche Wirklichkeit zurück. »Na, bist du noch nicht müde?« »Wo ist Papa?« »Er ist noch im Keller. Du mußt jetzt schlafen.« »Ich kann nicht schlafen.« »Soll ich dir eine Geschichte erzählen?« »Au ja, eine Geschichte! Eine schöne Geschichte!« Lucie brachte ihn in sein Zimmer. Sie setzte sich auf die Bettkante und löste ihre langen roten Haare. Sie wählte ein altes hebräisches Märchen. »Es war einmal ein Steinhauer, der war es leid, sich den ganzen Tag damit abzurackern, unter einer heißen Sonne Löcher in den Berg zu hauen. >Ich hab dieses Leben satt. Steine hauen, immer nur Steine hauen, das ist eine Schinderei ... Und diese Sonne, immer diese Sonne! Ah, wie gern wäre ich an ihrer Stelle, ich wäre da oben, allmächtig, ganz heiß und könnte die ganze Welt mit meinen Strahlen überflutenc, sagte sich der Steinhauer. Nun, durch ein Wunder wurde sein Rufen gehört. Und sogleich verwandelte sich der Steinhauer in die Sonne. Er war glücklich, daß sein Wunsch in Erfüllung gegangen war. Aber wie er genüßlich seine Strahlen überall niedergehen lassen wollte, merkte er, daß sie von den Wolken aufgehalten wurden. >Was habe ich davon, Sonne zu sein, wenn ein paar einfache Wolken meine Strahlen bremsen können! < rief er aus. >Wenn die Wolken stärker sind, bin ich doch lieber eine Wolke statt der Sonne. < Und er wird zur Wolke. Er fliegt über die Welt, zieht dahin, läßt es regnen, aber plötzlich kommt Wind auf und verweht die Wolke. >Ah, der Wind schafft es, die Wolken zu verwehen, also ist er stärker. Ich will der Wind sein<, beschließt er.« »Und? Wird er der Wind?« »Ja, und er bläst überall auf der Welt. Er macht Stürme, Böen, Taifune. Aber plötzlich merkt er, daß da eine Mauer ist, die ihm den Weg versperrt. Eine sehr hohe und sehr harte Mauer. Ein Berg. >Was habe ich davon, der Wind zu sein, wenn mich ein einfacher Berg aufhalten kann? Er ist der Stärkste!< sagt er.« »Dann wird er der Berg!« »Genau. Und in diesem Moment spürt er etwas, das auf ihn einschlägt. Etwas, was stärker ist als er, was ihn von innen aushöhlt. Das ist ... ein kleiner Steinhauer ...« »Aaah!« »Hat dir die Geschichte gefallen?« »Ja. Mama!« »Bist du sicher, daß du im Fernsehen keine schönere gesehen hast?« »Nein, Mama.« Sie lachte und schloß ihn in ihre Arme. »Sag mal, Mama, glaubst du, Papa gräbt da unten auch?« »Vielleicht, wer weiß? Jedenfalls scheint er zu glauben, daß er sich in etwas anderes verwandelt, so oft wie er da runtergeht.« »Fühlt er sich hier nicht wohl?« »Nein, mein Kind, er schämt sich, arbeitslos zu sein. Er glaubt, es ist besser, Sonne zu sein. Eine unterirdische Sonne.« »Papa hält sich für den König der Ameisen.« Lucie lächelte. »Das geht vorbei. Weißt du, er ist auch ein Kind. Und Kinder sind von Ameisenhaufen immer fasziniert. Hast du denn nie mit Ameisen gespielt?« »Und ob, Mama!« Lucie rückte sein Kopfkissen zurecht und küßte ihn. »Und jetzt leg dich schlafen. Na komm, gute Nacht.« »Gute Nacht, Mama.« Lucie sah die Streichhölzer auf dem Nachttischchen. Er mußte doch noch versucht haben, die vier Dreiecke zu bilden. Sie ging ins Wohnzimmer zurück und griff nach dem Architekturbuch, in dem die Geschichte des Hauses erzählt wurde. Zahlreiche Wissenschaftler hatten darin gelebt. Protestanten vor allem. Michel Servet zum Beispiel hatte einige Jahre hier gewohnt. Eine Passage fesselte ihre Aufmerksamkeit ganz besonders. Angeblich war während der Religionskriege ein unterirdischer Gang gegraben worden, um den Protestanten die Flucht aus der Stadt zu ermöglichen. Ein ungewöhnlich langer und ungewöhnlich tiefer Stollen ... Die drei Insekten stellen sich zu einem Dreieck auf, um eine absolute Kommunikation zu praktizieren. So brauchen sie ihre Abenteuer nicht zu erzählen, sie wissen augenblicklich, was ihnen widerfahren ist, als wären sie ein einziger Körper, der sich dreigeteilt hat, um besser ermitteln zu können. Sie vereinigen ihre Antennen. Die Gedanken beginnen zu strömen, zu verschmelzen. Das geht reihum. Jedes Gehirn agiert wie ein Transistor, der die elektrische Nachricht, die er selbst erhält, anreichert und weiterleitet. Drei Ameisengeister, die auf die Art vereinigt sind, übersteigen die schlichte Summe ihrer Talente. Aber plötzlich ist der Zauber dahin. Nr. 103 683 hat einen schmarotzenden Duft wahrgenommen. Die Mauern haben Antennen. Genauer gesagt zwei Antennen, die durch die Öffnung der Kammer von Nr. 56 hereinlugten. Jemand hört ihnen zu . Mitternacht. Jonathan war seit genau zwei Tagen in dem Keller verschwunden. Lucie wanderte nervös im Wohnzimmer auf und ab. Sie schaute nach Nicolas, der tief schlief, als sich ihr Blick plötzlich auf etwas heftete. Die Streichhölzer. In diesem Moment hatte sie das Gefühl, in dem Rätsel mit den Streichhölzern könnte der Ansatz zu einer Lösung dieses Rätsels stecken, das der Keller darstellte. Vier gleichseitige Dreiecke mit sechs Streichhölzern . »Man muß anders denken - wenn man so überlegt, wie man es gewohnt ist - erreicht man nichts«, hatte Jonathan die Worte seines Onkels wiederholt. Sie nahm die Streichhölzer und ging ins Wohnzimmer zurück, um dort lange mit ihnen zu spielen. Schließlich legte sie sich, vor Angst erschöpft, schlafen. In dieser Nacht hatte sie einen seltsamen Traum. Zunächst sah sie Onkel Edmond oder zumindest eine Person, die der Beschreibung entsprach, die ihr Jonathan von ihm gegeben hatte. Er stand in einer langen Kinoschlange, die sich mitten durch eine Steinwüste zog. Mexikanische Soldaten umstellten die Schlange und achteten darauf, daß »nichts schiefging«. In der Ferne waren ein Dutzend Galgen zu sehen, an denen die Leute aufgehängt wurden. Wenn sie tot waren, wurden sie abgenommen, und andere nahmen ihre Stelle ein. Und die Schlange rückte vor . Hinter Edmond standen Jonathan, sie selbst und ein dicker Mann mit einer ganz kleinen Brille. All diese zum Tode Verurteilten plauderten gelassen, als ob nichts wäre. Als man ihnen endlich die Schlinge um den Hals legte und sie alle vier nebeneinander aufhängte, warteten sie nur untätig. Onkel Edmond entschloß sich als erster zu reden, mit heiserer Stimme fragte er: »Was tun wir hier?« »Ich weiß nicht ... Wir leben. Wir sind geboren worden, also leben wir so lange wie möglich. Aber jetzt, glaube ich, geht es dem Ende entgegen«, antwortete Jonathan. »Mein lieber Neffe, du bist ein Pessimist. Sicher, wir sind aufgehängt und von mexikanischen Soldaten umgeben, aber das ist nur ein unliebsamer Zwischenfall, nicht das Ende, nur ein Zwischenfall. Außerdem hat diese Situation notwendigerweise eine Lösung. Seid ihr alle ganz fest verschnürt?« Sie zappelten in ihren Fesseln. »Nein«, sagte der dicke Mann. »Ich kann mich dieser Schnüre entledigen.« Und er tat es. »Schön, dann befreien Sie uns.« »Und wie?« »Schaukeln Sie, bis Sie meine Hände erreicht haben.« Der Mann wand sich, und er schaffte es, sich in ein lebendes Pendel zu verwandeln. Nachdem er Edmonds Fesseln gelöst hatte, konnten sie alle nach und nach mit der gleichen Technik befreit werden. Dann sagte der Onkel: »Macht es wie ich!«, und mit kleinen Sprüngen seines Halses hüpfte er von Schnur zu Schnur auf den letzten Galgen der Reihe zu. Die anderen taten es ihm nach. »Aber weiter kommen wir nicht! Hinter diesem Galgen ist nichts mehr, sie werden uns entdecken.« »Seht, da ist ein kleines Loch in dem Galgen. Kommt.« Edmond sprang gegen den Galgen, wurde ganz klein und verschwand in dem Loch. Jonathan und der dicke Mann folgten ihm. Lucie sagte sich, daß sie es niemals schaffen werde, dennoch schwang sie sich gegen den Pfahl, und sie drang in das Loch ein. Innendrin war eine Wendeltreppe. Sie stürmten die Stufen hinauf. Schon waren die Schreie der Soldaten zu hören, die ihre Flucht bemerkt hatten. Los gringos, los gringos, cuidado! Polternde Stiefel, Gewehrschüsse. Man machte Jagd auf sie. Die Treppe mündete in ein modernes Hotelzimmer mit Blick aufs Meer. Sie traten ein und schlossen die Tür. Zimmer 8. Als die Tür zuschlug, verwandelte sich die vertikale 8 in eine horizontale 8, das Zeichen der Unendlichkeit. Das Zimmer war luxuriös, und man fühlte sich vor den Berserkern in Sicherheit. Während alle noch erleichtert aufatmeten, sprang Lucie plötzlich ihrem Mann an die Kehle. »Wir haben Nicolas vergessen«, rief sie. »wir haben Nicolas vergessen!« Sie streckte ihn mit einer antiken Vase nieder, deren Malerei den jungen Herkules zeigte, der die Schlange erwürgt. Jonathan fiel zu Boden und verwandelte sich in . eine geschälte Krabbe, die sich lächerlich wand. Onkel Edmond trat vor. »Tut’s euch leid?« »Ich verstehe nichts mehr.« »Ihr werdet verstehen«, sagte er lächelnd. »Folgt mir.« Er führte sie auf den zum Meer gelegenen Balkon und schnippte mit den Fingern. Sechs brennende Streichhölzer stiegen aus den Wolken herab und reihten sich über seiner Hand auf. »Hört gut zu«, sagte er laut. »man denkt immer gleich. Man erfaßt die Welt immer auf die gleiche banale Weise. So als würde man jedes Foto mit einem Weitwinkelobjektiv machen. Das ist eine Sicht der Realität, aber nicht die einzige. MAN ... MUSS ... ANDERS ... DENKEN! Schaut her.« Die Streichhölzer wirbelten einen Moment lang durch den Raum, dann vereinigten sie sich auf dem Boden. Sie robbten wie lebende Wesen und bildeten ... Am nächsten Morgen kaufte Lucie ziemlich aufgeregt einen Schweißbrenner. Schließlich schaffte sie es, mit dem Schloß fertigzuwerden. Als sie gerade die Schwelle zum Keller überschreiten wollte, tauchte Nicolas verschlafen in der Küche auf. »Mama! Wohin gehst du?« »Ich werde deinen Vater suchen. Er hält sich für eine Wolke, die über die Berge fliegt. Ich will schauen, ob er nicht ein wenig übertreibt. Ich werd’s dir erzählen ...« »Nein. Mama, geh nicht, geh nicht ... Ich bin doch dann ganz allein.« »Keine Bange, Nicolas, ich komme zurück, ich bleibe nicht lange, warte auf mich.« Sie leuchtete in den Keller. Der Ort war finster, stockfinster Wer ist da? Die beiden Antennen rücken vor, es folgt ein Kopf, dann ein Thorax und ein Hinterleib. Die kleine Hinkende mit dem Felsengeruch. Sie wollen sich auf sie stürzen, aber hinter ihr zeichnen sich die Mandibeln einer schwer bewaffneten Hundertschaft von Soldatinnen ab. Sie verströmen alle den gleichen Felsenduft. Fliehen wir durch den Geheimgang! stößt das 56. Weibchen hervor. Sie räumt den Kieselstein zur Seite und legt ihren Stollen frei. Dann schlägt sie mit den Flügeln und erhebt sich fast zur Decke, von wo sie die ersten Eindringlinge mit Säure beschießt. Ihre beiden Komplizen fliehen, während eine brutale Aufforderung aus den Reihen der Kriegerinnen aufsteigt. Tötet sie! Nr. 56 springt ihrerseits in das Loch. Säurestrahlen verfehlen sie um Haaresbreite. Schnell! Fangt sie! Hunderte von Beinen machen sich auf die Verfolgung. Diese Spioninnen sind verdammt zahlreich! Sie drängen sich geräuschvoll in den Engpaß, um das Trio einzuholen. Den Bauch auf der Erde, die Antennen zurückgelegt, huschen das Männchen, das Weibchen und die Soldatin durch den Gang, der nichts Geheimes mehr an sich hat. Sie verlassen die Zone des Jungferngemachs und gelangen in tiefere Stockwerke. Bald schon gabelt sich der Gang. Von dort an häufen sich die Kreuzungen, aber Nr. 327 findet sich zurecht und zieht seine Leidensgenossinnen mit sich. Plötzlich stoßen sie an der Ecke eines Tunnels auf einen Trupp von Soldatinnen, die in ihre Richtung stürmen. Unglaublich: die Hinkende hat sie bereits eingeholt. Das machia-vellistische Insekt kennt offenbar sämtliche Abkürzungen! Die drei Flüchtlinge machen kehrt und nehmen Reißaus. Als sie sich endlich ein wenig ausruhen können, bringt Nr. 103 683 vor, daß sie sich besser nicht auf dem Terrain der Spioninnen abschinden, die sich in diesem Gewirr von Gängen ein wenig zu gut auskennen. Wenn der Feind stärker scheint als du, handele so, daß du dich seiner Denkweise entziehst. Dieser alte Satz der ersten Königin paßt hervorragend auf ihre Situation. Nr. 56 hat eine Idee; sie schlägt vor, sich in einer Wand zu verstecken! Noch haben die Kriegerinnen mit dem Felsengeruch sie nicht aufgestöbert, also graben sie sich mit aller Kraft in eine Seitenwand, fallen mit ihren Mandibeln über die Erde her, wühlen sie auf. Ihre Augen, ihre Antennen sind voll davon. Manchmal schlucken sie ganze Brocken, um schneller voranzukommen. Kaum ist der Hohlraum tief genug, schmiegen sie sich hinein, bauen die Mauer wieder auf und warten. Ihre Verfolger kommen, sie rennen vorbei. Aber sie kommen bald wieder zurück, und diesmal erheblich langsameren Schritts. Da wird ganz schön geschnüffelt auf der anderen Seite der Wand Nein, sie haben nichts gemerkt. Trotzdem können die drei hier nicht bleiben. Irgendwann werden die anderen einige ihrer Moleküle aufspüren. Also graben sie weiter. Nr. 103 683, die mit den größten Mandibeln ausgestattet ist, wühlt vorneweg; die beiden anderen räumen den Sand weg und verstopfen das Loch hinter ihnen. Die Mörderinnen haben das Manöver durchschaut. Sie untersuchen die Wände, finden ihre Spur und beginnen wie besessen zu graben. Die drei Ameisen nehmen eine abschüssige Kurve. In dieser schwarzen Melasse ist es ohnehin nicht einfach, sich an irgend etwas zu halten. Alle paar Sekunden kommen drei neue Gänge, und zwei andere versperren einander. Da versuche einer, unter solchen Umständen eine verläßliche Karte der Stadt zu zeichnen! Die einzigen Fixpunkte sind die Kuppel und der Baumstumpf. Die drei Ameisen dringen langsam in das Fleisch der Stadt ein. Mitunter geraten sie an eine lange Liane. In Wirklichkeit ist das Efeu, das die Gärtnerinnen gepflanzt haben, damit die Stadt nicht einstürzt, wenn es regnet. Dann wieder wird die Erde härter, und sie stoßen mit den Mandibeln gegen Steine, so daß ein Umweg geboten ist. Die beiden Fortpflanzungsfähigen nehmen hinter sich keine Erschütterungen mehr wahr. Das Trio beschließt innezuhalten. Sie befinden sich in einer Luftblase im Herzen von Bel-o-kan. Ein undurchdringliches, geruchsloses, allen unbekanntes Oval. Eine verlassene hohle Insel. Wer soll sie in dieser Minihöhle aufstöbern? Sie fühlen sich hier wie in dem dunklen Oval des Hinterleibs ihrer Erzeugerin. Nr. 56 klopft mit den Antennen auf den Schädel ihres Gegenübers, eine Aufforderung zur Trophallaxie. Nr. 327 neigt die Antennen zum Zeichen des Einverständnisses, dann drückt er seinen Mund auf den des Weibchens. Er würgt ein wenig von dem Honigtau hoch, den ihm die erste Schildwache überreicht hat. Nr. 56 fühlt sich augenblicklich gestärkt. Nr. 103 683 klopft ihr ihrerseits auf den Schädel. Sie pressen ihre Lippen aufeinander, und Nr. 56 läßt ein wenig von der Nahrung aufsteigen, die sie gerade geschluckt hat. Anschließend liebkosen und reiben sich die drei gegenseitig. Ah, was ist es - für eine Ameise - angenehm zu geben . Wenn sie auch neue Kräfte geschöpft haben, wissen sie doch, daß sie hier nicht ewig bleiben können. Der Sauerstoff wird knapp werden, und selbst wenn die Ameisen recht lange ohne Nahrung, ohne Wasser, ohne Luft und Wärme überleben können, wird sie der Mangel dieser lebenswichtigen Elemente schließlich in einen tödlichen Schlaf sinken lassen. Antennenkontakt. Was tun wir jetzt? Die Gruppe der dreißig Kriegerinnen, die ich für unser Vorhaben gewonnen habe, erwartet uns in einem Saal im fünfzigsten Untergeschoß. Gehen wir. Sie nehmen ihre Grabungsarbeiten wieder auf, orientieren sich mit ihrem Johnston-Organ, das die irdischen Magnetfelder registriert. Sie sind fest davon überzeugt, zwischen den Getreidespeichern des 18. UG und den Pilzkulturen des 20. UG zu sein. Doch je tiefer sie gelangen, um so kälter wird es. Wenn die Nacht hereinbricht, dringt der Frost tief in den Boden. Ihre Bewegungen werden langsamer. Schließlich erstarren sie in ihrer grabenden Haltung und schlafen in Erwartung der Erwärmung ein. »Jonathan, Jonathan, ich bin’s, Lucie!« Je tiefer sie in dieses Reich der Finsternis hinabsteigt, um so mehr überkommt sie die Angst. Dieser endlose Abstieg über die Stufen dieser gewundenen Treppe hatte sie schließlich in einen seltsamen Zustand versetzt, in dem es ihr vorkam, als dränge sie tiefer und tiefer in ihr eigenes Inneres ein. Sie verspürte jetzt einen dumpfen Schmerz im Bauch, nachdem ihr zunächst eine völlig trockene Kehle, später ein beängstigender Druck am Solarplexus, gefolgt von heftigen Magenstichen zugesetzt hatten. Ihre Knie, ihre Füße bewegten sich mechanisch weiter. Würden sie auch bald kaputt sein, würde sie dort auch Schmerzen haben, würde sie aufhören, hier runterzugehen? Bilder aus ihrer Kindheit tauchten wieder auf. Ihre autoritäre Mutter, die in einem fort Schuldgefühle in ihr geweckt hatte, die sie tausendfach zugunsten ihrer niedlichen Brüder benachteiligt hatte ... Und ihr Vater, ein erloschener Typ, der vor seiner Frau zitterte, der jeder Diskussion aus dem Weg ging und zu jedem Wunsch der Königin Mutter ja und amen sagte. Ihr Vater, der Feigling ... Diese unangenehmen Erinnerungen wichen dem Gefühl, Jonathan gegenüber ungerecht gewesen zu sein. Tatsächlich hatte sie ihm alles vorgeworfen, was sie an ihren Vater erinnerte. Und gerade weil sie ihn ständig mit Vorwürfen überhäufte, schüchterte sie ihn ein, brach sie ihm das Rückgrat, so daß er nach und nach ihrem Vater ähnlich wurde. So hatte der Teufelskreis begonnen. Sie hatte, ohne es zu merken, wieder erschaffen, was sie am meisten haßte: das Paar ihrer Eltern. Sie mußte aus diesem Kreis ausbrechen. Sie machte sich Vorwürfe wegen all der Rüffel, die sie ihrem Mann erteilt hatte. Sie mußte alles wiedergutmachen. Sie kreiste weiter nach unten. Die Erkenntnis ihrer eigenen Schuld hatte ihren Körper von seiner Angst und den beklemmenden Schmerzen befreit. Sie kreiste weiter, stieg weiter hinab, bis sie plötzlich fast gegen eine Tür geprallt wäre. Eine schlichte Tür, teilweise mit Inschriften versehen, auf deren Lektüre sie verzichtete. Die Tür hatte eine Klinke, sie öffnete sich, ohne zu knarren. Dahinter führte die Treppe weiter hinab. Der einzige nennenswerte Unterschied waren die eisenhaltigen Gesteinsadern, die an dem Felsen erschienen. Durch den Kontakt mit durchsickerndem Wasser, das vermutlich von einem unterirdischen Bach herrührte, hatte das Eisen einen braunroten Farbton angenommen. Dennoch hatte sie das Gefühl, eine neue Etappe in Angriff genommen zu haben. Und plötzlich sah sie im Licht ihrer Stablampe Blutflecken vor ihren Füßen. Die mußten von Ouarzazate stammen. Bis hierhin war der tapfere kleine Pudel also gelaufen ... Überall waren Spritzer, aber es war schwierig, die Blutspuren an den Wänden von den rostfarbenen Eisenadern zu unterscheiden. Plötzlich vernahm sie ein Geräusch. Eine Art Prasseln. Es hörte sich an, als kämen lebende Wesen auf sie zu. Die Schritte waren nervös, als seien diese Wesen schüchtern, als wagten sie nicht näher zu kommen. Sie blieb stehen, um mit ihrer Stablampe die Dunkelheit zu erforschen. Als sie sah, woher das Geräusch rührte, stieß sie einen unmenschlichen Schrei aus. Aber da, wo sie war, konnte ihn niemand hören. Der Tag graut für sämtliche Kreaturen der Erde. Sie setzen ihren Abstieg fort. 36. UG. Nr. 103 683 kennt die Gegend recht gut, sie denkt, daß sie sich gefahrlos hinauswagen können. Bis hierher können ihnen die Kriegerinnen mit dem Felsengeruch nicht gefolgt sein. Sie geraten in einige völlig ausgestorbene, niedrige Gänge. An einigen Stellen rechts und links sind Löcher zu sehen, alte Getreidespeicher, die seit mindestens zehn Wintern nicht mehr benutzt worden sind. Der Boden ist klebrig. Irgendwie muß hier Feuchtigkeit eindringen. Das ist auch der Grund, warum sich diese als ungesund angesehene Zone in eines der verrufensten Viertel von Bel-o-kan verwandelt hat. Es stinkt. Das Männchen und das Weibchen sind nicht besonders beruhigt. Sie spüren die Gegenwart feindlicher Wesen. Antennen, die sie belauern. Die Gegend muß mit schmarotzenden und obdachlosen Insekten gespickt sein. Sie schreiten mit weit geöffneten Mandibeln durch die unheimlichen Säle und Tunnel. Ein schrilles Quietschen läßt sie zusammenzucken. Ritsch, ritsch, ritsch ... Kein Ton unterscheidet sich von dem andern. Sie vereinen sich zu einem hypnotischen Singsang, der durch die schlammigen Höhlen hallt. Der Soldatin zufolge handelt es sich um Grillen. Das sei ihr Liebesgesang. Die beiden anderen sind nur halb beruhigt. Es ist schier unglaublich, daß es den Grillen gelingt, die Truppen der Föderation inmitten der Stadt herauszufordern! Nr. 103 683 ist nicht überrascht. Hieß nicht ein Satz der letzten Königin: Besser die starken Punkte befestigen, als alles kontrollieren zu wollen. Das ist das Ergebnis ... Andere Geräusche. Als ob jemand sehr schnell gräbt. Haben die Kriegerinnen mit dem Felsenduft sie wiedergefunden? Nein . Zwei Hände tauchen vor ihnen auf. Ihre Kanten bilden eine Art Rechen ... Die Hände packen die Erde und werfen sie nach hinten. Auf diese Art treiben sie einen riesigen schwarzen Körper an. Wenn das bloß kein Maulwurf ist! Sie erstarren alle drei, ihre Mandibeln sind weit aufgerissen. Es ist ein Maulwurf. Sandwirbel. Eine Kugel aus schwarzen Haaren und weißen Krallen. Das Tier scheint zwischen den Sedimentsschichten zu schwimmen wie ein Frosch in einem Teich. Sie werden geohrfeigt, umgerührt, unter Lehmklumpen verschüttet. Aber sie kommen unversehrt davon. Die Wühlmaschine ist fort. Der Maulwurf hat nur Würmer gesucht. Es ist ihm eine große Freude, in ihre Nervenknoten zu beißen, um sie zu lahmen und sie dann lebend in seinem Bau zu lagern. Die drei Ameisen machen sich wieder auf den Weg, nachdem sie sich einmal mehr methodisch gereinigt und gewaschen haben. Sie sind in einen sehr schmalen und sehr hohen Durchgang eingedrungen. Ihre Führerin, die Soldatin, stößt einen Warnduft aus und deutet zur Decke. Jene ist in der Tat mit rot-schwarz gefleckten Wanzen übersät. Das Muster auf dem Rücken dieser drei Kopf (neun Millimeter) langen Insekten scheint einen erbosten Blick darzustellen. Im allgemeinen ernähren sie sich von dem feuchten Fleisch toter, manchmal auch recht lebendiger Insekten. Unversehens läßt sich eine Wanze auf das Trio fallen. Noch bevor sie den Boden erreicht, klemmt Nr. 103 683 den Hinterleib unter ihren Thorax und feuert einen Strahl Ameisensäure ab. Als die Wanze landet, hat sie sich in heißen Brei verwandelt. Sie fressen sie hastig auf, dann machen sie sich davon, bevor noch eines dieser Ungetüme herunterkommt. Intelligenz: Mit den eigentlichen Experimenten habe ich im Januar 58 begonnen. Erstes Thema: die Intelligenz. Sind Ameisen intelligent? Um es zu erfahren, habe ich einer roten Ameise (formica rufa) mittlerer Größe und geschlechtslosen Typs folgendes Problem gestellt: Ich habe ein Stück harten Honig in ein Loch gesteckt. Dieses Loch habe ich jedoch mit einem schmalen, nicht besonders schweren, aber recht langen Zweig verstopft. Normalerweise vergrößert die Ameise ein Loch, um hineinzugelangen, aber in diesem Fall war das Gestell aus hartem Kunststoff, den sie nicht durchbohren kann. Erster Tag: Die Ameise zerrt an dem Zweig, sie hebt ihn ein wenig an, dann läßt sie ihn los, hebt ihn wieder an. Zweiter Tag: Die Ameise macht immer noch dasselbe. Und sie versucht, den Zweig an seinem Ende anzuschneiden. Kein Resultat. Dritter Tag: Idem. Es sieht so aus, als hätte sich die Ameise auf eine falsche Überlegung versteift, die sie weiter verfolgt, weil sie sich keine andere vorstellen kann. Was ein Beweis für ihre Nichtintelligenz wäre ... Vierter Tag: Idem. Fünfter Tag: Idem. Sechster Tag: Als ich morgens wach wurde, war der Zweig nicht mehr in dem Loch. Das muß in der Nacht geschehen sein. Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens Die folgenden Gänge sind halb verstopft. Die kalte und trockene Erde oben, die von weißen Wurzeln zurückgehalten wird, bildet Klumpen. Zuweilen fallen einige Bröckchen hinunter. »Innerer Hagel« nennt man das. Das einzige bekannte Mittel, sich davor zu schützen, ist doppelte Wachsamkeit und beim geringsten Duft von Geröll zur Seite springen. Den Bauch auf den Boden gepreßt, die Antennen nach hinten geknickt, die Beine weit abgespreizt, rücken die drei Ameisen vor. Nr. 103 683 scheint genau zu wissen, wohin sie sie führt. Der Boden wird wieder feucht. Ein ekelhafter Geruch schwebt dort. Es riecht nach Leben. Nach Tier. Nr. 327 bleibt stehen. Er ist nicht ganz sicher, aber ihm war, als hätte sich eine Wand unmerklich bewegt. Er geht auf die verdächtige Zone zu; die Wand bebt erneut. Er weicht zurück. Eine Ausbeulung zeichnet sich ab, doch zu klein, als daß es ein Maulwurf sein könnte. Die Ausbeulung verwandelt sich in eine Spirale, eine Art Höcker wächst in ihrer Mitte und spritzt hervor, um sich auf ihn zu stürzen. Das Männchen stößt einen Duftschrei aus. Ein Regenwurm! Nr. 327 zerschneidet ihn mit einem Mandibelbiß. Aber jetzt tropft dieses sich ringelnde Getier ringsum von den Wänden. Bald sind es so viele, daß man glauben könnte, in den Eingeweiden eines Vogels zu sein. Einer der Würmer verfällt darauf, sich um den Thorax des Weibchens zu schlingen. Jenes schnappt mit den Mandibeln zu und schneidet ihn in mehrere Stücke, die sich rechts und links davonschlängeln. Andere Würmer kommen hinzu und winden sich um ihre Beine und Köpfe. Daß die Antennen in Mitleidenschaft gezogen werden, ist besonders unangenehm. Sie legen alle drei gemeinsam an und beschießen die harmlosen Askariden mit Säure. Am Ende ist der Boden nur mehr ein Relief aus ockerfarbenem Fleisch, das immer noch hüpft, als wollte es sie herausfordern. Sie rennen davon. Als sie sich wieder fassen, zeigt ihnen Nr. 103 683 eine weitere Reihe von Gängen, die sie durchqueren müssen. Je weiter sie kommen, um so schlechter riecht es, aber sie gewöhnen sich daran. Man gewöhnt sich an alles. Die Soldatin deutet auf eine Wand und erklärt, daß sie dort graben müssen. Das sind die alten sanitären Einrichtungen aus Kompost, der Versammlungsort ist unmittelbar daneben. Wir treffen uns gerne hier, da ist man ungestört. Sie spielen Wühlmaus. Auf der anderen Seite gelangen sie in einen großen Saal, in dem es nach Exkrementen riecht. Die dreißig Soldatinnen, die sich ihrer Sache angeschlossen haben, warten tatsächlich auf sie. Aber um mit ihnen zu reden, müßte man die Grundbegriffe des Puzzles kennen, denn sie sind in ihre Einzelteile zerlegt. Mancher Kopf weit vom Thorax entfernt . Fassungslos inspizieren sie den makabren Saal. Wer mag sie hier getötet haben, im Keller von Bel-o-kan? Bestimmt etwas, was von unten kommt, stößt das 327. Männchen hervor. Das glaube ich kaum, erwidert das 56. Weibchen und schlägt trotz allem vor, den Boden aufzugraben. Sie schlägt die Mandibeln hinein. Schmerz. Darunter ist nackter Fels. Ein riesiger Granitfelsen, erklärt Nr. 103 683 kurz darauf, das ist der Grund, der harte Boden der Stadt. Und der ist dick. Sehr dick. Und breit. Sehr breit. Noch nie ist jemand bis zu seinem Rand vorgedrungen. Wer weiß, vielleicht ist das sogar der Boden der Welt. Ein merkwürdiger Geruch breitet sich aus. Etwas, was in den Raum getreten ist. Etwas, was ihnen sofort sympathisch ist. Nein, keine Ameise aus dem Volk, sondern ein Lomechusekäfer. Noch als Larve hat Nr. 56 Belo-kiu-kiuni über dieses Insekt reden hören: Kein Gefühl kommt dem gleich, was man bei der Einnahme des Nektars der Lomechuse empfindet, wenn man erst einmal davon gekostet hat. Sie ist die Frucht aller körperlichen Begierde, ihr Sekret zerstört den unbeugsamsten Willen. In der Tat unterdrückt die Einnahme dieser Substanz den Schmerz, die Angst, die Intelligenz. Die Ameisen, die das Glück haben, ihre Giftlieferantin zu überleben, verlassen auf der Suche nach neuen Dosen unaufhaltsam die Stadt. Sie essen nicht mehr, ruhen sich nicht mehr aus und wandern bis zur Erschöpfung. Schließlich pressen sie sich an einen Grashalm, wenn sie keine Lomechuse finden, und siechen dahin, gepeinigt von den tausend Martern des Entzugs. Die junge Nr. 56 hat eines Tages gefragt, warum man eine solche Geißel, der Termiten und Bienen schonungslos den Garaus machen, in der Stadt dulde. Belo-kiu-kiuni hat geantwortet, daß es zwei Wege gebe, ein Problem anzugehen: entweder man hält es sich vom Leib, oder man läßt sich von ihm durchdringen. Der zweite sei nicht unbedingt der schlechteste. Das Sekret der Lomechuse ist, wohldosiert oder mit anderen Substanzen gemischt, eine hervorragende Medizin. Nr. 327 wagt sich als erster vor. Angezogen von der Schönheit der Düfte, die von der Lomechuse ausgehen, leckt er die Haare ihres Hinterleibs. Jene sondern einen Halluzinationen hervorrufenden Saft ab. Verwirrender Umstand: Der Hinterleib der Giftmischerin mit seinen beiden langen Haaren hat exakt die gleiche Form wie ein Ameisenkopf mit den beiden Antennen! Nr. 56 stürzt auch herbei, aber sie kommt nicht mehr dazu, sich zu laben. Ein Säurestrahl zischt durch die Luft. Nr. 103 683 hat angelegt und geschossen. Der verätzte Käfer windet sich vor Schmerz. Wortkarg kommentiert die Soldatin ihr Eingreifen: Es ist nicht normal, dieses Insekt in einer solchen Tiefe anzutreffen. Die Lomechuses können sich nicht durch die Erde graben. Jemand hat sie bewußt hierhergebracht, um uns daran zu hindern, weiterzugehen! Hier ist irgend etwas verborgen. Die beiden anderen sind betreten, sie können nicht umhin, den Scharfsinn ihrer Gefährtin zu bewundern. Alle drei beginnen zu suchen. Sie suchen lange, verrücken Kieselsteine, schnuppern in den kleinsten Winkeln des Raumes. Es gibt kaum einen Hinweis. Schließlich fällt ihnen jedoch ein Geruch auf, den sie kennen. Der schwache Felsenduft der Mörderinnen. Kaum wahrnehmbar, höchstens zwei, drei Moleküle, aber das reicht. Er kommt von dort drüben. Genau unter diesem kleinen Felsen. Sie kippen ihn um und legen einen Geheimgang frei. Einer mehr. Nur daß dieser hier eine Besonderheit hat: Er ist nicht durch Erde, auch nicht durch Holz gegraben. Er ist geradewegs in den Granitfelsen geschlagen! Keine Mandibel kann ein solches Material ausgehöhlt haben. Der Gang ist ziemlich breit, dennoch steigen sie vorsichtig hinab. Nach einer kurzen Strecke gelangen sie in einen weitläufigen Saal, der mit Nahrungsmitteln gefüllt ist. Mehl, Honig, Korn, allerlei Fleisch ... All das in erstaunlichen Mengen, genug, um die Stadt fünf Winter lang zu ernähren! Und das Ganze verströmt den gleichen Felsengeruch wie die Kriegerinnen, die sie verfolgen. Wie ist es möglich, daß ein so gut gefüllter Speicher heimlich hier eingerichtet worden ist? Obendrein mit einer Lomechuse (??) davor, um den Zugang zu versperren! Diese Information wurde nie unter den Antennen der Meute verbreitet . Sie stärken sich ausgiebig, dann vereinigen sie ihre Antennen, um die Lage zu besprechen. Diese Angelegenheit wird immer rätselhafter. Die geheime Waffe, mit der die Expedition Nr. 1 vernichtet wurde, die Kriegerinnen mit dem eigenartigen Duft, die sie überall attackieren, die Lomechuse, ein Nahrungsmittellager unter dem Boden der Stadt ... Dahinter steckt mehr als eine Gruppe von Spionen im Dienst der Zwerginnen. Oder sie sind verdammt gut organisiert! Nr. 327 und seine Partnerinnen kommen nicht mehr dazu, ihre Gedanken zu vertiefen. Ein dumpfes Pochen hallt bis zu ihnen herunter. Pongpongpongpong, pongpongpongpong! Oben trommeln die Arbeiterinnen mit dem Ende ihres Hinterleibs auf den Boden. Das ist ernst. Man ist schon bei Alarmstufe zwei. Sie dürfen diesen Appell nicht ignorieren. Ihre Beine machen automatisch kehrt. Ihre Körper, getrieben von einer unwiderstehlichen Kraft, sind bereits unterwegs, um sich dem Rest des Volkes anzuschließen. Die Hinkende, die ihnen in einiger Entfernung gefolgt ist, ist erleichtert. Uff! Sie haben nichts entdeckt ... Da weder sein Vater noch seine Mutter aus dem Keller zurückkamen, entschloß sich Nicolas zu guter Letzt, die Polizei zu verständigen. Und so tauchte ein ausgehungertes Kind mit geröteten Augen im Kommissariat auf, um zu erklären, daß seine Eltern »im Keller verschwunden« seien. Wahrscheinlich seien sie von Ratten oder Ameisen gefressen worden. Zwei verdutzte Polizisten folgen ihm in die Souterrainwohnung in der Rue des Sybarites. Intelligenz (Fortsetzung): Das Experiment wird wiederholt, diesmal mit einer Videokamera. Versuchsperson: Eine andere Ameise der gleichen Art und aus dem gleichen Nest. -    Erster Tag: Sie zieht, drückt und beißt den Halm ohne irgendeinen Erfolg. -    Zweiter Tag: Idem. -    Dritter Tag: Geschafft! Sie hat etwas gefunden, sie zieht ein wenig, klemmt den Zweig fest, indem sie ihren Hinterleib in das Loch steckt und ihn anschwellen läßt, dann zieht sie ihre »Beute« heraus und beginnt von vorn. Und so entfernt sie Stück für Stück den Halm. So ging das also ... Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens Der Alarm wurde von einem außergewöhnlichen Ereignis ausgelöst. La-chola-kan, die westlichste der Tochterstädte, ist von Einheiten der Zwergameisen angegriffen worden. Sie haben also wieder angefangen ... Jetzt ist der Krieg unvermeidlich. Die Überlebenden, denen es gelungen ist, die Blockade der Shigaepuanerinnen zu durchbrechen, erzählen unglaubliche Dinge. Folgendes habe sich abgespielt: Um 17°-Zeit habe sich ein langer Akazienzweig dem Haupteingang von La-chola-kan genähert. Ein ungewöhnlicher mobiler Zweig. Er sei ruckartig eingedrungen und habe die Öffnung zerstört, indem er sich in einem fort drehte! Die Schildwachen seien nach draußen gestürmt, um dieses unbekannte grabende Objekt anzugreifen, seien jedoch allesamt vernichtet worden. Daraufhin habe sich alle Welt verbarrikadiert und darauf gewartet, daß der Zweig aufhört zu wüten. Aber das habe kein Ende genommen. Der Zweig habe in den Gängen gewühlt und die ganze Kuppel gesprengt, als wäre sie eine Rosenknospe. Die Soldatinnen hätten auf Teufel komm raus geschossen, aber die Säure habe nichts gegen diesen pflanzlichen Zerstörer vermocht. Die Lacholakanerinnen hätten es vor Entsetzen kaum noch ausgehalten. Irgendwann habe das dann doch aufgehört. Dafür seien nach einer kurzen Pause die Einheiten der Zwerginnen im Sturmschritt angekommen. Die aufgeschlitzte Tochterstadt habe Mühe gehabt, ihrer Attacke zu widerstehen. Es habe Zigtausende von Opfern gegeben. Die Überlebenden hätten sich schließlich in ihren Kiefernstumpf zurückgezogen, und bislang sei es ihnen gelungen, der Belagerung standzuhalten. Sie könnten jedoch nicht mehr lange durchhalten, sie hätten keinerlei Vorräte, und der Kampf tobe bereits in den hölzernen Adern der Verbotenen Stadt. Da La-chola-kan zur Föderation gehört, müssen Bel-o-kan und alle Töchterstädte zu Hilfe eilen. Das Klarmachen zum Gefecht wird ausgerufen, noch bevor die Antennen das Ende der ersten Berichte empfangen haben. Wer redet noch von Erholung und Wiederaufbau? Der erste Krieg des Frühjahrs hat begonnen. Das 327. Männchen, das 56. Weibchen und die 103 683. Soldatin hasten die Stockwerke hinauf. Überall wimmelt es von Ameisen. Die Ammen tragen die Eier, die Larven und die Puppen in das 43. UG. Die Blattlausmelkerinnen verstecken ihr grünes Vieh tief unten in der Stadt. Die Bäuerinnen bereiten feingehackte Nahrungsvorräte zu, die als Kampfration dienen können. In den Sälen der militärischen Kasten füllen die Artilleristinnen ihre Hinterleiber randvoll mit Ameisensäure. Die Fechterinnen schärfen ihre Mandibeln. Die Söldnerinnen schließen sich zu kompakten Einheiten zusammen. Die Fortpflanzungsfähigen verkriechen sich in ihren Vierteln. Sie können nicht sofort angreifen, es ist noch zu kalt. Aber morgen mit dem ersten Sonnenstrahl wird der Krieg wüten. Oben auf der Kuppel werden die Öffnungen zur Wärmeregulierung verstopft. Die Stadt Bel-o-kan schließt ihre Poren, zieht die Krallen ein und knirscht mit den Zähnen. Sie ist bereit zuzubeißen. Der dickere der beiden Polizisten legte seinen Arm um die Schultern des Jungen. »Und du bist ganz sicher? Sie sind da drin?« Das Kind machte sich entnervt los, ohne ihn einer Antwort zu würdigen. Inspektor Galin beugte sich über die Treppe und stieß ein ebenso lautes wie lächerliches »Hallo!« aus. Nur das Echo antwortete ihm. »Das scheint wirklich sehr tief zu sein«, meinte er. »Da kann ich nicht einfach so runtergehen, da braucht man Ausrüstung.« Kommissar Bilsheim legte mit besorgter Miene einen fleischigen Finger vor seinen Mund. »Natürlich. Natürlich.« »Ich geh die Feuerwehr holen«, sagte Inspektor Galin. »In Ordnung, ich vernehme in der Zwischenzeit den Kleinen.« Der Kommissar deutete auf das aufgeschweißte Schloß. »War das deine Mama?« »Ja.« »Sag mal, die ist aber schlau, deine Mama. Ich kenn nicht viele Frauen, die mit einem Schweißgerät umgehen können und eine gepanzerte Tür knacken . Und ich kenne keine einzige, die ein verstopftes Spülbecken frei machen kann.« Nicolas war nicht nach Witzen zumute. »Sie wollte Papa suchen.« »Stimmt, entschuldige ... Seit wann sind sie jetzt da unten?« »Seit zwei Tagen.« Bilsheim kratzte sich an der Nase. »Und warum ist dein Vater runtergegangen, weißt du das?« »Am Anfang, um den Hund zu holen. Warum danach, wissen wir nicht. Er hat jede Menge Metallplatten gekauft und nach unten gebracht. Und dann hat er lauter Bücher über Ameisen gekauft.« »Über Ameisen? Natürlich, natürlich.« Einigermaßen verwirrt, begnügte sich Kommissar Bilsheim damit, zu nicken und ein paar weitere »natürlich« zu murmeln. Die Sache ließ sich schlecht an. Sie schmeckte ihm nicht. Das war nicht das erste Mal, daß er es mit einem »speziellen« Fall zu tun hatte. Man konnte sogar sagen, daß man ihm systematisch alle miesen Dinger unterjubelte. Das lag wahrscheinlich an einer seiner Haupteigenschaften: Er gab den Verrückten das Gefühl, daß sie in ihm endlich ein offenes Ohr gefunden hatten. Das war angeboren. Schon als er ganz klein war, kamen seine Klassenkameraden zu ihm, um ihm ihre Spinnereien anzuvertrauen. Er wackelte dann verständnisvoll mit dem Kopf, fixierte sein Gegenüber und sagte nur »natürlich«. Das klappte immer. Man macht sich das Leben nur unnötig kompliziert, wenn man schlaues Zeug oder Komplimente von sich gibt, um Eindruck zu schinden oder zu schmeicheln. Bilsheim hatte herausgefunden, daß das schlichte Wort »natürlich« vollauf reichte. Ein Rätsel mehr der zwischenmenschlichen Kommunikation, das gelöst war. Das Phänomen war um so kurioser, als der junge Bilsheim, der kaum ein Wort sagte, in der Schule den Ruf eines großen Redners erlangt hatte. Man hatte ihn sogar gebeten, die Reden am Ende des Schuljahrs zu halten. Bilsheim hätte Psychiater werden können, aber die Uniform übte eine wahre Faszination auf ihn aus. Ein weißer Kittel konnte da in seinen Augen nicht mithalten. In einer Welt voller Bekloppter waren die Polizei und die Armee letztlich die Fahnenträger derjenigen, »die sich nicht gehenließen«. Denn wenn er sie auch zu verstehen glaubte, haßte Bilsheim all diese Leute, die ins Blaue hinein faselten. Hirnlose Gestalten! Auf den Gipfel der Weißglut brachten ihn die Leute, die mit lauter Stimme in der Metro redeten und dabei eine Schlappe mimten, die sie gerade hatten hinnehmen müssen und nun unbedingt anderen vorführen wollten. Als Bilsheim zur Polizei gegangen war, hatten seine Vorgesetzten sein Talent schnell bemerkt. Man drehte ihm systematisch sämtliche »unverständlichen« Fälle an. Meistens klärte er überhaupt nichts auf, aber zumindest kümmerte er sich darum, und das war schon viel. »Ach ja, da waren auch noch die Streichhölzer!« »Was ist mit denen?« »Man muß mit sechs Streichhölzern vier Dreiecke bilden, wenn man die Lösung finden will.« »Welche Lösung?« »Die >neue Art zu denkenc. Die >andere< Logik, von der Papa geredet hat.« »Natürlich.« Diesmal begehrte der Junge auf. »Nein, überhaupt nicht >natürlichzu sehen, was das gibtjunger Gott< vergessen, und dann wage ich mir das Schicksal ihrer >Bürger< nicht auszumalen ... Ich fordere Sie nicht etwa aus Mitleid für die Ameisen oder aufgrund ihrer Rechte als Tiere auf, für das Verbot der Spielzeugameisenhaufen zu stimmen. Tiere haben keine Rechte; sie werden in Batterien gezüchtet und für unseren Konsum geschlachtet. Ich fordere Sie auf, für dieses Gesetz zu stimmen, indem Sie sich vorstellen, daß wir selbst vielleicht Versuchskaninchen und Gefangene einer riesigen Struktur sind. Fänden Sie es wünschenswert, wenn eines Tages die Erde einem jungen, unverantwortlichen Gott als Spielzeug zu Weihnachten geschenkt würde?« Die Sonne steht auf ihrem höchsten Punkt. Die Spätankömmlinge. Männchen wie Weibchen, drängen sich durch die Adern, die zur Haut der Stadt führen. Arbeiterinnen schieben sie an, belecken sie, muntern sie auf. Nr. 56 ist mittlerweile in dieser jubelnden Menge untergetaucht, in der sich sämtliche persönlichen Gerüche vermengen. Hier wird es niemandem gelingen, ihre Düfte zu identifizieren. Sie läßt sich von dem Strom ihrer Schwestern tragen und gelangt immer höher in bislang unbekannte Viertel. Plötzlich, am Ende eines Gangs, erblickt sie etwas, was sie noch nie gesehen hat. Das Tageslicht. Das ist zunächst nur ein Lichtschein an den Wänden, doch schon bald verwandelt sich das in blendende Helligkeit. Endlich sieht sie diese mysteriöse Kraft, die ihr die Ammen geschildert haben. Das warme, sanfte, schöne Eicht. Die Verlockung einer neuen, märchenhaften Welt. Sie fühlt sich regelrecht berauscht durch die Aufnahme all dieser rohen Photonen in ihren Augenhöhlen. Als hätte sie zuviel von dem vergorenen Honigtau in der 32. Etage zu sich genommen. Die 56. Prinzessin geht weiter. Der Boden ist mit Flecken von einem grellen Weiß gesprenkelt. Sie watet durch die warmen Photonen. Für jemand, der seine Kindheit unter der Erde verbracht hat, ist der Unterschied gewaltig. Eine weitere Biegung. Ein Bündel klaren Lichts schießt hinein, dehnt sich zu einem flimmernden Kreis, dann zu einem silbernen Schleier aus. Das Bombardement des Lichts läßt sie zurückprallen. Sie spürt die Funken, die in ihre Augen treten, ihre Sehnerven versengen, ihre drei Gehirne martern. Drei Gehirne ... Ein altes Erbe ihrer Vorfahren, der Würmer, die einen Nervenknoten pro Körperring hatten, ein Nervensystem für jeden Teil des Körpers. Sie kämpft wieder gegen den Photonenwind an. In der Ferne erkennt sie die Gestalten ihrer Schwestern, die von dem Tagesgestirn erhascht werden. Sie sehen aus wie Phantome. Sie geht weiter. Ihr Panzer wird lauwarm. Dieses Licht, das man ihr tausendmal zu schildern versucht hat, ist mit Worten nicht zu erfassen, man muß es erleben! Sie muß an die Arbeiterinnen aus der Unterkaste der »Pförtnerinnen« denken, die zeitlebens in der Stadt eingeschlossen bleiben und niemals erfahren, wie die Außenwelt und die Sonne sind. Sie dringt in die Mauer aus Licht ein und gelangt auf die andere Seite außerhalb der Stadt. Ihre Facettenaugen passen sich nach und nach an, während sie das Stechen der wilden Luft wahrnimmt. Eine kalte Luft, beweglich und duftend, ganz anders als die gezähmte Atmosphäre der Welt, in der sie gelebt hat. Ihre Antennen wirbeln umher. Sie hat Mühe, sie kontrolliert auszurichten. Ein noch schnellerer Windstoß preßt sie ihr vors Gesicht. Ihre Flügel knattern. Oben auf der Spitze der Kuppel wird sie von Arbeiterinnen in Empfang genommen. Sie ergreifen sie an den Beinen, ziehen sie hoch, stoßen sie nach vorn in ein Gewühl von Männchen und Weibchen, die sich zu Hunderten auf einer schmalen Fläche drängen und stapeln. Die 56. Prinzessin erfaßt, daß sie auf der Startbahn des Hochzeitsflugs steht, daß sie jedoch noch warten müssen, bis das Wetter besser ist. Während der Wind weiter seinen Schabernack treibt, hat ein Dutzend Spatzen die Männchen und Weibchen erblickt. Angelockt von diesem unverhofften Fressen flattern sie immer näher heran. Als sie zu nahe kommen, decken die kronenförmig um die Spitze plazierten Artilleristinnen sie mit ihren Säurestrahlen ein. Jetzt gerade versucht einer dieser Vögel sein Glück, er stürzt auf die Menge hinab, pickt drei Weibchen und steigt wieder hoch! Bevor der dreiste Räuber genug Höhe gewonnen hat, wird er von den Artilleristinnen abgeschossen; er wälzt sich, den Schnabel noch voll, kläglich im Gras, um das Gift von seinen Flügeln zu wischen. Das soll ihnen eine Lehre sein! Und in der Tat, die Spatzen haben sich ein wenig zurückgezogen ... Aber niemand läßt sich dadurch täuschen. Sie werden bald wiederkommen, die Luftabwehr einem erneuten Test unterziehen. raubtiere: Was wäre unsere menschliche Zivilisation, wenn sie sich nicht der gefährlichsten Raubtiere entledigt hätte, der Wölfe, Löwen, Bären und Hyänen? Sicher eine ängstliche, ständig in Frage gestellte Zivilisation. Die Römer ließen, um sich inmitten ihrer Zechgelage Angst einzujagen, eine Leiche herbeischaffen. So wurden alle daran erinnert, daß nichts gewonnen ist und daß der Tod jeden Augenblick eintreten kann. Heute jedoch hat der Mensch sämtliche Arten, die fähig sind, ihn zu fressen, umgebracht, ausgerottet, ins Museum gesteckt. So daß die Mikroben und vielleicht die Ameisen die einzigen sind, die ihn noch schrecken können. Die Zivilisation der Ameisen hingegen hat sich entwickelt, ohne daß es ihr gelungen ist, die hauptsächlichen Räuber auszuschalten. Resultat: Dieses Insekt lebt in ständiger Gefahr. Es weiß, daß es erst die Hälfte des Wegs zurückgelegt hat, wenn selbst das dümmste Tier mit einem Tatzenhieb die Frucht tausendjährigen, wohldurchdachten Experimentierens zunichte machen kann. Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens Der Wind hat nachgelassen, die Luftströme werden seltener, die Temperatur steigt. Um 22°-Zeit beschließt die Stadt, ihre Kinder loszuschicken. Die Weibchen lassen ihre vier Flügel surren. Sie sind bereit, nur zu bereit. All diese Düfte reifer Männchen haben ihr sexuelles Verlangen auf die Spitze getrieben. Die ersten Jungfrauen heben anmutig ab. Sie schwingen sich auf eine Höhe von hundert Kopf und ... werden von den Spatzen hinweggerafft. Keine kommt durch. Unten herrscht Bestürzung, aber deshalb wird man nicht aufgeben. Eine zweite Welle hebt ab. Vier Weibchen von hundert schaffen es, diese Sperre aus Federn und Schnäbeln zu durchbrechen. Die Männchen machen sich in einem dichten Geschwader auf die Verfolgung. Sie werden durchgelassen, sie sind zu schmächtig, als daß sich die Spatzen für sie interessieren würden. Eine dritte Welle von Weibchen schwingt sich zum Sturm auf die Wolken empor. Über fünfzig Vögel sind auf ihrem Weg. Es folgt ein einziges Gemetzel. Die Vögel werden immer zahlreicher, als hätten sie sich abgesprochen. Spatzen sind dort. Rotkehlchen. Buchfinken. Tauben ... Sie zwitschern lauthals. Auch für sie ist das ein Festtag! Eine vierte Welle hebt ab. Auch diesmal kommt keines der Weibchen durch. Die Vögel streiten sich untereinander um die besten Stücke. Die Artilleristinnen werden nervös. Sie schießen vertikal mit aller Kraft ihrer Säuredrüsen. Aber die Räuber fliegen zu hoch. Die tödlichen Tropfen fallen auf die Stadt zurück und verursachen zahlreiche Schäden und Verletzungen. Einige Weibchen geben erschreckt auf. Sie sind der Ansicht, daß es unmöglich ist, durchzukommen, und ziehen es vor, wieder nach unten zu gehen und wie die anderen flügellahmen Prinzessinnen in den Sälen die Paarung zu vollziehen. Die fünfte Welle schwingt sich empor, zum höchsten Opfer bereit. Sie müssen unbedingt diese Mauer aus Schnäbeln durchbrechen! Siebzehn Weibchen kommen durch, unmittelbar gefolgt von dreiundvierzig Männchen. Sechste Welle: Zwölf Weibchen durchgekommen! Siebte Welle: Vierunddreißig! Nr. 56 bewegt ihre Flügel. Sie wagt es noch nicht, loszufliegen. Gerade ist der Kopf einer Schwester vor ihre Füße gefallen, gefolgt von einer schlaffen, unheilverkündenden Flaumfeder. Sie wollte wissen, wie die große Außenwelt beschaffen ist? Ah, jetzt weiß sie Bescheid! Wird sie mit der achten Welle abheben? Nein ... Und sie tut gut daran, denn jene wird vollständig vernichtet. Die Prinzessin hat Lampenfieber. Erneut läßt sie ihre Flügel surren und steigt ein wenig auf. Schön, wenigstens das klappt, kein Problem, das ist nur ihr Kopf, der ... Angst ergreift sie. Sie muß einen klaren Kopf bewahren. Die Aussichten, daß sie es schafft, sind sehr gering ... Nr. 56 unterbricht ihr Flattern: Dreiundsiebzig Weibchen der neunten Welle sind durchgekommen. Die Arbeiterinnen stoßen aufmunternde Pheromone aus. Neue Zuversicht erwacht. Wird sie mit der zehnten Welle losfliegen? Als sie noch zögert, erblickt sie plötzlich ein Stück weiter die kleine Hinkende und die dicke Killerin mit den auf ewig erloschenen Augen. Mehr bedarf es nicht, um ihr einen Ruck zu geben. Sie fliegt blitzschnell los. Die Mandibeln schließen sich in der Luft. Sie haben Nr. 56 nur knapp verfehlt. Sie hält sich einen Moment auf halber Höhe zwischen der Stadt und dem Vogelschwarm. Dann wird sie von dem Sog der zehnten Welle erfaßt. Sie läßt sich mitreißen, schwingt sich ebenfalls geradewegs auf den Schlund der Lüfte zu. Ihre beiden Nachbarinnen lassen sich erhaschen, sie selbst entkommt unverhofft den riesigen Fängen einer Meise. Reine Glückssache. Nun, vierzehn von ihnen sind unversehrt durchgekommen. Aber Nr. 56 macht sich keine Illusionen. Sie hat nur die erste Prüfung überstanden. Das Schlimmste liegt noch vor ihr. Sie kennt die Zahlen. In der Regel erreichen von eintausendfünfhundert Prinzessinnen ungefähr zehn ohne Zwischenfall den Boden. Günstigstenfalls vier Königinnen gelingt es, ihre Stadt zu gründen. manchmal, wenn: Manchmal, wenn ich im Sommer spazierengehe, bemerke ich, daß ich fast auf eine Art Fliege getreten wäre (??). Ich schaue genauer hin: eine Ameisenkönigin. Wenn eine da ist, sind Tausende da. Sie winden sich auf der Erde. Sie werden von den Schuhen der Leute zertreten oder prallen gegen die Windschutzscheibe der Fahrzeuge. Sie sind erschöpft, können ihren Flug nicht mehr kontrollieren. Wie viele Städte wurden auf diese Art zerstört, durch einen simplen Scheibenwischer auf einer sommerlichen Straße? Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens Während Nr. 56 ihre vier langen Flügel schwingt, nimmt sie wahr, wie sich hinter ihr die gefiederte Mauer über der elften und zwölften Welle schließt. Die Ärmsten! Noch fünf Wellen, dann hat die Stadt all ihre Hoffnungen verpulvert. Sie denkt schon nicht mehr daran, sie wird von dem unendlichen Azur angezogen. Alles ist blau, so blau! Es ist phantastisch, durch die Lüfte zu schießen, wenn man bislang nur das Leben unter der Erde gekannt hat. Ihr ist, als bewegte sie sich in einer anderen Welt. Sie hat die schmalen Gänge gegen einen schwindelerregenden Raum eingetauscht, in dem alles in drei Dimensionen explodiert. Intuitiv entdeckt sie sämtliche Flugvarianten. Wenn sie ihr Gewicht auf diesen Flügel verlagert, fliegt sie nach rechts. Wenn sie den Anstellwinkel ihres Flügelschlags ändert, steigt sie empor. Oder sie sinkt tiefer. Oder wird schneller ... Sie stellt fest, daß sie, um eine perfekte Kurve hinzulegen, die Spitzen ihrer Flügel in eine imaginäre Achse bringen muß und nicht davor zurückschrecken darf, ihren Körper in einem Winkel von über fünfundvierzig Grad abzuknicken. Das 56. Weibchen entdeckt, daß der Himmel keineswegs leer ist. Im Gegenteil. Er ist voller Strömungen. Einige, die »Pumpen«, lassen sie aufsteigen. Die Luftlöcher hingegen kosten sie Höhe. Man kannte nur erkennen und sich darauf einstellen, wenn man die Bewegungen der Insekten weiter vorn beobachtet. Sie friert. Es ist kalt hier oben. Manchmal kommen Luftwirbel, laue oder eisige Windstöße, die sie herumschleudern wie einen Kreisel. Eine Gruppe von Männchen hat sich auf die Verfolgung gemacht. Nr. 56 beschleunigt, um nur von den schnellsten und hartnäckigsten eingeholt zu werden. Das ist die erste genetische Selektion ... Sie spürt etwas. Ein Männchen hat sich an ihrem Hinterleib festgemacht, klettert an ihr hoch, steigt auf sie hinauf. Es ist ziemlich klein, aber da es aufgehört hat, mit den Flügeln zu schlagen, erscheint ihr sein Gewicht beträchtlich. Sie verliert ein wenig an Höhe. Oben windet sich ihr Begleiter, um nicht von den Flügeln behindert zu werden. Vollkommen aus dem Gleichgewicht gebracht, verbiegt er seinen Hinterleib, um mit seinem Stachel das weibliche Geschlecht zu erreichen. Sie harrt neugierig der Empfindungen. Ein köstliches Kribbeln steigt in ihr auf. Das bringt sie auf eine Idee. Ohne Vorwarnung kippt sie nach vorn und geht in den Sturzflug. Der helle Wahn! Die große Ekstase! Geschwindigkeit und Sex vereinen sich zu ihrem ersten großen cocktail der Wonne. Das Bild des 327. Männchens geht ihr kurz durch den Sinn. Der Wind pfeift durch die Härchen zwischen ihren Augen. Ein würziger Saft läßt ihre Antennen erzittern. Einige ihrer Sinne verwandeln sich in eine bewegte See. Sonderbare Flüssigkeiten quellen aus all ihren Drüsen hervor. Sie vermischen sich zu einer schäumenden Suppe, die sich in ihr Gehirn ergießt. In Höhe der Gräser angekommen, nimmt sie all ihre Kraft zusammen und schlägt wieder mit den Flügeln. Jetzt schießt sie wie ein Pfeil nach oben. Als sie sich wieder beruhigt, fühlt sich das Männchen gar nicht mehr gut. Seine Beine schlottern, seine Mandibeln hören nicht auf, sich grundlos zu öffnen und zu schließen. Herzstillstand. Und freier Fall ... Bei den meisten Insekten sind die Männchen darauf programmiert, bei ihrem ersten Liebesakt zu sterben. Ihnen steht nur ein einziger coup zu, der richtige. Wenn die Spermien den Körper verlassen, nehmen sie das Leben ihres Besitzers mit sich. Bei den Ameisen tötet die Ejakulation das Männchen. Bei anderen Arten ermordet das Weibchen, gerade erst beglückt, seinen Wohltäter. Einfach, weil die Erregung Appetit gemacht hat. Man muß sich den Tatsachen beugen: Die Welt der Insekten ist im Ganzen eine Welt der Weibchen, genauer gesagt der Witwen. Die Männchen haben darin nur vorübergehend Platz. Aber schon klammert sich ein zweiter Erzeuger an sie. Kaum ist der eine gegangen, wird er schon ersetzt! Es folgt ein dritter, dann noch viele andere. Nr. 56 zählt sie nicht mehr. Mindestens siebzehn oder achtzehn lösen einander ab, um ihre Spermathek mit frischen Keimzellen zu füllen. Sie spürt die lebende Flüssigkeit, die in ihrem Hinterleib brodelt. Das ist der Vorrat ihrer zukünftigen Stadt. Millionen von männlichen Fortpflanzungszellen, die es ihr ermöglichen werden, fünfzehn Jahre lang täglich Eier zu legen. Rings um sie werden ihre Schwestern von den gleichen Empfindungen erfüllt. Der Himmel ist voll von fliegenden Weibchen, die von einem oder sogar mehreren Männchen bestiegen werden, die sich gemeinsam mit dem gleichen Weibchen paaren. Liebeskarawanen, die in den Wolken hängen. Diese Damen sind trunken vor Müdigkeit und Glück. Sie sind keine Prinzessinnen mehr, sie sind Königinnen. Ihre wiederholte Wonne hat sie ganz benommen gemacht, und es fällt ihnen recht schwer, ihren Kurs zu halten. Diesen Augenblick haben vier majestätische Schwalben ausgesucht, um aus einem blühenden Kirschbaum aufzutauchen. Sie fliegen nicht, sie gleiten mit einer Unbewegtheit zwischen den Schichten des Himmels, die einen erstarren läßt ... Sie stürzen sich mit weit offenem Schnabel auf die Ameisen und verschlingen sie eine nach der andern. Auch Nr. 56 wird von ihnen gejagt. Nr. 103 683 befindet sich im Saal der Kundschafterinnen. Eigentlich hatte sie vor, die Ermittlungen allein weiterzuführen und sich in den Termitenhügel des Ostens zu schleichen, aber man hat sie aufgefordert, sich einer Gruppe von Kundschafterinnen anzuschließen und mit ihnen die »Jagd auf den Drachen« aufzunehmen. Tatsächlich ist in der Nähe der Weidefläche der Stadt Zubi-zubi-kan, die über den größten Viehbestand der ganzen Föderation verfügt (9 Millionen Tiere, die zu melken sind), eine Eidechse gesichtet worden. Und die Anwesenheit eines dieser Saurier kann die Arbeit der Hirten empfindlich stören. Zum Glück liegt Zubi-zubi-kan an der östlichen Grenze der Föderation, genau auf halbem Weg zwischen der Termitenstadt und Bel-o-kan. Nr. 103 683 hat also eingewilligt, an dieser Expedition teilzunehmen. So kann sie unbemerkt nach Osten aufbrechen. Ringsum bereiten sich die Kundschafterinnen sorgfältig vor. Sie füllen ihren Sozialkropf bis zum Rand mit süßen Energiereserven und ergänzen ihre Säurevorräte. Danach reiben sie sich mit Schneckenschleim ein, um sich gegen die Kälte und auch (jetzt wissen sie Bescheid) die Sporen der alternaria zu schützen. Sie reden über die Jagd auf die Eidechse. Einige vergleichen sie mit dem Salamander oder den Fröschen, aber die Mehrheit der zweiunddreißig Kundschafterinnen ist sich einig, ihr den ersten Rang zuzugestehen, was die Schwierigkeiten der Jagd betrifft. Eine alte Kriegerin behauptet, die Eidechsen seien imstande, ihren Schwanz nachwachsen zu lassen, wenn er ihnen abgetrennt würde! Man macht sich über sie lustig ... Eine andere behauptet, sie habe gesehen, daß eines dieser Ungetüme 10° lang reglos wie ein Stein verharrt habe. Alle rufen sich die Berichte der ersten Belokanerinnen in Erinnerung, die mit bloßen Mandibeln gegen diese Monster vorgegangen seien -damals war die Verwendung der Ameisensäure noch nicht so verbreitet. Nr. 103 683 läuft es kalt den Rücken hinunter. Sie hat noch nie eine Eidechse gesehen, und die Aussicht, eine mit bloßen Mandibeln oder auch mit dem Säurestrahl anzugreifen, ist alles andere als beruhigend. Sie sagt sich, daß sie sich bei der erstbesten Gelegenheit verdrücken wird. Schließlich ist ihre Suche nach der »Geheimwaffe« wichtiger für das Überleben der Stadt als irgendein Jagdausflug. Die Kundschafterinnen sind bereit. Sie steigen durch die Gänge des äußeren Gürtels nach oben, dann treten sie durch den Ausgang Nr. 7, den sogenannten »Ostausgang«, ins Freie. Zunächst müssen sie sich durch die Randgebiete der Stadt kämpfen. Das ist gar nicht so einfach. In der gesamten Umgebung von Bel-o-kan wimmelt es von Arbeiterinnen und Soldatinnen, und eine hat es da eiliger als die andere. Es gibt mehrere Ströme. Zahlreiche Ameisen sind mit Blättern. Früchten. Samenkörnern oder Pilzen beladen. Andere transportieren Zweige und Sternchen, die als Baumaterial verwendet werden. Wieder andere führen Wildbret mit sich ... Ein heilloses Durcheinander von Gerüchen. Die Jägerinnen bahnen sich einen Weg durch die Stauungen. Dann wird der Verkehr flüssiger. Die große Allee verengt sich zu einer Straße von erst drei Kopf (neun Millimeter), dann zwei, später einem Kopf Breite. Sie müssen bereits weit von der Stadt entfernt sein, da sie deren Kollektivbotschaften nicht mehr empfangen. Die Gruppe hat die olfaktorische Nabelschnur durchtrennt und konstituiert sich zu einer autonomen Einheit. Sie wählt die Formation »Spaziergang«, bei der die Ameisen in Zweierreihen vorrücken. Schon bald begegnet die Einheit einer anderen Gruppe von Kundschafterinnen. Sie müssen Schlimmes erlebt haben. Nur eine einzige Ameise der kleinen Truppe ist unverletzt. Ansonsten lauter Verstümmelte. Einige haben nur noch ein Bein und schleppen sich kläglich vorwärts. Denen, die keine Antennen oder keinen Hinterleib mehr haben, geht es nicht besser. Nr. 103 683 hat seit dem Krieg am Klatschmohnhügel keine Soldatinnen mehr gesehen, die so übel zugerichtet waren. Sie müssen etwas Grauenvolles erlebt haben ... Vielleicht die Geheimwaffe? Nr. 103 683 möchte mit einer großen Kriegerin, deren lange Mandibeln zerbrochen sind, einen Dialog aufnehmen. Woher kommen sie? Was ist passiert? Waren es die Termiten? Die andere geht langsamer und wendet ihr, ohne zu antworten, ihr Gesicht zu. Schrecklich, ihre Augenhöhlen sind leer! Und der Schädel ist vom Mund bis zum Halsgelenk gespalten. Sie entfernt sich. Nr. 103 683 blickt ihr nach. Ein Stückchen weiter bricht sie zusammen und erhebt sich nicht mehr. Sie findet noch die Kraft, zur Seite zu kriechen, damit ihr Kadaver nicht den Weg versperrt. Nr. 56 versucht der Schwalbe mit einem Sturzflug zu entgehen, aber jene ist zehnmal schneller. Schon senkt sich der Schatten eines großen Schnabels auf ihre Antennen. Der Schnabel holt sie ein, erfaßt ihren Hinterleib, ihren Thorax, ihren Kopf. Der Kontakt mit dem Gaumen ist unerträglich. Dann schließt sich der Schnabel. Es ist alles aus. OPFER: Wenn man die Ameisen beobachtet, könnte man meinen, ihr Handeln sei von einem Streben diktiert, das nichts mit ihrer eigenen Existenz zu tun hat. Ein abgetrennter Kopf versucht sich noch nützlich zu machen, indem er gegnerische Beine beißt, ein Samenkorn abschneidet; ein Thorax schleppt sich voran, um den Feinden den Eingang zu versperren. Selbstverleugnung? Fanatismus im Dienste der Stadt? Verdummung aufgrund von Kollektivismus? Nein, die Ameise kann auch allein leben. Sie braucht ihr Volk nicht, sie kann sogar aufbegehren. Warum opfert sie sich dann? Bei dem jetzigen Stand meiner Arbeiten würde ich sagen: aus Bescheidenheit. Anscheinend ist für sie der Tod kein Ereignis, das wichtig genug wäre, sie von der Arbeit abzulenken, die sie in den Sekunden zuvor verrichtet hat. Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens Die Kundschafterinnen kurven um Bäume. Erdhügel, dornige Büsche herum, schlängeln sich weiter in Richtung unheilvollen Osten. Der Weg ist schmaler geworden, aber immer noch sind Einheiten zur Straßenreinigung unterwegs. Die Verkehrswege zwischen den einzelnen Städten werden niemals vernachlässigt. Straßenwärterinnen reißen das Moos aus, entfernen Zweige, die den Weg versperren, setzen Duftzeichen. Die Arbeiterinnen, die der Gruppe entgegenkommen, werden immer seltener. Mitunter finden sich auf dem Boden Pheromonenhinweise: »Bei Kreuzung 29 einen Umweg durch den Hagedorn machen!« Vielleicht ist man dort auf die jüngste Spur eines Hinterhalts feindlicher Insekten gestoßen. Nr. 103 683 erwartet eine Überraschung nach der andern. Sie ist noch nie in dieser Gegend gewesen. Es gibt hier Satanspilze von achtzig Kopf Höhe! Dabei ist diese Sorte charakteristisch für die Gebiete im Osten. Und sie entdeckt allerlei seltsame Pflanzen: den wilden Hanf, dessen Blüten den Morgentau so gut festhalten, den wunderbaren und beunruhigenden Frauenschuh. Katzenpfötchen mit langen Stengeln ... Sie geht auf ein Springkraut zu, dessen Blüten Bienen ähneln, und ist so unvorsichtig, es zu berühren. Sogleich platzen ihr die reifen Früchte ins Gesicht, bedecken sie mit klebrigen gelben Samenkörnern. Ein Glück, daß das keine alternaria ist ... Keineswegs entmutigt, klettert sie auf ein Hasenkraut, um sich den Himmel näher anzusehen. Dort oben sieht sie Bienen, die Achten beschreiben, um ihren Schwestern den Standort der Blütenpollen anzugeben. Die Landschaft wird immer wilder. Rätselhafte Düfte erfüllen die Luft. Hunderte von kleinen, nicht zu identifizierenden Wesen fliehen in alle Richtungen. Man bemerkt sie nur an dem Knacken der trockenen Blätter. Ihr Kopf kribbelt noch, als sich Nr. 103 683 wieder der Truppe anschließt. Und so gelangen sie ruhigen Schritts in die Umgebung der föderierten Stadt Zubi-zubi-kan. Ein Gehölz wie jedes andere auch, würde man von weitem sagen. Wären da nicht der Geruch und der »ausgeschilderte« Weg, würde niemand eine Stadt hier vermuten. In Wirklichkeit ist Zubi-zubi-kan eine klassische »rote« Stadt mit einem Baumstumpf, einer Kuppel aus Zweigen und Deponien. Aber alles ist unter Sträuchern verborgen. Die Eingänge befinden sich noch oben, fast am höchsten Punkt der Kuppel. Man erreicht sie über eine Gruppe von Farn und wilden Rosen. Was die Kundschafterinnen auch tun. Drinnen wimmelt es von Leben. Die Pflanzenläuse sind nicht leicht zu erkennen, sie haben die gleiche Farbe wie die Blätter. Eine kundige Antenne und ein kundiges Auge machen jedoch mühelos Tausende von kleinen grünen Warzen aus, die langsam - in dem Maße, wie sie den Saft »abgrasen« -wachsen. Vor langer Zeit wurde zwischen den Ameisen und den Pflanzenläusen ein Abkommen geschlossen. Letztere ernähren die Ameisen, die sie als Gegenleistung schützen. Tatsächlich stutzen manche Städte ihren »Milchkühen« die Flügel und geben ihnen ihre eigenen Identifizierungsdüfte. So lassen sich die Herden bequemer hüten ... Auch Zubi-zubi-kan übt sich in dieser miesen Technik. Als Wiedergutmachung, oder vielleicht aus purem Modernismus, hat die Stadt auf ihrer zweiten Etage grandiose Ställe gebaut, die mit allem für das Wohlergehen der Pflanzenläuse erforderlichen Komfort ausgerüstet sind. Die Ameisenammen pflegen dort die Eier ihrer Läuse mit der gleichen Konzentration wie die ihrer Artgenossinnen. Das erklärt auch die außergewöhnliche Bedeutung und das feine Aussehen des dortigen Viehbestands. Nr. 103 683 und ihre Begleiterinnen nähern sich einer Herde, die damit beschäftigt ist, dem Zweig eines Rosenstrauchs das Blut auszusaugen. Sie stellen zwei, drei Fragen, aber die Läuse lassen ihren Rüssel in dem pflanzlichen Fleisch, ohne sie im geringsten zu beachten. Außerdem, vielleicht beherrschen sie die Duftsprache der Ameisen überhaupt nicht ... Die Kundschafterinnen suchen mit ihren Antennen nach der Hirtin. Doch sie entdecken keine. Dann geschieht etwas Erschreckendes. Drei Marienkäfer lassen sich mitten unter die Herde fallen. Diese gefährlichen Raubtiere säen Panik unter den armen Läusen, die mit ihren gestutzten Flügeln nicht fliehen können. Doch die Wölfe rufen die Hirtinnen auf den Plan. Zwei zubizubikanische Ameisen springen hinter einem Blatt hervor. Denn dort haben sie sich versteckt, um die roten Räuber mit den schwarzen Punkten überraschen zu können. Sie legen auf sie an und erlegen sie mit ihren präzisen Säurestrahlen. Dann laufen sie herbei und beruhigen die noch völlig verängstigten Herden. Sie melken sie, trommeln auf ihren Hinterleib, streicheln ihre Antennen. Daraufhin geben die Pflanzenläuse eine große Blase durchsichtigen Zuckers von sich. Den kostbaren Honigtau. Während sie sich mit diesem Likör sättigen, nehmen die zubizubikanischen Hirtinnen die belokanischen Kundschafterinnen wahr. Sie begrüßen sie. Antennenkontakt. Wir sind gekommen, um die Eidechse zu jagen, sendet eine der Belokanerinnen. Dann müßt ihr weiter nach Osten gehen. Man hat eines dieser Ungetüme in der Nähe des Postens Guayei-Tyolot gesichtet. Statt ihnen die übliche Trophallexie anzubieten, fordern die Hirtinnen sie auf, sich direkt an den Tieren zu laben. Die Kundschafterinnen lassen sich das nicht zweimal sagen. Jede wählt sich eine Pflanzenlaus und klopft ihr auf den Hinterleib, um den köstlichen Honigtau hervorzulocken. Das ist schwarz, ölig im Innern des Rachens, und es stinkt. Nr. 56, gänzlich mit Sabber beschmiert, rutscht in den Schlund des Raubvogels. Da jener keine Zähne hat, hat er sie nicht zerkaut, sie ist noch unversehrt. Kommt nicht in Frage, sich aufzugeben, mit ihr würde eine ganze Stadt untergehen. Mit äußerster Anstrengung pflanzt sie ihre Mandibeln in das glatte Fleisch der Speiseröhre. Dieser Reflex rettet sie. Der Schwalbe wird übel, sie hustet und speit die widerspenstige Nahrung weit von sich. Geblendet versucht Nr. 56 zu fliegen, aber ihre klebrigen Flügel sind viel zu schwer. Sie fällt mitten in einen Fluß. Ringsum zappeln Männchen in ihrem Todeskampf. Sie registriert den unrhythmischen Flug von rund zwanzig ihrer Schwestern hoch oben, die den Schwalben entkommen sind. Erschöpft verlieren sie an Höhe. Eine von ihnen landet auf einer Teichrose, wo zwei Salamander unverzüglich Jagd auf sie machen. Sie holen sie ein und zerfetzen sie. Die anderen Königinnen werden eine nach der andern von den Tauben, den Kröten, den Maulwürfen, den Schlangen, den Fledermäusen, den Igeln, den Hühnern und den Küken aus dem Spiel des Lebens gerissen ... Letzten Endes haben von den eintausendfünfhundert Weibchen, die losgeflogen sind, nur sechs überlebt. Nr. 56 gehört dazu. Wie durch ein Wunder. Sie muß leben. Sie muß ihre eigene Stadt gründen und das Rätsel der Geheimwaffe aufklären. Sie weiß, daß sie dazu Hilfe braucht, daß sie auf die Menge zählen kann, die bereits ihren Bauch bevölkert. Sie braucht sie nur daraus zu entlassen ... Aber als erstes muß sie sehen, daß sie hier wegkommt ... Indem sie den Winkel der Sonnenstrahlen berechnet, findet sie heraus, wo sie gelandet ist. Auf dem Fluß des Westens. Kein sehr empfehlenswerter Ort, denn wenn es auch auf sämtlichen Inseln der Welt Ameisen gibt, weiß man doch nicht, wie sie es als Nichtschwimmer angestellt haben, dorthin zu gelangen. Ein Blatt treibt an ihr vorüber, sie hält sich mit aller Kraft ihrer Mandibeln daran fest. Sie strampelt wie besessen mit den Hinterbeinen, aber dieser Antrieb hat nur mäßigen Erfolg. Sie hält sich schon eine ganze Weile auf diese Art über Wasser, als sich ein gigantischer Schatten abzeichnet. Eine Kaulquappe? Nein, das ist tausendmal größer als eine Kaulquappe. Nr. 56 erkennt eine spitz zulaufende Form mit einer glatten und getigerten Haut. Das ist für sie eine ganz neue Erscheinung. Eine Forelle! Die kleinen Krebse. Hüpferlinge und Wasserflöhe fliehen vor dem Ungeheuer. Jenes taucht ab, dann steigt es auf, direkt auf die Königin zu, die sich entsetzt an ihr Blatt klammert. Die Forelle schießt mit aller Kraft ihrer Flossen nach oben und zerteilt die Oberfläche. Eine große Welle setzt der Ameise schwer zu. Die Forelle scheint in der Luft zu schweben, sie öffnet ein mit feinen Zähnen bewehrtes Maul und verschlingt eine kleine Mücke, die gerade vorbeiflattert. Dann windet sie sich mit einem Schlag ihrer Schwanzflosse und fällt in ihr kristallklares Reich zurück ... Womit sie eine Flutwelle auslöst, die die Ameise überschwemmt. Schon haben sich einige Frösche ausgestreckt und hüpfen los, um sich um diese Königin und ihren Kaviar zu zanken. Jener gelingt es, wieder aufzutauchen, aber ein Strudel zieht sie erneut in unwirkliche Tiefen. Die Frösche verfolgen sie. Die Kälte läßt sie erstarren. Sie verliert das Bewußtsein. Nicolas schaute mit seinen beiden neuen Freunden Jean und Philippe im Speisesaal Fernsehen. Sie waren nicht allein, andere Waisenkinder ließen sich mit rosigen Wangen durch die ständige Abfolge von Bildern einlullen. Die Handlung des Films drang mit einer Geschwindigkeit von 500 Stundenkilometern durch ihre Augen und Ohren in den Speicher ihres Gehirns ein. Das menschliche Gehirn kann bis zu sechzig Milliarden Informationen speichern. Aber wenn dieser Speicher voll ist, wird automatisch aussortiert: Die weniger interessanten Informationen werden vergessen. Es bleiben dann nur die traumatischen Erinnerungen und die Sehnsucht nach vergangenen Freuden. An diesem Tag folgte im Anschluß an die Nachrichten eine Diskussion über Insekten. Die meisten der jungen Leute zerstreuten sich, für dieses wissenschaftliche Blabla hatten sie nichts übrig. »Professor Leduc, Sie gelten, zusammen mit Professor Rosenfeld, als der größte europäische Ameisenspezialist. Was hat Sie veranlaßt, sich der Ameisenforschung zu widmen?« »Ich habe eines Tages meinen Küchenschrank geöffnet und bin an eine Kolonne dieser Insekten geraten. Ich habe ihnen stundenlang bei der Arbeit zugesehen. Das war für mich eine Lektion in puncto Leben und Demut. Ich habe mehr darüber in Erfahrung bringen wollen ... Das ist alles.« (Er lachte.) »Was unterscheidet Sie von Professor Rosenfeld, dem anderen hervorragenden Wissenschaftler auf diesem Gebiet?« »Ach, der Professor Rosenfeld? Ist er noch nicht in Rente gegangen? (Er lachte erneut.) Aber im Ernst, wir gehören nicht zu der gleichen Clique. Wissen Sie, es gibt mehrere Auffassungen, diese Insekten zu >verstehen< ... Früher dachte man, sämtliche sozialen Arten (Termiten. Bienen. Ameisen) seine royalistisch. Das war einfach, aber es war falsch. Man hat festgestellt, daß bei den Ameisen die Königin in der Tat über keinerlei Macht verfügt, außer daß sie gebärt. Es gibt unter den Ameisen sogar eine Vielfalt von Regierungsformen: Monarchie, Oligarchie. Kriegerinnenrat, Demokratie. Anarchie usw. Manchmal, wenn die Bürger mit ihrer Regierung nicht zufrieden sind, begehren sie auf, und dann kommt es innerhalb der Städte zu >Bürgerkriegen<.« »Unglaublich!« »Für mich und für die sogenannte >deutsche< Schule, zu der ich mich bekenne, basiert die Organisation der Ameisenwelt in erster Linie auf einer Hierarchie von Kasten und auf der Überlegenheit von Alphaindividuen, die überdurchschnittlich begabt sind und Gruppen von Arbeiterinnen leiten ... Für Rosenfeld, der der sogenannten >italienischen< Schule angehört, sind die Ameisen allesamt durch und durch anarchistisch, es gibt keine Alphaindividuen, die begabter sind als der Rest. Und nur bei der Lösung praktischer Probleme kommt es mitunter spontan zu Führern. Dies ist jedoch vorübergehend.« »Ich kann Ihnen nicht so recht folgen.« »Sagen wir so: Die italienische Schule glaubt, daß jede Ameise Chef werden kann, sobald sie eine originelle Idee hat, die die anderen interessiert. Die deutsche Schule glaubt dagegen, daß immer bestimmte Ameisen mit >Chefeigen-schaften< die Dinge in die Hand nehmen.« »Unterscheiden sich die beiden Schulen denn so sehr?« »Immerhin ist es auf einigen internationalen Kongressen bereits zu Schlägereien gekommen, wenn Sie darauf hinauswollen.« »Das ist immer noch die gleiche alte Rivalität zwischen dem sächsischen und dem lateinischen Geist, nicht wahr?« »Nein. Diese Auseinandersetzung ist eher mit dem Streit zwischen den Anhängern des >Angeborenen< und denen des >Erworbenen< zu vergleichen. Kommt man dumm zur Welt oder wird man es erst? Das ist überdies eine der Fragen, auf die wir eine Antwort suchen, wenn wir die Ameisengesellschaften studieren!« »Und warum machen Sie Ihre Experimente nicht mit Karnickeln oder Mäusen?« »Die Ameisen geben uns die großartige Gelegenheit, zu sehen, wie eine Gesellschaft funktioniert, eine Gesellschaft, die sich aus mehreren Millionen Individuen zusammensetzt. Das ist, als beobachte man eine Welt. Es gibt meines Wissens keine Städte von mehreren Millionen Karnickeln oder Mäusen ...« Ellbogenstöße. »Haste mitgekriegt. Nicolas?« Aber Nicolas hörte nicht zu. Dieses Gesicht, diese gelben Augen, die hatte er schon gesehen. Aber wo? Wann? Er strengte sein Gedächtnis an. Genau, jetzt erinnerte er sich. Das war der Mann von der Buchbinderei. Er hatte sich Gougne genannt, aber der Buchbinder und dieser Leduc, der da im Fernsehen schwafelte, waren ein und dieselbe Person. Seine Entdeckung stürzte Nicolas in tiefes Nachdenken. Wenn der Professor gelogen hatte, dann sicher, um sich die Enzyklopädie anzueignen. Ihr Inhalt mußte bedeutend sein für die Ameisenforschung. Sie mußte da unten sein. Ja, sie war bestimmt in diesem Keller. Und sie waren alle hinter ihr her, Papa. Mama und dieser Leduc. Er mußte sie finden, diese verdammte Enzyklopädie, dann würde sich alles aufklären. Er stand auf. »Wo willst du hin?« Er gab keine Antwort. »Ich dachte, die interessieren dich, die Ameisen ...?« Er ging zur Tür, dann lief er auf sein Zimmer. Er würde nicht viel brauchen. Nur seine geliebte Lederjacke, sein Taschenmesser und die dicken Schuhe mit den Kreppsohlen. Die Aufpasser beachteten ihn nicht einmal, als er durch die große Halle ging. Er floh aus dem Waisenhaus. Von weitem wirkt Guayei-Tyolot wie ein runder Krater. Eine Art Maulwurfshügel. Der »Vorposten« ist ein MiniAmeisenhaufen, der von einer Hundertschaft gehalten wird. Er ist nur von April bis Oktober besetzt und bleibt den Herbst und den Winter über leer, Wie bei den primitiven Ameisen gibt es dort keine Königin, keine Arbeiterinnen, keine Soldatinnen. Alle sind alles zugleich. Deshalb schreckt man auch nicht davor zurück, die Fieberhaftigkeit der riesigen Städte zu kritisieren. Man spottet über die Verkehrsstauungen, die einstürzenden Gänge, die geheimen Tunnel, die eine Stadt in einen wurmstichigen Apfel verwandeln, über die hyperspezialisierten Arbeiterinnen, die nicht mehr jagen können, über die blinden Pförtnerinnen, die zeitlebens in ihrem Engpaß eingemauert sind. Nr. 103 683 inspiziert den Posten. Guayei-Tyolot besteht aus einem Dachboden und einem weitläufigen Hauptsaal. Dieser Raum verfügt über eine Art Deckenlampe, eine Öffnung, durch die zwei Sonnenstrahlen eindringen und Dutzende von Jagdtrophäen anstrahlen, leere Häutchen, die an den Wänden hängen und im Luftzug pfeifen. Nr. 103 683 tritt auf diese bunten Kadaver zu. Eine Einheimische streicht ihr über die Antennen. Sie zeigt ihr diese großartigen Geschöpfe, die allen möglichen Ameisenlisten zum Opfer gefallen sind. Die Tiere sind mit Ameisensäure bestrichen, eine Substanz, die nicht nur tötet, sondern auch Kadaver erhält. Es gibt dort, sorgfältig aufgereiht, alle Arten von Schmetterlingen und Insekten unterschiedlichster Größe, Form und Farbe. Und doch fehlt ein wohlbekanntes Tier in der Sammlung: die Termitenkönigin. Nr. 103 683 fragt, ob sie Probleme mit den benachbarten Termiten haben. Die Einheimische hebt die Antennen, um ihre Verwunderung zum Ausdruck zu bringen. Sie hört auf, zwischen ihren Mandibeln zu kauen. Es folgt ein bedrückendes olfaktorisches Schweigen. Termiten? Ihre Antennen senken sich. Sie hat nichts mehr zu sagen. Außerdem hat sie zu tun, eine Beute muß zerlegt werden. Sie hat genug Zeit verloren. Auf Wiedersehen. Sie dreht sich um, will verschwinden. Nr. 103 683 läßt nicht locker. Die andere wirkt jetzt völlig verängstigt. Ihre Antennen zittern ein wenig. Offenbar erinnert sie das Wort Termiten an etwas Schreckliches. Darüber zu sprechen, scheint über ihre Kräfte zu gehen. Sie rennt auf eine Gruppe von Arbeiterinnen zu, die mitten in einem Zechgelage sind. Letztere lecken einander in einer langen, geschlossenen Kette den Hinterleib, nachdem sie ihren Sozialkropf mit dem Alkohol aus Blütenhonig gefüllt haben. Fünf Jägerinnen des Vorpostens treten geräuschvoll ein. Sie schieben eine Raupe vor sich her. Die haben wir gefunden. Das Beste ist, die produziert Honig! Die Ameise, die diese Neuigkeit verkündet hat, tippt der Gefangenen mit der Spitze ihrer Antennen auf den Kopf. Dann legt sie ein Blatt auf den Boden, und kaum beginnt die Raupe zu fressen, springt sie ihr auf den Rücken. Die Raupe bäumt sich auf, aber vergebens. Die Ameise schlägt ihr ihre Krallen in die Seiten, vergewissert sich ihres Griffs, dreht sich um und leckt ihr über das letzte Glied, bis ein Likör hervorquellt. Alle gratulieren ihr. Man reicht sich diesen bislang unbekannten Honigtau der Pflanzenläuse. Er ist öliger und hat einen ausgeprägten Nachgeschmack von Saft. Während Nr. 103 683 diesen exotischen Likör kostet, streicht eine Antenne über ihren Schädel. Ich habe gehört, du willst dich nach den Termiten erkundigen. Die Ameise, die dieses Pheromon ausgestoßen hat, scheint sehr, sehr alt zu sein. Ihr ganzer Panzer ist von Mandibelbissen verschrammt. Nr. 103 683 legt ihre Antennen zum Zeichen der Zustimmung zurück. Komm mit! Sie ist die 4000. Kriegerin. Ihr Kopf ist flach wie ein Blatt. Ihre Augen sind winzig. Wenn sie sendet, riechen ihre Ausdünstungen schwach nach Alkohol. Vielleicht hat sie sich deshalb in eine winzige, so gut wie geschlossene Höhle zurückziehen wollen. Keine Bange, hier können wir reden, dieses Loch ist meine Kammer. Nr. 103 683 fragt, was sie über den Termitenhügel des Ostens weiß. Die andere spreizt ihre Antennen. Warum interessierst du dich dafür? Du bist nicht nur wegen der Eidechse gekommen, nicht wahr? Nr. 103 683 beschließt, dieser alten Geschlechtslosen gegenüber mit offenen Karten zu spielen. Sie erzählt ihr, daß eine geheime und unerklärliche Waffe gegen die Soldatinnen von La-chola-kan eingesetzt worden sei. Anfangs habe man geglaubt, es handele sich um einen Anschlag der Zwerginnen, aber sie seien es nicht gewesen. Also sei der Verdacht logischerweise auf die Termiten des Ostens gefallen, den zweiten großen Feind ... Die Alte biegt ihre Antennen, um ihre Überraschung zu zeigen. Von dieser Geschichte hat sie noch nie gehört. Sie mustert Nr. 103 683 und fragt: Und diese Geheimwaffe hat dir auch dein fünftes Bein ausgerissen? Nr. 103 683 verneint. Das habe sie in der Schlacht am Klatschmohnhügel verloren, bei der Befreiung von La-chola-kan. Nr. 4000 ist sogleich begeistert. Da war sie auch! Welche Einheit? Fünfzehnte. Und du? Dritte! Während der letzten Attacke hat die eine auf der rechten, die andere auf der linken Flanke gekämpft. Sie tauschen einige Erinnerungen aus. Aus einer Schlacht sind stets viele Lehren zu ziehen. So ist Nr. 4000 zum Beispiel ganz zu Beginn der Kämpfe der Einsatz kleiner Mücken als Botschafter aufgefallen. Ihrer Meinung nach ist diese Methode der Kommunikation über große Entfernungen den traditionellen »Läuferinnen« weit überlegen. Die belokanische Soldatin, die nichts davon bemerkt hat, stimmt ihr bereitwillig zu. Dann kommt sie schnell auf ihr Thema zurück. Warum will mir niemand etwas über die Termiten erzählen? Die alte Kriegerin tritt näher. Ihre Köpfe berühren sich. Auch hier gehen sehr merkwürdige Dinge vor ... Ihre Düfte suggerieren Rätselhaftes. Sehr merkwürdige Dinge, sehr merkwürdige Dinge ... Der Satz prallt als olfaktorisches Echo von den Wänden ab. Dann erklärt Nr. 4000, daß man seit einiger Zeit keine einzige Termite aus der Stadt des Ostens mehr gesehen habe. Früher hätten sie die Passage bei Satei benutzt, um Spioninnen über den Fluß zu schicken. Man habe davon gewußt und sie, so gut es ging, kontrolliert. Jetzt gebe es nicht einmal mehr Spioninnen. Nichts mehr. Ein Feind, der angreift, das ist beunruhigend, aber ein Feind, der verschwindet, das ist noch viel verwirrender. Da es nicht mehr das geringste Geplänkel mit den Termitenkundschafterinnen gab, hätten die Ameisen des Postens Guayei-Tyolot beschlossen, ihrerseits Spioninnen auszuschicken. Ein erster Schwarm von Kundschafterinnen sei aufgebrochen. Man habe nie mehr etwas von ihm gehört. Darauf sei eine zweite Gruppe ausgerückt und auf die gleiche Weise verschwunden. Man habe an die Eidechse oder einen besonders gefräßigen Igel gedacht. Andererseits, bei einem Angriff eines Raubtiers gebe es stets eine Überlebende, wenn sie auch verletzt ist. Aber das hier, das war, als hätten sich die Soldatinnen wie von Zauberhand in Luft aufgelöst. Das erinnert mich an etwas ..., setzt Nr. 103 683 an. Aber die Alte hat nicht vor, sich in ihrem Bericht unterbrechen zu lassen. Sie fährt fort: Nach dem Fehlschlag der beiden ersten Expeditionen hätten die Kriegerinnen von Guayei-Tyolot beschlossen, alles auf eine Karte zu setzen. Sie hätten eine Mini-Legion von fünfhundert schwer bewaffneten Soldatinnen losgeschickt. Diesmal habe es eine Überlebende gegeben. Sie habe sich über mehrere tausend Kopf geschleppt und sei unter grauenvollen Qualen bei ihrem Eintreffen im Nest gestorben. Man habe den Kadaver untersucht, der nicht die geringste Verletzung aufwies. Und ihre Antennen hätten keinerlei Kampfspuren aufgezeigt. Als ob sich der Tod aus heiterem Himmel über sie hergemacht habe. Verstehst du jetzt, warum niemand mit dir über den Termitenhügel des Ostens reden will? Nr. 103 683 versteht. Sie ist vor allem froh, daß sie die richtige Spur gefunden hat. Wenn das Rätsel der Geheimwaffe gelöst werden kann, dann sicher über den Termitenhügel des Ostens. holographie: Was das menschliche Gehirn und der Ameisenhaufen gemeinsam haben, kann am besten mit einem holographischen Bild verglichen werden. Was ist Holographie? Ein Übereinanderlegen von Streifen, in die etwas eingraviert wurde und die, wenn sie vereinigt und in einem bestimmten Winkel angestrahlt werden, den Eindruck eines plastischen Bildes hervorrufen. Tatsächlich existiert jenes überall und nirgends zugleich. Aus der Vereinigung der Streifen entsteht etwas anderes, eine dritte Dimension: die Illusion einer Tiefenwirkung. Jedes Neuron unseres Gehirns, jedes Individuum des Ameisenhaufens besitzt die gesamte Information. Aber die Kollektivität ist erforderlich, damit das Bewußtsein hervorkommt, das »plastische Denken«. Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Denkens Als Nr. 56, seit kurzem Königin, das Bewußtsein wiedererlangt, liegt sie auf einem breiten Strand von Kieselsteinen. Wahrscheinlich ist sie den Fröschen nur dank einer schnellen Strömung entkommen. Sie würde gern weiterfliegen, aber ihre Flügel sind noch naß. Also warten ... Sie reinigt systematisch ihre Antennen, dann saugt sie die Luft ein. Wo ist sie? Hoffentlich ist sie nicht auf der falschen Seite des Flusses gestrandet! Sie bewegt ihre Antennen mit 8000 Schwingungen/Sekunde. Sie nimmt Spuren bekannter Gerüche wahr. Glück gehabt, sie ist am Westufer des Flusses. Allerdings gibt es hier nicht die geringste Pheromonenpiste. Sie muß ein wenig näher an die Hauptstadt heran, wenn sie ihre zukünftige Stadt an die Föderation anbinden will. Endlich kann sie abheben. Richtung Westen. Sehr weit wird sie vorerst nicht kommen. Die Muskeln ihrer Flügel sind erschöpft, und so bleibt sie im Tiefflug. Sie kehren in den Hauptsaal von Guayei-Tyolot zurück. Seit sich Nr. 103 683 nach den Termiten des Ostens erkundigt hat, meidet man sie, als wäre sie alternaria-infiziert. Sie murrt nicht, konzentriert sich ganz auf ihre Mission. Ringsum tauschen die Belokanerinnen mit den Guayeityolotinnen Nahrung aus, lassen sie die neueste Ernte von Lamellenpilzen probieren, kosten ihrerseits den aus wilden Raupen gewonnenen Honigtau. Dann, nach den verschiedensten Düften, verlagert sich das Gespräch auf die Eidechsenjagd. Die Einheimischen erzählen, daß man kürzlich drei Eidechsen gesichtet habe, die die Blattlausherden von Zubi-zubi-kan terrorisiert hatten. Sie sollen zwei Herden von tausend Tieren und sämtliche Hirtinnen getötet haben . Eine Zeitlang habe Panik geherrscht. Die Hirtinnen hätten ihr Vieh nur noch durch die gesicherten, in das Fleisch der Zweige gegrabenen Gänge getrieben. Doch dank der Säure-Artillerie sei es gelungen, diese drei Drachen zu vertreiben. Zwei hätten sich weit fort verzogen. Die dritte habe sich verletzt auf einem Stein fünftausend Kopf von hier niedergelassen. Die zubizubikanischen Einheiten haben ihr bereits den Schwanz abgetrennt. Man müsse die Gelegenheit nutzen und dem Tier schnell den Rest geben, bevor es neue Kräfte schöpfe. Stimmt es, daß der Schwanz der Eidechsen nachwächst? erkundigt sich eine Kundschafterin. Man bejaht ihre Frage. Der Schwanz, der nachwächst, ist aber anders als vorher. Wie Mutter sagt: Man findet nie genau das wieder, was man verloren hat. Der zweite Schwanz hat keine Wirbel, er ist viel weicher. Eine Guayeityolotin fügt weitere Informationen hinzu. Die Eidechsen sind sehr temperaturempfindlich, mehr noch als die Ameisen. Wenn sie viel Sonnenenergie getankt haben, ist ihre Reaktionszeit phantastisch, wenn es jedoch kalt ist, sind ihre Bewegungen erheblich langsamer. Die Einheimische meint, man müsse den morgigen Angriff auf diesem Phänomen aufbauen. Das Beste wäre, den Saurier im Morgengrauen zu attackieren. Dann habe ihn die Nacht abgekühlt und er sei lethargisch. Aber wir werden auch abgekühlt sein! mischt sich eine Belokanerin energisch ein. Nicht, wenn wir die Technik der Zwerginnen zur Kälteabwehr anwenden, erwidert eine Jägerin. Wir werden uns mit Zucker und Alkohol vollstopfen und unsere Panzer mit Schneckenschleim einreihen, damit die Kalorien nicht zu schnell aus unserem Körper entweichen. Nr. 103 683 vernimmt diese Sätze mit zerstreuter Antenne. Sie denkt an das Rätsel des Termitenhügels, an das unerklärliche Verschwinden der Kundschafterinnen, von dem die alte Kriegerin berichtet hat. Die erste Guayeityolotin, jene, die ihr die Trophäen gezeigt hat, kommt auf sie zu. Hast du mit Nr. 4000 geredet? Ja. Nimm nicht für bare Münze, was sie dir gesagt hat. Das ist, als ob du mit einem Kadaver gesprochen hättest. Sie ist vor einigen Tagen von einer Schlupfwespe gestochen worden. Eine Schlupfwespe! Nr. 103 683 graust es vor Entsetzen. Die Schlupfwespe verfügt über einen langen Saugrüssel, mit dem sie nachts die Ameisennester durchlöchert, bis sie auf einen wannen Körper stößt. Sie durchbohrt ihn und legt dort ihre Eier. Das ist einer der größten Alpträume der Ameisenlarven: eine Spritze, die oben an der Decke auftaucht und alles auf der Suche nach weichem Fleisch abtastet, um ihre Jungen darin abzusetzen. Letztere wachsen seelenruhig in dem Organismus heran, der sie aufgenommen hat, bis sie sich in gefräßige Larven verwandeln, die das lebende Tier von innen anknabbern. Das verfehlt nicht seine Wirkung: Diese Nacht träumt Nr. 103 683 von einem fürchterlichen Rüssel, der sie verfolgt, um ihr seine fleischfressenden Kinder zu übertragen. Der Kode an der Haustür war noch derselbe. Nicolas hatte seine Schlüssel behalten, er brauchte, um die Wohnung zu betreten, nur die Siegel durchzureißen, die von der Polizei angebracht worden waren. Seit dem Verschwinden der Feuerwehrleute hatte man alles unverändert gelassen. Die Kellertür stand sogar sperrangelweit offen. Da er keine Taschenlampe hatte, machte er sich mir nichts, dir nichts daran, eine Fackel herzustellen. Er schaffte es, ein Tischbein abzubrechen, und umwickelte es mit einer dicken Krone aus zerknittertem Papier, das er dann ansteckte. Das Holz entzündete sich problemlos, eine kleine, aber ruhige, anhaltende Flamme, die auch dem Luftzug widerstand. Er stürzte sich unverzüglich auf die Wendeltreppe, in der einen Hand die Fackel, in der andern sein Taschenmesser. Wild entschlossen, die Kiefer zusammengepreßt, fühlte er sich wie ein richtiger Held. Er lief hinab, tiefer, immer tiefer ... Das hörte überhaupt nicht auf, es ging immer weiter und immer im Kreis, so lange, bis es ihm vorkam, als wäre er Stunden unterwegs. Er hatte Hunger, ihm war kalt, aber es trieb ihn weiter. Er lief noch schneller, flog beinahe, und begann unter dem unverputzten Gewölbe zu brüllen, ein Brüllen, in dem sich Rufe nach seinen Eltern und vibrierendes Kriegsgeschrei abwechselten. Sein Schritt hatte inzwischen eine außergewöhnliche Sicherheit, er nahm rasant Stufe um Stufe, ohne sich dessen bewußt zu sein. Plötzlich stand er vor einer Tür. Er stieß sie auf. Zwei Rattensippen, die einander bekämpften, flohen vor dieser heulenden und funkenumringten Gestalt. Die älteren Ratten machten sich Sorgen. Seit einiger Zeit häuften sich die Besuche dieser »Großen«. Was hatte das zu bedeuten? Wenn der da bloß nicht die Verstecke der schwangeren Weibchen in Brand steckte! Nicolas setzte seinen Abstieg fort, er rannte so schnell, daß er die Ratten nicht einmal bemerkt hatte ... Stufen, immer nur Stufen, und seltsame Inschriften, die er diesmal bestimmt nicht lesen würde. Plötzlich ein Geräusch (flap, flap). Er spürte etwas. Eine Fledermaus klammerte sich an seine Haare. Er versuchte sich loszumachen, aber das Tier schien mit seinem Schädel verwachsen zu sein. Er wollte es mit seiner Fackel verscheuchen, versenkte sich aber nur ein paar Haarsträhnen. Er schrie und lief weiter. Die Fledermaus saß wie ein Hut auf seinem Kopf. Sie flatterte erst davon, nachdem sie ihm ein wenig Blut abgenommen hatte. Nicolas spürte seine Müdigkeit nicht mehr. Keuchend, Herz und Schläfen pochend, daß sie fast platzten, rannte er plötzlich gegen eine Mauer. Er stürzte, rappelte sich sofort wieder hoch. Seine Fackel brannte noch. Er richtete die Flamme auf die Mauer. Das war wirklich eine Mauer. Besser noch: Nicolas erkannte die Beton- und Stahlplatten, die sein Vater mit sich geschleppt hatte. Und die Zementfugen waren noch frisch. »Papa, Mama, antwortet mir, wenn ihr da seid!« Aber nein, nichts, nur das nervtötende Echo. Diese Mauer, er hätte schwören können, daß die sich öffnete, denn so war das in den Filmen, und außerdem war da keine Tür. Was steckte hinter dieser Mauer? Schließlich fand er eine Inschrift: Wie bildet man vier gleichseitige Dreiecke mit sechs Streichhölzern? Und genau darunter war ein kleiner Bildschirm mit Tasten angebracht. Die Tastatur enthielt keine Zahlen, sondern Buchstaben. Vierundzwanzig Buchstaben, mit denen man das Lösungswort oder den Lösungssatz eingeben konnte. »Man muß anders denken«, sagte er laut. Er war selbst verdutzt, denn der Satz war ganz von selbst gekommen. Er überlegte lang, ohne es zu wagen, die Tastatur zu berühren. Es folgte ein inneres Schweigen, ein völliges Schweigen, das jegliches Denken verhinderte. Das ihn jedoch unerklärlicherweise dazu brachte, eine Folge von acht Buchstaben einzugeben. Das leise Surren eines Mechanismus war zu vernehmen, und dann ... dann schwenkte die Mauer herum! Aufgeregt, zu allem bereit, schritt Nicolas voran. Aber kurz darauf schlug die Mauer wieder zu; der Luftzug, der dabei entstand, löschte den Fackelstummel, der ihm noch verblieben war. Völlig verwirrt, von tiefster Finsternis umgeben, machte Nicolas kehrt. Aber auf dieser Seite der Mauer gab es keine Tastatur. Keine Rückkehr möglich. Er brach sich die Nägel an den Beton- und Stahlplatten ab. Sein Vater hatte gute Arbeit geleistet, er war nicht umsonst Schlosser. Sauberkeit: Gibt es etwas Saubereres als eine Fliege? Sie putzt sich ständig, weil das für sie keine Pflicht, sondern ein Bedürfnis ist. Wenn ihre Antennen und Facettenaugen nicht makellos sauber sind, erkennt sie die ferne Nahrung nicht und sieht niemals die Hand, die hinuntersaust, um sie zu zerquetschen. Die Sauberkeit ist ein wesentliches Moment des Überlebens bei den Insekten. Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens Am nächsten Morgen lauteten die Schlagzeilen der Boulevardpresse: »Der unheimliche Keller in Fontainebleau hat wieder zugeschlagen! Ein weiterer Vermißter: der einzige Sohn der Familie Wells. Was macht die Polizei?« Die Spinne blickt vom Gipfel ihres Farns hinab. Er ist sehr hoch. Sie schwitzt einen Tropfen flüssiger Seide aus, klebt ihn an das Blatt, bewegt sich zum Rand des Zweiges vor und springt ins Leere. Ihr Fall dauert eine Weile. Der Faden dehnt sich und dehnt sich, dann trocknet er, verhärtet sich und fängt sie auf, kurz bevor sie den Boden erreicht. Fast wäre sie zerquetscht worden wie eine reife Beere. Viele ihrer Schwestern haben sich wegen einer unerwarteten Kälte, die die Verhärtung der Seide verzögert, bereits zu Tode gestürzt. Die Spinne bewegt ihre acht Beine, um das Gleichgewicht zu erlangen, dann streckt sie sie aus, und es gelingt ihr, sich auf ein Blatt zu schwingen. Das wird der zweite Verankerungspunkt ihres Netzes sein. Sie klebt das Ende ihres Fadens fest. Aber mit nur einer Schnur kommt man nicht weit. Sie erblickt einen Baumstamm zu ihrer Linken, läuft auf ihn zu. Noch ein paar Äste und ein paar Sprünge, dann hat sie es geschafft, sie hat ihre Trägerfäden befestigt, die dazu dienen, den Druck des Windes und der Beute abzufangen. Das Ganze bildet ein Achteck. Die Seide der Spinne besteht aus einem faserigen Protein, dem Fibroin, dessen Haltbarkeit und Undurchlässigkeit unübertroffen ist. Einige Spinnen sind, wenn sie gut gefressen haben, in der Lage, siebenhundert Meter Seide mit einem Durchmesser von zwei Mikron zu produzieren, eine Seide, deren Haltbarkeit proportional der des Nylons gleichkommt, die jedoch dreimal elastischer ist. Und obendrein verfügen sie über sieben Drüsen, die jeweils einen unterschiedlichen Faden produzieren: eine Seide für die »Trägerseile«; eine für die Fäden zum Abseilen; eine für die Fäden in der Mitte des Netzes; eine, die mit Klebstoff überzogen ist, für einen raschen Fang; eine, um sich einen Schutz zu bauen; eine, um die Beute einzuwickeln ... In Wirklichkeit ist diese Seide der faserige Fortsatz der Spinnenhormone, so wie die Pheromone der flüchtige Fortsatz der Ameisenhormone sind. Die Spinne spinnt also ihre Trägerfäden, dann macht sie sich daran fest. Beim geringsten Alarm läßt sie sich fallen, entgeht so ohne großen Kraftaufwand der Gefahr. Wie oft ist sie auf diese Art mit dem Leben davongekommen? Anschließend verflechtet sie vier Fäden in der Mitte ihres Achtecks. Immer das gleiche Tun, seit Millionen von Jahren ... Allmählich nimmt die Sache Gestalt an. Heute hat sie beschlossen, ein Netz aus trockener Seide zu machen. Die Netze aus mit Klebstoff versehener Seide sind effektiver, aber zu anfällig. Jedes Staub körnchen, jeder vertrocknete Pflanzenstengel verfängt sich darin. Die trockene Seide ist weniger beuteträchtig, aber sie hält mindestens bis zur Nacht. Kaum hoch oben in ihren »Trägerbalken« plaziert, fügt die Spinne ein Dutzend Querverstrebungen hinzu und vollendet ihr Werk mit der zentralen Spirale. Das ist das Angenehmste. Sie geht von einem Ast aus, an dem sie ihren trockenen Faden befestigt hat, und springt von Speiche zu Speiche. Dabei nähert sie sich, immer in Richtung der Erdrotation, so langsam wie möglich der Mitte. Sie macht das auf ihre eigene Art. Es gibt auf der Welt keine zwei Spinngewebe, die einander gleichen. Sie sind wie die Fingerabdrücke des Menschen. Sie muß die Maschen zusammenziehen. In der Mitte angelangt, betrachtet sie ihr Gewebe, um dessen Haltbarkeit abzuschätzen. Sie schreitet jede Speiche ab, schüttelt sie mit ihren acht Beinen. Sie halten. Die meisten Spinnen der Region bauen Netze von 75:12. Fünfundsiebzig spiralförmig gewundene Fäden auf zwölf Speichen. Sie, sie zieht ein Verhältnis von 95:10 vor, ein besonders feines Flechtwerk. Das fällt vielleicht eher auf, aber es ist haltbarer. Und da sie trockene Seide verwendet, braucht sie mit den Fäden nicht zu knausern. Sonst würden ihr die Insekten nur einen kurzen Besuch abstatten ... Dennoch ist sie von dieser langwierigen Arbeit erschöpft. Sie muß unbedingt etwas in den Magen bekommen. Das ist ein ewiges Karussell. Sie ist hungrig, weil sie ihr Netz gebaut hat, aber ebendieses Netz gibt ihr die Möglichkeit, etwas zu fressen. Unter einem Blatt versteckt, die vierundzwanzig Krallen auf die Hauptträger gedrückt, wartet sie. Ohne sich eines ihrer acht Augen bedienen zu müssen, spürt sie den Raum und erfaßt mit ihren Beinen den geringsten Luftzug, und zwar dank ihres Netzes, das auf alles mit der Empfindlichkeit der Membran eines Mikrophons reagiert. Diese winzige Schwingung da, das ist eine Biene, die in zweihundert Kopf Entfernung Achten beschreibt, um den Mitbewohnern ihres Stocks die Lage eines Blumenfelds mitzuteilen. Und dieses leichte Zucken, das muß eine Libelle sein. Sehr schmackhaft, die Libelle. Aber die da fliegt in der falschen Richtung und kann nicht als Mittagessen herhalten. Schwere Erschütterung. Jemand ist auf das Netz gesprungen. Eine Spinne, die sich die Arbeit von jemand anders zunutze machen möchte. Diebin! Die erste verscheucht sie schleunigst, bevor eine Beute auftaucht. Im nächsten Moment spürt sie in ihrem linken Hinterbein, daß sich von Osten her eine Art Fliege nähert. Sie scheint nicht besonders schnell unterwegs zu sein. Wenn sie den Kurs nicht ändert, müßte sie geradewegs in die Falle gehen. Klatsch! Treffer. Eine geflügelte Ameise ... Die Spinne - die keinen Namen hat, denn die einsam lebenden Wesen brauchen sich untereinander nicht zu benennen - wartet gelassen ab. Als sie jünger war, hat sie sich oft in ihrer Begeisterung hinreißen lassen und auf diese Art allerlei Beute verloren. Sie hat geglaubt, jedes Insekt, das ihr ins Netz geht, sei zum Tode verurteilt. Dabei ist das nur zu fünfzig Prozent der Fall. Der Zeitfaktor ist ausschlaggebend. Man muß Geduld haben, das zu Tode erschrockene Opfer verheddert sich ganz von allein. Denn so lautet die ausgeklügelte Philosophie der Spinnen: Es gibt keine bessere Kampftechnik, als darauf zu warten, daß sich dein Opfer selbst zerstört ... Nach einigen Minuten kommt sie näher, um ihre Beute genauer zu betrachten. Eine Königin. Eine rote Königin aus dem Reich des Westens. Aus Bel-o-kan. Sie hat bereits von diesem hochentwickelten Reich gehört. Seine Millionen von Bewohnern sind angeblich so sehr voneinander abhängig, daß sie sich nicht einmal allein ernähren können! Was hat das für einen Sinn, worin besteht da der Fortschritt? Eine ihrer Königinnen ... Ihr ist also ein beträchtlicher Teil der Zukunft dieser unverbesserlichen Eindringlinge in die Klauen geraten. Sie mag die Ameisen nicht. Sie hat gesehen, wie ihre Mutter von einer Horde roter Wanderameisen gejagt wurde ... Sie schielt ihr Opfer an, das sich verzweifelt wehrt. Dumme Insekten, nie kapieren sie, daß ihr schlimmster Feind die Panik ist. Mit jedem Versuch, sich loszumachen, verwickelt sich die geflügelte Ameise nur noch mehr in der Seide ... Und verursacht dabei Schäden, die die Spinne ärgert. Bei Nr. 56 weicht die Wut der Niedergeschlagenheit. Sie kann sich praktisch nicht mehr rühren. Ihr ganzer Körper ist von der Seide umwickelt, und jede Bewegung läßt ihre Verpackung noch dicker werden. Sie kann es nicht fassen, so dumm zu scheitern, nachdem sie so viele Prüfungen überstanden hat. In einem weißen Kokon wurde sie geboren, in einem weißen Kokon wird sie sterben. Die Spinne rückt noch näher, schaut sich dabei die beschädigten Fäden an. So kann Nr. 56 aus nächster Nähe ein prächtiges orangeschwarzes Tier sehen, das mit acht grünen Augen ausgestattet ist, die wie eine Krone auf dem Kopf verteilt sind. Solche hat sie schon gegessen. Jeder ist mal an der Reihe, zum Frühstück verzehrt zu werden . Und die da, die hört nicht auf, noch mehr Seide auf sie draufzuspucken! Man kann seine Beute nie gut genug verschnüren, sagt sich die Spinne ihrerseits. Danach stellt sie zwei beunruhigende Giftzähne zur Schau. Doch in Wirklichkeit töten die Arachniden nicht, jedenfalls nicht sofort. Da sie lieber zuckendes Fleisch verzehren, töten sie ihr Opfer nicht, sondern betäuben es mit einem einschläfernden Gift und wecken es nur, um ein wenig daran zu knabbern. Auf diese Art haben sie ganz nach Belieben frisches, unter der seidenen Verpackung gut geschütztes Fleisch. Ein solches Mahl kann eine Woche dauern. Nr. 56 hat von dieser Gepflogenheit gehört. Sie erzittert. Das ist schlimmer als der Tod. Nach und nach alle Gliedmaßen amputiert bekommen ... Bei jedem Aufwachen wird einem etwas abgerissen, und dann wird man wieder eingeschläfert. Jedesmal bleibt ein bißchen weniger übrig, bis zur Stunde der letzten Verstümmelung, wenn die lebenswichtigen Organe abgerissen werden und man endlich den befreienden Schlaf findet. Lieber sich selbst zerstören! Sie meidet den schrecklichen Anblick der allzu nahen Gifthaken und schickt sich an, ihren Herzschlag zu verlangsamen. In diesem Moment prallt eine Eintagsfliege mit solchem Schwung gegen das Netz, daß die seidenen Kanten sie sogleich umschließen, fest verpacken ... Vor wenigen Minuten erst ist sie zur Welt gekommen, und in wenigen Stunden wäre sie vor Altersschwäche gestorben. Ein Leben von einem Tag, das Leben einer Eintagsfliege. Sie mußte schnell handeln, ohne nur den Bruchteil einer Sekunde zu verschenken. Wie würde man wohl sein Leben ausfüllen, wenn man wüßte, daß man am Morgen geboren wird, um noch am gleichen Abend zu sterben? Ihrem zweijährigen Larvendasein kaum entronnen, macht sich die Eintagsfliege auf die Suche nach einem Weibchen, um sich fortzupflanzen. Die vergebliche Suche nach Unsterblichkeit durch Nachkommenschaft. Dieser eine Tag, den die Eintagsfliege zu leben hat, wird nur von dieser Suche bestimmt. Sie denkt nicht an Essen, nicht an Ruhe, nicht daran, wählerisch zu sein. Ihr Hauptgegner ist die Zeit. Jede Sekunde ist für sie ein Widersacher. Und neben der Zeit ist selbst die fürchterliche Spinne nur ein retardierendes Moment und kein spezieller Feind. Sie spürt, daß das Alter mit großen Schritten in ihrem Körper fortschreitet. In einigen Stunden wird sie senil sein. Sie ist erledigt. Sie ist umsonst geboren. Welch unerträgliches Scheitern ... Die Eintagsfliege wehrt sich. Das ist das Problem mit den Spinnweben: Wenn man sich bewegt, ist man erst recht dran, doch wenn man sich nicht bewegt, kommt man auch nicht davon ... Die Spinne eilt herbei und verpaßt ihr ein paar Extrafäden. Damit hätte sie also eine doppelt fette Beute, die ihr die nötigen Proteine liefern wird, um gleich morgen ein zweites Netz zu spinnen. Aber als sie sich erneut anschickt, ihr Opfer einzuschläfern, nimmt sie ein ganz anderes Vibrieren wahr. Ein ... intelligentes Vibrieren. Tip tip tiptiptip, tip tip tiptip. Ein Weibchen! Es bewegt sich auf einem Faden, und es klopft darauf, um ein Signal zu geben: Ich bin dein, ich komme nicht, um deine Nahrung zu stehlen. Das Männchen hat noch nie etwas so Erotisches verspürt wie dieses Vibrieren. Tip tip tiptiptip. Ah, es hält es nicht mehr aus, es läuft auf sein Liebchen zu (ein blutjunges Ding, das sich erst viermal gehäutet hat, während es das Männchen auf zwölfmal bringt). Es ist dreimal so groß wie das Männchen, aber das ist jenem gerade recht, er liebt die Dicken. Er deutet auf die beiden Opfer, mit denen sie später neue Kräfte schöpfen können. Dann begeben sie sich in Position, um sich zu paaren. Das ist bei der Spinne recht kompliziert. Das Männchen hat keinen Penis, sondern eine Art doppeltes Genitalgeschütz. In aller Eile errichtet es eine Zielscheibe, ein Mininetz, und bespritzt es mit seinen Keimzellen. Es befeuchtet eines seiner Beine daran und steckt es in das Rezeptakulum des Weibchens. Das macht es mehrmals in starker Erregung. Die junge Schönheit hat sich ihrerseits in eine solche Selbstvergessenheit gesteigert, daß sie sich plötzlich nicht mehr beherrschen kann, sie packt den Kopf des Männchens und zerbeißt ihn. Da wäre es dumm, nicht auch den Rest zu verzehren. Nun gut, kaum fertig, hat sie immer noch Hunger. Sie stürzt sich auf die Eintagsfliege und macht deren Leben noch kürzer. Dann wendet sie sich der Ameisenkönigin zu, die angesichts der nächsten Spritze in Panik gerät und anfängt zu zappeln. Kein Zweifel. Nr. 56 hat Glück, denn der Auftritt einer weiteren Figur, die geräuschvoll am Horizont her auftaucht, kehrt alles um. Es handelt sich wieder um eines dieser Tiere aus dem Süden, die sich kürzlich nach Norden ausgebreitet haben. Ein recht dickes Tier, ehrlich gesagt, ein einhörniger Maikäfer oder auch Coleopterus rhinoceros. Er rauscht mitten in das Netz, dehnt es, als wäre es Leim ., und zerreißt es. Ein Netz von 95:10, das hält gut, solange man nicht übertreibt. Das schöne Seidendeckchen zerplatzt in wehende Strähnen und Fetzen. Das Spinnenweibchen hat sich bereits an seinem Faden abgeseilt. Die Ameisenkönigin, von ihrer weißen Zwangsjacke befreit, krabbelt unauffällig über den Boden, unfähig, wieder abzuheben. Aber die Spinne ist mit den Gedanken woanders. Sie klettert einen Ast hinauf, um dort eine seidene Krippe zu bauen, in der sie ihre Eier legen wird. Wenn ihre Dutzende von Jungen schlüpfen, werden sie nichts Eiligeres zu tun haben, als ihre Mutter aufzufressen. So ist das bei den Spinnen, da kennt man kein Dankeschön. »Bilsheim!« Er riß den Hörer zur Seite, als wäre er von einem Tier gestochen worden. Seine Chefin ... Solange Doumeng. »Ja?« »Ich hatte Ihnen Anweisungen erteilt, und Sie haben noch nichts getan. Was treiben Sie? Wollen Sie warten, bis die ganze Stadt in diesem Keller verschwunden ist? Ich kenne Sie, Bilsheim, Sie denken nur daran, sich auszuruhen! Ich kann Faulpelze nicht ausstehen! Und ich verlange, daß Sie diese Angelegenheit binnen achtundvierzig Stunden klären!« »Aber, Madame ...« »Nichts da, kein >aber Madamec! Ihre Leute haben Anweisung von mir erhalten, Sie brauchen bloß morgen früh mit ihnen da runterzugehen, das nötige Gerät ist an Ort und Stelle. Also, bewegen Sie Ihr faules Hinterteil, verdammt noch mal!« Er fühlte sich plötzlich gestreßt. Seine Hände zitterten. Er war kein freier Mann. Warum mußte er gehorchen? Um der Arbeitslosigkeit zu entgehen, um nicht von der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein. Der einzige Weg, wie er sich jetzt und hier seine Freiheit vorstellen konnte, bestand darin, sich als Clochard zu präsentieren, und dafür fühlte er sich noch nicht bereit. Sein Ordnungssinn und seine Sozialisation gerieten in Fehde mit seinem Wunsch, sich nicht dem Willen anderer zu beugen. Und auf dem Schlachtfeld, das heißt in seinem Magen, bildete sich ein Geschwür. Sein Ordnungssinn siegte über die Lust auf Freiheit. Er gehorchte. Der Trupp der Jägerinnen hält sich hinter einem Felsen versteckt und beobachtet die Eidechse. Sie mißt gut sechzig Kopf (achtzehn Zentimeter). Ihr steinharter, grüngelb schimmernder und mit schwarzen Flecken übersäter Panzer erzeugt Angst und Abscheu. Nr. 103 683 hat den Eindruck, daß diese Flecken die Blutspritzer all der Opfer dieses Sauriers sind. Wie vorhergesehen, wird das Tier steif vor Kälte. Es schreitet voran, aber wie in Zeitlupe; man könnte meinen, es zögere, bevor es den Fuß irgendwo aufsetzt. Kurz bevor die Sonne erscheint, wird ein Pheromon losgelassen. Angriff! Die Eidechse sieht sich von einer ganzen Armee kleiner schwarzer Wesen überfallen, die sich über sie ergießen. Sie richtet sich schwerfällig auf, öffnet ein rosiges Maul, in dem eine flinke Zunge tanzt, die die Ameisen peitscht, die sich am weitesten vorgewagt haben. Dann macht sie einen kleinen Rülpser und verschwindet blitzschnell. Die Jägerinnen, um dreißig der Ihren dezimiert, bleiben verdutzt, wie benommen zurück. Dafür, daß es bereits von der Kälte betäubt war, hatte das Tier noch einiges an Reserven! Nr. 103 683, die man wahrlich nicht der Feigheit bezichtigen kann, sagt als eine der ersten, daß ein Angriff auf ein solches Tier Selbstmord ist. Die Festung scheint uneinnehmbar. Die Haut der Eidechse ist ein Panzer, dem man weder mit Mandibeln noch mit Säure etwas anhaben kann. Und ihre Größe, ihre Flinkheit selbst bei geringen Temperaturen verleihen ihr eine nur schwer auszugleichende Überlegenheit. Dennoch geben die Ameisen nicht auf. Wie eine Meute winziger Wölfe stürzen sie sich auf die Fährte des Ungetüms. Sie huschen unter den Farnpflanzen umher und geben drohende, den Geruch des Todes verströmende Pheromone von sich. Das erschreckt im Augenblick nur die Nacktschnecken, hilft den Ameisen jedoch, sich furchterregend und unverwundbar zu fühlen. Ein paar tausend Kopfweiter finden sie die Eidechse wieder, sie klebt an der Rinde einer Fichte, vermutlich damit beschäftigt, ihr Frühstück zu verdauen. Sie müssen handeln! Je länger sie warten, um so mehr Energie gewinnt sie! Wenn sie schon in der Kälte so schnell ist, wird sie schier übermächtig sein, wenn sie erst einmal mit Sonnenkalorien vollgestopft ist. Antennenberatung. Es gilt, einen Angriff zu improvisieren. Eine Taktik wird ausgearbeitet. Eine Schar Kriegerinnen läßt sich von einem Ast auf den Kopf des Tieres fallen. Sie versuchen es zu blenden, indem sie in seine Lider beißen, und beginnen, seine Nasenlöcher anzubohren. Aber dieses erste Unternehmen schlägt fehl. Die Eidechse wischt sich mit einem wütenden Bein das Gesicht ab und verschlingt die Nachzügler. Die zweite Angriffswelle läuft bereits. Fast in Reichweite der Zunge schlagen sie einen weiten und überraschenden Bogen ..., um sich jäh auf den Stumpf des Eidechsenschwanzes zu stürzen. Wie sagt die Königin: Jeder Gegner hat seinen Schwachpunkt. Finde ihn, und dann greife nur diese Schwäche an. Sie öffnen die Narbe, indem sie sie mit Säure verätzen, und strömen in das Innere des Sauriers, fallen in seine Gedärme ein. Er rollt sich auf den Rücken, strampelt mit den Hinterbeinen, reibt sich den Bauch mit den Vorderbeinen. Schmerzen wie von tausend Geschwüren martern ihn. Im nächsten Moment verschafft sich eine andere Gruppe endlich Zugang zu den Nasenlöchern, die sogleich mit brühheißen Strahlen geweitet und ausgehöhlt werden. Knapp darüber greifen andere die Augen an. Sie bringen diese weichen Kugeln zum Platzen, aber die Höhlen erweisen sich als Sackgassen. Das Loch des Sehnervs ist zu schmal, als daß man auf diesem Weg das Gehirn erreichen könnte. Also schließt man sich den Truppen an, die bereits weit in die Nasenlöcher vorgedrungen sind . Die Eidechse krümmt sich, schiebt ein Bein in ihr Maul, um die Ameisen zu zerquetschen, die ihren Schlund durchbohren. Zu spät. In einem Winkel der Lunge trifft Nr. 4000 ihre junge Kollegin Nr. 103 683 wieder. Es ist finster darin, und sie sehen nichts, denn die Geschlechtslosen haben keine Infrarot-Ozellen. Sie führen die Spitzen ihrer Antennen zusammen. Komm, brechen wir zu dem Termitenhügel im Osten auf, solange unsere Schwestern beschäftigt sind. Sie werden glauben, wir seien im Kampf gefallen. Sie nehmen den gleichen Weg, auf dem sie gekommen sind, durch den mittlerweile stark blutenden Schwanzstumpf. Morgen wird der Saurier in Tausende von schmackhaften Happen zerlegt. Einige werden mit Sand bedeckt und nach Zubi-zubi-kan transportiert werden, andere werden sogar nach Bel-o-kan gelangen, und man wird einen Bericht von epischer Breite erfinden, um diese Jagd zu schildern. Die Zivilisation der Ameisen ist darauf angewiesen, sich in ihrer Stärke zu bestätigen. Eine Eidechse zu besiegen ist eine Errungenschaft, die sie ganz besonders beruhigt. Kreuzung: Es wäre ein Fehler, zu glauben, die Nester seien für Fremde unzugänglich. Sicher, jedes Insekt trägt den Geruchsstempel seiner Stadt, ist jedoch nicht in dem Sinne »xenophob«, was man bei den Menschen darunter versteht. Wenn man zum Beispiel in einem mit Erde gefüllten Aquarium hundert Ameisenformica rufamit hundert Ameisenlazius nigerzusammenbringt - unter denen jeweils eine fruchtbare Königin ist -, stellt man fest, daß die beiden Arten nach einigem Geplänkel ohne Tote und langen Antennendiskussionen dazu übergehen, gemeinsam ihren Ameisenhaufen zu bauen. Einige Gänge sind der Größe der roten, andere der Größe der schwarzen Ameisen angeglichen, aber sie kreuzen einander und verschlingen sich, so daß als bewiesen gelten darf: Es gibt keine dominierende Art, die versuchen würde, die andere in ein bestimmtes Viertel der Stadt, in ein Ghetto zu sperren. Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens Der Weg, der in die Gebiete des Ostens führt, ist noch nicht gesäubert. Die Kriege mit den Termiten verhindern jeden Ansatz von Befriedung in der Region. Nr. 4000 und Nr. 103 683 laufen über einen Pfad, auf dem etliche Scharmützel stattgefunden haben. Prächtige Giftschmetterlinge kreisen über ihren Antennen, was nicht dazu angetan ist, sie zu beruhigen. Ein Stück weiter spürt Nr. 103 683 etwas, was sie unter ihrem rechten Bein kitzelt. Sie identifiziert dieses Etwas als Milben, winzigste Lebewesen, die mit Stacheln und Fühlern, mit Haaren und Haken ausgestattet sind und in Herden wandern, ständig auf der Suche nach schön staubigen Nischen. Nr. 103 683 erheitert dieser Anblick. Daß es auf ein und demselben Planeten so kleine Lebewesen gibt wie die Milben und so große wie die Ameisen. Nr. 4000 bleibt vor einer Blume stehen. Sie hat plötzlich große Schmerzen. In ihrem alten Körper, der heute schon allerlei durchgemacht hat, sind die jungen Ichneumonlarven wach geworden. Wahrscheinlich sitzen sie gerade zu Tisch, fuhrwerken mit Messer und Gabel in den inneren Organen der armen Ameise herum. Um ihr zu helfen, entnimmt Nr. 103 683 ihrem Sozialkropf einige Koleopter-Honigtaumoleküle. Im Verlauf des harten Kampfs in den Tiefen von Bel-o-kan hat sie eine winzige Menge davon zur Schmerzbetäubung gesammelt. Sie ist äußerst vorsichtig damit umgegangen und hat sich nicht von diesem wohlschmeckenden Gift abhängig gemacht. Die Schmerzen von Nr. 4000 lassen unmittelbar nach der Einnahme des Likörs nach. Dennoch verlangt sie nach mehr. Nr. 103 683 will ihr gut zureden, aber Nr. 4000 besteht darauf, sie ist zum Kampf bereit, um den Eingeweiden ihrer Gefährtin den letzten Rest der köstlichen Droge zu entziehen. Als sie gerade losspringen und zuschlagen will, gleitet sie in eine Art sandigen Krater. Die Falle eines Ameisenlöwen! Letzterer, oder genauer gesagt: seine Larve, besitzt einen schaufelartigen Kopf, der es ihm ermöglicht, derlei Krater zu fertigen. Anschließend gräbt er sich darin ein und braucht nur noch auf Besuch zu warten. Nr. 4000 begreift, wenn auch ein wenig spät, was passiert ist. Jede Ameise ist im Grunde leicht genug, um sich aus dieser Klemme zu befreien. Bevor sie sich jedoch an den Aufstieg machen kann, tauchen zwei lange, mit Stacheln versehene Mandibeln am Ende des Kessels auf und besprengen sie mit Sand. Hilfe! Sie vergißt darüber den von ihren ungebetenen Gästen verursachten Schmerz und die auf den Koleopterlikör zurückzuführenden Entzugserscheinungen. Sie hat Angst, sie will so nicht sterben. Sie wehrt sich mit aller Kraft. Aber die Falle des Ameisenlöwen ist wie das Spinnennetz so angelegt, daß sie die Panik der Opfer ausnutzt. Je mehr Nr. 4000 strampelt, um aus dem Krater herauszuklettern, um so mehr stürzt der Hang ein und reißt sie in die Tiefe ... Wo der Ameisenlöwe sie weiterhin mit feinem Sand besprengt. Nr. 103 683 hat schnell erfaßt, daß sie, wenn sie sich über den Rand beugt, um hilfreich ein Bein auszustrecken, nur Gefahr läuft, ebenfalls abzustürzen. Sie eilt fort, um sich auf die Suche nach einem langen und haltbaren Grashalm zu machen. Die alte Ameise findet, daß die Zeit lang wird. Sie stößt einen stark duftenden Schrei aus und radelt noch heftiger durch den fast flüssigen Sand. Dadurch rutscht sie nur noch schneller ab. Sie ist nur noch fünf Kopf von den Scheren entfernt, die, aus der Nähe betrachtet, wirklich furchterregend sind. Jede Mandibel ist mit Hunderten von kleinen, messerscharfen Zähnen bewehrt, die wiederum durch lange, gebogene Stachel unterteilt sind. Das äußerste Ende bildet eine Art Pfriem, der imstande ist, mühelos jedweden Ameisenpanzer zu durchschlagen. Endlich erscheint Nr. 103 683 am Rand des Kessels und hält ihrer Gefährtin ein Gänseblümchen hin. Schnell! Diese richtet die Beine auf, um den Stengel zu packen. Aber der Ameisenlöwe hat nicht vor, auf seine Beute zu verzichten. Wie besessen bespritzt er die beiden Ameisen mit Sand. Sie sehen und hören nichts mehr. Jetzt wirft der Ameisenlöwe mit kleinen Steinchen, die mit einem unheimlichen Geräusch von dem Chitin abprallen. Halb verschüttet, gleitet Nr. 4000 weiter ab. Nr. 103 683 stemmt, den Stengel fest zwischen ihre Mandibeln geklemmt, die Beine in den Boden. Sie wartet vergeblich auf einen Ruck. Genau in dem Moment, als sie aufgeben will, schnellt ein Bein aus dem Sand ... Gerettet! Nr. 4000 hüpft endlich aus diesem Loch des Todes. Unten schlagen die Scheren vor Wut und Enttäuschung zusammen. Der Ameisenlöwe braucht Proteine, um sich in eine ausgewachsene Ameisenjungfer zu verwandeln. Wie lange wird er warten müssen, bis eine neue Beute zu ihm herabrutscht? Nr. 4000 und Nr. 103 683 reinigen sich und nehmen eine intensive Trophallaxie vor. Diesmal steht kein Koleopter-Honigtau auf dem Speiseplan. »Tag, Bilsheim!« Sie reichte ihm eine schlaffe Hand. »Jaja, ich weiß, Sie sind überrascht, mich hier zu sehen. Aber da sich diese Angelegenheit endlos in die Länge dehnt und der Präfekt persönlich sein Interesse an einem guten Ausgang bekundet hat und bald wohl auch der Minister, habe ich beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen ... Kommen Sie, machen Sie nicht so ein Gesicht, ich zieh Sie doch nur auf, Bilsheim. Wo ist Ihr Sinn für Humor geblieben?« Der alte Kommissar wußte nicht, was er antworten sollte. Seit fünfzehn Jahren ging das so. Bei ihr hatte sich noch kein »aber sicher« verfangen. Er wollte ihr in die Augen schauen, aber ihr Blick war hinter einer langen Strähne verborgen. Rothaarig, gefärbt. Die große Mode. Im Büro hieß es, sie versuche allen weiszumachen, daß sie rote Haare habe, um den starken Geruch, der von ihr ausging, zu erklären. Solange Doumeng. Sie wurde immer säuerlicher, seit sie in die Wechseljahre gekommen war. Eigentlich hätte sie, um das auszugleichen, weibliche Hormone nehmen müssen, aber sie hatte viel zuviel Angst, dicker zu werden. Hormone, da staut sich das Wasser, das weiß jeder, also biß sie die Zähne zusammen und ließ die Schwierigkeiten, die ihr das Altern machte, an ihrer Umgebung aus. »Weshalb sind Sie hier? Wollen Sie selbst da runter?« fragte der Kommissar. »Das ist doch nicht Ihr Ernst, alter Freund! Nein, Sie gehen da runter, niemand anders als Sie. Ich bleibe hier, ich habe alles mitgebracht, eine Thermosflasche voll Tee und mein Walkie-talkie.« »Und wenn ich in Schwulitäten gerate?« »Sind Sie ein solcher Angsthase, daß Sie direkt das Schlimmste befürchten? Wie gesagt, wir stehen in Funkverbindung. Sobald Ihnen die geringste Gefahr droht, verständigen Sie mich, und ich werde die notwendigen Maßnahmen ergreifen. Außerdem sind Sie verdammt gut ausgerüstet, alter Freund, Sie gehen mit dem allerneusten Gerät da runter. Schauen Sie: Sie haben ein Kletterseil. Gewehre. Ganz zu schweigen von den sechs Jungs.« Sie deutete auf die Gendarmen, die sogleich Haltung annahmen. Bilsheim brummte: »Galin ist mit acht Feuerwehrmännern runtergegangen, das hat ihm auch nicht viel genützt ...« »Aber die hatten weder Waffen noch Funkverbindung! Kommen Sie, schauen Sie nicht so betreten drein, Bilsheim.« Er hatte keine Lust, dagegen anzukämpfen. Dieses ständige Spielchen um Macht und Einschüchterung ging ihm auf die Nerven. Gegen Solange anzukämpfen hieß, selbst zu Doumeng zu werden. Sie war da wie Unkraut im Garten. Man mußte versuchen, selbst zu sprießen, ohne sich anstecken zu lassen. Bilsheim, der ernüchterte Kommissar, schlüpfte in einen Höhlenanzug, schnürte sich das Kletterseil um die Taille und hängte sich das Walkie-talkie um. »Sollte ich nie wieder raufkommen, möchte ich, daß meine ganze Habe den Waisen der Polizei zugute kommt.« »Schluß mit dem Quatsch, mein lieber Bilsheim. Sie werden wieder raufkommen, und zur Feier des Tages werden wir zusammen ins Restaurant essen gehen.« »Für den Fall, daß ich nicht wieder raufkomme, möchte ich Ihnen etwas sagen .« Sie runzelte die Stirn. »Na, na, hören Sie auf mit Ihren Kindereien, Bilsheim!« »Ich möchte Ihnen sagen ... Eines Tages müssen wir alle für unsere schlechten Taten büßen.« »Jetzt wird er noch zum Mystiker! Nein. Bilsheim. Sie irren sich, man büßt nicht für seine schlechten Taten! Mag sein, daß es einen >lieben Gott< gibt, wie Sie sagen, aber wenn, dann pfeift er auf uns! Und wenn Sie zu Lebzeiten nichts genossen haben, werden Sie es nach dem Tod auch nicht mehr!« Sie lachte kurz und hämisch, dann trat sie ganz nah an ihren Untergebenen heran. Der hielt den Atem an. Üble Gerüche würde er in diesem Keller noch zur Genüge in die Nase bekommen . »Aber so schnell werden Sie nicht sterben. Sie werden mir diese Sache klären. Ihr Tod würde keinem nutzen.« Vor Verärgerung wurde der Kommissar wieder zum Kind, er war nur noch der kleine Junge, dem man seine Schaufel weggenommen hat und der - wohlwissend, daß er sie nie wiederbekommen wird - einige schwache Beleidigungen ausstößt. »Klar, mein Tod wäre das Scheitern Ihrer >persönlichen< Ermittlungen. Dann sieht man, was dabei herauskommt, wenn Sie, wie Sie sagten, >die Sache selbst in die Hand nehmen<.« Sie trat noch näher, als wollte sie ihn auf den Mund küssen. Statt dessen raunte sie ihm bedächtig-feucht ins Gesicht: »Sie mögen mich nicht, was, Bilsheim? Niemand mag mich, und das ist mir schnurz, außerdem mag ich Sie auch nicht. Und ich habe auch nicht das geringste Interesse, beliebt zu sein. Ich will nur, daß man mich fürchtet. Eins sollten Sie trotzdem wissen: Wenn Sie da unten draufgehen, stört mich das keineswegs, ich werde einen dritten Trupp losschicken. Wenn Sie mir wirklich schaden wollen, dann kommen Sie siegreich und lebend zurück, dann wäre ich Ihnen zu Dank verpflichtet.« Er gab keine Antwort. Er starrte auf die weißen Haarwurzeln der Modefrisur, das erleichterte ihn. »Wir sind soweit!« sagte einer der Gendarmen und hob sein Gewehr. Sie hatten sich untereinander angeseilt. »Okay, gehn wir.« Sie gaben den drei Polizisten, die mit ihnen in Verbindung bleiben würden, ein Zeichen, dann stiegen sie in den Keller hinab. Solange Doumeng setzte sich an einen Schreibtisch, auf den sie ihr Funkgerät gestellt hatte. »Viel Glück, kommen Sie schnell zurück!« 3 Drei Odysseen Endlich hat Nr. 56 den idealen Platz gefunden, um ihre Stadt zu bauen. Ein runder Hügel. Sie klettert hinauf. Von oben erkennt sie die weiter östlich gelegenen Städte: Zubi-zubikan und Glubi-diu-kan. Normalerweise dürfte die Verbindung mit dem Rest der Föderation keine Probleme geben. Sie untersucht die Gegend. Die Erde ist ein wenig hart, und sie hat eine graue Farbe. Die neue Königin sucht eine Stelle, wo der Boden weicher ist, aber das ist überall dasselbe. Als sie - in der Absicht, ihr erstes Geburtsgemach zu graben -entschlossen ihre Mandibeln einsetzt, verspürt sie eine seltsame Erschütterung. Wie ein Erdbeben, aber viel zu lokalisiert, als daß es wirklich eines sein könnte. Sie piekst erneut in den Boden. Schon wieder, schlimmer noch: der Hügel hebt sich und rutscht nach links. Soweit das Ameisengedächtnis zurückreicht, hat man schon viel erlebt, aber einen lebenden Hügel noch nie! Der hier rückt mit flottem Tempo voran, zerteilt die Gräser, tritt Zweige nieder. Nr. 56 hat sich noch nicht von ihrer Überraschung erholt, als sie einen zweiten Hügel sieht, der näher rückt. Was für ein Zauber ist das? Bevor sie dazu kommt, wieder herabzusteigen, wird sie auf eine Art Rodeo verschleppt, in Wirklichkeit ein Liebestanz zweier Hügel. Die sich jetzt schamlos betatschen ... Zu allem Überfluß ist der Hügel, auf dem Nr. 56 sitzt, weiblich. Und der andere macht sich daran, langsam auf ihn draufzuklettern. Nach und nach erscheint ein steinerner Kopf, ein fürchterlicher Wasserspeier, der den Mund aufmacht. Das ist zuviel! Die junge Königin verzichtet darauf, ihre Stadt in dieser Gegend zu gründen. Als sie sich von diesem Gebirge herabrollen läßt, erkennt sie, welcher Gefahr sie entronnen ist. Die Hügel haben nicht nur Köpfe, sondern obendrein vier krallenbewehrte Füße und kleine dreieckige Schwänze. Das ist das erste Mal, daß Nr. 56 Schildkröten zu sehen bekommt. zeit der Verschwörer:    Unter den Menschen ist folgendes Organisationsprinzip am meisten verbreitet: Eine komplexe Hierarchie von »Verwaltenden« (Männern und Frauen, die an der Macht sind) betreut oder vielmehr leitet die eher beschränkte Gruppe der »Kreativen«, deren Arbeit sich anschließend, unter der Flagge der Distribution, die »Händler« bemächtigen ... Verwaltende, Kreative. Händler. Das sind die drei Kasten, die heutzutage den Arbeiterinnen, Soldatinnen und geschlechtlich Differenzierten bei den Ameisen entsprechen. Der Kampf zwischen Stalin und Trotzki, den beiden russischen Führern zu Beginn des 20. Jahrhunderts, illustriert trefflich den Übergang von einem System, das die Kreativen begünstigt, zu einem System, das die Verwaltung begünstigt. Trotzki, der Mathematiker, Gründer der Roten Armee, wird nämlich von Stalin ausgeschaltet, dem Meister des Komplotts. Eine neue Ära beginnt. Man kommt in den jeweiligen Gesellschaftsschichten besser und schneller voran, wenn man zu verführen, Killer zu versammeln, zu desinformieren weiß, als wenn man imstande ist, Konzepte oder neue Gegenstände zu schaffen. Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens Nr. 4000 und Nr. 103 683 haben sich wieder auf die durch Duftnoten gekennzeichnete Piste begeben, die zu dem Termitenhügel des Ostens führt. Sie begegnen Skarabäen, die damit beschäftigt sind. Humuskugeln zu rollen. Ameisenkundschafterinnen von einer Gattung, die so klein ist, daß man sie nur mit Mühe erkennt, anderen, die so groß sind, daß die beiden Soldatinnen kaum gesehen werden ... Tatsächlich gibt es über zwölftausend Arten von Ameisen, und jede hat ihre eigene Morphologie. Die kleinsten messen nur ein paar hundert Mikron, die größten können bis zu sieben Zentimeter erreichen. Die roten Ameisen befinden sich in der Mitte. Nr. 4000 scheint sich endlich zurechtzufinden. Sie müssen noch diesen grünen Moosfleck überqueren, diesen Akazienstrauch hinaufklettern, unter diesen Narzissen herkrabbeln, und normalerweise müßte das dann hinter diesem Baumstumpf sein. Und in der Tat, kaum haben sie den Baumstumpf hinter sich gelassen, erscheinen hinter Quellern und Sanddornen der Fluß des Ostens und der Hafen von Satei. »Hallo, hallo, Bilsheim, können Sie mich hören?« »Klar und deutlich.« »Alles in Ordnung?« »Keine Probleme.« »Die Länge des abgerollten Seils gibt an, daß Sie 480 Meter hinter sich haben.« »Wunderbar.« »Haben Sie etwas gesehen?« »Nichts von Belang. Bloß ein paar in den Stein geritzte Inschriften.« »Was für Inschriften?« »Esoterisches Zeug. Soll ich Ihnen eine vorlesen?« »Nein, ich glaube Ihnen aufs Wort ...« Der Bauch von Nr. 56 ist in hellem Aufruhr. Im Inneren zerrt es, stößt es, rumpelt es. Sämtliche Bewohner ihrer künftigen Stadt werden allmählich ungeduldig. Also verzichtet sie auf große Ansprüche. Sie wählt einen Kessel aus ockerfarbener bis schwarzer Erde und beschließt, dort ihre Stadt zu gründen. Der Ort ist keine schlechte Wahl. Es gibt in der Umgebung keine Duftnoten von Zwergameisen, Termiten oder Wespen. Es gibt sogar einige Pheromonenpisten, die darauf hinweisen, daß sich schon Belokanerinnen bis hierher vorgewagt haben. Sie kostet die Erde. Der Boden ist reich an Spurenelementen, nicht zu trocken, aber auch nicht allzu feucht. Sogar ein kleiner Busch ragt über den Kessel. Sie reinigt eine kreisrunde Fläche von dreihundert Kopf Durchmesser, was den optimalen Grundriß ihrer Stadt darstellt. Mit den Kräften am Ende, würgt sie mehrmals, um Nahrung aus ihrem Sozialkropf nach oben zu befördern, aber der ist schon lange leer. Sie hat keine Energiereserven mehr. Also reißt sie mit einem Ruck ihre Flügel ab und verzehrt gierig die muskulösen Wurzeln. Mit diesem Kalorienschub müßte sie einige Tage auskommen. Dann vergräbt sie sich bis zum Rand der Antennen. Niemand darf sie sehen während dieser Zeit, in der sie eine wehrlose Beute abgibt. Sie wartet. Die in ihrem Körper versteckte Stadt wird langsam wach. Wie wird sie sie nennen? Als erstes muß sie sich den Namen einer Königin ausdenken. Einen Namen zu haben heißt, bei den Ameisen als autonomes Wesen zu existieren. Die Arbeiterinnen. Soldatinnen. »Jungfrauen« werden einzig nach der Nummer der Geburtsreihenfolge benannt. Die fruchtbaren Weibchen hingegen dürfen einen Namen annehmen. Hmm ... Sie ist, als sie aufbrach, von den Kriegerinnen mit dem Felsengeruch gejagt worden, also braucht sie sich nur »die verfolgte Königin« zu nennen. Oder nein, sie ist verfolgt worden, weil sie versucht hat, das Rätsel der geheimen Waffe zu lösen. Nicht, daß sie das vergißt. Also ist sie »die aus dem Geheimnis hervorgegangene Königin«. Und sie beschließt, ihrer Stadt den Namen »Stadt der aus dem Geheimnis hervorgegangenen Königin« zu geben. Was sich in der Duftsprache der Ameisen so anhört: Chli-Pu-Kan. Zwei Stunden später. Erneuter Kontakt. »Alles klar, Bilsheim?« »Wir sind vor einer Tür. Eine ganz normale Tür mit einer langen Inschrift. In altertümlichen Lettern.« »Was besagt die?« »Soll ich es Ihnen diesmal vorlesen?« »Ja.« Der Kommissar richtete seine Taschenlampe darauf und begann, da er den Text Wort für Wort entziffern mußte, langsam und mit feierlicher Stimme zu lesen: Im Augenblick des Todes befällt die Seele die gleiche Empfindung wie jene, die in das große Mysterium eingeweiht werden. Zunächst ist alles eine Reise mit beschwerlichen Umwegen, eine beunruhigende, endlose Fahrt durch die Finsternis. Dann, kurz vor dem Ende, ist der Schrecken am größten. Schaudern. Zittern, kalter Schweiß. Entsetzen. Dieser Phase folgt fast unmittelbar ein Aufstieg zum Licht, eine jähe Erleuchtung. Ein wundervolles Licht zieht den Blick auf sich, man durchquert Plätze und Weiden von unübertroffener Reinheit, auf denen Stimmen und Musik erklingen. Heilige Worte flößen religiösen Respekt ein. Der vollkommene und eingeweihte Mensch wird frei, und er feiert das Mysterium. Einer der Gendarmen erschauderte. »Und was ist hinter dieser Tür?« klang es aus dem Walkie-talkie. »Na schön, ich mache sie auf ... Kommt mit, Jungs.« Langes Schweigen. »Hallo, Bilsheim! Hallo, Bilsheim! Antworten Sie, verdammt, was sehen Sie?« Es ertönte ein Schuß. Dann erneut Schweigen. »Hallo, Bilsheim, antworten Sie, alter Freund!« »Ja, hier Bilsheim.« »Reden Sie schon, was ist passiert?« »Ratten. Tausende von Ratten. Sie sind über uns hergefallen, aber wir haben sie verjagt.« »Deshalb der Schuß?« »Ja. Jetzt sind sie in Deckung gegangen.« »Beschreiben Sie, was Sie sehen!« »Es ist alles rot hier. An den Wänden sind Spuren eisenhaltigen Gesteins, und auf dem Boden ... auf dem Boden ist Blut! Wir gehen weiter ...« »Halten Sie Funkkontakt! Warum schalten Sie ab?« »Ich handele lieber auf meine Art, bevor ich Ihren Ratschlägen aus der Ferne folge, wenn Sie gestatten, Madame!« »Aber Bilsheim ...« Klick. Er hatte die Verbindung unterbrochen. Satei ist eigentlich kein Hafen, es ist auch kein Vorposten. Auf jeden Fall ist es der meistbenutzte Ort der belokanischen Expeditionen, die über den Fluß führen. Einst, als die ersten Ameisen aus der Ni-Dynastie vor diesem Flußarm standen, erkannten sie schnell, daß es nicht einfach sein würde, ihn zu überqueren. Die Ameise gibt jedoch nie auf. Sie wird, wenn es sein muß, fünfzehntausendmal und auf fünfzehntausend verschiedene Arten mit dem Kopf gegen das gleiche Hindernis rennen, bis sie stirbt oder das Hindernis überwunden ist. Eine solche Vorgehensweise erscheint unlogisch. Sie hat die Ameisenzivilisation gewiß viele Opfer und viel Zeit gekostet, aber sie hat sich bezahlt gemacht. Letztlich, wenn auch um den Preis ungeheurer Anstrengungen, ist es den Ameisen stets gelungen, Schwierigkeiten zu meistern. In Satei hatten die zur Erforschung ausgesandten Ameisen als erstes versucht, den Fluß auf eigenen Beinen zu überqueren. Die Haut des Wassers war widerstandsfähig genug, um ihr Gewicht zu tragen, bot jedoch leider keinen Halt für die Krallen. Die Ameisen schlingerten am Ufer entlang wie auf einer Eisbahn. Zwei Schritte nach vorn, drei zur Seite und ... schlurf! wurden sie von den Fröschen gefressen. Nach hundert erfolglosen Anläufen und ein paar tausend Opfern versuchten die Ameisen etwas anderes. Arbeiterinnen bildeten, indem sie sich an den Beinen und Antennen hielten, eine Kette, die lang genug war, das andere Ufer zu erreichen. Das Unterfangen hätte gelingen können, wäre der Fluß nicht so breit gewesen und voller Strudel. Zweihundertvierzigtausend Tote. Aber die Ameisen gaben nicht auf. Auf Anregung ihrer damaligen Königin Biu-pa-ni versuchten sie, eine Brücke aus Blättern zu bauen, dann eine aus kleinen Zweigen, dann eine aus Maikäferkadavern, dann eine aus Steinchen ... Diese vier Experimente kosteten ungefähr sechshundertsiebzigtausend Arbeiterinnen das Leben. Biu-pa-ni hatte mit ihrer utopischen Brücke bereits mehr ihrer Untertanen in den Tod geschickt, als sämtliche Territorialkriege unter ihrem Regime an Opfern gefordert hatten! Dennoch gab sie nicht auf. Man mußte den Zugang zu den Gebieten des Ostens finden. Nach den Brücken kam sie auf die Idee, dem Fluß bis zu seiner Quelle im Norden zu folgen und ihn so zu umgehen. Keine dieser Expeditionen kehrte jemals zurück. 8000 Tote. Dann sagte sie sich, daß die Ameisen das Schwimmen erlernen müßten. 15 000 Tote. Dann, daß sie versuchen müßten, die Frösche zu zähmen. 68 000 Tote. Blätter nehmen und auf ihnen von einem hohen Baum aus hinübersegeln? 52 Tote. Die Beine mit hartem Honig beschweren und unter Wasser gehen? 27 Tote. In der Legende heißt es, sie habe auf die Meldung, daß nur noch ein Dutzend unversehrte Arbeiterinnen in der Stadt seien, mit der Sentenz reagiert: Schade, ich war noch voller Ideen ... Zu guter Letzt fanden die Ameisen der Föderation doch noch eine befriedigende Lösung. Dreihunderttausend Jahre später schlug die Königin Lifug-ryu-ni ihren Töchtern vor, einen Tunnel unter dem Fluß zu graben. Das war so einfach, daß niemand vorher daran gedacht hatte. Seitdem kann man problemlos von Satei aus auf die andere Seite des Flusses gelangen. Nr. 103 683 und Nr. 4000 krabbeln schon seit einer Weile durch diesen Tunnel. Es ist feucht, aber noch gibt es keine Wassereinbrüche. Die Termitenstadt liegt am anderen Ufer. Die Termiten benutzen diesen unterirdischen Gang ebenfalls für ihre Streifzüge durch föderiertes Territorium. Bislang hat eine stillschweigende Übereinkunft gegolten. Man bekämpft sich nicht in dem Tunnel, jeder kann ihn frei durchqueren, ob Ameise oder Termite. Aber es ist klar: Sobald eine der beiden Parteien Besitzansprüche anmeldet, wird die andere versuchen, den Stollen zu verstopfen oder zu überschwemmen. Sie gehen endlos durch den langen Gang. Einziges Problem: Die flüssige Masse über ihnen ist eiskalt, und der Untergrund ist noch kälter. Sie verlieren jedes Gefühl in den Beinen. Jeder Schritt fällt schwer. Wenn sie da unten einschlafen, heißt das Winterschlaf für alle Zeiten. Sie kriechen langsam nach oben, um den Ausgang zu erreichen. Das kostet sie ihre letzten Reserven an Proteinen und Zucker. Ihre Muskeln sind ganz steif. Endlich, der Ausgang ... Als sie ins Freie treten, haben sich Nr. 103 683 und Nr. 4000 so sehr abgekühlt, daß sie mitten auf dem Weg einschlummern. Sich im Gänsemarsch durch diesen finsteren Schlauch zu quälen, brachte ihn ins Grübeln. Hier gab es nichts nachzudenken, man mußte einfach weitergehen, immer weiter bis zum Ende. In der Hoffnung, daß es ein Ende gab ... Hinter ihm sagte keiner mehr einen Ton. Bilsheim hörte das heisere Atmen der sechs Gendarmen und sagte sich, daß er wirklich ungerecht behandelt wurde. Normalerweise hätte er längst Hauptkommissar sein und ein vernünftiges Gehalt beziehen müssen. Er leistete gute Arbeit, seine Überstunden lagen weit über dem Durchschnitt, er hatte schon ein gutes Dutzend Fälle aufgeklärt. Nur war da leider diese Doumeng, die seine Beförderung verhinderte. Plötzlich erschien ihm diese Situation unerträglich. »Ach, Scheiße!« Alle blieben stehen. »Alles klar, Kommissar?« »Jaja, schon gut, geht weiter!« Der Gipfel der Schmach: Jetzt redete er schon mit sich selbst. Er biß sich auf die Lippen, nahm sich fest vor, sich besser im Griff zu haben. Er hatte nichts gegen Frauen, aber er hatte etwas gegen Inkompetenz. »Die alte Ziege kann kaum lesen und schreiben, sie hat noch keine einzige Untersuchung durchgeführt, und dann steht sie mit einemmal an der Spitze der ganzen Abteilung, hat einhundertachtzig Polizisten unter sich! Und sie verdient viermal soviel wie ich! Geht zur Polizei, sagen sie doch immer! Die Doumeng, die ist von ihrem Vorgänger zur Nachfolgerin auserkoren worden. Garantiert eine Bettgeschichte. Außerdem läßt sie einen nie in Frieden, eine richtige Nervensäge. Sie hetzt die Leute gegeneinander auf, sie sabotiert ihre eigene Abteilung, indem sie sich überall als unentbehrlich aufspielt ...« Während seiner Grübelei erinnerte sich Bilsheim plötzlich an einen Dokumentarfilm über Kröten. Jene sind in Liebeszeiten dermaßen erregt, daß sie auf alles springen, was ihnen in die Quere kommt: Weibchen, aber auch Männchen und sogar Steine. Sie drücken auf den Bauch ihres Partners, um die Eier hervorzulocken, die sie dann befruchten. Wer auf den Bauch eines Weibchens drückt, wird für seine Anstrengungen belohnt. Wer auf den Bauch eines Männchens drückt, erhält nichts und wechselt den Partner. Wer auf einen Stein drückt, tut sich die Arme weh und gibt auf. Aber es gibt einen Sonderfall: die, die auf die Erdschollen drücken. Die Erdscholle ist genauso weich wie der Bauch eines Kröten Weibchens. Also hören sie nicht auf zu pressen. Tagelang können sie diese unfruchtbaren Versuche wiederholen. Und sie glauben, daß es nichts Besseres zu tun gibt. Der Kommissar lächelte. Vielleicht brauchte man der guten Solange nur zu erklären, daß es auch andere, durchaus wirksamere Verhaltensweisen gab, als alles zu blockieren und Untergebene zu triezen. Aber er glaubte nicht daran. Er sagte sich, wenn jemand in dieser verflixten Abteilung fehl am Platz war, dann war er es. Die anderen hinter ihm waren ebenfalls in düstere Gedanken versunken. Dieser lautlose Abstieg ging allen auf die Nerven. Seit fünf Stunden gingen sie ohne Pause immer weiter. Die meisten dachten an die Zulage, die sie nach diesem Abenteuer fordern müßten; andere dachten an ihre Frau, an ihre Kinder, an ihren Wagen oder an eine Dose Bier ... nichts: Was gibt es Angenehmeres, als das Denken einzustellen? Endlich dieser übersprudelnden Flut von mehr oder weniger nützlichen und mehr oder weniger wichtigen Gedanken ein Ende zu machen. Aufhören zu denken! Als wäre man tot und könnte wieder lebendig werden. Leer sein. Zum äußersten Ursprung zurückkehren. Nichts sein. Das nenne ich ein nobles Streben. Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens Die Körper der beiden Soldatinnen, die reglos die ganze Nacht auf dem schlammigen Ufer gelegen haben, werden durch die ersten Sonnenstrahlen wiederbelebt. Eine nach der andern reaktivieren sich die Facetten der Augen von Nr. 103 683 und übermitteln ihrem Gehirn die neue Umgebung. Eine Umgebung, die einzig und allein aus einem riesigen Auge direkt über ihr besteht, das sie aufmerksam anstarrt. Die junge Geschlechtslose stößt einen Pheromonenschrei des Entsetzens aus, der ihr die Antennen versengt. Das Auge bekommt ebenfalls Angst, es weicht hastig zurück und mit ihm das lange Hörn, von dem es getragen wird. Die beiden verstecken sich unter einer Art rundem Kieselstein. Eine Schnecke! Ringsum sind noch mehr, fünf insgesamt, die sich unter ihrem Gehäuse verstecken. Die beiden Ameisen nähern sich ihnen, streichen um sie umher. Sie versuchen sie zu beißen, aber sie wissen nicht, wo sie ansetzen sollen. Dieses wandelnde Nest ist eine uneinnehmbare Festung. Eine Sentenz der Königin kommt ihnen in den Sinn: Die Sicherheit ist mein ärgster Feind, sie lullt meine Reflexe und meine Entschlußkraft ein. Nr. 103 683 sagt sich, daß diese hinter ihrem Gehäuse verschanzten Viecher ein leichtes Leben haben. Sie fressen reglose Gräser, brauchen nie zu kämpfen, zu locken, zu jagen, zu fliehen. Nie müssen sie dem Leben die Stirn bieten. Sie haben sich also nie entwickelt. Sie packt die Lust, sie dazu zu zwingen, ihr Gehäuse zu verlassen, ihnen zu beweisen, daß sie nicht unverwundbar sind. Im gleichen Moment schätzen zwei oder fünf Schnecken, daß die Gefahr vorüber ist. Sie entlassen ihren Körper aus seinem Unterschlupf, um ihre nervliche Anspannung abzureagieren. Sie schieben sich aufeinander zu, pressen sich Bauch an Bauch. Schleim an Schleim, vereinigen sie sich in einem klebrigen Kuß, der ihren ganzen Körper erfaßt. Ihre Geschlechtsteile berühren sich. Es passiert etwas zwischen ihnen. Das ist sehr langsam. Die Schnecke rechts hat ihren aus einer kalkigen Spitze geformten Penis in die mit Eiern gefüllte Vagina der Schnecke links geschoben. Letztere, ganz weg vor Liebe, bringt ihrerseits einen erigierten Penis zum Vorschein und steckt ihn in den Partner. Beide schwelgen in der Lust, einzudringen und zugleich durchdrungen zu werden. Ausgestattet mit einer Vagina und einem Penis darüber, können sie parallel die Empfindungen beider Geschlechter erleben. Die Schnecke rechts hat als erste ihren männlichen Orgasmus. Sie windet sich außerordentlich und spannt sich, ihr ganzer Körper ist wie elektrisiert. Die vier Okularfühler der Hermaphroditen umschlingen sich. Der Schleim verwandelt sich in Schaum, dann in Bläschen. Das ist ein sehr enger Tanz, dessen Sinnlichkeit durch die langsamen Bewegungen noch gesteigert wird. Die Schnecke links richtet ihre Fühler auf. Sie erreicht ebenfalls einen männlichen Orgasmus. Aber kaum hat sie aufgehört zu ejakulieren, wird ihr Körper von einer zweiten, diesmal vaginalen Welle geschüttelt. Die Schnecke rechts erlebt ihrerseits die weibliche Wonne. Ihre Fühler sinken, ihre Liebespfeile ziehen sich zurück, ihre Vaginen schließen sich . Nach diesem vollkommenen Akt verwandeln sich die Liebhaber in gleichgepolte Magneten. Abstoßung. Ein Phänomen, so alt wie die Welt. Die beiden Maschinen zum Schenken und Empfangen der Lust trennen sich langsam, die Eier von den Spermien des Partners befruchtet. Während Nr. 103 683 verdutzt, noch ganz unter dem Eindruck der Schönheit des Spektakels, verharrt, stürzt sich Nr. 4000 auf eine der beiden Schnecken. Sie will die postamouröse Erschöpfung ausnutzen, um dem größeren der beiden Tiere den Bauch aufzuschlitzen. Zu spät, sie haben sich wieder in ihre Gehäuse verkrochen. Die alte Kundschafterin gibt nicht auf, sie weiß, daß sie irgendwann wieder hervorkommen werden. Sie belagert sie lange. Schließlich zwängen sich erst ein zaghaftes Auge, dann ein ganzer Fühler aus dem Gehäuse. Der Gastropode schaut nach, wie die Welt rings um sein kleines Leben aussieht. Als der zweite Fühler erscheint, schnellt Nr. 4000 vor und beißt mit aller Kraft ihrer Mandibeln in das Auge. Sie will es heraustrennen. Aber das Weichtier zieht sich zusammen, reißt dabei die Kundschafterin mit in die Spiralen ihres Gehäuses. Flupp! Wie kann man sie retten? Nr. 103 683 überlegt, schon steigt eine Idee aus einem ihrer drei Gehirne auf. Sie ergreift einen Stein mit ihren Mandibeln und beginnt mit aller Kraft auf das Gehäuse zu schlagen. Damit hat sie zwar den Hammer erfunden, aber das Schneckenhaus ist nicht aus Balsaholz. Das Klopfen ist Musik, sonst nichts. Sie muß sich etwas anderes ausdenken. Das ist ein Glückstag, denn diesmal entdeckt die Ameise den Hebel. Sie packt einen kräftigen Zweig, ein kleiner Stein dient ihr als Achse dabei, dann benutzt sie ihr ganzes Gewicht, um das schwere Tier umzuwerfen. Sie muß es mehrmals versuchen. Schließlich schwankt das Gehäuse hin und her, dann kippt es um. Die Öffnung zeigt nach oben. Geschafft! Nr. 103 683 erklimmt die Spiralen, beugt sich über das hohle Gehäuse und läßt sich auf das Weichtier fallen. Nach einer langen Rutschpartie landet sie auf einer braunen, gallertartigen Masse. Angewidert von dem fetten Schleim, in dem sie watet, beginnt sie das weiche Gewebe zu zerschneiden. Ihre Säure kann sie nicht einsetzen, da sie Gefahr liefe, selbst verätzt zu werden. Eine neue Flüssigkeit mischt sich alsbald mit dem Schleim: das durchsichtige Blut der Schnecke. Das zu Tode erschrockene Tier wird von einem Krampf geschüttelt, der die beiden Ameisen aus dem Gehäuse schleudert. Unversehrt streicheln sie einander ausgiebig die Antennen. Die tödlich verwundete Schnecke möchte fliehen, aber sie verliert auf dem Weg ihre Eingeweide. Die beiden Ameisen holen sie und haben keine Mühe, ihr den Rest zu geben. Erschrocken verkriechen sich die vier anderen Gasteropoden, die ihre Fühleraugen ausgefahren haben, um die Szene zu beobachten, tief in ihre Gehäuse, um sich den Rest des Tages nicht mehr zu rühren. An diesem Morgen stopfen sich Nr. 103 683 und Nr. 4000 mit Schneckenfleisch voll. Sie zerschneiden es in Scheiben und verzehren es als lauwarmes, im eigenen Schleim schwimmendes Steak. Sie finden sogar den mit Eiern gefüllten vaginalen Beutel. Schneckenkaviar! Eine der Lieblingsspeisen der roten Ameisen, eine wertvolle Quelle von Vitaminen, Fett, Zucker und Proteinen . Den Sozialkropf bis zum Rand gefüllt und mit Sonnenenergie aufgeladen, machen sie sich festen Schritts wieder auf den Weg nach Südosten. analyse der Pheromonen (34. Experiment): Es ist mir mittels eines Massenspektrometers und eines Chromatographen gelungen, einige der Kommunikationsmoleküle der Ameisen zu identifizieren. Infolgedessen konnte ich eine chemische Analyse einer um 10 Uhr abends »abgehörten« Kommunikation zwischen einem Männchen und einer Arbeiterin vornehmen. Das Männchen hat ein Stück Toastbrot entdeckt. Hier die Analyse dessen, was es von sich gegeben hat: -    Methyl-6 -    Methyl-4 Hexanon-3 (2 Ausstöße) -    Keton -    Oktanon-3 Dann erneut: -    Keton -    Oktanon-3 (2 Ausstöße) Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens Unterwegs begegnen sie weiteren Schnecken. Sie verstecken sich allesamt, als hätten sie einander zugeflüstert: »Diese Ameisen sind gefährlich.« Eine jedoch versteckt sich nicht. Sie zeigt sich sogar unverhüllt. Neugierig krabbeln die beiden Ameisen auf sie zu. Das Tier ist von etwas Schwerem zermalmt worden. Sein Gehäuse ist zertrümmert. Sein Körper ist geplatzt und weit im Umkreis verteilt. Nr. 103 683 muß sogleich an die geheime Waffe der Termiten denken. Sie müssen ganz in der Nähe der feindlichen Stadt sein. Sie schaut sich den Kadaver genauer an. Der Schlag war umfassend, kurz und äußerst heftig. Kein Wunder, daß es ihnen mit einer solchen Waffe gelungen ist, den Posten von La-chola-kan zu zerfetzen! Nr. 103 683 ist fest entschlossen. Sie müssen in die Termitenstadt eindringen und diese Waffe verstecken, besser noch stehlen. Sonst läuft die ganze Föderation Gefahr, vernichtet zu werden! Aber plötzlich kommt starker Wind auf. Sie kommen nicht mehr dazu, sich mit ihren Krallen an der Erde festzuhalten. Der Sturm trägt sie gen Himmel. Nr. 103 683 und Nr. 4000 haben keine Flügel . Dennoch fliegen sie. Einige Stunden später - der Trupp oben döste selig vor sich hin - begann das Walkie-talkie wieder zu rauschen. »Hallo, Madame Doumeng! Es ist soweit, wir sind unten angekommen.« »Und? Was sehen Sie?« »Das ist eine Sackgasse. Wir stehen vor einer Mauer aus Beton und Stahl, die erst kürzlich errichtet worden ist. Man könnte meinen, hier wäre Schluß ... Da ist noch eine Inschrift.« »Lesen Sie vor!« »Wie bildet man vier gleichseitige Dreiecke mit sechs Streichhölzern?« »Das ist alles?« »Nein, da sind noch Tasten mit Buchstaben. Die sind bestimmt dazu da, die Antwort einzugeben.« »Gibt es keine Seitengänge?« »Nichts.« »Und die Leichen der anderen sind auch nicht zu sehen?« »Nein, nichts ... Hmm ... Aber da sind Fußspuren. Als hätten jede Menge Leute genau vor dieser Mauer auf den Boden gestampft.« »Was jetzt?« wisperte einer der Gendarmen. »Gehen wir zurück?« Bilsheim untersuchte aufmerksam das Hindernis. Hinter all diesen Symbolen, all diesen Stahl- und Betonplatten verbarg sich ein Mechanismus. Und außerdem, wo waren all die anderen abgeblieben? Hinter ihm setzten sich die Gendarmen auf die Stufen. Er konzentrierte sich auf die Tasten. Kein Zweifel, man mußte all diese Buchstaben in einer bestimmten Reihenfolge eingeben. Jonathan Wells war Schlosser, er hatte bestimmt die Sicherheitssysteme der Haustüren angewandt. Man mußte das Kodewort finden. Er wandte sich um. »Habt ihr Streichhölzer, Jungs?« Das Walkie-talkie wurde ungeduldig. »Hallo, Kommissar Bilsheim, was machen Sie?« »Wenn Sie uns wirklich helfen wollen: Versuchen Sie, vier Dreiecke mit sechs Streichhölzern zu bilden. Wenn Sie die Lösung haben, sagen Sie mir Bescheid.« »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen. Bilsheim?« Der Sturm flaut endlich ab. Innerhalb weniger Sekunden läßt der Wind von seinem Tanz ab. Blätter, Staub, Insekten sind wieder den Gesetzen der Schwerkraft unterworfen und stürzen, ganz nach ihrem jeweiligen Gewicht, nach unten. Nr. 103 683 und Nr. 4000 landen einige Dutzend Köpfe voneinander entfernt auf dem Boden. Unversehrt finden sie einander wieder und untersuchen die Umgebung: eine steinige Gegend, die in nichts der Landschaft ähnelt, die sie verlassen haben. Kein einziger Baum, nur ein paar wildwachsende Gräser, die von den Launen des Winds zerstreut wurden. Sie wissen nicht, wo sie sind ... Als sie, so gut es geht, ihre Kräfte sammeln, um diesen düsteren Ort zu verlassen, beschließt der Himmel, erneut seine Macht zu zeigen. Wolken ballen sich zusammen, werden schwarz. Ein Blitz zerschneidet die Luft und entlädt die gesamte elektrische Spannung, die sich angestaut hat. Sämtliche Tiere haben diese Nachricht der Natur verstanden. Die Frösche hüpfen davon, die Fliegen verstecken sich unter den Steinen, die Vögel fliegen tief. Die ersten Regentropfen fallen. Die beiden Ameisen müssen schleunigst einen Unterschlupf finden. Jeder Tropfen kann tödlich sein. Sie eilen auf ein vorstehendes Gebilde zu, das sich in der Ferne abhebt, ein Baum oder Fels. Nach und nach zeichnet sich das Gebilde durch den dichten Regen und den kriechenden Dunst deutlicher ab. Das ist kein Fels, auch kein Strauch. Das ist eine wahre Kathedrale aus Erde, und die Spitzen ihrer zahlreichen Türme verschwinden in den Wolken. Entsetzen. Ein Termitenhügel! Der Termitenhügel des Ostens! Nr. 103 683 und Nr. 4000 sind zwischen dem schrecklichen Gewitterregen und der feindlichen Stadt eingeklemmt. Sicher hatten sie vor, sie aufzusuchen, aber nicht unter solchen Bedingungen! Millionen Jahre voll Haß und Rivalität halten sie zurück. Aber nicht lange. Schließlich sind sie hierhergekommen, um den Termitenhügel auszuspionieren. Also halten sie zitternd auf einen dunklen Eingang am Fuße des Gebäudes zu. Die Antennen aufgerichtet. Mandibeln gespreizt, die Beine leicht durchgebogen, sind sie entschlossen, ihr Leben teuer zu verkaufen. Wider Erwarten befindet sich jedoch keine Wache am Eingang des Termitenhügels. Das ist überhaupt nicht üblich. Was geht hier vor? Die beiden Geschlechtslosen dringen in das Innere der riesigen Stadt vor. Vor Neugier lassen sie es fast an der elementarsten Vorsicht fehlen. Man muß sagen, daß die Räumlichkeiten in nichts einem Termitenhügel gleichen. Die Wände sind aus einem viel weniger bröckeligen Material als Erde, ein Zement, hart wie Holz. Die Gänge sind mit Feuchtigkeit gesättigt. Es weht nicht das geringste Lüftchen. Und die Atmosphäre ist auffällig reich an Kohlendioxid. Jetzt rücken sie schon eine ganze Weile da drinnen vor, ohne auch nur einer Wache begegnet zu sein! Das ist ganz und gar außergewöhnlich ... Die beiden Ameisen bleiben stehen, berühren sich mit den Antennen, um zu beratschlagen. Der Entschluß ist schnell gefaßt: Weiter! Aber in ihrem Vorwärtsdrang haben sie sich vollkommen verlaufen. Diese seltsame Stadt ist ein Labyrinth, schlimmer noch als ihre Geburtsstadt. Selbst die Markierungsduftstoffe ihrer Drüsen finden keinerlei Halt an den Wänden. Sie wissen nicht mehr, ob sie über oder unter der Erde sind! Sie versuchen kehrtzumachen, was ihnen auch nicht weiterhilft. Unentwegt entdecken sie neue, seltsam geformte Gänge. Sie haben sich rettungslos verirrt. Da erblickt Nr. 103 683 ein ungewöhnliches Phänomen: ein Licht! Die beiden Soldatinnen können es nicht fassen. Dieses Licht inmitten einer verlassenen Termitenstadt, das ist einfach verrückt. Sie halten auf die Lichtquelle zu. Es handelt sich um ein gelboranges Licht, das mitunter in Grün oder Blau umschlägt. Nach einem etwas kräftigeren Aufblitzen erlischt die Lichtquelle. Danach leuchtet sie wieder auf und beginnt zu blinken, ihr Schein spiegelt sich in dem Panzer der Ameisen. Wie hypnotisiert rennen Nr. 103 683 und Nr. 4000 auf diesen unterirdischen Leuchtturm zu. Bilsheim begann vor Aufregung zu tänzeln: er hatte es begriffen! Er zeigte den Gendarmen, wie die Streichhölzer anzuordnen sind, damit sich vier Dreiecke ergeben. Verblüffte Mienen, danach ein begeistertes Brüllen. Solange Doumeng, die ebenfalls Geschmack an der Sache gefunden hatte, stieß hervor: »Haben Sie’s raus? Haben Sie’s raus? Sagen Sie’s mir!« Aber niemand gehorchte ihr, sie hörte nur noch ein Stimmengewirr, durchsetzt von mechanischen Geräuschen. Danach kehrte Schweigen ein. »Was ist los, Bilsheim? Sagen Sie schon!« Das Walkie-talkie begann fürchterlich zu rauschen. »Hallo! Hallo!« »Ja (Rauschen), wir haben den Durchgang geöffnet. Dahinter ist ein (Rauschen) Gang. Er führt nach (Rauschen) rechts. Wir gehen weiter!« »Warten Sie! Wie haben Sie das mit den vier Dreiecken angestellt?« Aber Bilsheim und seine Leute konnten die Mitteilungen von der Oberfläche nicht mehr vernehmen. Der Lautsprecher ihres Geräts funktionierte nicht mehr, wahrscheinlich ein Kurzschluß. Sie empfingen nichts mehr, konnten aber noch senden. »Ah! Das ist unglaublich. Je weiter man vorstößt, um so besser konstruiert wirkt das. Da ist ein Gewölbe, und in der Feme ein Licht. Wir gehen hin.« »Warten Sie, was sagen Sie da? Ein Licht da unten?« »Da sind sie!« »Wer ist da? Herrgott! Die Leichen? Antworten Sie!« »Achtung .« Man hörte eine Reihe kräftiger Detonationen. Schreie, dann brach die Verbindung ab. Das Seil wickelte sich nicht mehr ab, dennoch blieb es gespannt. In der Annahme, es habe sich verklemmt, griffen die Polizisten oben in der Wohnung danach und zerrten daran. Sie versuchten es zu dritt ... Zu fünft. Plötzlich gab es nach. Sie zogen das Seil hoch und rollten es auf, und nicht in der Küche, sondern im Eßzimmer, ein solch riesiges Knäuel kam dabei heraus. Endlich hatten sie das abgerissene Ende in der Hand, es war völlig ausgefranst, als hätten Zähne daran genagt. »Was machen wir jetzt, Madame?« murmelte einer der Polizisten. »Nichts, rein gar nichts. Nichts mehr. Kein Wort an die Presse, kein Wort an wen auch immer, und im übrigen mauern Sie mir diesen Keller so schnell wie möglich zu. Die Untersuchung ist beendet. Ich schließe die Akten, und wehe, mich spricht noch jemand auf diesen Teufelskeller an! Los, beeilen Sie sich, beschaffen Sie sich Ziegelsteine und Zement. Und regeln Sie das Problem mit den Witwen der Gendarmen.« Am späten Nachmittag, als die Polizisten gerade die letzten Steine einfügen wollten, hörten sie ein dumpfes Geräusch. Jemand kam zurück! Sie schufen eine Öffnung. Ein Kopf tauchte aus der Finsternis auf, dann der ganze Körper des Überlebenden. Ein Gendarm. Endlich würde man erfahren, was da unten vorging. Sein Gesicht war eine einzige Fratze der Angst. Einige Gesichtsmuskeln waren gelähmt, wie nach einem Schlaganfall. Ein richtiger Zombie. Seine Nasenspitze war abgerissen und blutete stark. Er zitterte, seine Augen waren verdreht. »Gebegeeeege«, stammelte er. Speichel rann aus seinem Mundwinkel. Er fuhr sich mit einer Hand voll tiefer Wunden, die seine Kollegen an Messerstiche denken ließen, über das Gesicht. »Was ist passiert? Sind Sie angegriffen worden?« »Gööööbegöö!« »Gibt es noch mehr Überlebende da unten?« »Bögögeebebeggebee!« Da er unfähig war, mehr hervorzubringen, verbanden sie seine Wunden. Man sperrte ihn in eine psychiatrische Anstalt und mauerte die Kellertür zu. Jedes noch so feine Scharren der Beine auf dem Boden bewirkt eine Veränderung in der Helligkeit des Lichts. Es flackert, als hörte es sie kommen, als wäre es lebendig. Die Ameisen bleiben stehen, um sich Gewißheit zu verschaffen. Das Licht breitet sich sogleich aus, bis es sogar die kleinsten Ritzen der Gänge erhellt. Die beiden Spioninnen verstecken sich schleunigst, um nicht von dem seltsamen Scheinwerfer erfaßt zu werden. Dann nutzen sie einen plötzlichen Abfall der Helligkeit und hasten zu der Lichtquelle. Sieh an, es handelt sich um einen phosphoreszierenden Käfer. Ein brünstiges Glühwürmchen. Kaum hat es die Eindringlinge geortet, erlischt es vollständig ... Aber da nichts geschieht, glüht es allmählich schwachgrün, sozusagen vorsichtig, auf Sparflamme, wieder auf. Nr. 103 683 gibt Duftstoffe von sich, die eine friedliche Absicht bekunden. Obwohl alle Käfer diese Sprache verstehen, antwortet das Glühwürmchen nicht. Das grüne Licht wird trüber, wechselt ins Gelb, um nach und nach rötlich anzulaufen. Die Ameisen vermuten, daß diese neue Farbe eine Frage bedeutet. Wir haben uns in diesem Termitenhügel verlaufen, sendet die alte Kundschafterin. Zunächst erhalten sie keine Antwort. Nach einigen weiteren Farbabstufungen beginnt das Glühwürmchen zu blinken, was sowohl Freude wie Verärgerung heißen kann. Unschlüssig warten die Ameisen ab. Plötzlich biegt das Glühwürmchen, schneller und schneller blinkend, in einen Seitengang ein. Man könnte meinen, es wollte ihnen etwas zeigen. Sie folgen ihm. Sie kommen in einen noch kälteren und feuchteren Bereich. Irgendwoher dringt ein trauriges Jaulen zu ihnen herüber. Verzweiflungsschreie, die sich in Form von Gerüchen und Tönen verbreiten. Die beiden Ameisen beraten sich. Nun, wenn das Insekt auch nicht zu ihnen spricht, verstehen tut es bestens. Und als wollte es ihre Frage beantworten, leuchtet es in langen Abständen auf und erlischt wieder, ganz so, als wollte es ihnen bedeuten: Habt keine Angst, folgt mir. Alle drei dringen immer tiefer in den fremden Untergrund ein und gelangen in eine sehr kalte Zone, in der die Gänge viel breiter sind. Das Jaulen setzt nur noch stärker wieder ein. Achtung! stößt Nr. 4000 plötzlich aus. Nr. 103 683 dreht sich um. Das Glühwürmchen beleuchtet eine Art Monster, das sich nähert, das Gesicht zerknittert wie ein Greis, den Körper in ein transparentes weißes Leichentuch gehüllt. Die Soldatin bricht in einen intensiven Duft des Entsetzens aus, der ihren beiden Begleitern den Atem nimmt. Die Mumie kommt immer näher, sie scheint sich sogar vorzubeugen, als wollte sie zu ihnen sprechen. In Wirklichkeit fällt sie vornüber. Sie schlägt der Länge nach auf den Boden. Die Schale öffnet sich. Und der grauenhafte Greis verwandelt sich in ein Neugeborenes ... Eine Termitenpuppe! Normalerweise müßte sie liegend in einer Ecke verharren. Aufgeschlitzt windet sich die Mumie weiter und stößt ein trauriges Jaulen aus. Daher rührten also diese Schreie! Und es sind noch mehr Mumien da. Die drei Insekten halten sich nämlich in einer Art Krippe auf. Hunderte von Termitenpuppen lehnen aufrecht nebeneinander an den Wänden. Nr. 4000 mustert sie und stellt fest, daß einige aus Mangel an Pflege verendet sind. Die Überlebenden stoßen verzweifelte Düfte aus, um die Ammen zu rufen. Sie sind schon eine ganze Weile nicht mehr ernährt worden, sie werden alle vor Hunger umkommen. Das ist verrückt. Niemals, und sei es nur für kurze Zeit, würde ein mit der Fürsorge betrautes Insekt seine Brut verlassen. Oder aber ... Der gleiche Gedanke durchzuckt die beiden Ameisen. Oder aber ... alle Arbeiterinnen sind tot und es sind nur noch die Puppen übriggeblieben! Das Glühwürmchen blinkt erneut, fordert sie auf, ihm durch weitere Gänge zu folgen. Ein merkwürdiger Geruch erfüllt die Luft. Die Soldatin tritt auf etwas Hartes. Sie hat keine Infrarot-Ozellen und kann im Dunkeln nichts erkennen. Das lebende Licht kommt näher und beleuchtet die Beine von Nr. 103 683. Der Kadaver eines Termitensoldaten! Er sieht einer Ameise sehr ähnlich, nur daß er ganz weiß ist und keinen gesonderten Hinterleib hat ... Hunderte von weißen Kadavern bedecken den Boden. Was für ein Massaker! Und das Seltsamste: Sämtliche Körper sind unversehrt. Es hat kein Kampf stattgefunden! Der Tod muß urplötzlich eingetreten sein. Die Bewohner sind in der Haltung ihrer alltäglichen Arbeit erstarrt. Einige scheinen noch ein Gespräch zu führen oder mit ihren Mandibeln Holz zu schneiden. Was mag eine solche Katastrophe herbeigeführt haben? Nr. 4000 untersucht diese morbiden Statuen. Sie verströmen einen stechenden Geruch. Ein Schauder überläuft die beiden Ameisen. Giftgas! Das erklärt alles: das Verschwinden der ersten gegen den Termitenstaat ausgesandten Expedition, der letzte Überlebende der zweiten Expedition, der ohne irgendeine Verletzung stirbt. Und wenn sie selbst nichts merken, dann nur, weil sich das Gas seitdem verflüchtigt hat. Nur, warum haben dann die Puppen überlebt? Die alte Kundschafterin bringt eine Hypothese vor: Sie haben ein spezielles Immunsystem, vielleicht hat sie ihr Kokon gerettet ... Jetzt müßten sie gegen das Gift geimpft sein. Das ist der berühmte Mithridatismus, der es den Insekten ermöglicht, mutierte Generationen zu zeugen und so sämtlichen Insektiziden zu widerstehen. Aber wer hat dieses tödliche Gas versprüht? Ein einziges Rätsel. Einmal mehr ist Nr. 103 683 auf ihrer Suche nach der geheimen Waffe an »andere«, ebenso unverständliche Dinge geraten. Nr. 4000 möchte hinaus. Das Glühwürmchen blinkt Zustimmung. Die Ameisen verabreichen den Larven, die gerettet werden können, einige Stücke Zellulose, dann machen sie sich auf die Suche nach dem Ausgang. Das Glühwürmchen folgt ihnen. Je weiter sie vorankommen, um so mehr weichen die Kadaver der Termitensoldaten den Kadavern von Arbeiterinnen, die mit der Pflege der Königin betraut sind. Einige haben noch Eier in ihren Mandibeln! Die Architektur wird immer komplizierter. In die Gänge von dreieckigem Schnitt sind Zeichen eingeritzt. Das Glühwürmchen wechselt die Farbe und verbreitet nun ein bläuliches Licht. Es muß etwas wahrgenommen haben. Tatsächlich läßt sich am Ende des Gangs ein Keuchen vernehmen. Das Trio gelangt vor eine Art Sanktuarium, das von fünf riesigen Posten bewacht wird. Alle tot. Und der Eingang ist durch die leblosen Körper gut zwanzig kleiner Arbeiterinnen versperrt. Die Ameisen räumen sie zur Seite, indem sie sie sich von Bein zu Bein reichen. Auf diese Art legen sie eine beinahe perfekt kugelförmige Höhle frei. Das königliche Gemach der Termiten. Von dort stammt das Geräusch. Das Glühwürmchen verbreitet ein schönes weißes Licht, das auf eine Art seltsame Nacktschnecke in der Mitte des Raumes fällt. Das ist die Termitenkönigin. Die Karikatur einer Ameisenkönigin. Ihr kleiner Kopf und der kümmerliche Oberkörper münden in einen phantastischen Hinterleib von fast fünfzig Kopf Länge. Dieser übermäßig entwickelte Fortsatz wird regelmäßig von Krämpfen geschüttelt. Der kleine Kopf zuckt vor Schmerz, er stößt ein akustisches und olfaktorisches Heulen aus. Die Kadaver der Arbeiterinnen haben die Öffnung des Eingangs so gut verstopft, daß das Gas nicht hat eindringen können. Dennoch liegt die Königin im Sterben, da sie nicht verpflegt worden ist. Schau dir ihren Hinterleib an! Die Jungen drängen von innen, und sie schafft es nicht, sie allein zur Welt zu bringen. Das Glühwürmchen klettert an die Decke und erzeugt in aller Unschuld ein orangefarbenes Licht, jenem ähnlich, in das die Gemälde von Georges de la Tour getaucht sind. Dank der gemeinsamen Anstrengungen der Ameisen beginnen die Eier aus dem riesigen Zeugungssack zu strömen. Das ist ein wahrer Lebenshahn. Die Königin scheint erleichtert, sie hat aufgehört zu schreien. Sie fragt in der schlichten universellen Duftsprache, wer sie gerettet hat.    Sie ist überrascht, Düfte von Ameisen wahrzunehmen. Sind sie maskierte Ameisen? Die maskierten Ameisen, schwarze Insekten von großer Statur, die im Nordosten leben, sind eine in organischer Chemie äußerst begabte Art. Sie vermögen künstlich jedwedes Pheromon (Kennwort, Piste, Kommunikation ...) zu erzeugen, indem sie kundig Säfte, Pollen und Speichel mischen. Haben sie diese Tarnung erst einmal ausgeschieden, gelingt es ihnen beispielsweise, in eine Termitenstadt einzudringen, ohne entdeckt zu werden. Sie plündern und töten, ohne daß irgendeines ihrer Opfer sie identifizieren könnte! Nein, wir sind keine maskierten Ameisen. Die Termitenkönigin fragt, ob es Überlebende in ihrer Stadt gebe. Nein, antworten die Ameisen. Sie äußert den Wunsch, daß man sie töte, daß man ihre Leiden abkürze. Aber vorher möchte sie ihnen noch etwas verraten. Ja, sie weiß, warum ihr Staat zerstört worden ist. Die Termiten haben vor kurzem das östliche Ende der Welt entdeckt. Das Ende des Planeten. Ein glattes, schwarzes Land, in dem alles Leben vernichtet ist. Dort leben seltsame, sehr schnelle und sehr wilde Tiere. Das sind die Wächter des Endes der Welt. Sie sind mit schwarzen Platten bewaffnet, die alles zerquetschen. Und jetzt verwenden sie auch noch Giftgas! Das erinnert an den alten Traum der Königin Bi-stin-ga. Das Ende der Welt zu erreichen. Sollte das wirklich möglich sein? Die beiden Ameisen sind völlig verdutzt. Sie hatten bislang geglaubt, die Erde sei so groß, daß es nicht möglich ist, ihren Rand zu erreichen. Und nun gibt diese Termitenkönigin zu verstehen, das Ende der Welt sei ganz in der Nähe! Und von Ungetümen bewacht ... Sollte der Traum der Königin Bi-stin-ga erfüllbar sein? Die ganze Sache kommt ihnen so ungeheuerlich vor, daß sie nicht wissen, mit welcher Frage sie beginnen sollen. Aber warum sind diese »Wächter des Endes der Welt« bis hierher vorgedrungen? Wollen sie die Städte des Westens überfallen? Die große Königin weiß es auch nicht. Sie will jetzt sterben. Sie besteht darauf. Sie hat es nicht gelernt, ihr Herz anzuhalten. Man muß sie töten. Also enthaupten die Ameisen die Termitenkönigin, nachdem sie ihnen den Weg zum Ausgang beschrieben hat. Danach verzehren sie einige kleine Eier und verlassen das imposante Gebäude, das nur noch eine Phantomstadt ist. Am Eingang hinterlassen sie ein Pheromon, das die Schilderung des Dramas dieses Ortes enthält. Denn als Kundschafterinnen der Föderation müssen sie all ihren Verpflichtungen nachkommen. Das Glühwürmchen verabschiedet sich. Wahrscheinlich hat es sich auf der Flucht vor dem Regen auch in den Termitenhügel verirrt. Jetzt, wo es wieder schön ist, wird es seinen gewohnten Trott wiederaufnehmen: Essen, Licht ausstrahlen, um Weibchen anzulocken, sich fortpflanzen, essen, Licht ausstrahlen, um Weibchen anzulocken, sich fortpflanzen ... Das Leben eines Glühwürmchens eben. Sie richten ihren Blick und ihre Antennen nach Osten. Von hier erkennen sie nicht viel, trotzdem, sie wissen: Das Ende der Welt ist nicht fern. Es liegt dort in der Gegend. zivilisationsschock: Der Kontakt zweier Zivilisationen ist stets ein heikler Augenblick. Zu den dunkelsten Augenblicken, die die Menschheit erlebt hat, zählt die Versklavung der afrikanischen Schwarzen im 18. Jahrhundert. Die meisten Völker, die als Sklaven verschleppt wurden, lebten im Landesinneren, im Flachland und in den Wäldern. Sie hatten noch nie das Meer gesehen. Plötzlich erklärte ihnen ohne erkennbaren Grund ein benachbarter König den Krieg, und statt sie zu töten, nahm er sie gefangen, fesselte sie und ließ sie in Richtung Meer marschieren. Am Ende ihrer Reise entdeckten sie zwei unbegreifliche Dinge: 1) das unendlich weite Meer. 2) die hellhäutigen Europäer. Nun, das Meer, selbst wenn sie es noch nie gesehen hatten, war ihnen aufgrund von Erzählungen als das Reich der Toten bekannt. Die Weißen hingegen waren für sie so etwas wie Außerirdische, sie hatten einen seltsamen Geruch, sie hatten eine seltsame Hautfarbe, sie trugen seltsame Kleider. Viele starben vor Angst, andere sprangen wie von Sinnen von den Schiffen und wurden von Haien gefressen. Die Überlebenden erwartete eine Überraschung nach der anderen. Was sahen sie? Zum Beispiel, daß die Weißen Wein tranken. Und sie waren sicher, daß es Blut sei, das Blut der Ihren. Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens Das Weibchen Nr. 56 ist hungrig. Und nicht nur ihr Körper, sondern ein ganzes Volk verlangt nach seiner Ration. Wie soll sie die Meute ernähren, die sie in ihrem Schoß beherbergt? Sie entschließt sich, aus ihrem Loch, in dem sie legen wollte, herauszukriechen, schleppt sich über eine Strecke von ein paar hundert Kopf und kehrt mit drei Kiefernnadeln zurück, an denen sie gierig leckt und kaut. Das reicht nicht. Sie wäre gern auf die Jagd gegangen, doch sie hat keine Kraft mehr. Und sie selbst droht ein gefundenes Fressen für Tausende von Räubern zu werden, die in der Umgebung lauern. Also zwängt sie sich in ihr Loch, um auf den Tod zu warten. Statt dessen kommt ein Ei zum Vorschein. Ihr erster Chlipukaner! Sie hat ihn kaum bemerkt. Sie hat ihre tauben Beine geschüttelt und mit aller Kraft auf ihre Därme gepreßt. Das muß einfach gehen, sonst ist alles vorbei. Das Ei kullert heraus. Es ist klein, dunkelgrau, fast schwarz. Wenn sie ihn ausschlüpfen läßt, wird sie eine tote Ameise gebären. Zudem ... Sie wäre nicht einmal in der Lage, ihn bis zum Ausschlüpfen zu ernähren. Also frißt sie ihren ersten Sprößling. Das versetzt ihr sogleich einen Energieschub. In ihrem Hinterleib ist ein Ei weniger, in ihrem Magen eins mehr. Dieses Opfer verleiht ihr die Kraft, ein zweites, ebenso dunkles Ei, ebenso kleines Ei zu legen. Sie verzehrt es genießerisch. Und fühlt sich noch besser. Das dritte Ei ist kaum heller. Sie verzehrt es dennoch. Erst beim zehnten Ei ändert die Königin ihre Strategie. Ihre Eier sind grau geworden, sie haben die Größe ihrer Augäpfel. Chli-pu-ni legt drei dieser grauen Eier, eines frißt sie, die anderen beiden läßt sie leben, wärmt sie unter ihrem Körper. Während sie weiterhin ein Ei nach dem anderen legt, verwandeln sich die beiden Glückspilze in lange Larven, deren Gesichter in einer seltsamen Fratze erstarrt sind. Und sie beginnen zu wimmern, verlangen nach Nahrung. Die Arithmetik wird komplizierter. Von drei gelegten Eiern brauchte sie nun eines für sich und die beiden anderen für die Larven. Und so, in einem geschlossenen Kreis, gelingt es, aus nichts etwas zu erschaffen. Wenn eine Larve groß genug ist, gibt sie ihr eine andere Larve zu essen ... Das ist die einzige Möglichkeit, ihr die Proteine zu verschaffen, die zu ihrer Umwandlung in eine richtige Ameise erforderlich sind. Aber die überlebende Larve ist immer noch hungrig. Sie windet sich, schreit. Der Schmaus, das Opfer ihrer Schwestern, hat sie nicht sättigen können. Schließlich frißt Chli-pu-ni diesen ersten Versuch, ein Kind zur Welt zu bringen. Ich muß es schaffen, ich muß es schaffen, trichtert sie sich ein. Sie denkt an das Männchen Nr. 327 und legt fünf hellere Eier auf einmal. Zwei davon verschlingt sie, die anderen drei läßt sie wachsen. Auf diese Weise, ein Staffellauf zwischen Kindesmord und Gebären, entsteht Leben. Drei Schritte vor, zwei zurück. Eine grausame Übung, die schließlich in den ersten Prototyp einer kompletten Ameise mündet. Das Insekt ist winzig und recht schwächlich, da unterernährt. Aber sie hat ihren ersten Chlipukaner zustande gebracht! Der durch Kannibalismus geprägte Weg zur Gründung ihrer Stadt ist zur Hälfte geschafft. Diese degenerierte Arbeiterin kann sich in der Tat bewegen und Lebensmittel aus der Umgebung herbeischaffen: Insektenkadaver, Körner, Blätter, Pilze ... Was sie auch tut. Chli-pu-ni, endlich normal genährt, bringt nun viel hellere, viel festere Eier zur Welt. Die harten Schalen schützen die Eier vor der Kälte. Die Larven haben eine vernünftige Größe. Diese neue Generation von Nachkömmlingen ist groß und stark. Sie wird die Grundlage der Bevölkerung von Chli-pu-kan bilden. Die erste, unterentwickelte Arbeiterin, die ihre Königin ernährt hat, wird schon bald von ihren Schwestern umgebracht und verzehrt. Danach sind alle Morde, alle Schmerzen, die der Gründung des Staates vorausgegangen sind, vergessen. Chli-pu-kan ist geboren. MÜCKEN: Die Mücke ist das Insekt, das sich am liebsten mit dem Menschen duelliert. Jeder von uns hat bereits irgendwann im Pyjama auf dem Bett gestanden, einen Pantoffel in der Hand, den Blick lauernd auf die makellos weiße Wand gerichtet. Unverständnis. Was da juckt, ist nur der desinfizierende Speichel ihres Saugrüssels. Ohne diesen Speichel würde sich jeder Stich infizieren. Zudem ist die Mücke so rücksichtsvoll, immer nur zwischen zwei Schmerzrezeptoren zu stechen. Dem Menschen gegenüber hat sich die Strategie der Mücke weiterentwickelt. Sie ist schneller geworden, unauffälliger, flinker beim Abheben. Es wird immer schwieriger, sie zu entdecken. Einige ganz kecke der letzten Generation zögern nicht, sich unter dem Kopfkissen ihres Opfers zu verstecken. Sie haben das Prinzip des »Entwendeten Briefs« von Edgar Allen Poe entdeckt: Das beste Versteck ist jenes, das in die Augen springt, da man stets in der Ferne sucht, was ganz nah ist. Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens Großmutter Augusta betrachtete ihre bereits gepackten Koffer. Morgen würde sie in die Rue des Sybarites ziehen. Das mochte unglaublich erscheinen, aber Edmond hatte Jonathans Verschwinden vorhergesehen und in seinem Testament geschrieben: »Wenn Jonathan stirbt oder verschwindet und wenn er selbst kein Testament verfaßt hat, wünsche ich, daß Augusta Wells, meine Mutter, meine Wohnung bezieht. Wenn auch sie verschwindet oder wenn sie dieses Vermächtnis ablehnt, wünsche ich, daß Pierre Rosenfeld die Räumlichkeiten erbt. Wenn er es ebenfalls ablehnt oder verschwindet, könnte Jason Bragel dort einziehen ...« Man mußte zugeben, daß im Lichte der jüngsten Ereignisse Edmond allen Anlaß gehabt hatte, mindestens vier Erben einzusetzen. Aber Augusta war nicht abergläubisch, zudem war sie der Auffassung, daß Edmond, so menschenfeindlich er auch war, keinerlei Grund gehabt hätte, seinen Neffen und seine Mutter in den Tod zu schicken. Und Jason Bragel war sein bester Freund gewesen! Ein seltsamer Gedanke ging ihr durch den Kopf. Man hatte den Eindruck, Edmond habe danach getrachtet, die Zukunft vorauszuplanen, so als ... begänne alles nach seinem Tod. Seit Tagen schon ziehen sie in Richtung Sonnenaufgang. Die Gesundheit von Nr. 4000 verschlechtert sich mehr und mehr, aber die alte Kriegerin wandert weiter, ohne zu klagen. Ihr Mut und ihr Wissensdurst sind wirklich vorbildlich. Eines Spätnachmittags, sie klettern gerade den Stamm eines Haselnußstrauchs empor, werden sie plötzlich von blutroten Wanderameisen umzingelt. Wieder Tiere aus dem Süden, die sich das Land ansehen wollen. Ihr länglicher Körper ist mit einem Giftstachel versehen, der bei der geringsten Berührung, wie jeder weiß, sofort den Tod herbeiführt. Die beiden wären lieber woanders. Von einigen degenerierten Söldnern abgesehen, hat Nr. 103 683 in dem großen weiten Land noch nie blutrote Ameisen zu Gesicht bekommen. Wahrhaftig, es lohnt sich, die Gebiete des Ostens zu entdecken ... Ihr habt nicht den richtigen Pheromonenpaß. Raus hier! Das ist unser Gebiet! Antennenkontakt. Die blutroten Ameisen wissen sich in der Sprache der Belokanerinnen zu verständigen. Die beiden antworten, daß sie nur auf der Durchreise sind, daß sie zum Ende der östlichen Welt gehen wollen. Die blutroten Ameisen beraten sich. Sie haben die beiden anderen Mitglieder der Föderation der roten Ameisen erkannt. Die ist zwar weit entfernt, aber mächtig (64 Städte nach der letzten Schwarmzeit), und der Ruf ihrer Armeen ist über den Fluß des Westens hinausgelangt. Vielleicht ist es besser, keinen Konflikt zu provozieren. Eines Tages werden die Blutroten, die ja zu den Wanderameisen gehören, unweigerlich gezwungen sein, die vereinigten Gebiete der Roten zu durchqueren. Der Antennenaufruhr läßt allmählich nach. Es ist Zeit für die Schlußfolgerung. Eine blutrote Ameise übermittelt die Meinung der Gruppe: Ihr könnt hier eine Nacht bleiben. Wir sind bereit, euch den Weg zum Ende der Welt zu zeigen und euch sogar dorthin zu begleiten. Als Gegenleistung überlaßt ihr uns einige eurer Identifikationspheromone. Der Handel geht in Ordnung. Nr. 103 683 und Nr. 4000 wissen, daß sie mit der Übergabe ihrer Pheromone den blutroten Ameisen einen wertvollen Passierschein für das gesamte Gebiet der Föderation überlassen. Aber ans Ende der Welt zu gelangen und von dort zurückzukehren, dafür ist kein Preis zu hoch ... Ihre Gastgeber führen sie zu dem einige Zweige höher gelegenen Lagerplatz. Das hat keinerlei Ähnlichkeit mit allem, was sie kennen. Die blutroten Ameisen, die sich aufs Weben und Nähen verstehen, haben ihr provisorisches Nest errichtet, indem sie die Ränder dreier großer Blätter des Haselnußstrauchs zusammengenäht haben. Eines dient als Boden, die beiden anderen als Seitenwände. Nr. 103 683 und Nr. 4000 beobachten eine Gruppe von Weberinnen, die damit beschäftigt sind, das »Dach« vor Einbruch der Dunkelheit zu schließen. Sie wählen ein Blatt aus, das als Deckel dienen wird. Um dieses Blatt mit den drei anderen zu verbinden, bilden sie eine lebende Leiter. Dutzende von Arbeiterinnen stapeln sich übereinander, bis sie einen kleinen Berg ergeben, von dem aus man das oberste Blatt erreichen kann. Der Stapel bricht mehrmals zusammen. Er ist zu hoch. Darauf wenden die blutroten Ameisen eine andere Methode an. Eine Gruppe von Arbeiterinnen schwingt sich auf das Blatt, das als Decke dienen soll, bildet eine Kette, die sich festklammert und am äußersten Rand des Blattes hängt. Die Kette läßt sich herab, läßt sich weiter herab, um sich mit der lebenden Leiter zu verbinden, die unten wartet. Das ist immer noch zu weit, also wird die Kette an ihrem Ende von einer Traube blutroter Ameisen beschwert. Fast reicht es, der Stengel des Blattes hat sich durchgebogen. Es fehlen mir noch ein paar Zentimeter auf der rechten Seite. Die Ameisen der Kette nehmen eine Pendelbewegung vor, um den Zwischenraum zu überbrücken. Bei jedem Schwingen dehnt sich die Kette, sie scheint zu reißen, aber sie hält. Endlich vereinigen sich die Mandibeln der Akrobaten oben und jener unten: Klack! Zweiter Schritt: Die Kette schrumpft zusammen. Die Arbeiterinnen in der Mitte verlassen mit äußerster Vorsicht ihren Platz, steigen auf die Schultern ihrer Kolleginnen, und alle ziehen, um die beiden Blätter zusammenzubringen. Das obere Blatt sinkt Stück für Stück tiefer, verteilt seinen Schatten über das Dorf. Sicher, die Kiste hat ihren Deckel, doch jetzt gilt es, sie zu verschweißen. Eine alte blutrote Ameise stürzt in das Innere eines Hauses. Als sie wieder hervorkommt, schwenkt sie eine große Larve. Das ist das Webgerät. Die Ränder werden genau zusammengefügt, man achtet darauf, daß keine Löcher entstehen. Dann wird die frische Larve herbeigebracht. Die Ärmste war gerade im Begriff, ihren Kokon zu fertigen, um in aller Ruhe heranzuwachsen. Man läßt sie nicht mehr dazu kommen. Eine Arbeiterin greift einen Faden aus diesem Knäuel und beginnt es abzuwickeln. Mit ein wenig Speichel klebt sie das Ende an ein Blatt und reicht den Kokon ihrer Nachbarin weiter. Die Larve spürt, daß man ihr ihren Faden entreißt, und produziert einen neuen, um den Verlust auszugleichen. Je mehr man sie entblößt, um so kälter wird ihr und um so mehr Seide scheidet sie aus. Die Arbeiterinnen reichen sich dieses lebende Webschiffchen von Mandibel zu Mandibel weiter und sparen dabei nicht an Garn. Wenn ihr Kind vor Erschöpfung stirbt, nehmen sie ein anderes. Zwölf Larven werden allein bei dieser Arbeit geopfert. Nach einer Weile ist auch der zweite Rand der Decke verschlossen. Das Dorf bietet jetzt den Anblick einer grünen Kiste mit weißen Kanten. Nr. 103 683, die fast wie zu Hause darin herumwandert, fallen einige schwarze Ameisen inmitten der Menge der blutroten auf. Sie kann es sich nicht verkneifen, Fragen zu stellen. Sind das Söldner? Nein, das sind Sklaven. Die blutroten Ameisen sind doch gar nicht als Sklavenhalter bekannt ... Eine von ihnen erklärt, daß sie kürzlich einer Horde von sklavenhaltenden Ameisen begegnet seien, die auf dem Weg nach Westen waren, und daß sie eine Anzahl Eier von schwarzen Ameisen gegen ein tragbares gewebtes Netz eingetauscht hätten. Nr. 103 683 läßt so schnell nicht locker und fragt ihre Gesprächspartnerin, ob die Begegnung danach nicht in einen Kampf umgeschlagen sei. Nein, antwortet die andere, die fürchterlichen Ameisen seien bereits gesättigt gewesen, sie hatten schon viel zu viele Sklaven, außerdem hätten sie Angst vor dem tödlichen Stachel der blutroten gehabt. Die aus den eingetauschten Eiern hervorgegangenen schwarzen Ameisen hatten die Duftausweise ihrer Gastgeber angenommen und dienten ihnen, als handelte es sich um ihre Eltern. Woher hätten sie auch wissen sollen, daß sie durch ihr genetisches Erbe eigentlich Raubameisen und keine Sklaven waren? Sie wissen nichts von der Welt außer dem, was ihnen die blutroten Ameisen zu erzählen bereit waren. Habt ihr keine Angst, daß sie aufmüpfig werden? Sicher, ein paarmal hätten sie schon aufgemuckt. Im allgemeinen schlossen die Blutroten derlei Vorfälle aus, indem sie die Störenfriede eliminierten. Solange die Schwarzen nicht wissen, daß sie aus einem Nest geraubt worden sind, daß sie zu einer anderen Art gehören, mangelt es ihnen an der rechten Motivation ... Die Nacht und die Kälte senken sich über den Haselnußstrauch. Man weist den beiden Kundschafterinnen eine Ecke an, in der sie ihren nächtlichen Miniwinterschlaf halten können. Chli-pu-kan wächst nach und nach. Zuerst hat man die Verbotene Stadt angelegt. Sie wurde nicht in einem Baumstumpf errichtet, sondern in einem merkwürdigen Ding, das dort vergraben war, einer verrosteten Konservenbüchse, die einst drei Kilo Kompott enthielt, ein Relikt aus einem nahe gelegenen Waisenhaus. In diesem neuen Palast legt Chli-pu-ni wie eine Besessene, während man sie mit Zucker, Fett und Vitaminen vollstopft. Die ersten Töchter haben unmittelbar unter der Verbotenen Stadt eine Krippe errichtet, die mit sich zersetzendem Humus beheizt wird. Das ist am praktischsten, solange die Kuppel aus Zweigen und das Solarium, die das Ende der Bauarbeiten markieren werden, nicht fertiggestellt sind. Chli-pu-ni will, daß ihre Stadt alle bekannten technologischen Errungenschaften ausnutzt: Pilzkulturen, Flaschenkürbisse, Herden von Blattläusen, Efeustützen, Säle zur Gärung von Honigtau, Säle zur Produktion von Getreidemehl, Säle für Söldnerinnen und Spioninnen, Säle für organische Chemie usw. Und in allen Ecken herrscht ein reges Treiben. Die junge Königin hat es verstanden, ihren Enthusiasmus und ihre Hoffnungen zu übertragen. Sie will nicht, daß Chli-pu-kan eine föderierte Stadt wie alle anderen wird. Sie strebt danach, sie zu einem avantgardistischen Zentrum zu machen, zur Speerspitze der Ameisenzivilisation. Sie sprüht vor Ideen. So hat man zum Beispiel in der Umgebung des 12. UG einen unterirdischen Fluß entdeckt. Ihrer Meinung nach ist das Wasser ein Element, das nur unzureichend erforscht worden ist. Man muß ein Mittel finden, darüber hinwegzugehen. Als erstes wird eine Einheit beauftragt, die Insekten zu studieren, die im Süßwasser leben:    Schwimmkäfer, Hüpferlinge, Wasserflöhe ... Sind sie eßbar? Kann man eines Tages welche in unbewachten Lachen auf ziehen? Ihre erste berühmte Rede hält sie über das Thema der Pflanzenläuse: Wir gehen auf eine Epoche kriegerischer Wirren zu. Die Waffen werden immer ausgeklügelter. Wir werden da nicht immer mithalten können. Eines Tages wird die Jagd draußen vielleicht Glückssache sein. Wir müssen das Schlimmste ins Auge fassen. Unsere Stadt muß sich so weit wie möglich in die Tiefe ausdehnen. Und wir müssen die Aufzucht der Pflanzenläuse intensiver betreiben als jede andere Form der Lieferung von lebenswichtigem Zucker. Dieses Vieh muß in Ställen in den untersten Stockwerken untergebracht werden. Dreißig ihrer Töchter ziehen aus und kehren mit zwei Pflanzenläusen zurück, die kurz davor sind, ihren Nachwuchs zur Welt zu bringen. Nach einigen Stunden sind sie im Besitz von gut hundert kleinen Pflanzenläusen, denen sie die Flügel stutzen. Sie bringen diesen Grundstock des künftigen Viehbestands in das 23. UG, wo er vor den Marienkäfern in Sicherheit ist, und versorgt ihn reichlich mit frischen Blättern und saftigen Stengeln. Chli-pu-ni sendet Kundschafterinnen in alle Himmelsrichtungen. Einige bringen Lamellenpilzsporen mit, die sogleich in den Pilzkulturen eingepflanzt werden. Die entdeckungsfreudige Königin beschließt sogar, den Traum ihrer Mutter zu verwirklichen: Sie läßt an der Ostgrenze eine Reihe von Samenkörnern fleischfressender Pflanzen aussäen. Auf diese Weise hofft sie einen eventuellen Angriff der Termiten und ihrer Geheimwaffe aufzuhalten. Denn das Rätsel der Geheimwaffe, die Ermordung des 327. Prinzen und die unter dem Granitfelsen versteckten Nahrungsvorräte hat sie keineswegs vergessen. Sie schickt eine Gruppe von Abgesandten nach Bel-o-kan. Offiziell haben sie den Auftrag, der Königin die Gründung der fünfundsechzigsten Stadt und ihren Anschluß an die Föderation zu melden. Inoffiziell jedoch sollen sie versuchen, die Ermittlungen im 50. UG von Bel-o-kan fortzusetzen. Es klingelte an der Tür, als Augusta gerade ihre kostbaren, leicht bräunlichen Fotos an die Wand nadelte. Sie vergewisserte sich, daß die Sicherheitskette eingehakt war, und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Vor ihr stand ein adretter Herr mittleren Alters: selbst das Revers seines Jacketts war frei von Schuppen. »Guten Tag, Madame Wells. Darf ich mich vorstellen: Professor Leduc, ein Kollege Ihres Sohnes Edmond. Ich will nicht lange drum herum reden. Ich weiß, daß Sie bereits Ihren Enkel und Ihren Urenkel in dem Keller verloren haben. Und daß acht Feuerwehrleute, sechs Gendarmen und zwei Kriminalbeamte ebenfalls darin verschwunden sind. Dennoch, Madame ... Ich würde gern dort hinuntergehen.« Augusta war nicht sicher, ob sie recht gehört hatte. Sie stellte ihr Hörgerät auf maximale Lautstärke. »Sie sind Professor Rosenfeld?« »Nein. Leduc. Professor Leduc. Wie ich sehe, haben Sie schon von Rosenfeld gehört. Rosenfeld, Edmond und ich, wir sind alle drei Insektenforscher. Wir haben ein gemeinsames Spezialgebiet: die Ameisenforschung. Aber Edmond war uns um einiges voraus. Es wäre schade, wenn die Menschheit nicht davon profitieren könnte . Ich würde gern in Ihren Keller gehen.« Wenn man schlecht hört, schaut man um so besser hin. Sie musterte die Ohren dieses Leduc. Das menschliche Wesen hat die Besonderheit, seinen ursprünglichen Zustand in sich zu bewahren: In diesem Sinne stellt das Ohr den Fötus dar. Das Ohrläppchen entspricht dem Kopf, die Gräte der Ohrmuschel der Wirbelsäule usw. Dieser Leduc mußte ein magerer Fötus gewesen sein, und für magere Föten hatte Augusta nicht viel übrig. »Und was hoffen Sie in diesem Keller zu finden?« »Ein Buch. Eine Enzyklopädie, in der er systematisch all seine Arbeiten notiert hat. Edmond war ein Geheimniskrämer. Er hat vermutlich alles da unten vergraben und Fallen gestellt, um die Banausen zu töten oder abzuschrecken. Ich hingegen gehe als Sachkundiger hinunter, und ein Sachkundiger ...« ». kann genausogut ums Leben kommen!« ergänzte Augusta. »Geben Sie mir eine Chance.« »Treten Sie ein, Monsieur ...?« »Leduc. Professor Leduc vom Laboratorium 352 des Nationalen Forschungszentrums.« Sie führte ihn zur Kellertür. Auf der Mauer, die die Polizei errichtet hatte, prangte in breiten roten Buchstaben eine Inschrift: NIE WIEDER DARF JEMAND DIESEN VERDAMMTEN KELLER BETRETEN Augusta deutete mit dem Kinn darauf. »Wissen Sie, was die Leute in diesem Haus sagen, Monsieur Leduc? Sie sagen, das sei der Eingang zur Hölle. Sie sagen, dieser Keller sei wie eine fleischfressende Pflanze, die die Menschen verschlingt, die ihren Schlund kitzeln ... Einige sind sogar dafür, den Keller zuzubetonieren.« Sie betrachtete ihn von oben bis unten. »Haben Sie keine Angst zu sterben, Monsieur Leduc?« »Doch«, sagte er spöttisch lächelnd. »Doch, ich habe Angst, idiotisch zu sterben, ohne zu wissen, was auf dem Grund dieses Kellers ist.« Nr. 103 683 und Nr. 4000 haben das Nest der Weberinnen verlassen. Zwei Kriegerinnen mit spitzem Stachel begleiten sie. Gemeinsam ziehen sie über durch kaum wahrnehmbare Pheromone markierte Duftpisten. Sie sind bereits ein paar tausend Kopf von dem in den Zweigen des Haselstrauches gewebten Nest entfernt. Allen möglichen exotischen Tieren, deren Namen sie nicht einmal kennen, sind sie begegnet. Sicherheitshalber gehen sie ihnen aus dem Weg. Wenn die Nacht hereinbricht, wühlen sie sich so tief wie möglich in den Boden, um sich der wohligen Wärme und dem Schutz der Nährmutter Erde anzuvertrauen. Heute haben die beiden Weberinnen sie auf den höchsten Punkt eines Hügels geführt. Ist das Ende der Welt noch weit? Das ist da lang. Von der Höhe aus sehen die beiden roten Ameisen, so weit das Auge reicht, ein einziges Universum von dunklem Gestrüpp. Die Weberinnen erklären ihnen, daß ihre Mission hier ende, daß sie ihnen nicht weiter folgen. Es gebe gewisse Orte, an denen ihr Duft nicht gut gelitten sei. Die Belokanerinnen müßten weiter geradeaus gehen bis zu den Feldern der Schnitterinnen. Jene lebten ständig in der Nähe des »Randes der Welt«; sie könnten ihnen bestimmt Auskunft geben. Bevor sie sich von ihren Führerinnen trennen, übergeben sie ihnen die kostbaren Identifizierungspheromone der Föderation, den vereinbarten Preis der Durchreise. Dann eilen sie den Hügel hinunter auf die Felder zu, die von den erwähnten Schnitterinnen bestellt werden. SKELETT: Ist es besser, sein Skelett innerhalb oder außerhalb des Körpers zu haben? Wenn das Skelett außen ist, bildet es eine schützende Karosserie. Das Fleisch ist vor äußeren Gefahren geschützt, doch dafür wird es schlaff, beinahe flüssig. Und wenn trotz des ganzen Panzers eine Spitze nach innen dringt, sind die Schäden irreparabel. Wenn das Skelett nur eine schmale und unbewegliche Stange im Innern der Masse bildet, ist das zuckende Fleisch allen möglichen Angriffen ausgesetzt. Die Verletzungen sind vielfach und dauerhaft. Aber gerade diese scheinbare Schwäche zwingt den Muskel und seine Fasern, härter und widerstandsfähiger zu werden. Ich habe Menschen gesehen, die sich dank ihres Verstands »intellektuelle« Rüstungen geschmiedet hatten, die sie vor Unannehmlichkeiten schützten. Sie wirkten stärker als andere. Sie sagten: »Da pfeif ich drauf« und lachten über alles. Aber wenn ein Problem ihren Panzer durchschlug, waren die Schäden fürchterlich. Ich habe Menschen gesehen, die bei der geringsten Kleinigkeit, bei der leichtesten Berührung litten, Schmerzen hatten, aber ihr Verstand verschloß sich deshalb nicht, sie blieben sensibel, für alles empfänglich, und sie lernten aus jeder Aggression. Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens Die Sklavenhalterinnen greifen an! Panik in Chli-pu-kan. Erschöpfte Kundschafterinnen verbreiten die Nachricht in der jungen Stadt. Die Sklavenhalterinnen! Die Sklavenhalterinnen! Ihr fürchterlicher Ruf eilt ihnen voraus. So wie manche Ameisen diese oder jene Variante der Entwicklung gewählt haben - Erziehung und Aufzucht, Horten von Vorräten, Pilzzucht oder Chemie -, haben sich die Sklavenhalterinnen einzig auf die Domäne des Kriegs spezialisiert. Sie können nichts anderes, aber das praktizieren sie als absolute Kunst. Und ihr ganzer Körper hat sich dem angepaßt. Jedes ihrer Gelenke mündet in einem Widerhaken, ihr Chitin ist doppelt so dick wie das der roten Ameisen. An ihrem schmalen und vollkommen dreieckigen Kopf findet man keinen Halt. Ihre Mandibeln, die aussehen wie umgedrehte Elefantenstoßzähne, sind geschwungene Säbel, die sie mit furchteinflößendem Geschick handhaben. Ihre Gepflogenheit, sich Sklaven zu halten, entspringt ihrer außergewöhnlichen Spezialisierung. Es hätte nicht viel gefehlt, und die Art wäre verschwunden, ausgerottet durch ihr eigenes Machtstreben. Vor lauter Kriegführen können diese Ameisen nicht einmal mehr ein Nest bauen, ihre Kleinen aufziehen oder gar ... sich ernähren. Ihre säbelartigen Mandibeln, im Krieg ungemein wirksam, erweisen sich als unpraktisch, um sich normal zu ernähren. Dennoch, so kriegslustig sie auch sein mögen, sind die Sklavenhalterinnen nicht dumm. Was soll’s, wenn sie nicht imstande sind, die für das tägliche Überleben häuslichen Aufgaben zu übernehmen ... Andere werden sich an ihrer Statt darum kümmern. Die Sklavenhalterinnen vergreifen sich mit Vorliebe an den kleinen und mittelgroßen Nestern der schwarzen, weißen oder gelben Ameisen, alles Arten, die weder einen Stachel noch eine Säuredrüse haben. Als erstes umzingeln sie die Stadt, auf die sie ein Auge geworfen haben. Wenn die Belagerten dann feststellen, daß all ihre auswärtigen Arbeiterinnen umgebracht worden sind, beschließen sie, die Ausgänge zu verstopfen. Das ist der Augenblick, in dem die Sklavenhalterinnen ihren ersten Angriff starten. Sie durchbrechen mühelos die Verteidigungslinien, schlagen Breschen in die Stadt, verbreiten Panik in den Gängen. Daraufhin versuchen die verängstigten Arbeiterinnen einen Ausfall, um die Eier in Sicherheit zu bringen. Genau das haben die Sklavenhalterinnen vorausgesehen. Sie sickern durch die Eingänge und zwingen die Arbeiterinnen, ihre kostbare Last abzugeben. Sie töten nur diejenigen, die um keinen Preis gehorchen wollen; bei den Ameisen tötet man nie grundlos. Nach dem Ende des Kampfs umstellen die Sklavenhalterinnen das Nest und fordern die überlebenden Arbeiterinnen auf, die Eier wieder an ihren Platz zu bringen und sie weiterzupflegen. Wenn die Puppen schlüpfen, werden sie dazu erzogen, den Eindringlingen zu dienen, und da sie nichts von der Vergangenheit wissen, denken sie, es sei der gerechte und normale Weg, diesen großen Ameisen zu gehorchen. Während der Beutezüge bleiben die langfristigen Sklaven im Gras versteckt zurück und warten, bis ihre Herrinnen in der Gegend aufgeräumt haben. Ist die Schlacht gewonnen, lassen sie sich als gute Hausfrauen in den Örtlichkeiten nieder, fügen die frisch erbeuteten Eier zu dem alten Vorrat hinzu, erziehen die Gefangenen und ihren Nachwuchs. So überlagern sich die Generationen der Gekidnappten je nach den Wanderungen ihrer Entführer. In der Regel kommen auf jede dieser Räuberinnen drei Sklavinnen. Eine, um sie zu ernähren, sprich zu füttern (sie kann nur vorverdaute Nahrung fressen), eine, um sie zu waschen (ihre Speicheldrüsen sind verkümmert), und eine, um die Exkremente zu beseitigen, die sich ansonsten um den Panzer herum auftürmen und ihn verätzen würden. Das Schlimmste, was diesen absoluten Soldatinnen passieren kann, ist natürlich, von ihren Dienerinnen verlassen zu werden. Dann stürzen sie fluchtartig aus dem gekaperten Nest und machen sich auf, um eine neue Stadt zu erobern. Finden sie diese nicht vor Einbruch der Nacht, können sie vor Hunger und Kälte sterben. Der lächerlichste Tod für diese großartigen Kriegerinnen. Chli-pu-ni hat zahlreiche Legenden über die Sklavenhalterinnen gehört. Es heißt, es habe bereits Aufstände von Sklavinnen gegeben, und jene Sklavinnen, die ihre Herrinnen gut kannten, wären ihnen nicht unbedingt unterlegen. Es wird auch erzählt, daß manche Sklavenhalterinnen sich eine Kollektion von Eiern zulegen, um welche in allen Größen und aller Arten zu haben. Sie stellt sich einen solchen Saal vor, der bis oben hin mit Eiern in allen Größen und Farben gefüllt ist. Und unter jeder dieser weißen Hülle ... ist eine spezifische Ameisenkultur, bereit, wach zu werden und diesen primitiven Rohlingen zu dienen. Sie reißt sich aus ihren unangenehmen Gedanken. Als erstes muß man darüber nachdenken, wie man ihnen die Stirn bietet. Die Horde der Sklavenhalterinnen ist aus Osten kommend gemeldet worden. Sie sind durch den unterirdischen Gang bei Satei gekommen. Und sind anscheinend ziemlich »gereizt«, denn sie hatten ursprünglich ein »Wandernest« bei sich, von dem sie sich hatten trennen müssen, um den Tunnel zu durchqueren. Sie haben also keine Wohnung mehr, und wenn sie Chli-pu-kan nicht einnehmen, müssen sie die Nacht draußen verbringen! Die junge Königin versucht so ruhig wie möglich nachzudenken: Wenn sie mit ihrem Wanderne st so glücklich waren, warum haben sie sich dann verpflichtet gefühlt, den Fluß zu überqueren? Aber sie kennt die Antwort. Die Sklavenhalterinnen hegen gegenüber den Städten einen ebenso abgründigen wie unverständlichen Haß. Jede einzelne stellt für sie eine Drohung und eine Herausforderung dar, die ewige Rivalität zwischen den Leuten vom Land und denen in der Stadt. Die Sklavenhalterinnen wissen, daß es auf der anderen Seite des Flusses Hunderte von Ameisenstädten gibt, eine reicher und raffinierter als die andere. Chli-pu-kan ist leider noch nicht soweit, einem solchen Ansturm standzuhalten. Sicher, seit einigen Tagen hat die Stadt gut eine Million Einwohner; sicher, sie haben an der Ostgrenze eine Mauer aus fleischfressenden Pflanzen errichtet ... Aber das wird niemals reichen. Chli-pu-ni weiß, daß ihre Stadt zu jung ist, zu unerfahren. Obendrein hat sie immer noch keine Nachricht von den Abgesandten, die sie nach Belo-kan geschickt hat, um ihre Zugehörigkeit zur Föderation zu verkünden. Sie kann also nicht auf die Solidarität der Nachbarstädte zählen. Selbst Guayei-Tyolot ist ein paar tausend Kopf entfernt. Es ist unmöglich, die Kriegerinnen dieses Sommernests zu benachrichtigen ... Was hätte Belo-kiu-kiuni in einer solchen Situation getan? Chli-pu-ni beschließt, einige ihrer besten Jägerinnen (sie hatten noch keine Gelegenheit, zu beweisen, daß sie Kriegerinnen sind) zu einer absoluten Kommunikation zusammenzurufen. Es ist höchste Zeit, eine Strategie auszuarbeiten. Sie sind noch in der Verbotenen Stadt versammelt, als die in dem Strauch oberhalb der Stadt postierten Wachen verkünden, daß sie die Düfte einer herbeieilenden Armee wahrnehmen. Alle bereiten sich vor. Es konnte keine Strategie abgesprochen werden. Man wird improvisieren. Das Klarmachen zum Gefecht wird ausgerufen, die Einheiten versammeln sich, so gut es geht (sie kennen noch keine der Formationen, die so teuer im Kampf mit den Zwerginnen erworben wurden). Tatsächlich setzen die meisten Soldatinnen ihre Hoffnungen lieber auf die Mauer der fleischfressenden Pflanzen. im mali: Der Stamm der Dogonen im Mali ist davon überzeugt, daß bei der ursprünglichen Vermählung von Himmel und Erde ein Ameisenhaufen das Geschlecht der Erde war. Als die aus dieser Vereinigung hervorgegangene Welt fertig war, wurde die Vulva zu einem Mund, dem Worte entwichen, Worte, in denen die Ameisen dem Menschen die Technik des Webens übermittelten. Noch heute sind die Fruchtbarkeitsriten mit der Ameise verbunden. Die unfruchtbaren Frauen setzen sich auf einen Ameisenhaufen, um die Göttin Amma zu bitten, sie fruchtbar zu machen. Aber die Ameisen taten noch mehr für die Menschen, sie zeigten ihnen auch, wie sie ihre Häuser bauen mußten. Und schließlich zeigten sie ihnen die Quellen. Denn die Dogonen begriffen, daß sie unter den Ameisenhaufen graben mußten, um Wasser zu finden. Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens Heuschrecken hüpfen in alle Richtungen. Das ist ein Zeichen. Unmittelbar dahinter erkennen die Ameisen mit den besten Augen bereits eine Staubwolke. Über die Sklavenhalterinnen zu reden ist schön und gut, sie angreifen zu sehen ist etwas ganz anderes. Sie haben keine Kavallerie, sie sind die Kavallerie. Ihr ganzer Körper ist kräftig und geschmeidig, ihre Beine sind dick und muskulös, ihr feiner und spitzer Kopf endet in beweglichen Hörnern, die in Wirklichkeit ihre Mandibeln sind. Sie sind so aerodynamisch, daß keinerlei Pfeifen ihren Schädel begleitet, wenn er, von der Geschwindigkeit der Beine mitgerissen, die Lüfte zerteilt. Das Gras legt sich nieder, wenn sie vorbeirauschen, die Erde bebt, der Sand wogt. Ihre nach vorne gerichteten Antennen stoßen derart schneidende Pheromone aus, daß man an ein Brüllen glauben könnte. Soll man sich einschließen und der Belagerung standhalten oder hinausziehen und kämpfen? Chli-pu-ni zögert, sie hat solche Angst, daß sie nicht einmal einen Vorschlag riskiert. Darauf machen die roten Soldatinnen natürlich genau das, was sie nicht tun sollten. Sie teilen sich. Eine Hälfte verläßt die Stadt, um dem Feind auf offenem Feld zu trotzen; die andere Hälfte verschanzt sich als Reserve- und Widerstandsheer im Fall einer Belagerung. Chli-pu-ni versucht sich an die Schlacht am Klatschmohnhügel zu erinnern, die einzige, die sie kennt. Dort hat, so scheint es ihr, die Artillerie den größten Schaden in den gegnerischen Truppen angerichtet. Also befiehlt sie, daß in vorderster Front drei Reihen von Artilleristinnen postiert werden. Die Einheiten der Sklavenhalterinnen stürmen mittlerweile auf die Mauer der fleischfressenden Pflanzen zu. Die pflanzlichen Raubtiere senken sich, als sie vorbei stürzen, angezogen von dem Geruch warmen Fleischs. Aber sie sind viel zu langsam, und die feindlichen Kriegerinnen kommen durch, bevor es einer Dionaea gelingt, wenigstens eine von ihnen zu erwischen. Belo-kiu-kiuni hat sich getäuscht. Als die Angriffswelle auf sie zurollt, feuert die erste chlipukanische Reihe eine ungenau gezielte Salve ab, die höchstens zwanzig Angreiferinnen tötet. Die zweite Reihe kommt nicht einmal dazu, sich aufzustellen, die Artilleristinnen werden allesamt an der Kehle gepackt und enthauptet, bevor sie einen Tropfen Säure abschießen können. Das ist die große Spezialität der Sklavenhalterinnen, nur den Kopf anzugreifen. Und das machen sie sehr gut. Die Schädel der jungen Chlipukanerinnen fliegen auf. Mitunter kämpfen die kopflosen Körper blindlings weiter oder nehmen zum Schrecken der Überlebenden Reißaus. Nach zwölf Minuten ist von den roten Truppen nicht mehr viel übrig. Die zweite Hälfte verstopft die Eingänge. Da Chli-pu-kan noch keine Kuppel hat, erscheint die Stadt von oben wie ein Dutzend kleiner, von zermalmten Steinchen umgebener Krater. Alle sind wie betäubt. Da hat man sich solche Mühe gegeben, eine moderne Stadt zu bauen, und dann muß man erleben, daß sie einer Bande von Barbaren ausgeliefert ist, die so primitiv sind, daß sie sich nicht einmal selbst ernähren können! Chli-pu-ni kann noch so viele AK abhalten, sie findet keinen Weg, den Sklavenhalterinnen zu widerstehen. Die Bruchsteine in den Eingängen werden bestenfalls einige Sekunden halten. Und für den Kampf in den Gängen sind die Chlipukanerinnen nicht besser gerüstet als für den Kampf auf freiem Feld. Draußen kämpfen die letzten roten Soldaten wie Teufel. Einige haben sich noch zurückziehen können, aber die meisten mußten miterleben, wie die Eingänge direkt hinter ihnen verrammelt wurden. Für sie ist alles vorbei. Sie wehren sich um so wirkungsvoller, als sie nichts mehr zu verlieren haben und denken, daß die Pfropfen in den Eingängen verstärkt werden können, wenn sie die Eindringlinge aufhalten. Die letzte Chlipukanerin wird enthauptet, und in einem Reflex stellt sich ihr Körper vor einen der Eingänge und schlägt dort seine Krallen hinein. Ein lächerlicher Schutzwall. Im Innern von Chli-pu-kan wartet man. Man wartet mit schwermütiger Resignation auf die Sklavenhalterinnen. Die physische Kraft hat immer noch eine Wirksamkeit, die von der Technik nicht übertroffen wird ... Aber die Sklavenhalterinnen greifen nicht an. Wie Hannibal vor Rom zögern sie. Das Ganze erscheint zu einfach. Das muß eine Falle sein. Zwar eilt ihnen ihr Ruf als Mörderinnen überall voraus, doch auch die Roten haben ihr Renommee. Im Lager der Sklavenhalterinnen hält man sie für fähig, subtile Fallen aufzubauen. Man behauptet, daß sie sich mit Söldnertruppen zu verbünden wissen, die gerade dann auftauchen, wenn man am wenigsten damit rechnet. Man sagt auch, daß sie wilde Tiere zähmen und Geheimwaffen herstellen können, die unerträgliche Schmerzen zufügen. Zudem, so wohl sich die Sklavenhalterinnen im Freien fühlen, so ungern sind sie von Mauern umgeben. Jedenfalls sprengen sie die Barrikaden an den Eingängen nicht. Sie warten ab. Sie haben genug Zeit. Schließlich wird die Nacht erst in ungefähr fünfzehn Stunden hereinbrechen. In dem Ameisenhaufen wundert man sich. Warum greifen sie nicht an? Chli-pu-ni gefällt das nicht. Es beunruhigt sie, daß sich der Gegner ihrer Denkweise entzieht. Er hat es gar nicht nötig zu warten, da er stärker ist. Einige ihrer Töchter äußern schüchtern die Meinung, daß man vielleicht versucht, sie auszuhungern. Eine solche Aussicht kann den roten Ameisen nur neuen Mut machen: dank ihrer Ställe im Keller, ihrer Pilzkulturen, den mit Honigtau vollgestopften Ameisentanks sind sie in der Lage, eine Belagerung von gut zwei Monaten auszuhalten. Aber Chli-pu-ni glaubt nicht an eine Belagerung. Was die Ameisen da oben suchen, ist ein Nest für die Nacht. Sie denkt an Belo-kiu-kiunis berühmten Ausspruch: Wenn der Feind stärker ist, dann handele so, daß du dich seiner Denkweise entziehst. Ja, gegen diese Rohlinge hilft nur modernste Technik, das wäre die Rettung. Die fünfhunderttausend Chlipukanerinnen halten eine AK nach der andern ab. Endlich entsteht eine interessante Debatte. Eine kleine Arbeiterin stößt hervor: Der Irrtum war, daß wir Waffen oder Strategien nachahmen wollten, die bereits von unseren Vorfahren in Bel-o-kan angewendet wurden. Wir dürfen nicht kopieren, wir müssen unsere eigenen Lösungen finden, um unsere eigenen Probleme zu lösen. Kaum geht dieses Pheromon um, verschwindet die geistige Sperre. Rasch wird ein Entschluß gefaßt. Alle machen sich an die Arbeit. JANITSCHAREN: Im 14. Jahrhundert schuf Sultan Murad I. ein ETWAS EIGENARTIGES ARMEECORPS. DAS MAN DIE »JANITSCHAREN« TAUFTE (AUS DEM TÜRKISCHEN YENI TCHERIE, NEUE MILIZ). DIE ARMEE DER JANITSCHAREN HATTE EINE BESONDERHEIT. SIE WURDE NUR VON Waisen gebildet. Tatsächlich entführten die türkischen SOLDATEN, WENN SIE EIN ARMENISCHES ODER SLAWISCHES DORF PLÜNDERTEN, GANZ JUNGE KINDER UND SPERRTEN SIE IN EINE MILITÄRISCHE SPEZIALSCHULE, VON DER AUS SIE NICHTS VOM REST DER Welt mitbekamen. Einzig in der Kunst des Kampfes erzogen, ERWIESEN SICH DIESE KINDER ALS DIE BESTEN KÄMPFER DES GANZEN OTTOMANISCHEN REICHS UND VERHEERTEN SCHONUNGSLOS DIE DÖRFER, IN DENEN IHRE WAHREN FAMILIEN WOHNTEN. NIE KAMEN DIE JANITSCHAREN AUF DEN GEDANKEN, AN DER SEITE IHRER ELTERN GEGEN ihre Kidnapper zu kämpfen. Ihre Macht nahm ständig zu, was SCHLIEßLICH Sultan Mahmut II. beunruhigte, der sie massakrieren LIEß UND IHRE SCHULE 1826 IN BRAND STECKTE. Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens Professor Leduc hatte zwei große Koffer mitgebracht. Aus dem einen holte er ein verblüffendes Modell eines benzingetriebenen Preßlufthammers hervor. Er machte sich unverzüglich daran, die von den Polizisten errichtete Mauer zu bearbeiten, bis er ein kreisrundes Loch gebohrt hatte, groß genug, um hindurchzuklettern. Als das Hämmern ein Ende hatte, bot ihm Großmutter Augusta einen Kräutertee an, aber Leduc lehnte ab mit der Erklärung, daß er dann Gefahr liefe, im Keller Wasser lassen zu müssen. Er knöpfte sich den zweiten Koffer vor und entnahm ihm eine komplette Speläologenausrüstung. »Meinen Sie, das geht so tief hinunter?« »Um ehrlich zu sein, Madame: Ich habe, bevor ich gekommen bin, Erkundigungen über dieses Gebäude eingezogen. Es wurde in der Renaissance von protestantischen Wissenschaftlern bewohnt, die einen Geheimgang angelegt haben. Ich bin fast sicher, daß dieser Gang in den Wald von Fontainebleau führt. Auf diesem Weg entkamen diese Protestanten ihren Verfolgern.« »Aber wenn all die Leute, die jetzt hinuntergestiegen sind, in den Wald gelangt sind, verstehe ich nicht, weshalb sie sich nicht mehr melden. Mein Enkel, seine Frau, mein Urenkel, dazu ein gutes Dutzend Feuerwehrleute und Gendarmen, lauter Personen, die keinen Grund haben, sich zu verstecken. Sie haben Familie, Freunde. Sie sind keine Protestanten, und Religionskriege gibt es auch nicht mehr.« »Sind Sie da so sicher, Madame?« Er schaute sie merkwürdig an. »Die Religionen tragen heute andere Namen, sie nennen sich großspurig Philosophien und ... Wissenschaften. Aber sie sind nicht weniger dogmatisch.« Er ging ins Nebenzimmer, um seine Höhlenkleidung anzuziehen. Als er in seinem engsitzenden Anzug wieder auftauchte, den Kopf in einen knallroten, mit einer Stirnlampe versehenen Helm gezwängt, hätte Augusta am liebsten laut gelacht. Er fuhr fort, als ob nichts wäre: »Nach den Protestanten sind Sekten aller Schattierungen hier eingezogen. Einige widmeten sich alten heidnischen Bräuchen, andere verehrten die Zwiebel, den schwarzen Rettich und was weiß ich ...« »Zwiebel und Rettich sind gut für die Gesundheit. Ich kann verstehen, daß man dafür schwärmt. Die Gesundheit ist das Allerwichtigste ... Schauen Sie, ich bin schwerhörig, bald senil, und ich sterbe jeden Tag ein wenig mehr.« Er glaubte sie trösten zu müssen. »Seien Sie doch nicht so pessimistisch, Sie sehen noch kerngesund aus.« »Ach nein! Wie alt schätzen Sie mich?« »Ich weiß nicht ... Vielleicht sechzig, siebzig Jahre.« »Hundert bin ich, Monsieur! Ich bin vor einer Woche hundert Jahre alt geworden, und ich bin am ganzen Körper krank, und das Leben wird mir von Tag zu Tag unerträglicher, vor allem, seit ich alle verloren habe, die mir teuer waren.« »Ich verstehe Sie, Madame, das Alter ist eine schwere Prüfung.« »Haben Sie noch mehr solch treffende Sätze auf Lager?« »Aber Madame ...« »Kommen Sie, beeilen Sie sich. Wenn Sie bis morgen nicht zurück sind, werde ich die Polizei benachrichtigen, und die wird dann bestimmt eine dicke Mauer bauen, durch die niemand mehr hindurchkommt .« Nr. 4000 wird unablässig von den Schlupfwespenlarven gequält, selbst in den kältesten Nächten findet sie keinen Schlaf mehr. Also wartet sie ruhig auf den Tod und widmet sich dabei spannenden und riskanten Aktivitäten, für die sie unter anderen Umständen niemals den Mut aufgebracht hätte. Beispielsweise den Rand der Welt zu entdecken. Sie sind noch auf dem Weg zu den Schnitterinnen. Nr. 103 683 nutzt die Zeit, um sich einige Lektionen ihrer Ammen ins Gedächtnis zu rufen. Sie haben ihr erklärt, die Erde sei ein Würfel und Leben gebe es nur auf seiner oberen Seite. Was wird sie sehen, wenn sie endlich das Ende, den äußersten Rand der Welt erreicht? Wasser? Die Leere eines anderen Himmels? Ihre Begleiterin auf Abruf und sie selbst werden mehr wissen als alle Kundschafterinnen, als alle roten Ameisen seit Anbeginn der Zeiten! Ihre Gefährtin sieht erstaunt, wie sich der Schritt von Nr. 103 683 in einen entschlossenen Marsch verwandelt. Als sich die Sklavenhalterinnen am Nachmittag dazu entschließen, die Eingänge zu stürmen, sind sie überrascht, auf keinerlei Widerstand zu stoßen. Dabei wissen sie genau, daß sie nicht die gesamte Armee der Roten vernichtet haben, selbst wenn man die geringe Größe der Stadt berücksichtigt. Also, auf der Hut sein ... Sie rücken um so vorsichtiger vor, als sie, die normalerweise im Freien leben, wo sie sich eines ausgezeichneten Sehvermögens erfreuen, unter der Erde völlig blind sind. Die roten Geschlechtslosen sehen dort auch nicht mehr, aber sie sind wenigstens daran gewöhnt, sich in den Eingeweiden dieser finsteren Welt zu bewegen. Die Sklavenhalterinnen erreichen die Verbotene Stadt. Sie ist vollkommen verlassen. Auf dem Boden liegen jede Menge Nahrungsmittel, alle in einwandfreiem Zustand! Sie gehen tiefer. Die Speicher sind prall gefüllt, und vor kurzem waren noch Personen in diesen Sälen, kein Zweifel. Im 5. UG finden sie frische Pheromone. Sie versuchen die Gespräche zu entschlüsseln, die dort geführt wurden, aber die Roten haben einen Thymianzweig hinterlegt, dessen Geruch sämtliche Düfte unkenntlich macht. 6. UG. Es gefällt ihnen nicht, daß sie so »unter Tage« eingeschlossen sind. Stockfinster ist es in dieser Stadt! Wie können es Ameisen nur ertragen, ständig in diesem engen Raum eingepfercht zu sein, der dunkel ist wie der Tod? Im 8. UG entdecken sie noch frischere Pheromone. Sie beschleunigen den Schritt, die Roten können nicht mehr weit sein. Im 10. UG überraschen sie eine Gruppe von Arbeiterinnen, die Eier schwenken und vor den Eindringlingen Reißaus nehmen. Das ist es also! Endlich geht ihnen ein Licht auf, die ganze Stadt hat sich in die tiefsten Stockwerke zurückgezogen und hofft auf diese Weise ihre kostbare Brut zu retten. Jetzt, da alles ersichtlich geworden ist, lassen die Sklavenhalterinnen jede Vorsicht fahren und stürmen mit ihrem berühmten Pheromonenkriegsgeschrei durch die Gänge. Die chlipukanischen Arbeiterinnen schaffen es nicht, sie abzuschütteln, und dabei sind sie schon im 13. UG. Plötzlich sind die eiertragenden Flüchtlinge auf rätselhafte Weise verschwunden. Der Gang, durch den sie liefen, mündet in einen ungeheuer großen Saal, dessen Boden mit Lachen von Honigtau übersät ist. Die ersten Sklavenhalterinnen stürzen instinktiv vor, um den kostbaren Likör zu schlecken, bevor er von der Erde aufgesogen wird. Hinter ihnen drängeln die anderen Kriegerinnen, aber der Saal ist wirklich riesig, es ist genug Platz und Honigtau für alle da. Süß ist er, zuckersüß! Das ist bestimmt einer dieser Säle mit den Ameisentanks, eine Sklavenhalterin hat davon gehört: Eine angeblich moderne Technik, die darin besteht, eine arme Arbeiterin dazu zu zwingen, ihr Leben lang mit dem Kopf nach unten und extrem gedehntem Hinterleib an der Decke zu hängen. Sie machen sich einmal mehr über diese Städterinnen lustig, während sie sich an deren Honigtau laben. Aber plötzlich erregt ein Detail die Aufmerksamkeit einer Kriegerin. Es ist überraschend, daß ein solch wichtiger Saal nur einen einzigen Eingang hat ... Sie kommt nicht dazu, weiter darüber nachzudenken. Die Roten haben aufgehört zu graben. Eine Wasserflut spritzt aus der Decke. Die Sklavenhalterinnen versuchen durch den Gang zu fliehen, aber dieser ist jetzt durch einen großen Felsen versperrt. Und das Wasser steigt. Diejenigen, die nicht bereits durch den Aufprall des Wassers niedergestreckt wurden, wehren sich mit aller Kraft. Die Idee zu dieser Falle ist der roten Kriegerin gekommen, die darauf hingewiesen hat, daß man nicht die Vorfahren kopieren dürfe. Anschließend hat sie die Frage gestellt: Was ist die Besonderheit unserer Stadt? Als Antwort nur ein einziges Pheromon: Der unterirdische Bach im 12. UG. Also haben sie eine Rinne gegraben, den Boden mit dicken, wasserundurchlässigen Blättern abgedeckt und so eine Art Kanal geschaffen. Der Rest hing eher mit der Technik der Zisternen zusammen. Sie haben ein großes Becken in einer Kammer eingerichtet und dessen Zentrum mit einem Zweig angebohrt. Das Schwierigste war, den Bohrzweig über der Wasseroberfläche zu halten. Dieses heikle Unterfangen wurde von an der Decke hängenden Ameisen erfolgreich bewältigt. Die Sklavenhalterinnen unten zappeln und strampeln. Die meisten sind bereits ertrunken, aber als sich das gesamte Wasser in den unteren Saal ergossen hat, steht es so hoch, daß es einigen Kriegerinnen gelingt, durch das Loch in der Decke zu steigen. Die Roten haben keine Mühe, sie mit Säurestrahlen zu erledigen. Eine Stunde später rührt sich keine der Sklavenhalterinnen mehr. Die Königin Chli-pu-ni hat gesiegt. Sie gibt ihre erste historische Sentenz von sich: Je höher das Hindernis, um so größer die Verpflichtung, über uns hinauszuwachsen. Ein dumpfes und regelmäßiges Klopfen ließ Augusta in die Küche eilen, wo sich Professor Leduc gerade durch das Loch in der Mauer zwängte. Also so was, nach achtundvierzig Stunden! Endlich kommt mal jemand zurück, und dann muß es ausgerechnet dieser Fiesling sein, dessen Verschwinden ihr ganz egal gewesen wäre! Sein Höhlenanzug war zerfetzt, aber er selbst war unversehrt. Er hatte ebenfalls nichts erreicht, das sah man ihm an der Nase an. »Und?« »Was, und?« »Haben Sie sie gefunden?« »Nein .« Augusta war aufgewühlt. Zum erstenmal kehrte jemand lebend und nicht verrückt aus diesem Loch zurück. Es war also möglich, dieses Abenteuer zu bestehen! »Ja, was ist denn nun da unten? Führt das in den Wald von Fontainebleau, wie Sie meinten?« Er schälte sich aus seinem Helm. »Geben Sie mir bitte erst etwas zu trinken. Ich habe all meine Vorräte aufgebraucht, und ich habe seit gestern mittag nichts mehr getrunken.« Sie brachte ihm eine Tasse Kräutertee, den sie in einer Thermosflasche warm hielt. »Soll ich Ihnen sagen, was da unten ist? Da ist eine Wendeltreppe, die über mehrere hundert Meter steil nach unten führt. Dann kommt eine Tür, dahinter ein rot schimmernder Gang voller Ratten und ganz am Ende eine Mauer, die Ihr Enkel Jonathan gebaut haben muß. Eine sehr starke Mauer, ich habe vergeblich versucht, mit dem Preßlufthammer ein Loch zu bohren. Vermutlich verschiebt oder dreht sie sich, sie ist nämlich mit einer Tastatur für ein Kodewort versehen.« »Eine Tastatur für ein Kodewort?« »Ja, wahrscheinlich muß man darauf das Lösungswort der Frage eintippen.« »Was für eine Frage?« »Wie bildet man vier gleichseitige Dreiecke mit sechs Streichhölzern?« Augusta konnte nicht umhin, laut aufzulachen. Was den Wissenschaftler profund ärgerte. »Sie kennen die Lösung!« Prustend stieß sie hervor: »Nein! O nein! Ich kenn die Lösung nicht! Aber die Frage, die kenn ich!« Und sie lachte, lachte. Professor Leduc brummelte: »Ich habe stundenlang danach gesucht. Sicher, mit Dreiecken, die V-förmig verschachtelt sind, kommt man zu einem Ergebnis, aber die sind nicht gleichseitig.« Er packte seine Sachen ein. »Wenn Sie einverstanden sind, werde ich einen befreundeten Mathematiker fragen und noch einmal zurückkommen.« »Nein!« »Wie? Nein?« »Ich habe Ihnen eine Chance gegeben, das war die einzige! Wenn Sie sie nicht nutzen konnten, dann ist es jetzt zu spät. Schaffen Sie diese beiden Koffer hier raus. Auf Wiedersehen, Monsieur!« Sie rief ihm nicht einmal ein Taxi. Ihre Abneigung hatte die Oberhand gewonnen. Er hatte etwas an sich, das sie entschieden nicht riechen konnte. Sie setzte sich in die Küche, vor die beschädigte Mauer. Jetzt hatte sich die Sachlage geändert. Sie entschloß sich, Jason Bragel und diesen Rosenfeld anzurufen. Sie hatte sich entschieden, sich vor ihrem Tod noch ein wenig zu amüsieren. MENSCHLICHE PHEROMONE:    Wie die Insekten, die über Düfte kommunizieren, verfügt auch der Mensch über eine olfaktorische Sprache, in der er sich unbewußt mit seinesgleichen unterhält. Da wir keine Antennen als Sender haben, scheiden wir unsere Pheromone durch Achselhöhlen, Brüste, Kopfhaut und Geschlechtsteile aus. Diese Botschaften werden unbewußt wahrgenommen, sind deshalb aber nicht weniger wirkungsvoll. Der Mensch hat fünfzig Millionen olfaktorischer Nervenenden, fünfzig Millionen Zellen, die imstande sind. Millionen von Gerüchen zu identifizieren, obwohl unsere Sprache nur vier Gerüche kennt. Wie nutzen wir diese Form der Kommunikation? Zunächst einmal als sexuellen Appell. Ein Mann kann sich sehr gut zu einer Frau hingezogen fühlen, weil er ihren natürlichen Duft schätzt (der überdies viel zu oft von künstlichen Düften überlagert wird!) Ebenso kann er eine andere abstoßend finden, deren Pheromone ihn nicht »ansprechen«. Der Vorgang ist recht subtil. Die beiden Wesen bemerken das olfaktorische Gespräch, das sie miteinander geführt haben, nicht einmal. Man könnte zu Recht sagen, »die Liebe ist blind«. Der Einfluß der menschlichen Pheromone kann auch in puncto Aggression zutage treten. Wie bei den Hunden wird ein Mensch, der den Geruch mit der Botschaft »Angst« auf seiten seines Widersachers wahrnimmt, ganz natürlich Lust haben, jenen anzugreifen. Zu guter Letzt: Eine der erstaunlichsten Folgen der Auswirkung menschlicher Pheromone ist wohl die Synchronisierung der Menstruationszyklen. Man hat in der Tat beobachtet, daß Frauen, die zusammenleben, Gerüche absondern, die den jeweiligen Organismus dahingehend beeinflussen, daß sie gleichzeitig ihre Regel bekommen. Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens Sie erblicken die ersten Schnitterinnen inmitten gelber Felder. Eigentlich sollte man eher von Holzfällerinnen sprechen, denn ihr Getreide ist erheblich größer als sie, und sie müssen die Stengel ganz unten anschneiden, damit die nahrhaften Körner zu Boden fallen. Daneben besteht ihre Haupttätigkeit darin, sämtliche Pflanzen zu vernichten, die um ihre Felder herum wachsen. Dazu benutzen sie ein Vertilgungsmittel eigener Produktion: die Indolessigsäure, die sie mit einer Hinterleibsdrüse versprühen. Die Schnitterinnen schenken Nr. 103 683 und Nr. 4000 bei deren Eintreffen kaum Beachtung. Sie haben noch nie rote Ameisen gesehen, und für sie sind diese beiden Insekten bestenfalls entflohene Sklavinnen oder zwei Ameisen, die auf der Suche nach der Lomechuse-Droge (??) sind. Kurzum, Landstreicherinnen oder Drogenabhängige. Schließlich jedoch identifiziert eine der Schnitterinnen ein Molekül des Duftes der blutroten Ameisen. Gefolgt von einer Kameradin, verläßt sie ihren Arbeitsplatz und kommt näher. Ihr habt die Blutroten getroffen? Wo sind sie? Die Belokanerinnen erfahren im Laufe des Gesprächs, daß die Blutroten vor einigen Wochen das Nest der Schnitterinnen angegriffen haben. Sie haben mit ihren Giftstacheln über hundert Arbeiterinnen und Männchen wie Weibchen getötet, danach haben sie den gesamten Vorrat an Getreidemehl geraubt. Die Armee der Schnitterinnen hat nach ihrer Rückkehr von einem Feldzug in den Süden, wo sie neue Samenkörner gesucht haben, nur die Schäden konstatieren können. Die beiden räumen ein, daß sie die Blutroten tatsächlich getroffen haben. Sie geben die Richtung an, in welcher jene zu finden sind. Man fragt sie aus, und sie berichten von ihrer eigenen Odyssee. Ihr seid auf der Suche nach dem Rand der Welt? Ja. Die Schnitterinnen brechen in ein schallendes Pheromonenlachen aus. Warum lachen sie? Sollte es den Rand der Welt nicht geben? Doch, es gibt ihn, und ihr habt ihn erreicht! Abgesehen von der Ernte ist es unser Hauptstreben, den Rand der Welt zu überschreiten. Die Schnitterinnen bieten an, die beiden »Touristinnen« am nächsten Morgen zu diesem metaphysischen Ort zu führen. Der Abend vergeht mit Gesprächen im Schutz des kleinen Nests, das die Schnitterinnen in der Rinde einer Buche eingerichtet haben. Und die Wächterinnen des Randes der Welt? fragt Nr. 103 683. Keine Sorge, die bekommt ihr früh genug zu sehen. Stimmt es, daß sie eine Waffe haben, die eine ganze Armee auf einen Schlag vernichten kann? Die Schnitterinnen sind überrascht, daß die beiden Fremden derlei Einzelheiten kennen. Das ist richtig. Nr. 103 683 wird also die Lösung des Rätsels der geheimen Waffe erfahren! In dieser Nacht hat sie einen Traum. Sie sieht die Erde, die rechtwinklig endet, und eine Wand aus Wasser, die bis zum Himmel reicht, und aus dieser Wand kommen blaue Ameisen mit äußerst zerstörerischen Akazienzweigen. Und das Ende eines dieser Zauberzweige braucht etwas nur zu berühren, einerlei was, schon ist es vernichtet. 4 Das Ende des Wegs Augusta saß den ganzen Tag vor sechs Streichhölzern. Die Mauer war eher psychologisch als real, soviel hatte sie begriffen. Edmonds berühmtes »Man muß anders denken!« ... Ihr Sohn hatte etwas entdeckt, das war gewiß, und er versteckte es mit seiner Intelligenz. Sie rief sich die Schlupfwinkel seiner Kindheit ins Gedächtnis, seine »Höhlen«. Er hatte versucht - vielleicht weil man sie ihm samt und sonders zerstört hatte -, eine zu bauen, die völlig unzugänglich war, eine Stelle, wo ihn niemand stören würde ... Etwas wie ein innerer Ort, der seinen Frieden nach außen projizierte, seinen Frieden und ... seine Unsichtbarkeit. Augusta schüttelte die Schlaffheit ab, die sie befiel. Eine Begebenheit aus ihrer eigenen Jugend fiel ihr wieder ein. Das war in einer Winternacht, sie war noch ganz klein, und sie hatte begriffen, daß es Zahlen unter Null geben konnte ... 3, 2, 1, 0 und dann - 1, - 2, - 3 ... Zahlen, die verkehrt herum waren. Als würde man einen Handschuh umkrempeln. Die Null war also nicht das Ende oder der Anfang von allem. Es gab eine andere unendliche Welt auf der anderen Seite. Das war, als hätte man die Mauer der »Null« gesprengt. Sie mußte damals sieben oder acht Jahre alt gewesen sein, aber ihre Entdeckung hatte sie aufgewühlt, und sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Umgekehrte Zahlen ... Das war eine andere Dimension, die sich da eröffnete. Die dritte Dimension. Der Raum! Herrgott! Ihre Hände zittern vor Aufregung, sie weint, aber sie schafft es, die Streichhölzer zu packen. Sie legt drei zu einem Dreieck zusammen, dann hält sie die drei anderen jeweils an eine Ecke und richtet sie auf, so daß sie in einer Spitze zusammentreffen. Das ergibt eine Pyramide. Eine Pyramide und vier gleichseitige Dreiecke. Da ist es, das östliche Ende der Erde. Ein verblüffender Ort. Nichts Natürliches, nichts Irdisches. Ganz anders, als ihn sich Nr. 103 683 vorgestellt hat. Der Rand der Welt ist schwarz, nie zuvor hat sie etwas derart Schwarzes gesehen! Das ist hart, glatt, lauwarm und riecht nach Mineralöl. Statt eines vertikalen Ozeans finden sie Luftströmungen von unglaublicher Heftigkeit vor. Lange versuchen sie zu verstehen, was hier vorgeht. Von Zeit zu Zeit ist ein Vibrieren zu spüren. Seine Intensität nimmt exponentiell zu. Dann plötzlich erzittert der ganze Boden, ein starker Wind hebt ihre Antennen an, ein Höllenlärm läßt die Trommelfelle ihrer Schienen klappern. Ein heftiges Gewitter, möchte man meinen, aber kaum tritt das Phänomen deutlich zutage, da hat es bereits aufgehört. Lediglich einige Staubspiralen sinken noch auf die Erde. Nicht wenige Kundschafter der Schnitterinnen haben diese Grenze überschreiten wollen, aber die Wächter passen auf. Denn dieser Lärm, dieser Wind, dieses Vibrieren, das sind sie, die Wächter des Randes der Welt, die alles erschlagen, was auf die schwarze Erde vorzudringen versucht. Ob sie diese Wächter bereits gesehen haben? Noch bevor die Roten eine Antwort erhalten, ertönt erneut ein lautes Getöse, das sich nach einer Weile wieder legt. Eine der sechs Schnitterinnen, die sie begleiten, behauptet, daß es bislang noch niemand geschafft habe, über dieses »verwunschene Stück Erde« zu gehen und lebend zurückzukommen. Die Wächter vernichten alles. Die Wächter ... Niemand anders als sie können La-chola-kan und die Expedition mit dem Männchen Nr. 327 angegriffen haben. Aber weshalb haben sie das Ende der Welt verlassen und sind nach Westen gezogen? Wollen sie die Welt überfallen? Die Schnitterinnen wissen auch nicht mehr als die Roten. Können sie sie wenigstens beschreiben? Nein, sie wissen nur, daß alle, die sich den Wächtern genähert haben, vernichtet worden sind. Sie wissen nicht einmal, welcher Kategorie von Lebewesen jene zuzuordnen sind: Sind das riesige Insekten? Vögel? Pflanzen? Die Schnitterinnen wissen nur, daß sie immens schnell, immens stark sind. Eine Kraft, die schier unbegreiflich ist, die alles übersteigt, was man kennt ... In diesem Augenblick ergreift Nr. 4000 ebenso plötzlich wie unvorhergesehen die Initiative. Sie verläßt die Gruppe und wagt sich auf das verbotene Terrain vor. Wenn sie schon sterben muß, dann will sie wenigstens versuchen, den Rand der Welt zu überschreiten, einfach so, dreist und frech. Die anderen schauen ihr bestürzt nach. Sie rückt langsam vor, lauert auf das geringste Vibrieren, auf den geringsten todesverheißenden Duft in den empfindlichen Enden ihrer Beine. Nun ... Fünfzig Kopf hat sie hinter sich, hundert, zweihundert, vierhundert, sechshundert, achthundert. Nichts. Unverletzt, heil. Hinten jubelt man ihr zu. Von ihrem Platz aus sieht sie unregelmäßige weiße Streifen, die nach rechts und links verlaufen. Auf der schwarzen Erde ist alles tot; nicht das geringste Insekt, keine einzige Pflanze. Und der Boden ist dermaßen schwarz ... Das ist gar keine richtige Erde. Sie erkennt Pflanzen, weit vorn. Könnte es sein, daß es eine Welt hinter dem Ende der Welt gibt? Sie sendet einige Pheromone in Richtung ihrer am sicheren Ufer gebliebenen Kolleginnen, um ihnen von all dem zu erzählen, aber auf eine solch große Entfernung ist es schwierig. Dialoge zu führen. Sie macht kehrt, doch im gleichen Augenblick brechen erneut das Beben und dieser ungeheure Lärm los. Die Wächter kehren zurück! Sie rennt mit aller Kraft, um ihre Gefährtinnen zu erreichen. Die sind wie versteinert für den Bruchteil einer Sekunde, in dem mit einem enormen Dröhnen eine bestürzende Masse am Himmel vorbeifliegt. Die Wächter sind vorübergezogen, der Geruch nach Mineralöl hat sich verstärkt. Und Nr. 4000 ist verschwunden. Die Ameisen rücken näher an den Rand und sehen, was passiert ist. Nr. 4000 ist zermalmt worden, und zwar derart, daß ihr Körper nur noch einen Zehntelkopf dick ist, als wäre er in den schwarzen Boden eingedrückt! Von der alten belokanischen Kundschafterin ist nichts mehr übrig. Gleichzeitig nehmen die von den Schlupfwespeneiern verursachten Qualen ein Ende. Man kann erkennen, daß eine Larve dieser Wespe ihren Rücken durchbohrt hat, kaum mehr als ein weißer Punkt mitten auf dem platten roten Körper ... So schlagen die Wächter des Randes der Welt also zu. Man hört einen Lärm, nimmt einen Luftzug wahr, und im nächsten Moment ist alles zerstört, pulverisiert, vernichtet. Nr. 103 683 hat das Phänomen noch nicht ganz analysiert, als eine erneute Verpuffung zu hören ist. Der Tod schlägt also auch dann zu, wenn niemand seine Schwelle überschreitet. Wieder fällt Staub zur Erde. Nr. 103 683 möchte dennoch nicht auf die Überquerung verzichten. Sie denkt an Satei. Das Problem ist ähnlich gelagert. Wenn man oben nicht durchkommt, muß man unten durch. Man muß diese schwarze Erde wie einen Fluß sehen, und das beste Mittel, einen Fluß zu passieren, besteht darin, einen Tunnel zu graben. Sie redet darüber mit den sechs Schnitterinnen, die sogleich hellauf begeistert sind. Das ist so einleuchtend, daß sie nicht begreifen, weshalb sie nicht längst darauf gekommen sind! Und so machen sie sich daran, mit aller Kraft ihrer Mandibeln zu schaufeln. Jason Bragel und Professor Rosenfeld waren nie begeisterte Kräuterteetrinker, doch jetzt waren sie im Begriff, es zu werden. Augusta erzählte ihnen alles haarklein. Sie teilte ihnen mit, daß sie von ihrem Sohn nach ihr als nächste Erben der Wohnung bestimmt worden seien. Wahrscheinlich wären sie, wie sie selbst, eines Tages versucht, den Untergrund zu erforschen. Da wäre es doch sinnvoller, wenn sie mit vereinten Kräften vorgingen. Nach dieser Einleitung redeten sie alle drei sehr wenig. Sie verstanden sich wortlos. Ein Blick, ein Lächeln ... Keiner von ihnen hatte je eine solch spontane geistige Osmose erlebt. Das ging über den reinen Intellekt hinaus; man hätte meinen können, sie seien geboren, um einander zu ergänzen, als würden ihre genetischen Programme ineinandergreifen und verschmelzen. Das war Zauberei. Augusta war steinalt, und doch fanden die beiden anderen, sie sei wunderschön ... Sie kamen auf Edmond zu sprechen; ihre Zuneigung zu dem Verstorbenen, die frei von jedem Hintergedanken war, erstaunte sie selbst. Jason Bragel redete nicht von seiner Familie, Daniel Rosenfeld redete nicht von seiner Arbeit, Augusta redete nicht von ihrer Krankheit. Sie beschlossen, noch am gleichen Abend hinabzusteigen. Sie wußte, das war das einzige, was sie zu tun hatten, hier und jetzt. lange hat man: Lange hat man geglaubt, die Informatik im allgemeinen und speziell die Programme künstlicher Intelligenz würden die menschlichen Begriffe vermischen und unter neuen Blickwinkeln präsentieren. Kurzum, man erwartete von der Elektronik eine neue Philosophie. Aber selbst wenn man sie anders präsentiert, bleibt die ursprüngliche Materie ein und dieselbe: Gedanken, die von der menschlichen Vorstellungskraft hervorgebracht wurden. Das ist eine Sackgasse. Der beste Weg, das Denken zu erneuern, besteht darin, aus der Edmond Wells Enzyklopädie des absoluten und relativen Wissens Chli-pu-kan gedeiht an Größe und Intelligenz, ist jetzt eine »erwachsene« Stadt. Unter Anwendung der Wassertechnologien hat man ein ganzes Netz von Kanälen unterhalb des 12. UG geschaffen. Diese Wasserarme ermöglichen einen raschen Nahrungstransport von einem Ende der Stadt zum andern. Die Chlipukanerinnen hatten Zeit genug, die Techniken des Transports auf dem Wasserweg weiterzuentwickeln. Das Nonplusultra stellt ein treibendes Heidelbeerblatt dar. Man braucht bloß die richtige Strömung zu wählen und kann in aller Ruhe über eine beträchtliche Entfernung reisen. Von den Pilzkulturen im Osten zu den Stallungen im Westen zum Beispiel. Die Ameisen hoffen, daß es ihnen eines Tages gelingt. Schwimmkäfer abzurichten. Diese großen, mit Luftsäcken unter den Deckflügeln ausgestatteten Unterwasserkäfer schwimmen in der Tat sehr schnell. Wenn man sie dazu bringen könnte, die Blätter anzuschieben, verfügten diese Flöße über einen Antrieb, der weniger zufällig wäre als die Strömungen. Chli-pu-ni bringt eine weitere futuristische Idee vor. Sie erinnert sich des Nashornkäfers, der sie aus dem Spinnennetz befreit hat. Welch vollkommene Kriegsmaschine! Diese Käfer haben nicht nur ein großes Hörn und einen undurchdringlichen Panzer, zudem fliegen sie mit hoher Geschwindigkeit. Chli-pu-ni denkt unverblümt an eine ganze Legion dieser Tiere, eine ganze Legion mit zehn Artilleristinnen auf dem Kopf jedes einzelnen. Sie sieht bereits, wie diese quasi unverwundbaren Besatzungen über die feindlichen Truppen herfallen und sie mit Säure überschwemmen ... Einziges Hindernis: Wie alle Käfer erweisen sich auch die Nashornkäfer als äußerst schwierig zu zähmen, da es nicht einmal gelingt, ihre Sprache zu verstehen! Also sind zehn Arbeiterinnen ständig damit beschäftigt, deren Duftemissionen zu entschlüsseln und zu versuchen, ihnen die Pheromonensprache der Ameisen beizubringen. Wenn die Ergebnisse vorerst auch mäßig sind, schaffen es die Chlipukanerinnen doch, ihr Vertrauen zu gewinnen, indem sie sie mit Honigtau vollstopfen. Die Nahrung ist schließlich die am weitesten verbreitete Insektensprache. Dieser kollektiven Dynamik zum Trotz ist Chli-pu-ni besorgt. Drei Trupps von Abgesandten hat sie in Richtung Föderation losgeschickt, um Chli-pu-kan als fünfundsechzigste Stadt anerkennen zu lassen, und sie hat immer noch keine Antwort. Sollte Belo-kiu-kiuni das Bündnis ablehnen? Je mehr sie darüber nachdenkt, um so mehr ist Chli-pu-ni davon überzeugt, daß ihre abgesandten Spioninnen Fehler begangen haben, daß sie sich von den Kriegerinnen mit dem Felsengeruch haben abfangen lassen. Sofern sie nicht der halluzinierenden Droge im 50. UG erlegen sind ... Oder gab es noch andere Möglichkeiten? Sie möchte Gewißheit haben. Sie will weder auf die Anerkennung durch die Föderation noch auf die Fortführung der Untersuchung verzichten! Sie beschließt, Nr. 801 loszuschicken, ihre beste und scharfsinnigste Kriegerin. Um der jungen Soldatin sämtliche Trümpfe in die Hand zu geben, nimmt die Königin einen Gedankenaustausch mit ihr vor, so daß jene ebensoviel über das Geheimnis weiß wie sie selbst. Nr. 801 wird: Chli-pu-kans Auge, das sieht Chli-pu-kans Antenne, die fühlt Chli-pu-kans Kralle, die zuschlägt. Die alte Dame hatte einen Rucksack bis zum Rand mit Lebensmitteln und Getränken, darunter drei Thermosflaschen mit heißem Kräutertee, vollgestopft. Bloß nicht den gleichen Fehler machen wie dieser Fiesling Leduc, der schnell wieder zurückkommen mußte, weil er den Faktor Nahrung vernachlässigt hat ... Andererseits, hätte er jemals das Kodewort erraten? Augusta hatte ihre Zweifel. Jason Bragel hatte unter anderem eine Tränengasgranate, ein dickes Modell, und drei Gasmasken besorgt; Daniel Rosenfeld hatte seinerseits einen Fotoapparat mit Blitzlicht mitgenommen, das Neueste, was es auf dem Markt gab. Inzwischen kreisten sie durch das steinerne Karussell. Wie all ihre Vorgänger rief der Abstieg auch in ihnen Erinnerungen, fast vergessene Gedanken wach. Kindheit, erster Schmerz. Fehler und Irrtümer, enttäuschte Liebe, Egoismus, Stolz, Gewissensbisse ... Ihre Körper bewegten sich mechanisch, fern jeder Müdigkeit. Sie drangen in das Fleisch des Planeten, in ihre Vergangenheit vor. Ah, wie lang war das Leben, und wie vernichtend konnte es sein, viel eher vernichtend als schöpferisch ... Endlich gelangten sie an eine Tür. Eine Tür mit einer Inschrift: Im Augenblick des Todes befällt die Seele die gleiche Empfindung wie jene, die in das große Mysterium eingeweiht sind. Zunächst ist alles eine beschwerliche Reise, eine beunruhigende, endlose Fahrt durch die Finsternis. Dann, kurz vor dem Ende, ist der Schrecken am größten. Schaudern, Zittern, kalter Schweiß, Entsetzen. Dieser Phase folgt fast unmittelbar ein Aufstieg zum Licht, eine jähe Erleuchtung. Ein wundervoller Lichtschein zieht den Blick auf sich, man durchquert Plätze und Weiden von unübertroffener Reinheit, auf denen Stimmen und Musik erklingen. Heilige Worte flößen religiösen Respekt ein. Der vollkommene und eingeweihte Mensch wird frei, und er feiert das Mysterium. Daniel macht ein Foto. »Ich kenne diesen Text«, behauptet Jason. »Er ist von Plutarch.« »Ein hübscher Text, wahrhaftig.« »Jagt Ihnen das keine Angst ein?« fragt Augusta. »Doch, aber das ist Absicht. Außerdem heißt es, daß auf den Schrecken die Erleuchtung folgt. Also, gehen wir schrittweise vor. Wenn ein wenig Schrecken vonnöten ist, lassen wir uns eben erschrecken.« »Genau, die Ratten ...« Es war, als hätte es gereicht, sie zu erwähnen. Sie waren da. Die drei Forscher spürten ihre unauffällige Gegenwart, spürten sie an dem Leder ihrer Schaftstiefel. Daniel drückte erneut auf den Auslöser. Das Blitzlicht offenbarte das abstoßende Bild eines ganzen Teppichs aus grauen Kugeln und schwarzen Ohren. Jason verteilte hastig die Masken, bevor er großzügig sein Tränengas versprühte. Die Nager brauchten keine zweite Aufforderung . Der Abstieg ging weiter, und zwar noch lange. »Wie wäre es mit einem kleinen Picknick, meine Herren?« schlug Augusta vor. Also picknickten sie. Der Zwischenfall mit den Ratten schien vergessen, alle drei waren bester Laune. Da es ein wenig kalt war, beendeten sie ihren Imbiß mit einem tüchtigen Schluck Schnaps und einem guten brühwarmen Kaffee. Kräutertee gab es normalerweise nur am Nachmittag. Sie müssen lange graben, bis sie in eine Zone gelangen, wo die Erde locker ist. Endlich dringt, einem Sehrohr gleich, ein Antennenpaar an die Oberfläche; unbekannte Gerüche überschwemmen es. Die Luft ist rein. Sie sind auf der anderen Seite des Randes der Welt. Immer noch keine Mauer aus Wasser. Aber eine Welt, die wahrlich in nichts der anderen gleicht. Im Vordergrund sind noch einige Bäume und Grasflecken zu erkennen, aber dahinter erstreckt sich eine graue, harte, glatte Wüste. Kein einziger Ameisen- oder Termitenhügel in Sicht. Sie riskieren einige Schritte. Aber um sie herum prasseln riesige schwarze Dinge auf den Boden. Ein wenig wie die Wächter, nur daß diese Dinge hier mehr aufs Geratewohl niedergehen. Und das ist nicht alles. In der Ferne erhebt sich ein gigantischer Monolith, so hoch, daß ihre Antennen seine Spitze nicht wahrnehmen. Er verdunkelt den Himmel, er erdrückt die Erde. Das muß die Mauer des Endes der Welt sein, und dahinter ist das Wasser, denkt Nr. 103 683. Sie rücken noch ein wenig weiter vor, um plötzlich und unverhofft einer Gruppe von Schaben gegenüberzustehen, die sich an einer Stelle zusammendrängen. Durch ihren durchsichtigen Panzer sind sämtliche Eingeweide, sämtliche Organe und sogar das Blut zu erkennen, das durch die Adern strömt! Grauenhaft! Drei der Blattschneiderinnen treten den Rückzug an und werden von einem herab stürzenden Teil erschlagen. Nr. 103 683 und ihre drei letzten Gefährtinnen beschließen trotz allem, weiterzugehen. An porösen kleinen Mauern vorbei halten sie weiter auf den unendlich hohen Monolithen zu. Plötzlich geraten sie in eine noch verwirrendere Gegend. Der Boden ist rot und hat eine körnige Oberfläche wie eine Erdbeere. Sie entdecken eine Art Brunnen und wollen gerade hinabsteigen, um ein wenig Schatten zu finden, als plötzlich eine schwere weiße Kugel von mindestens zehn Kopf Durchmesser am Himmel auftaucht, auf dem Boden aufprallt und sie verfolgt. Sie werfen sich in den Brunnen ... und haben gerade noch Zeit, sich gegen die Wand zu drücken, bevor die Kugel auf den Grund prallt. Zu Tode erschrocken steigen sie wieder hinaus und laufen los. Der Boden ringsum ist blau, grün oder gelb, und überall sind diese Brunnen und diese weißen Kugeln, die einen verfolgen. Diesmal haben sie genug, jeder noch so große Mut hat seine Grenzen. Diese Welt ist viel zu anders, als daß man sie ertragen könnte. Und so fliehen sie Hals über Kopf, stürzen in den unterirdischen Gang und kehren schleunigst in die normale Welt zurück. Zivilisation (Fortsetzung): Ein anderer großer Aufeinanderprall von Zivilisationen: die Begegnung von Okzident und Orient. Die Annalen des Chinesischen Reichs berichten (um das Jahr 115 unserer Zeitrechnung) von der Ankunft eines Schiffes wahrscheinlich römischen Ursprungs, das vom Sturm gebeutelt worden war und nach tagelangem Herumtreiben an der chinesischen Küste strandete. Nun, die Passagiere waren Akrobaten und Gaukler, die, kaum auf festem Boden, das Wohlwollen der Bewohner dieses unbekannten Landes gewinnen wollten, indem sie ihnen eine Vorstellung gaben. Die Chinesen sperrten Mund und Augen auf, als sie diese Fremden mit den langen Nasen sahen, die Feuer spien, ihre Gliedmaßen verknoteten, Frösche in Schlangen verwandelten usw. Mit Fug und Recht schlossen sie daraus, daß der Westen mit Clowns und Feuerschluckern bevölkert war. Und es vergingen Jahrhunderte, bis sich die Gelegenheit bot, diesen Irrtum aufzuklären. Edmond Wells Enzyklopädie des absoluten und relativen Wissens Endlich standen sie vor Jonathans Mauer. Wie bildet man vier Dreiecke aus sechs Streichhölzern? Daniel versäumte nicht, ein Foto zu schießen. Augusta tippte das Wort »Pyramide«, und die Mauer glitt langsam zur Seite. Augusta war stolz auf ihren Enkel. Sie gingen hindurch, und bald darauf hörten sie, daß sich die Mauer wieder zurückschob. Jason beleuchtete die Wände; überall Felsen, aber nicht mehr derselbe wie vorhin. Vor der Mauer war er rot, jetzt gelb, schwefelgeädert. Die Luft jedoch blieb erträglich. Sie glaubten sogar einen leichten Luftzug zu spüren. Hatte Professor Leduc recht? Mündete dieser Tunnel in den Wald von Fontainebleau? Plötzlich stießen sie auf eine weitere Horde von Ratten, die viel aggressiver waren als die, denen sie zuvor begegnet waren. Jason verstand, was da vorging, hatte jedoch keine Zeit, es den anderen zu erklären: Sie mußten die Masken wieder aufsetzen und Gas versprühen. Jedesmal, wenn sich die Mauer öffnete, was sicher nicht oft vorgekommen war, wechselten Ratten auf Nahrungssuche aus der »roten« in die »gelbe Zone« über. Aber während die in der roten Zone noch einigermaßen zurechtkamen, hatten die anderen - die Auswanderer - nichts Nahrhaftes gefunden und begonnen, sich gegenseitig aufzufressen. Und Jason und seine Freunde waren nun an die Überlebenden geraten, mit anderen Worten, an die Wildesten. Bei ihnen erwies sich das Tränengas glattweg als unwirksam. Sie griffen an! Sie sprangen hoch, versuchten, sich an die Arme zu krallen. Daniel, am Rande der Hysterie, schoß eine grelle Blitzlichtsalve ab, doch diese grausigen Biester wogen mehrere Kilo und hatten keine Angst vor Menschen. Die ersten Verletzungen waren zu sehen. Jason zog sein Fahrtenmesser, erstach zwei Ratten und warf sie den anderen zum Fraß vor. Augusta feuerte mehrere Schüsse mit einem kleinen Revolver ab ... Auf diese Weise gelang es ihnen, Reißaus zu nehmen. Gerade noch rechtzeitig! als ich klein war: Als ich klein war, blieb ich stundenlang auf der Erde liegen und betrachtete die Ameisenhaufen. Das erschien mir »wirklicher« als das Fernsehen. Zu den Rätseln, die mir ein Ameisenhaufen bot, gehörte jenes: Warum brachten sie nach den Verwüstungen, die ich anrichtete, manche der Verletzten zurück und ließen die anderen sterben? Alle waren von der gleichen Größe ... Nach welchen Auswahlkriterien wurde ein Individuum für interessant erachtet und ein anderes für belanglos? Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens Sie liefen durch den gelbgeäderten Tunnel. Schließlich gelangten sie vor ein Stahlgitter. Eine Öffnung in der Mitte verlieh ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Reuse. Das Ganze bildete einen Kegel, der sich so sehr verengte, daß ein mittelschwerer menschlicher Körper hindurchpaßte, ohne jedoch, aufgrund der Spitzen am Ende des Kegels, wieder umkehren zu können. »Das ist eine neuere Arbeit ...« »Hmm, sieht aus, als wünschten diejenigen, die diese Tür und diesen Trichter angefertigt haben, nicht, daß jemand zurückkehrt .« Augusta erkannte erneut das Werk Jonathans, des Meisters der Türen und Metalle. »Sehen Sie!« Daniel richtete seine Lampe auf eine Inschrift: Hier endet das Bewußtsein Wollen Sie in das Unbewußte zurückkehren? Sie standen mit offenem Mund da. »Was sollen wir tun?« Alle dachten dasselbe. »Jetzt sind wir schon so weit gelangt, da wäre es schade aufzugeben. Ich schlage vor, wir machen weiter!« »Ich gehe als erster«, meinte Daniel und schob seinen Pferdeschwanz in seinen Kragen, damit er nicht hängenblieb. Einer nach dem andern krochen sie durch die stählerne Reuse. »Komisch«, sagte Augusta. »ich hab das Gefühl, als hätte ich eine solche Erfahrung schon einmal gehabt.« »Sie waren schon einmal in einer engen Reuse, die einem die Möglichkeit nimmt, wieder umzukehren?« »Ja. Das ist sehr lange her.« »Was heißt für Sie lange her ...?« »Oh, ich war noch jung, ich glaube, ich war ... ein, zwei Sekunden alt.« Wieder zurück in ihrer Stadt, erzählen die Blattschneiderinnen von ihren Abenteuern auf der anderen Seite der Welt, dem Land der Ungeheuer und unerklärlichen Erscheinungen. Die Schaben, die schwarzen Platten, der gigantische Monolith, der Brunnen, die weißen Kugeln ... Das ist zuviel! Unmöglich, in einer derart grotesken Welt eine Ansiedlung zu gründen. Nr. 103 683 bleibt in einer Ecke, um neue Kraft zu sammeln. Sie überlegt. Wenn ihre Schwestern ihren Bericht vernehmen, werden sie sämtliche Karten ändern und die Grundlagen ihrer Planetologie überdenken müssen. Sie sagt sich, daß es an der Zeit ist, zur Föderation zurückzukehren. Seit der Reuse hatten sie bestimmt gut zehn Kilometer zurückgelegt ... Nun ja, woher sollte man das genau wissen, und außerdem machte sich allmählich die Müdigkeit bemerkbar. Sie kamen zu einem winzigen Bach, der quer durch den Tunnel verlief und dessen Wasser ungewöhnlich warm und schwefelhaltig war. Daniel blieb abrupt stehen. Ihm war, als hätte er Ameisen gesehen, die sich, Flößern gleich, auf einem Blatt von der Strömung treiben ließen! Er nahm sich zusammen; wahrscheinlich die Ausdünstungen des Schwefelstaubs, die ihm »Hirngespinste« einjagten ... Ein paar hundert Meter weiter trat Jason auf einen knackenden Gegenstand. Er richtete seine Lampe darauf. Der Brustkorb eines Skeletts! Er stieß einen gellenden Schrei aus. Daniel und Augusta ließen ihre Taschenlampen umherschweifen und entdeckten zwei weitere Skelette, eines davon hatte die Größe eines Kindes. Konnte es sein, daß das Jonathan und seine Familie waren? Sie machten sich wieder auf den Weg, und schon bald waren sie gezwungen zu rennen: Ein lautes Rascheln verriet, daß sich die Ratten wieder näherten. Das Gelb der Wände schlug in Weiß um. Kalk. Erschöpft gelangten sie endlich ans Ende des Tunnels. An eine Wendeltreppe, die nach oben führte! Augusta feuerte ihre beiden letzten Kugeln auf die Ratten ab, dann stürmten sie die Treppe hinauf. Jason war noch geistesgegenwärtig genug, um zu bemerken, daß sie andersherum gebaut war als die erste, das heißt, daß Auf- und Abstieg jeweils im Uhrzeigersinn verliefen. Die Nachricht erregt Aufsehen. Eine Belokanerin ist in der Stadt aufgekreuzt. Ringsum heißt es nur, das müsse eine Abgesandte der Föderation sein, die gekommen ist, um den offiziellen Anschluß von Chli-pu-kan als fünfundsechzigste Stadt zu verkünden. Chli-pu-ni ist nicht so optimistisch wie ihre Töchter. Sie mißtraut dieser Besucherin. Wenn es nun eine der Kriegerinnen mit dem Felsenduft ist, von Bel-o-kan ausgesandt, um die Stadt der aufrührerischen Königin zu infiltrieren? Wie ist sie? Sie ist vor allem sehr müde! Sie muß von Bel-o-kan aus in einem fort gelaufen sein, um die Strecke in mehreren Tagen zu schaffen. Hirtinnen hätten sie entdeckt, als sie erschöpft durch die Gegend irrte. Sie habe bislang noch nichts geäußert, man habe sie direkt in den Saal der nahrungsspeichernden Ameisen geführt, damit sie wieder zu Kräften komme. Bringt sie her, ich werde allein mit ihr sprechen, aber ich will, daß Wachen am Eingang des königlichen Gemachs bleiben, um auf ein Zeichen von mir einzugreifen. Chli-pu-ni hat sich immer gewünscht. Nachrichten aus ihrer Geburtsstadt zu erhalten, aber jetzt, da eine Repräsentantin von dort auftaucht, geht ihr als erstes durch den Kopf, diese als Spionin zu betrachten und zu töten. Sie will abwarten, bis sie sie vor sich hat, aber wenn die Abgesandte nur das geringste Molekül von Felsengeruch aufweist, wird sie sie ohne Zögern umbringen lassen. Die Belokanerin wird hereingeführt. Kaum erkennen die beiden einander, springen sie mit weitgeöffneten Mandibeln aufeinander zu und nehmen ... eine höchst intensive Trophallaxie vor. Ihre Erregung ist so stark, daß es ihnen nicht sofort gelingt, sich zu äußern. Chli-pu-ni stößt das erste Pheromon aus. Wie weit ist die Untersuchung gediehen? Sind es die Termiten? Nr. 103 683 erzählt, daß sie den Fluß des Ostens überquert und die Termitenstadt besucht hat, daß jene zerstört wurde und es keine Überlebenden gegeben hat. Und? Wer steckt hinter all dem? Die wahren Urheber all dieser unbegreiflichen Ereignisse sind nach Meinung der Kriegerin die Wächter des östlichen Randes der Welt. Äußerst seltsame Tiere, die man weder sieht noch riecht. Sie tauchen urplötzlich am Himmel auf, und alles stirbt! Chli-pu-ni hört aufmerksam zu. Eines jedoch, fügt Nr. 103 683 hinzu, bleibt unerklärlich: Wie haben es die Wächter des Randes der Welt geschafft, die Soldatinnen mit dem Felsengeruch für ihre Zwecke einzuspannen? Chli-pu-ni hat da ihre eigene Vorstellung. Sie erzählt, daß die Soldatinnen mit dem Felsengeruch weder Spioninnen noch Söldnerinnen seien, sondern eine geheime Einheit mit dem Auftrag, das Streßniveau des Staatswesens zu überwachen. Sie unterdrücken jedwede Information, die die Stadt ängstigen könnte ... Sie berichtet, wie diese Killerinnen Nr. 327 ermordet und den Versuch unternommen haben, auch sie selbst zu töten. Und die Nahrungsvorräte unten dem Felsen? Und der Gang in dem Granit? Darauf weiß Chli-pu-ni keine Antwort. Sie hat eben aus diesem Grund Spioninnen ausgesandt, die versuchen werden, dieses doppelte Rätsel zu lösen. Die junge Königin schlägt ihrer Freundin eine Stadtbesichtigung vor. Unterwegs erklärt sie ihr, welch ungeheure Möglichkeiten das Wasser bietet. Der Fluß des Ostens zum Beispiel werde seit jeher als tödlich angesehen, dabei sei das nur Wasser, sie selbst sei hineingefallen und keineswegs daran gestorben. Vielleicht könne man diesen Fluß eines Tages auf Blätterflößen hinabfahren und so den nördlichen Rand der Welt entdecken . Chli-pu-ni gerät ins Schwärmen: Sicher gebe es auch am nördlichen Ende Wächter, und vielleicht könnte man sie dazu anstacheln, gegen die des östlichen Endes zu kämpfen. Nr. 103 683 merkt, daß Chli-pu-ni vor kühnen Projekten strotzt. Nicht alle scheinen realisierbar, aber was bereits in die Tat umgesetzt wurde, ist beeindruckend: Noch nie hat die Soldatin so weite Pilzkulturen oder Stallungen gesehen, noch nie hat sie Flöße gesehen, die auf unterirdischen Kanälen treiben ... Aber am meisten überrascht sie das letzte Pheromon der Königin. Wenn ihre Abgesandten binnen vierzehn Tagen nicht zurück seien, beteuert sie, werde sie Bel-o-kan den Krieg erklären. Sie glaubt, daß ihre Geburtsstadt dieser Welt nicht mehr angepaßt ist. Die bloße Existenz der Kriegerinnen mit dem Felsenduft zeigt, daß Bel-o-kan eine Stadt ist, die sich der Wirklichkeit nicht mehr offen stellt. Eine fröstelnde Stadt, wie eine Schnecke. Einst war sie revolutionär, jetzt ist sie überholt. Sie muß abgelöst werden. Chli-pu-ni ist der Ansicht, daß sich die Föderation rasch entwickeln wird, wenn sie sich an die Spitze setzt. Gemeinsam mit den anderen vierundsechzig Städten müßten ihre Initiativen beträchtliche Ergebnisse zeitigen. Sie gedenkt bereits, die Wasserläufe zu erobern und eine fliegende Legion aufzustellen, die sich der Nashornkäfer bedient. Nr. 103 683 zögert. Sie hatte vor. Bel-o-kan aufzusuchen und dort über ihre Odyssee zu berichten, aber Chli-pu-ni bittet sie, auf ihr Vorhaben zu verzichten. Bel-o-kan hat eine Armee aufgestellt, »um nichts zu erfahren«. Zwinge die Stadt nicht dazu, etwas zu erkennen, was sie nicht erkennen will. Das obere Ende der Wendeltreppe ist durch einige Stufen aus Aluminium verlängert. Die stammen bestimmt nicht aus der Renaissance! Die drei gelangen zu einer weißen Tür. Wieder Und ich kam zu einer Mauer, die aus Kristallen bestand und von Feuerzungen umgeben war. Und das machte mir langsam angst. Dann schritt ich durch die Feuerzungen bis zu einem großen Haus, das aus Kristallen errichtet war. Und die Mauern des Hauses waren wie eine Flut von schachbrettartigen Kristallen, und seine Fundamente waren aus Kristall. Seine Decke war wie die Bahn der Sterne. Und zwischen ihnen waren Feuersymbole. Und der Himmel war klar wie Wasser. (Enoch, I) Sie stoßen die Tür auf, steigen einen sehr steilen Gang hinauf. Plötzlich gibt der Boden unter ihren Füßen nach - eine Falltür! Ihr Fall ist lang, so lang ... daß sie die Angst verlieren, sie haben das Gefühl zu fliegen. Sie fliegen! Ihr Sturz wird von einem Trapezkünstlernetz aufgefangen, ein riesiges Netz mit engen Maschen. Auf allen vieren tasten sie durch die Dunkelheit. Jason Bragel ortet eine weitere Tür -diesmal jedoch nicht mit einem Kode, sondern mit einer schlichten Klinke. Leise ruft er seine Begleiter. Dann öffnet er. greis: In Afrika betrauert man eher den Tod eines alten Mannes als den eines Neugeborenen. Der Greis bedeutete eine Menge von Erfahrungen, von denen der Rest des Stammes profitieren konnte, während das Neugeborene, das nicht gelebt hat, sich seines Todes nicht einmal bewußt ist. In Europa trauert man um das Neugeborene, weil man sich sagt, daß es bestimmt wunderbare Dinge hätte vollbringen können, wenn es gelebt hätte. Dem Tod eines Greises hingegen schenkt man wenig Aufmerksamkeit. Er hat auf jeden Fall sein Leben gelebt. Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens Der Ort ist in ein bläuliches Licht getaucht. Eine Kirche, eine Art Tempel ohne ein einziges Bild, ohne eine einzige Statue. Augusta muß an die Worte von Professor Leduc denken. Bestimmt haben sich die Protestanten früher hierher zurückgezogen, wenn die Verfolgungen zu gnadenlos wurden. Der Saal unter dem steinernen Gewölbe ist quadratisch, geräumig, wunderschön. In der Mitte steht als einziges dekoratives Element eine alte Orgel. Davor ein Notenpult, auf dem ein dicker Aktendeckel liegt. Die Wände sind voller Inschriften, von denen viele, selbst für den Blick eines Laien, eher der Schwarzen als der Weißen Magie nahezustehen scheinen. Leduc hatte recht, die Sekten müssen in diesem unterirdischen Schlupfwinkel einander abgelöst haben. Und früher dürfte es hier keine verschiebbare Wand, keinen Trichter und keine Falltür mit Netz gegeben haben. Sie hören ein Plätschern wie von fließendem Wasser. Die Ursache sehen sie nicht sofort. Das bläuliche Licht kommt von rechts. Dort befindet sich eine Art Laboratorium mit Computern und Reagenzgläsern. Sämtliche Geräte sind eingeschaltet, und die Bildschirme der Computer erzeugen diesen bläulichen Schimmer, der den Tempel erhellt. »Das macht euch stutzig, was?« Sie schauen sich an. Keiner von ihnen hat ein Wort gesagt. Oben an der Decke leuchtet eine Lampe auf. Sie drehen sich um. Jonathan Wells kommt in einem weißen Bademantel auf sie zu. Er ist durch eine Tür hinter dem Laboratorium in den Tempel eingetreten. »Guten Tag. Großmutter Augusta! Guten Tag, Jason Bragel! Guten Tag. Daniel Rosenfeld!« Keiner Antwort fähig, sperren die drei Augen und Ohren auf. Er ist also nicht tot! Er hat hier unten gelebt! Wie kann man hier leben? Sie wissen nicht, was sie zuerst fragen sollen ... »Willkommen in unserer kleinen Gemeinschaft!« »Wo sind wir?« »Ihr seid hier in einer zu Beginn des 17. Jahrhunderts von Androuet Du Cerceau gebauten protestantischen Kirche. Androuet ist durch den Bau des Hotel Sully in der Rue Saint-Antoine in Paris berühmt geworden, aber ich finde, diese unterirdische Kirche ist sein Meisterwerk. Kilometerlange, in den Stein gehauene Tunnel. Ihr habt bemerkt, auf der ganzen Strecke ist genügend Luft zum Atmen. Er muß Luftschächte angebracht haben, oder er hat es verstanden, die Luftansammlungen in den natürlichen Stollen zu nutzen. Wir sind nicht einmal in der Lage, zu verstehen, wie er das angestellt hat. Sicher sind euch auch die Bäche aufgefallen, die einige Abschnitte des Tunnels durchlaufen. Seht mal, einer davon kommt genau hier heraus.« Er deutet auf die Ursache des unentwegten Plätscherns, einen mit Skulpturen verzierten Springbrunnen hinter der Orgel. »Im Laufe der Zeit haben sich viele Leute hierher zurückgezogen, um den Frieden und die Ausgeglichenheit für so manche Dinge zu finden, die ... sagen wir: viel Aufmerksamkeit erforderten. Onkel Edmond hat in einem alten obskuren Schriftstück von der Existenz dieses Schlupfwinkels erfahren, und genau hier hat er gearbeitet.« Jonathan tritt noch näher; eine seltene Sanftmut und Unbekümmertheit gehen von ihm aus. Augusta ist völlig baff. »Aber ihr seid sicher erschöpft. Folgt mir.« Er stößt die Tür auf, durch die er erschienen ist, und führt sie in einen Raum, in dem mehrere Liegesofas kreisförmig angeordnet sind. »Lucie«, ruft er, »wir haben Besuch!« »Lucie? Ist sie auch hier?« ruft Augusta erfreut aus. »Hmm, wie viele seid ihr denn hier?« fragt Daniel. »Bislang waren wir achtzehn: Lucie, Nicolas, die acht Feuerwehrleute, der Inspektor, die fünf Gendarmen, der Kommissar und ich. Kurzum, sämtliche Leute, die sich die Mühe gemacht haben, hinabzusteigen. Ihr werdet sie bald sehen. Entschuldigt, aber für unsere Gemeinschaft ist es jetzt vier Uhr morgens, und da schlafen alle. Ich bin der einzige, der von eurer Ankunft geweckt wurde. Was habt ihr nur für einen Radau in den Gängen veranstaltet, sagt mal ...« Lucie erscheint, ebenfalls in einen Bademantel gehüllt. »Guten Tag!« Sie tritt lächelnd näher und küßt sie alle drei. Hinter ihr schieben Gestalten im Pyjama den Kopf durch die Öffnung einer Tür, um die »Neuankömmlinge« zu betrachten. Jonathan holt Gläser und eine große Karaffe, die er mit dem Wasser aus dem Brunnen füllt. »Wir lassen euch einen Moment allein, um uns anzuziehen und alles vorzubereiten. Wir empfangen nämlich alle Neuen mit einer kleinen Feier, aber daß ihr mitten in der Nacht auftauchen würdet, wußten wir nicht ... Bis gleich!« Augusta, Jason und Daniel rühren sich nicht. Das Ganze ist einfach unglaublich. Daniel kneift sich plötzlich in den Unterarm. Augusta und Jason finden diese Idee ausgezeichnet und machen es ihm nach. Aber nein, die Wirklichkeit übertrifft den Traum manchmal um Längen. Köstlich verwirrt, schauen sie sich an und beginnen zu lächeln. Einige Minuten später sind alle versammelt. Sie sitzen auf den Sofas. Augusta, Jason und Daniel haben inzwischen ihre Fassung wiedergewonnen und sind jetzt vor allem neugierig. »Ihr habt vorhin von Luftschächten gesprochen. Sind wir hier tief unter der Erde?« »Nein, höchstens drei, vier Meter.« »Dann können wir also von hier aus wieder ins Freie gelangen?« »Nein, nein. Jean Androuet Du Cerceau hat seine Kirche genau unter einem flachen Felsen von absoluter Härte gebaut -unter einem Granitblock!« »Der jedoch ein Loch von der Größe eines Arms hat«, ergänzt Lucie. »Diese Öffnung diente ebenfalls zur Ventilation.« »Diente?« »Ja, jetzt wird dieser Durchbruch zu anderen Zwecken genutzt. Das ist nicht weiter schlimm, es gibt andere, seitliche Luftschächte. Ihr merkt, man erstickt hier keineswegs ...« »Man kommt also nicht heraus?« »Nein. Jedenfalls nicht nach oben.« Jason wirkt ziemlich besorgt. »Aber Jonathan, weshalb hast du dann diese Mauer, diese Reuse, diese Falltür, dieses Netz angebracht . ? Wir sitzen hier ja vollkommen fest!« »Eben, das ist so beabsichtigt. Das hat mich einiges an Zeit und Aufwand gekostet. Aber es war unumgänglich. Als ich zum erstenmal in diese Kirche kam, habe ich dieses Notenpult entdeckt. Außer der Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens fand ich darauf einen Brief meines Onkels an mich. Hier ist er.« Lieber Jonathan, Du hast dich trotz meiner Warnungen entschlossen, in den Keller hinabzusteigen. Du bist also mutiger, als ich dachte. Bravo. Die Aussicht, daß du es schaffen würdest, war meines Erachtens nicht größer als eins zu fünf. Deine Mutter hat mir von deiner krankhaften Angst vor der Dunkelheit erzählt. Wenn du jetzt hier bist, dann heißt das, daß es dir (unter anderem) gelungen ist, dieses Hindernis zu überwinden, und daß deine Willenskraft stärker geworden ist. Wir werden sie brauchen. Du findest in diesem Aktendeckel die Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, die an dem Tag, da ich diese Worte schreibe, genau 288 Kapital umfaßt, in denen von meiner Arbeit die Rede ist. Ich möchte, daß du sie fortführst, es lohnt sich. Den Schwerpunkt dieser Forschungen bildet die Ameisenzivilisation. Nun, du wirst es lesen und wirst es verstehen. Aber vorab habe ich eine sehr wichtige Bitte an dich. Daß du jetzt diesen Brief liest, bedeutet auch, daß ich keine Zeit hatte. Vorrichtungen anzubringen, um mein Geheimnis zu schützen (wäre ich dazu gekommen, hättest du einen anderen Brief vorgefunden). Ich bitte dich, sie zu konstruieren. Ich habe bereits ein paar Skizzen angefertigt, aber ich denke, du wirst diese Anregungen aufgrund deiner eigenen Kenntnisse verbessern können. Das Ziel dieser Vorrichtungen ist einfach. Es geht darum, daß man einerseits nicht so leicht in meine Höhle vordringen kann, andererseits jedoch diejenigen, denen es gelingt, nie wieder zurückkehren, um zu erzählen, was sie entdeckt haben. Ich hoffe, du bringst das zustande, und ich hoffe auch, daß dir dieser Ort den gleichen »Reichtum« verschaffen wird, den er mir gegeben hat. Edmond »Jonathan hat sich darauf eingelassen«, erklärt Lucie. »Er hat sämtliche Fallen gebaut, die Edmond geplant hat, und Sie haben feststellen können, daß sie zuschnappen.« »Und die Leichen? Sind das Leute, die sich von den Ratten haben erwischen lassen?« »Nein.« Jonathan lächelt. »Ich kann euch versichern, daß es in diesen unterirdischen Gängen keine Toten mehr gegeben hat, seit sich Edmond hier niedergelassen hat. Die Leichen, die ihr gesehen habt, liegen mindestens fünfzig Jahre dort. Wer weiß, welche Dramen sich früher hier abgespielt haben. Irgendeine Sekte ...« »Dann kommen wir hier also nie mehr raus?« erkundigte sich Jason beunruhigt. »Nie mehr.« »Man müßte das Loch oberhalb des Netzes erreichen (in acht Meter Höhe!), die Reuse in umgekehrter Richtung passieren, was unmöglich ist (und irgendwelches Gerät, um sie einzuschmelzen, haben wir nicht), zudem die Mauer überwinden, wobei Jonathan auf dieser Seite keinerlei Vorrichtung angebracht hat, sie zu öffnen ...« »Von den Ratten ganz zu schweigen .« »Wie hast du es geschafft, da unten Ratten anzusiedeln?« fragte Daniel. »Das war Edmonds Idee. Er hat ein besonders dickes und aggressives Paar rattus norvegicus in einem Felsspalt ausgesetzt und einen großen Nahrungsvorrat hinterlassen. Er wußte, daß das eine Zeitbombe war. Ratten vermehren sich, wenn sie wohlgenährt sind, mit rasender Geschwindigkeit. Sechs Junge pro Monat, die ihrerseits nach zwei Wochen zeugungsfähig sind ... Um sich vor ihnen zu schützen, benutzte er ein Spray mit einem aggressiven Pheromon, das diese Nager abschreckt.« »Dann haben also die Ratten Ouarzazate getötet?« fragte Augusta. »Ja, leider. Und Jonathan hatte nicht vorausgesehen, daß die Ratten, die auf die andere Seite der >Pyramiden-Mauer< gelangen, noch wilder wurden.« »Ein Kollege von uns, der schon immer eine fürchterliche Angst vor Ratten hatte, ist völlig ausgerastet, als ihm eines dieser dicken Viecher ins Gesicht sprang und ihm ein Stück von der Nase abgebissen hat. Er ist auf der Stelle zurückgelaufen, noch ehe die Mauer wieder zuging. Haben Sie oben etwas von ihm gehört?« »Ich habe munkeln hören, er sei verrückt geworden und sitze inzwischen in einer geschlossenen Anstalt«, antwortete Augusta, »aber das sind Gerüchte.« Sie steht auf, um sich ein Glas Wasser zu holen, bemerkt jedoch, daß der Tisch voller Ameisen ist. Sie stößt einen Schrei aus und fegt sie unwillkürlich mit dem Handrücken zur Seite. Jonathan springt auf und packt sie am Handgelenk. Sein harter Blick paßt nicht zu der ausgeprägten Heiterkeit, die bislang in der Gruppe geherrscht hat; und das nervöse Zucken seines Mundes, das geheilt schien, ist wieder da. »Mach das ... nie ... wieder!« Belo-kiu-kiuni ist allein in ihrer Loge. Geistesabwesend verschlingt sie einige ihrer Eier, ihr Lieblingsessen. Sie weiß, daß diese sogenannte Nr. 801 keine Botschafterin der neuen Stadt ist. Nr. 56, oder auch Königin Chli-pu-ni, wie sie sich jetzt nennt, hat sie ausgesandt, um weitere Nachforschungen anzustellen. Sie braucht sich keine Sorgen zu machen, ihre Kriegerinnen mit dem Felsenduft dürften problemlos mit ihr fertigwerden. Die Hinkende vor allem ist ungemein begabt darin, andere von der Last des Lebens zu erlösen - eine wahre Künstlerin! Dennoch, das ist schon das vierte Mal, daß ihr Chli-pu-ni Abgesandte schickt, die ein wenig neugierig sind. Die ersten wurden getötet, noch bevor sie den Saal mit der Droge fanden. Die zweite und die dritte Gruppe sind den Halluzinationen hervorrufenden Substanzen des vergifteten Koleopters zum Opfer gefallen. Diese Nr. 801 nun ist offenbar unmittelbar nach ihrer Unterredung mit ihr, der Königin, hinabgestiegen. Wahrhaftig, sie haben es immer eiliger, zu sterben! Andererseits dringen sie mit jedem Mal tiefer in die Stadt ein. Und wenn eine von ihnen trotz allem den Weg findet? Wenn sie das Geheimnis entdeckt? Und womöglich den Duft davon verbreitet .? Eine der Kriegerinnen mit dem Felsengeruch stürmt hinein. Die Spionin hat es geschafft, an der Droge vorbeizukommen! Sie ist unten! Nun denn, das mußte ja so kommen . 666 ist der Name des Tieres (Die Offenbarung des Johannes). Aber wer ist für wen das Tier? Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens Jonathan läßt das Handgelenk seiner Großmutter los. Damit keine Verlegenheit aufkommt, schlägt Daniel ein anderes Thema an. »Und dieses Labor am Eingang, wozu dient das?« »Das ist der Stein des Weisen! All unsere Anstrengungen dienen nur dem einen Ziel: mit ihnen in Verbindung zu stehen!« »Mit ihnen .? Mit wem?« »Mit ihnen: den Ameisen. Folgt mir.« Sie verlassen den Raum in Richtung Laboratorium. Jonathan, der sich in seiner Rolle als Nachfolger Edmonds sichtlich wohl fühlt, nimmt ein mit Ameisen gefülltes Reagenzglas vom Labortisch und hält es in Augenhöhe. »Schaut her, das sind Geschöpfe. Und zwar vollwertige Geschöpfe, keine kleinen, unbedeutenden Insekten. Und das, das hat mein Onkel sofort begriffen ... Die Ameisen bilden die zweite große Zivilisation auf der Erde. Und Edmond ist eine Art Kolumbus, der zwischen unseren Zehen einen anderen Kontinent entdeckt hat. Er hat als erster erfaßt, daß man, bevor man außerirdische Wesen in den letzten Winkeln des Weltalls sucht, erst einmal Kontakt mit den ... innerirdischen aufnehmen sollte.« Niemand sagt einen Ton. Augusta erinnert sich. Eines Tages. Jonathan war noch gar nicht auf der Welt, ist sie durch den Wald von Fontainebleau spaziert, und plötzlich hat sie gespürt, wie unter ihren Sohlen Scharen von winzig kleinen Tierchen knackten. Sie war auf eine Gruppe von Ameisen getreten. Sie hatte sich hinabgebeugt. Sie waren allesamt tot, aber eines blieb rätselhaft. Sie hatten sich so ausgerichtet, daß sie einen Pfeil mit nach innen gekehrter Spitze bildeten ... Jonathan hat das Reagenzglas abgestellt. Er nimmt seine Rede wieder auf: »Nach seiner Rückkehr aus Afrika hat Edmond dieses Gebäude, den Keller, schließlich die Kirche entdeckt. Das war der ideale Ort, hier hat er sein Labor eingerichtet ... Der erste Schritt seiner Forschungen bestand darin, die Pheromonensprache der Ameisen zu entschlüsseln. Diese Maschine hier ist ein Massenspektrometer. Wie der Name sagt, zeigt es ein Spektrum einer Masse, es zerlegt jede Materie, indem es die Atome aufzählt, aus denen sie zusammengesetzt ist ... Ich habe die Aufzeichnungen meines Onkels gelesen. Am Anfang setzte er seine Versuchstierchen unter eine Glasglocke, die über ein Saugrohr mit dem Massenspektrometer verbunden war. Dann brachte er eine Ameise mit einem Stück Apfel in Berührung, diese traf eine andere Ameise und teilte ihr unweigerlich mit >Da drüben gibt es Apfelc. Nun ja, das war die Ausgangshypothese. Er saugte die ausgeschiedenen Pheromone an, entschlüsselte sie und gelangte zu einer chemischen Formel ... >Im Norden gibt es Apfel< heißt zum Beispiel:    >Methyl Methylpyrrol Carboxylatc. Die Mengen sind verschwindend gering, in der Größenordnung von 2 bis 3 Pikogramm (10-12 g) pro Satz ... Aber das reichte. Auf diese Weise wußte er >Apfel< und >im Norden< zu sagen. Er setzte das Experiment mit einer Vielzahl von Gegenständen, Lebensmitteln oder Situationen fort. So erhielt er ein richtiges Wörterbuch der Ameisensprache. Nachdem er zunächst nur den Namen von gut hundert Früchten, rund dreißig Blumen und einem Dutzend Richtungsangaben erkannt hatte, schaffte er es schließlich, die Pheromone für Alarm, Freude, Vorschlag, Beschreibung und so weiter herauszufinden, und er ist sogar fortpflanzungsfähigen Ameisen begegnet, die ihm beigebracht haben, wie man die >abstrakten Emotionen< des siebten Antennensegments ausdrückt ... Ihnen nur >zuzuhören< reichte jedoch nicht. Er wollte mit ihnen reden, einen richtigen Dialog aufnehmen.« »Sagenhaft!« entfuhr es Professor Daniel Rosenfeld. »Er hat angefangen, für jede chemische Formel eine bestimmte akustische Entsprechung in Form von Silben zu finden. Methyl Methylpyrrol Carboxylat hieß beispielsweise MT MTP CX, dann Miticamitipidicixu. Schließlich hat er in den Speicher des Computers eingegeben: Miticamitipi = Apfel; und: dicixu = befindet sich im Norden. Der Computer übersetzt in beide Richtungen. Wenn er >dicixu< erkennt, übersetzt er es zu >befindet sich im Norden<. Und wenn man >befindet sich im Norden< eintippt, formt er diesen Satz in >dicixu< um, was einen Ausstoß von Carbolyxat durch eine Art Sprechgerät auslöst ...« »Ein Sprechgerät?« »Ja, dieser Apparat hier.« Er deutete auf eine Art Vitrine, die sich aus Tausenden von kleinen Phiolen zusammensetzte, die jeweils in einem kleinen Röhrchen endeten, das wiederum an eine elektrische Pumpe angeschlossen war. »Die in den Phiolen enthaltenen Atome werden von dieser Pumpe angesaugt, dann in diesen Apparat befördert, der sie sichtet und genau nach der von dem elektronischen Wörterbuch angegebenen Dosierung sortiert.« »Sagenhaft«, wiederholt Daniel    Rosenfeld, »einfach sagenhaft. Ist es ihm wirklich gelungen, Kontakt aufzunehmen?« »Hmm ... Ich glaube, da lese ich Ihnen am besten seine Aufzeichnungen in der Enzyklopädie vor.« gesprächsfetzen: Auszug der ersten Unterhaltung mit einer formica ruf a vom Typ Kriegerin. Mensch:Empfangen Sie mich? Mensch:Ich sende, empfangen Sie mich? Ameise:krrrnrrrkrrrkrrrnkrrr. Hilfe. (Anm.: Die Dosierung wurde mehrfach geändert. Vor allem war der Ausstoß viel zu stark, er hat das Versuchsobjekt erstickt. Der Emissionsschalter muß auf 1 gestellt werden. Der Schalter für den Empfang hingegen muß auf 10 hochgedreht werden, damit kein Molekül verlorengeht.) Mensch:Empfangen Sie mich? Ameise:Bugu. Mensch:Ich sende, empfangen Sie mich? Ameise:Sgugnu. Hilfe. Ich bin eingeschlossen. Auszug der dritten Unterhaltung. (Anm.: Das Vokabular ist diesmal auf achtzig Wörter ausgedehnt worden. Der Ausstoß war immer noch zu stark. Neue Einstellung, der Knopf muß fast auf Null gestellt werden.) Ameise:Was? Mensch:Was sagen Sie? Ameise:Ich verstehe nichts. Hilfe! Mensch:Reden wir langsamer! Ameise:Sie senden zu stark! Meine Antennen sind übersättigt. Hilfe! Ich bin eingeschlossen. Mensch:Und jetzt, geht es so? Ameise:Nein, wissen Sie denn nicht, wie man sich unterhält? Mensch:Na ja ... Ameise:Wer sind Sie? Mensch:Ich bin ein großes Tier. Ich heiße ED-MOND. Ameise:Was sagen Sie? Ich verstehe nichts. Hilfe! Zu Hilfe! Ich bin eingeschlossen .! (Anm.: Fünf Sekunden nach diesem Dialog ist das Versuchsobjekt gestorben. War der Ausstoß immer noch zu stark? Hatte es Angst?) Jonathan unterbricht seine Lektüre. »Ihr seht, das ist gar nicht so einfach! Es reicht nicht. Vokabeln zu sammeln, um mit ihnen zu reden. Außerdem funktioniert die Ameisensprache nicht so wie unsere. Es werden nicht nur die eigentlichen Gesprächsemissionen wahrgenommen, sondern auch die Emissionen, die von den anderen elf Antennensegmenten ausgehen. Jene geben die Identität des Individuums an, seine Sorgen, seine Psyche . So etwas wie ein Gesamtbild der geistigen Verfassung, das für das interindividuelle Verständnis unerläßlich ist. Deshalb hat Edmond aufgeben müssen. Ich lese euch seine Notizen vor. WAS BIN ICH DUMM: Was bin ich dumm! Selbst wenn es Außerirdische gibt, wären wir nicht in der Lage, sie zu verstehen. Unsere Zeichen wären mit Sicherheit nicht identisch. Wir würden auf sie zugehen und ihnen die Hand reichen, was für sie vielleicht eine Drohgebärde wäre. Wir vermögen nicht einmal die Japaner mit ihrem rituellen Selbstmord zu verstehen oder die Inder mit ihren Kasten. Wir schaffen es nicht einmal, uns unter Menschen zu verständigen ... Wie konnte ich mir nur einbilden, die Ameisen zu verstehen! Der Hinterleib von Nr. 801 ist nur noch ein Stumpf. Auch wenn es ihr rechtzeitig gelungen ist, den Drogenkäfer zu töten: der Kampf gegen die Kriegerinnen mit dem Felsenduft hat sie verdammt schrumpfen lassen. Was soll’s, um so besser: Ohne Hinterleib ist sie leichter. Sie biegt in den breiten Gang ein, der sich durch das Granit zieht. Wie haben Mandibeln einen solchen Tunnel schaffen können? Weiter unten entdeckt sie, was ihr Chli-pu-ni geschildert hat: einen Saal mit Unmengen von Nahrungsmitteln. Kaum hat sie einige Schritte durch diesen Saal getan, findet sie einen anderen Ausgang. Sie geht hindurch und befindet sich auf einmal in einer Stadt, einer ganzen Stadt mit Felsengeruch! Eine Stadt unter der Stadt. »Er ist also gescheitert?« »Er hatte in der Tat lange an diesem Fehlschlag zu knabbern. Er dachte, es gebe keinen Ausweg, seine Ethnozentrik habe ihn verblendet. Doch dann haben ihn die Scherereien, die er mit anderen hatte, zur Räson gerufen. Auslöser war sein alter Menschenhaß gewesen.« »Was ist passiert?« »Sie erinnern sich, Professor. Sie selbst haben mir einmal gesagt, daß er für eine Gesellschaft gearbeitet hat, die sich > Sweetmilk Corporation< nennt, und daß er dort mit seinen Kollegen aneinandergeraten ist.« »In der Tat!« »Einer seiner Vorgesetzten hatte sein Büro durchsucht. Und dieser Vorgesetzte war niemand anders als Marc Leduc, der Bruder von Professor Laurent Leduc!« »Dem Insektenforscher?« »Höchstpersönlich.« »Das ist unglaublich ... Er ist bei mir vorbeigekommen, hat sich als Edmonds Freund ausgegeben und ist in den Keller hinabgestiegen.« »Er war in dem Keller?« »Ja, aber mach dir keine Sorgen, er ist nicht weit gekommen. Er hat das Kodewort für die Mauer nicht gefunden, daraufhin ist er umgekehrt.« »Hm, er hat auch bei Nicolas vorbeigeschaut, um die Enzyklopädie an sich zu bringen. Na schön ... Marc Leduc war nämlich aufgefallen, daß Edmond wie besessen an dem Entwurf einer Maschine arbeitete. Es ist ihm gelungen, Edmonds Büroschrank zu öffnen, und dabei ist ihm ein Aktendeckel, die Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, in die Hände gefallen. Als er den Sinn dieses Apparats erfaßt hat - und es gab genug Anmerkungen, um den Sinn zu begreifen -, hat er seinem Bruder davon erzählt. Der hat sich natürlich sehr dafür interessiert und hat ihn sogleich gebeten, die Dokumente zu stehlen ... Aber Edmond hatte bemerkt, daß man seine Sachen durchwühlt hatte, und um sie vor weiteren Zugriffen zu schützen, hat er vier Schlupfwespen in der Schublade plaziert. Als sich Marc Leduc dann wieder ans Werk gemacht hat, ist er von diesen Insekten gestochen worden, die zudem die unangenehme Eigenschaft haben, ihre gefräßigen Larven in dem Körper zurückzulassen, in den sie ihren Stachel geschlagen haben. Am nächsten Tag hat Edmond die Spuren der Stiche entdeckt und den Schuldigen öffentlich entlarven wollen. Die Fortsetzung kennen Sie, er selbst ist gefeuert worden.« »Und die Brüder Leduc?« »Marc Leduc hat seine Strafe bekommen! Die Wespenlarven haben ihn von innen zerfressen. Das hat sehr lange gedauert, mehrere Jahre, wie es scheint. Da die Larven nicht aus diesem riesigen Körper entweichen konnten, um sich in Wespen zu verwandeln, haben sie sich auf der Suche nach einem Ausgang kreuz und quer gegraben. Am Ende waren die Schmerzen so unerträglich, daß er sich vor einen U-Bahn-Zug geworfen hat. Das habe ich zufällig in der Zeitung gelesen.« »Und Laurent Leduc?« »Er hat alles versucht, um an den Apparat zu gelangen.« »Sie sagten, Edmond habe darüber wieder Lust bekommen, seine Arbeit fortzusetzen. Welcher Zusammenhang besteht zwischen diesen alten Geschichten und seinen Forschungen?« »In der Folge hat sich Laurent Leduc direkt an Edmond gewandt. Er hat ihm gestanden, daß er über seine >Maschine, die mit den Ameisen redet< im Bilde sei. Er gab vor, er sei daran interessiert, mit ihm zusammenzuarbeiten. Edmond stand einem solchen Vorschlag nicht unbedingt ablehnend gegenüber, er selbst kam ja nicht so recht vom Fleck, und so überlegte er, ob ihm fremde Hilfe nicht willkommen war. >Es kommt die Zeit, da kann man allein nicht weiter<, heißt es in der Bibel. Edmond war bereit, Leduc in seinen Schlupfwinkel zu führen, aber erst wollte er ihn besser kennenlernen. Als Laurent dann anfing, die Ordnung und die Disziplin der Ameisen zu rühmen, und hervorhob, daß ein Dialog mit ihnen es dem Menschen bestimmt ermöglichen würde, sie zu imitieren, hat Edmond rot gesehen. Er hat einen Anfall bekommen und Leduc aufgefordert, sich nie wieder bei ihm blicken zu lassen.« »Puuuh, das wundert mich nicht«, seufzt Daniel. »Leduc gehört zu einer Sippe von Insektenforschern, einer der schlimmsten innerhalb der deutschen Schule, die die Menschheit dadurch ändern will, daß man in gewisser Hinsicht die Lebensweise der Tiere imitiert. Der Sinn für das eigene Territorium, die Disziplin der Ameisen ... da gerät man schnell ins Schwärmen.« »Und so hatte Edmond einen Vorwand, um sich wieder ans Werk zu machen. Er würde den Dialog mit den Ameisen aus einer ... politischen Sicht aufnehmen. Er glaubte, daß sie einem anarchistischen System gemäß lebten, und wollte sich dies von ihnen bestätigen lassen.« »Natürlich!« murmelte Bilsheim. »Das war eine große Herausforderung. Mein Onkel hat lange nachgedacht, dann kam er zu dem Schluß, das beste Mittel, mit ihnen in Verbindung zu treten, sei, einen >Ameisenroboter< zu konstruieren.« Jonathan schwenkte einen Stoß von Blättern voller Zeichnungen. »Das sind die Pläne dazu. Edmond hat ihn >Doktor Livingstonec getauft. Er ist aus Plastik. Ich brauche nicht zu betonen, welche Uhrmacherkunst die Anfertigung dieses kleinen Meisterwerks erforderte! Nicht nur, daß sämtliche Gelenke originalgetreu nachgebaut sind und von mikroskopisch kleinen Elektromotoren bewegt werden, die an eine Batterie im Hinterleib angeschlossen sind, auch die Antenne besteht tatsächlich aus elf Segmenten, die in der Lage sind, gleichzeitig elf verschiedene Pheromone auszustoßen .! Der einzige Unterschied zwischen Doktor Livingstone und einer echten Ameise: er ist mit elf feinen Schläuchen von der Größe eines Haares verbunden, die wiederum in einer Art Nabelschnur von der Größe eines Bindfadens zusammenlaufen.« »Großartig! Einfach großartig!« ruft Jason hingerissen. »Aber wo ist dieser Doktor Livingstone?« fragt Augusta. Eine Horde von Kriegerinnen mit dem Felsenduft verfolgt sie. Nr. 801 nimmt Reißaus. Plötzlich entdeckt sie einen sehr breiten Gang und stürzt darauf zu. Sie kommt in einen riesigen Saal, in dem eine merkwürdige Ameise von weit überdurchschnittlicher Größe zu sehen ist. Nr. 801 nähert sich ihr vorsichtig. Die Düfte dieser sonderbaren Ameise stimmen nur zur Hälfte. Ihre Augen leuchten nicht, ihre Haut wirkt wie mit einer schwarzen Tinktur gefärbt ... Die junge Chlipukanerin würde gern wissen, was das bedeutet. Wie kann man so wenig Ameise sein? Aber schon haben die Soldatinnen sie aufgestöbert. Die Hinkende tritt allein vor, um sie zum Duell zu fordern. Sie springt ihr an die Antennen und verbeißt sich darin. Die beiden wälzen sich über den Boden. Nr. 801 erinnert sich des Ratschlags ihrer Mutter: Achte darauf, wo dein Gegner mit Vorliebe zuschlägt, das ist oft sein eigener schwacher Punkt ... Und in der Tat, kaum bekommt sie die Antennen der Hinkenden zu fassen, windet sich diese wie von Sinnen. Die Ärmste, sie muß hypersensible Antennen haben! Nr. 801 hackt sie ihr jäh ab, und es gelingt ihr, zu fliehen. Aber jetzt hat sie eine Meute von über fünfzig Killerinnen auf den Fersen. »Ihr wollt wissen, wo sich Doktor Livingstone aufhält? Schaut euch die Leitungen an, die von dem Massenspektrometer ausgehen .« Tatsächlich erkennen sie eine Art durchsichtige Röhre, die dem Labortisch entlang zur Wand verläuft, von dort zur Decke steigt und schließlich in einer Holzkiste mündet, die in der Mitte der Kirche hängt, hoch über der Orgel. Diese Kiste ist wahrscheinlich mit Erde gefüllt. Die Neuankömmlinge renken sich den Hals aus, um sie genauer in Augenschein zu nehmen. »Ihr habt doch gesagt, über unseren Köpfen sei ein unzerstörbarer Felsen«, bemerkt Augusta. »Ja, aber ich habe auch gesagt, daß es einen Luftschacht gibt, den wir nicht mehr benutzen ...« »Und daß wir ihn nicht mehr benutzen«, ergänzt Inspektor Galin, »liegt nicht daran, daß wir ihn verstopft haben!« »Wenn ihr es nicht wart ...« ». dann, weil sie es waren!« »Die Ameisen?« »Richtig! Über dieser Felsenplatte befindet sich ein gegantische Stadt, die von roten Waldameisen errichtet worden ist, ihr wißt schon, das sind diese Insekten, die diese großen Haufen aus kleinen Zweigen in den Wäldern bauen ...« »Nach Edmonds Schätzungen sind es über zehn Millionen!« »Zehn Millionen? Die könnten uns ja allesamt umbringen!« »Nein, keine Bange, wir haben nichts zu befürchten. Zum einen reden sie mit uns und kennen uns. Zum anderen wissen nicht alle Ameisen der Stadt von unserer Existenz.« Während Jonathan noch spricht, fällt eine Ameise aus der Kiste an der Decke und landet auf Lucies Stirn. Lucie versucht sie aufzulesen, aber Nr. 801 gerät in Panik und irrt durch ihren roten Haarschopf, krabbelt über ihr Ohrläppchen, stürzt den Nacken hinab in ihre Bluse, umkurvt den Bauchnabel, huscht über die weiche Haut der Oberschenkel, fällt auf den Knöchel und springt von dort auf den Boden. Einen Moment lang sucht sie die Orientierung ... dann rennt sie auf einen der seitlichen Luftschächte zu. »Was hat sie?« »Wer weiß. Jedenfalls hat sie die frische Luft des Schachts angezogen, sie dürfte keine Probleme haben, hinauszufinden.« »Aber da findet sie doch ihre Stadt nicht wieder, sie wird weit im Osten der Föderation landen, oder nicht?« Die Spionin ist entflohen! Wenn das so weitergeht, müssen wir die sogenannte fünfundsechzigste Stadt angreifen ... Die Soldatinnen mit dem Felsenduft haben mit gesenkten Antennen Bericht erstattet. Nachdem sie sich zurückgezogen haben, sinnt Belo-kiu-kiuni eine Weile über diesen schweren Fehlschlag ihrer Geheimhaltungspolitik nach. Müde, sehr müde, denkt sie zurück, wie alles angefangen hat. Als sie noch ganz jung war, ist auch sie mit einem dieser grauenhaften Phänomene konfrontiert worden, welche die Existenz riesiger Wesen vermuten lassen. Das war kurz nach ihrer Schwarmzeit; sie hat gesehen, wie eine große schwarze Platte mehrere fruchtbare Königinnen zerquetscht hat, ohne sie überhaupt verspeisen zu wollen. Später, nachdem sie ihre Stadt gegründet hat, war es ihr gelungen, eine Versammlung zu diesem Thema zu organisieren, bei der die meisten Königinnen - Mütter und Töchter - zugegen waren. Sie erinnert sich. Als erste hat Zubi-zubi-kan geredet. Sie hat erzählt, daß mehrere ihrer Expeditionen einem Regen von rosaroten Kugeln ausgesetzt gewesen seien, der über hundert Todesopfer gefordert habe. Die anderen Schwestern hatten sie überboten. Jede hatte ihre Liste von Toten und Versehrten aufgestellt, die den rosaroten Kugeln und den schwarzen Platten zum Opfer gefallen waren. Cholb-gahi-ni, eine alte Mutter, hat bemerkt, daß Zeugenaussagen zufolge die rosaroten Kugeln sich anscheinend nur in Fünfertrupps bewegten. Eine andere Schwester, Rubg-fayli-ni, hatte eine reglose rosarote Kugel ungefähr dreihundert Kopf unter der Erde gefunden. Die Kugel sei von einer weichen Substanz mit einem sehr starken Geruch umschlossen gewesen. Man habe sie mit den Mandibeln angebohrt und sei schließlich auf harte weiße Stengel gestoßen ... So als hätten diese Tiere ihre Panzer nicht außen, sondern in ihrem Innern. Am Ende der Versammlung waren die Königinnen übereingekommen, daß derlei Erscheinungen jegliches Verständnis überstiegen, und sie hatten beschlossen, absolutes Stillschweigen zu bewahren, um keine Panik in den Ameisenstädten aufkommen zu lassen. Sie selbst. Belo-kiu-kiuni, hat schon bald ihre eigene »Geheimpolizei« aufgestellt, eine Arbeitsgruppe, die damals fünfzigtausend Soldatinnen umfaßte. Ihre Aufgabe: sämtliche Zeugen der beiden Phänomene der rosaroten Kugeln und der schwarzen Platten eliminieren, um keine Panik in der Stadt aufkommen zu lassen. Eines Tages jedoch hatte sich etwas Unglaubliches ereignet. Eine Arbeiterin aus einer unbekannten Stadt war von den Kriegerinnen mit dem Felsenduft festgenommen worden. Belo-kiu-kiuni hatte sie schonend behandelt, denn was diese Arbeiterin erzählte, war noch ungewöhnlicher als alles, was man jemals gehört hatte. Sie behauptete, von den rosaroten Kugeln entführt worden zu sein! Diese hätten sie, zusammen mit ein paar hundert anderen Ameisen, in ein durchsichtiges Gefängnis geworfen. Dort habe man alle möglichen Experimente mit ihnen vorgenommen. Am häufigsten habe man sie unter eine Glocke gesteckt, wo sie sehr konzentrierten Düften ausgesetzt waren. Anfangs sei das sehr schmerzhaft gewesen, dann seien die Düfte nach und nach schwächer geworden, und am Ende hätten sie sich in Worte verwandelt! Zu guter Letzt hätten die rosaroten Kugeln durch die Vermittlung dieser Gerüche und Glocken mit ihnen geredet und sich als riesige Tiere vorgestellt, die sich selbst »Menschen« nannten. Sie hätten erklärt, daß es in dem Granit unterhalb der Stadt einen Durchbruch gebe und daß sie mit der Königin reden wollten. Sie könne sicher sein, daß ihr nichts zustoßen werde. Danach war alles sehr schnell gegangen. Belo-kiu-kiuni hatte die »Ameisenbotschafterin« getroffen, Dok-tor Li-ving-stone, eine seltsame Ameise mit einem durchsichtigen Darmfortsatz. Aber man konnte mit ihr reden. Sie hatten sich lange unterhalten. Am Anfang hatten sie einander überhaupt nicht verstanden. Aber beide waren von der gleichen Begeisterung erfüllt. Und hatten sich offenbar so vieles zu sagen ... In der Folge hatten die Menschen die mit Erde gefüllte Kiste am Ausgang des Schachts angebracht. Und Belo-kiu-kiuni hatte diese neue Stadt mit Eiern versehen. Insgeheim, ohne daß ihre anderen Kinder davon erfahren hatten. Aber Bel-o-kan 2 war mehr als die Stadt der Kriegerinnen mit dem Felsenduft. Sie war die Verbindung zwischen der Welt der Ameisen und der Welt der Menschen. Sie war der ständige Aufenthaltsort von Dok-tor Li-ving-stone (ein ziemlich lächerlicher Name, wenn man es sich überlegt). Gespräch (Auszüge): Auszüge aus dem achtzehnten Gespräch mit der Königin Belo-kiu-kiuni: Ameise:Das Rad? Unglaublich, daß wir nicht auf den Gedanken gekommen sind, das Rad zu verwenden. Wenn ich bedenke, daß wir alle sehen konnten, wie diese Mistkäfer ihre Kugeln rollen ... Daß niemand von uns daraus das Rad hergeleitet hat. Mensch:Wie gedenkst du diese Information zu verwerten? Ameise:Das weiß ich im Moment noch nicht. Auszug aus dem sechsundfünfzigsten Gespräch mit der Königin Belo-kiu-kiuni: Ameise:Du wirkst traurig. Mensch:Das muß an einem Fehler meiner Duftorgel liegen. Seit ich die effektive Sprache hinzugefügt habe, hat die Maschine anscheinend Aussetzer. Ameise:Du wirkst traurig. Mensch:... Ameise:Sagst du nichts mehr? Mensch:Ich glaube, das ist reiner Zufall. Aber ich bin tatsächlich traurig. Ameise:Was ist los? Mensch:Ich hatte ein Weibchen. Bei uns leben die Männchen sehr lange, also leben wir in Paaren, ein Männchen je Weibchen. Ich hatte ein Weibchen, und ich habe es vor einigen Jahren verloren. Und ich habe es geliebt, ich kann es nicht vergessen. Ameise:»Lieben«, was heißt das? Mensch:Vielleicht, daß wir die gleichen Gerüche hatten .? Belo-kiu-kiuni erinnert sich an das Ende des Men-schen Edmond. Das war während des ersten Krieges gegen die Zwergameisen. Edmond hatte ihnen helfen wollen. Er hatte seinen Untergrund verlassen. Aber durch die ständige Verwendung der Pheromone war er damit regelrecht imprägniert. So sehr, daß er, ohne es zu wissen, im Wald für ... eine rote Ameise der Föderation gehalten wurde. Und als die Tannenwespen (mit denen sie sich zu jener Zeit im Krieg befanden) seine Identitätsdüfte wahrnahmen, fielen sie geschlossen über ihn her. Sie töteten ihn, weil sie ihn für einen Belokaner hielten. Er muß glücklich gestorben sein. Später hatten dieser Jonathan und seine Gemeinschaft die Verbindung wiederaufgenommen ... Er gießt noch ein wenig Met in das Glas der drei Neuen, die nicht aufhören, ihn mit Fragen zu bestürmen. »Dann ist Doktor Livingstone also imstande, unsere Worte da oben zu übertragen?« »Ja, und wir, ihre Worte zu hören. Ihre Antworten erscheinen auf diesem Bildschirm. Edmond hat es tatsächlich geschafft!« »Aber was erzählen sie? Was erzählt er ihnen?« »Hmm ... Nachdem die Sache gelungen war, werden Edmonds Aufzeichnungen ein wenig diffus. Es sieht so aus, als hätte er keinen Wert darauf gelegt, alles zu notieren. Nehmen wir an, daß sie zunächst einander beschrieben haben. Einer hat dem andern seine Welt geschildert. Daher wissen wir, daß ihre Stadt Bel-o-kan heißt, daß sie der Dreh- und Angelpunkt einer Föderation von ein paar hundert Millionen Ameisen ist.« »Unglaublich!« »Im weiteren waren beide Seiten der Auffassung, daß es zu früh sei, die Information unter ihrer jeweiligen Bevölkerung zu verbreiten. Deshalb haben sie die Vereinbarung getroffen, absolutes Stillschweigen über ihren >Kontakt< zu bewahren.« »Aus diesem Grund hat Edmond auch so sehr darauf bestanden, daß Jonathan all diese technischen Spielereien durchführt«, mischt sich einer der Feuerwehrmänner ein. »Er wollte auf keinen Fall, daß die Leute zu früh davon erfahren. Ihm graute vor dem ganzen Tohuwabohu, das der Rundfunk, das Fernsehen, die Zeitungen bei einer solchen Nachricht veranstalten würden. Die Ameisen wären die große Mode! Er sah es schon kommen, die Werbespots. Schlüsselanhänger, TShirts, die Auftritte der Rockstars . der ganze Krampf, der auf eine solche Entdeckung folgen würde.« »Belo-kiu-kiuni, ihre Königin, glaubte ihrerseits, daß ihre Töchter sogleich gegen diese gefährlichen Fremden würden kämpfen wollen«, fügt Lucie hinzu. »Nein, die beiden Zivilisationen sind noch nicht reif, sich kennenzulernen und - hören wir auf zu phantasieren - einander zu verstehen ... Die Ameisen sind weder faschistisch noch anarchistisch, noch royalistisch ... Sie sind Ameisen, und alles, was ihre Welt betrifft, unterscheidet sich von unserer. Das macht überdies ihren Reichtum aus.« Diese leidenschaftliche Erklärung stammt von Kommissar Bilsheim; er hat sich entschieden geändert, seit er die Erdoberfläche verlassen hat - wie seine Chefin, Solange Doumeng. »Die deutsche Schule und die italienische Schule irren sich«, sagt Jonathan, »weil sie versuchen, die Ameisen in ein durch ein >menschliches< Begriffsvermögen geprägtes System zu zwängen. Eine solche Analyse ist zwangsläufig plump. Das ist, als würden sie versuchen, unser Leben zu verstehen, indem sie es mit ihrem vergleichen. Gewissermaßen ein Myrmeco-morphismus ... Dabei ist jede ihrer Eigenarten, und sei sie noch so unbedeutend, faszinierend. Wir verstehen die Japaner, Tibetaner oder die Hindus nicht, aber ihre Kultur, ihre Philosophie sind aufregend, selbst wenn sie durch unseren westlichen Geist verzerrt werden! Und die Zukunft unserer Erde gehört der Mischrasse, das ist so klar wie nur etwas.« »Aber was können uns die Ameisen in puncto Kultur geben?« wundert sich Augusta. Jonathan gibt Lucie wortlos ein Zeichen; sie verschwindet für einige Sekunden und kehrt mit etwas zurück, das wie ein Marmeladentopf aussieht. »Seht her, schon allein das hier ist ein Schatz! Honigtau von Blattläusen. Los, probiert mal!« Augusta tunkt vorsichtig den Zeigefinger hinein. »Hmmmm, das ist sehr süß ... aber ungeheuer lecker! Das schmeckt ganz anders als Bienenhonig.« »Siehst du! Hast du dich denn nicht gefragt, wie wir uns hier in dieser doppelten unterirdischen Sackgasse ernähren?« »Ja, doch ...« »Die Ameisen ernähren uns mit ihrem Honigtau und ihrem Mehl. Sie legen da oben Vorräte für uns an. Aber das ist nicht alles, wir haben auch ihre landwirtschaftlichen Techniken kopiert, um Lamellenpilze anzubauen.« Er hebt den Deckel eines großen hölzernen Kastens an. Darunter sind weiße Pilze zu sehen, die auf einem Bett aus vergorenen Blättern wachsen. »Galin ist unser großer Pilzexperte.« Letzterer lächelt bescheiden. »Ich muß noch viel lernen.« »Nun gut, Pilze, Honig ... Ihr müßt ja an Eiweißmangel leiden.« »Für die Proteine ist Max zuständig.« Einer der Feuerwehrmänner deutet zur Decke. »Ich sammele sämtliche Insekten ein, die die Ameisen in den kleinen Kasten neben der großen Kiste legen. Wir kochen sie, damit sich die Häutchen lösen. Was übrigbleibt, ist wie klitzekleine Garnelen, überdies schmeckt es genauso und sieht auch so aus.« »Wir sind in der Tat wie Kosmonauten, die ständig in einer Weltraum station leben und zuweilen mit außerirdischen Nachbarn in Kontakt stehen.« Alle lachen. Eine Ladung guter Laune kitzelt das Rückenmark. Jonathan schlägt vor, in den Salon zurückzugehen. »Wißt ihr, ich habe lange nach einem Weg gesucht, mit meinen Freunden friedlich zusammenzuleben. Ich habe es mit Kommunen, Squatts, Gemeinschaften nach dem Vorbild Fouriers versucht. Am Ende habe ich geglaubt, ich sei nur ein Traumtänzer, um nicht zu sagen ein Trottel. Aber hier ... hier passiert etwas. Wir sind schlicht gezwungen, zusammenzuleben, uns zu ergänzen, gemeinsam zu denken. Wir haben keine Wahl: Wenn wir uns nicht verstehen, werden wir sterben. Es ist keine Flucht möglich. Nun, ich weiß nicht, ob das an der Entdeckung meines Onkels liegt oder an dem, was uns die Ameisen durch ihre bloße Existenz hier über unseren Köpfen lehren, aber bislang funktioniert unsere Gemeinschaft wie geschmiert!« »Das klappt, und zwar ganz von selbst ...« »Manchmal haben wir das Gefühl, wir produzieren eine gemeinsame Energie, aus der jeder beliebig schöpfen kann. Das ist ganz seltsam.« »Davon habe ich schon im Zusammenhang mit den Rosenkreuzem und einigen Freimaurergruppen gehört«, sagt Jason. »Sie nennen das Egregor: das geistige Kapital der >Herde<. Eine Art Becken, in das jeder seine Kraft entleert, damit eine Suppe entsteht, die jedem nutzt ... Im allgemeinen gibt es immer einen Dieb, der sich der Energie anderer zu persönlichen Zwecken bedient.« »Hier haben wir dieses Problem nicht. Man kann keine persönlichen Ambitionen haben, wenn man in einer kleinen Gruppe unter der Erde lebt ...« Schweigen. »Zudem reden wir immer weniger, wir brauchen das nicht mehr, um einander zu verstehen.« »Ja, hier passiert etwas. Aber wir verstehen es noch nicht und haben auch noch keine Kontrolle darüber. Wir sind längst nicht am Ziel, wir sind noch auf halbem Weg.« Erneutes Schweigen. »Kurz und gut, ich hoffe, es wird euch in unserer kleinen Gemeinschaft gefallen.« Nr. 801 kommt erschöpft in ihrer Geburtsstadt an. Geschafft! Sie hat es geschafft. Chli-pu-ni nimmt sofort einen Gedankenaustausch vor, um zu erfahren, was geschehen ist. Was sie hört, bestätigt sie in ihren schlimmsten Befürchtungen hinsichtlich des unter der Granitplatte verborgenen Geheimnisses. Sie beschließt. Bel-o-kan unverzüglich militärisch anzugreifen. Die ganze Nacht über rüsten sich ihre Soldatinnen aus. Die ultramoderne fliegende Legion ist fertig. Nr. 103 683 macht einen Vorschlag. Während ein Teil der Armee von vorne angreift, könnten zwölf Legionen heimlich einen Bogen um die Stadt schlagen, um einen Sturm auf den Stumpf mit dem königlichen Gemach zu unternehmen. DAS UNIVERSUM STREBT: Das Universum geht in Richtung Komplexität. Vom Wasserstoff zum Helium, vom Helium zum Kohlenstoff. Immer komplexer, immer ausgeklügelter, so die Entwicklung, die die Dinge nehmen. Von allen bekannten Planeten ist die Erde der komplizierteste. Sie befindet sich in einer Zone, in der ihre Temperatur schwanken kann. Ihre Oberfläche besteht aus Meeren und Bergen. Doch wenn ihr Spektrum an Lebensformen auch praktisch unbegrenzt ist, so gibt es doch zwei, die durch ihre Intelligenz über die anderen hinausragen. Die Ameisen und die Menschen. Man könnte meinen, Gott habe den Planeten Erde ausgesucht, um ein Experiment anzustellen. Er hat zwei Gattungen mit zwei völlig konträren Philosophien auf den Weg des Bewußtseins geschickt, um zu sehen, welche schneller vorankommt. Das Ziel ist vermutlich, zu einem kollektiven planetarischen Bewußtsein zu gelangen: der Zusammenschluß sämtlicher Hirne der Gattung. Das ist meines Erachtens die nächste Phase des Abenteuers des Bewußtseins. Die nächste Stufe der Kompliziertheit. Die beiden führenden Gattungen haben indes getrennte Wege beschritten: Um intelligenter zu werden, hat der Mensch sein Hirn aufgebläht, bis es eine geradezu monströse Größe hatte. Eine Art dicker Blumenkohl. Um zu dem gleichen Ergebnis zu gelangen, haben die Ameisen statt dessen Tausende von kleinen Hirnen verwandt, die durch sehr subtile Kommunikationssysteme miteinander verbunden waren. Unter dem Strich erbringt diese Masse von kleinen Bröckchen ebensoviel Materie und Intelligenz wie der menschliche Blumenkohl. Der Kampf geschieht mit ebenbürtigen Waffen. Aber was wäre, wenn diese beiden Formen von Intelligenz, statt getrennte Wege zu gehen, kooperierten ...? Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens Jean und Philippe interessieren sich für nichts als fürs Fernsehen, höchstens noch für den Flipper. Selbst der nagelneue, kürzlich erst mit hohem Kostenaufwand angelegte Minigolfplatz interessiert sie nicht mehr. Und erst die Spaziergänge durch den Wald ... Für sie gibt es nichts Schlimmeres, als wenn ihnen der Aufpasser befiehlt, frische Luft zu schnappen. Sicher, letzte Woche, als sie die Frösche aufgeblasen haben, das war schon amüsant, aber das Vergnügen war ein wenig kurz. Heute jedoch scheint Jean eine Betätigung eingefallen zu sein, die Interesse verdient. Er zieht seinen Freund aus der Gruppe von Waisenkindern, die dämlicherweise welke Blätter sammelt, um noch dämlichere Bilder damit zu machen, und zeigt ihm eine Art Zementkegel. Ein Termitenhügel. Sie zögern nicht, ihn mit den Füßen zu zertrampeln, aber es kommt nichts raus, der Hügel ist leer. Philippe beugt sich herab und schnüffelt. »Die hat der Straßenwärter abgemurkst. Riech mal, das stinkt nach Vertilgungsmittel, die sind da drinnen alle krepiert.« Enttäuscht wollen sie sich gerade wieder zu den anderen gesellen, als Jean auf der anderen Seite des kleine Bachs, unter einem Strauch halb verdeckt, eine Pyramide erblickt. Volltreffer! Ein beeindruckender Ameisenhaufen, ein richtiger Dom, mindestens einen Meter hoch! Lange Kolonnen von Ameisen gehen ein und aus, Hunderte, Tausende von Arbeiterinnen, Soldatinnen, Kundschafterinnen. Hierhin ist das DDT noch nicht gekommen. Jean hüpft vor Aufregung von einem Bein aufs andere. »He, hast du so was schon mal gesehn?« »O nein, du willst doch nicht schon wieder Ameisen fressen ... Die letzten haben ätzend geschmeckt ...« »Wer redet denn von fressen? Du hast ’ne richtige Stadt vor dir, so was wie New York oder Mexiko. Weißt du nicht mehr, was die im Fernsehen gesagt haben? In so ’nem Ding wimmelt es von Viechern. Guck dir diese Bekloppten an, die ackern wie blöd!« »Na ja ... Hast du vergessen, daß sich Nicolas so lange für Ameisen interessiert hat, bis er verschwunden war? Ich bin sicher, er hatte Ameisen im Keller, und die haben ihn aufgefressen. Ich hab keine Lust, neben diesem Ding rumzustehn. Das gefällt mir nicht! Scheißameisen, gestern hab ich welche gesehn, die krochen aus ’nem Loch auf dem Minigolfplatz, vielleicht wollten die da ihr Nest bauen ... Verdammte Drecksameisen!« Jean rüttelt ihn an der Schulter. »Na eben! Du magst keine Ameisen, und ich auch nicht. Wir bringen sie um! Wir rächen unseren Kumpel Nicolas!« Der Vorschlag weckt Philippes Interesse. »Sie umbringen?« »Na klar, warum nicht? Wir stecken diese Stadt an! Stell dir vor, ganz Mexiko in Flammen, weil es uns so paßt!« »Okay, wir stecken sie an. Ja. Für Nicolas ...« »Warte, ich hab noch ’ne bessere Idee: Wir blasen da Unkrautmittel rein, das gibt ’n richtiges Feuerwerk.« »Genial ...« »Paß auf, wir haben elf Uhr, in zwei Stunden treffen wir uns hier wieder. Dann geht uns der Aufpasser nicht auf den Keks, und alle anderen sind in der Mensa. Ich besorg das Unkrautmittel. Du siehst zu, daß du ’ne Schachtel Streichhölzer auftreibst, das ist besser als ’n Feuerzeug.« »Alles klaro!« Die Infanterieeinheiten rücken rasch vor. Wenn die anderen föderierten Städte fragen, wohin sie ziehen, antworten die Chlipukanerinnen, daß im Westen eine Eidechse gesichtet worden ist und daß die Hauptstadt sie um Unterstützung gebeten hat. Über ihnen summen die Nashornkäfer, in ihrem Schwung kaum gebremst durch das Gewicht der Artilleristinnen, die auf 13 Uhr. In Bel-o-kan herrscht buntes Treiben. Man nutzt die Hitze, um die Eier, die Puppen und die Pflanzenläuse im Solarium anzuhäufen. »Ich hab Brennspiritus mitgebracht, damit das noch besser hochgeht«, erklärt Philippe. »Bestens«, sagt Jean. »Ich hab Unkrautmittel gekauft. Zwanzig Francs die Dose, diese Geldschröpfer!« Belo-kiu-kiuni spielt mit ihren fleischfressenden Pflanzen. Seit sie da sind, fragt sie sich, warum sie eigentlich nie einen Schutzwall daraus gemacht hat, wie sie es ursprünglich vorhatte. Dann denkt sie wieder an das Rad. Wie kann man diese geniale Idee verwerten? Vielleicht könnte man eine große Zementkugel anfertigen, sie mit den Fußspitzen ins Rollen bringen und damit die Feinde zerquetschen. Sie sollte den Plan aufs Tapet bringen. »Okay, ich hab alles drauf geschüttet, den Spiritus und das Unkrautmittel.« Während Jean spricht, klettert eine Ameisenkundschafterin an ihm hoch. Sie klopft mit den Antennen gegen den Stoff seiner Hose. Sie scheinen eine riesige lebende Struktur zu sein. Können Sie mir Ihre Identifikationsdüfte geben? Er nimmt sie und zerquetscht sie zwischen Daumen und Zeigefinger. Der gelbe und schwarze Saft läuft über seine Finger. »Die hat’s jetzt schon erwischt«, erklärt er. »Na schön, mach Platz, hier fliegen gleich die Fetzen!« »Supergyros gibt das!« ruft Philippe. »Die reinste Apokalypse!« kichert Jean. »Was schätzt du, wie viele sind da drin?« »Bestimmt Millionen. Angeblich haben letztes Jahr Ameisen hier in der Gegend ’ne Villa überfallen.« »Die werden wir auch rächen«, sagte Jean. »Los, duck dich hinter den Baum da.« Belo-kiu-kiuni denkt an die Menschen. Ihnen beim nächstenmal weitere Fragen stellen. Wie setzen sie das Rad ein? Jean läßt ein Streichholz aufflammen und wirft es auf die Kuppel aus Zweigen und Kiefernnadeln. Dann läuft er los, um keinen Splitter abzubekommen. Da ist sie, die chlipukanische Armee erblickt die Hauptstadt. Wie groß sie ist! Belo-kiu-kiuni beschließt, unverzüglich mit ihnen zu sprechen. Sie muß ihnen auch sagen, daß sie ihnen problemlos mehr Honigtau liefern kann; die Produktion läßt sich dieses Jahr gut an. Das Streichholz fällt auf die Zweige der Kuppel. Die chlipukanische Armee ist nah genug. Sie rüstet zum Angriff. Jean springt hinter die große Kiefer, wo Philippe bereits in Deckung gegangen ist. Das Streichholz fällt auf eine Stelle, die weder mit Spiritus noch mit Unkrautvertilgungsmittel getränkt ist. Es geht aus. Die Jungen richten sich auf. »Verdammter Mist!« »Ich weiß, was wir machen. Wir legen ’n Stück Papier drauf, dann haben wir ’ne große Flamme, die garantiert bis zu dem Spiritus kommt.« »Hast du Papier dabei?« »Öh ... bloß ’ne Metrofahrkarte.« »Gib her.« Eine Schildwache oben auf der Kuppel entdeckt etwas Mysteriöses: Nicht nur, daß mehrere Viertel seit einer Weile nach Alkohol riechen, jetzt steckt auch noch mitten auf der Spitze ein gelbes Stück Holz. Sie setzt sich sogleich mit einer Arbeitszelle in Verbindung, damit dieser Alkohol abgewaschen und der gelbe Balken entfernt wird. Eine andere Schildwache kommt zur Tür Nr. 5 gelaufen. Alarm! Alarm! Eine Armee roter Ameisen greift uns an! Die Fahrkarte brennt. Die beiden Jungen gehen erneut hinter der Kiefer in Deckung. Eine dritte Schildwache sieht eine große Flamme am Ende des gelben Holzstücks auflodern. Die Chlipukanerinnen rücken im Sturmschritt vor, wie sie es bei den Sklavenhalterinnen gesehen haben. Erste Explosion. Die gesamte Kuppel fängt Feuer. Verpuffungen, Funken. Trotz der sich ausbreitenden Hitze versuchen Jean und Philippe die Augen offenzuhalten. Das Spektakel enttäuscht sie nicht. Das trockene Holz brennt wie Zunder. Als die Flammen das Desinfektionsmittel erreichen, fliegt alles in die Luft. Weitere Detonationen. Grüne, rote, braune Funkengarben spritzen aus der »Stadt der verirrten Ameise«. Die chlipukanische Armee hält inne. Das Solarium mit allen Eiern, dem gesamten Vieh flammt als erstes auf, dann greift das Feuer auf die gesamte Kuppel über. Die Verbotene Stadt wird gleich in den ersten Sekunden der Katastrophe erfaßt. Die Ammen sind regelrecht zerplatzt. Kriegerinnen rennen herbei, um die Königin, die einzige Eierlegerin, herauszuholen. Zu spät, sie ist an den giftigen Gasen erstickt. Der Alarm verbreitet sich im Nu. Alarmstufe 1: aufstachelnde Pheromone werden ausgestoßen; Alarmstufe 2: unheilverkündendes Trommeln dröhnt durch sämtliche Gänge; Alarmstufe 3: »Verrückte« rennen durch die Tunnel und geben ihre Panik weiter; Alarmstufe 4: alles Wertvolle (Eier, Fortpflanzungsfähige, Vieh, Nahrung ...) wird in die Tiefe transportiert, während in Gegenrichtung die Soldatinnen nach oben eilen, um sich dem Kampf zu stellen. Oben in der Kuppel sucht man nach Lösungen. Artillerieeinheiten gelingt es, einige Bereiche zu löschen, indem sie schwach konzentrierte Ameisensäure einsetzen. Als diese improvisierte Feuerwehr den Erfolg ihrer Bemühungen sieht, bespritzt sie als nächstes die Verbotene Stadt. Vielleicht kann man das königliche Gemach retten, wenn man es befeuchtet. Aber das Feuer siegt. Die eingeschlossenen Ameisen ersticken an den giftigen Dämpfen. Weißglühende Brückenbögen stürzen auf die entsetzten Massen. Die Panzer schmelzen und verbiegen sich wie Plastik in einer heißen Pfanne. Nichts widersteht dem Ansturm dieser ungeheuren Hitze. episode: Ich habe mich geirrt. Wir sind nicht ebenbürtig, wir sind keine Konkurrenten. Die Anwesenheit der Menschen ist nur eine kurze »Episode« in ihrer unbestrittenen Herrschaft auf Erden. Sie sind viel, viel zahlreicher als wir. Sie haben mehr Städte, sie bewohnen viel mehr ökologische Nischen. Sie leben in trockenen, eisigen, heißen oder feuchten Zonen, in denen kein Mensch überleben könnte. Wohin unser Blick auch fällt, überall gibt es Ameisen. Sie waren hundert Millionen Jahre vor uns da, und danach zu urteilen, daß sie einer der wenigen Organismen waren, die der Atombombe widerstanden haben, werden sie sicher noch hundert Millionen Jahre nach uns da sein. Wir sind nur ein Zwischenspiel von drei Millionen Jahren in ihrer Geschichte. Im übrigen, wenn eines Tages außerirdische Wesen auf unserem Planeten landen, werden sie sich da nicht täuschen. Sie werden sich zweifelsohne mit ihnen unterhalten. Mit ihnen: den wahren Herren der Erde. Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens Am nächsten Morgen ist die Kuppel gänzlich verschwunden. Der schwarze Stumpf steht vollkommen kahl in der Mitte der Stadt. Fünf Millionen Bürgerinnen sind tot. Sämtliche Ameisen, die sich in der Kuppel und seiner unmittelbaren Umgebung befanden. All jene, die so geistesgegenwärtig waren, nach unten zu gehen, sind unversehrt. Die Menschen, die unter der Stadt leben, haben nichts bemerkt. Die riesige Granitplatte hat sie abgeschirmt. Und das Ganze hat sich während einer ihrer künstlichen Nächte abgespielt. Belo-kiu-kiunis Tod stellt den größten Verlust dar. Ohne ihre Eierlegerin ist das Volk ernstlich bedroht. Die chlipukanische Armee indes hat sich an der Bekämpfung des Feuers beteiligt. Kaum erfahren die Kriegerinnen von Belo-kiu-kiunis Tod, entsenden sie Boten zu ihrer Stadt. Einige Stunden später erscheint, getragen von einem Nashornkäfer, Chli-pu-ni persönlich, um sich die Schäden anzusehen. Als sie zu der Verbotenen Stadt kommt, ist die Feuerwehr noch im Begriff, die Asche zu begießen. Es gibt nichts mehr zu bekämpfen. Sie erkundigt sich, und man erzählt ihr, wie sich die unbegreifliche Katastrophe abgespielt hat. Da es keine fruchtbaren Königinnen mehr gibt, wird sie selbstverständlich die neue Belo-kiu-kiuni und bezieht das königliche Gemach der Hauptstadt. Jonathan wacht als erster auf. Er ist überrascht, den Drucker des Computers rattern zu hören. Auf dem Bildschirm steht ein Wort. Warum? Sie haben also während der Nacht gesendet. Sie wollen sich unterhalten. Er tippt den üblichen Satz, der jedem Dialog vorausgeht. Mensch: Guten Tag, ich bin Jonathan. Ameise: Ich bin die neue Belo-kiu-kiuni. Warum? Mensch: Die neue Belo-kiu-kiuni? Wo ist die alte? Ameise: Ihr habt sie getötet. Ich bin die neue Belo-kiu-kiuni. Warum? Mensch: Was ist passiert? Ameise: Warum? Damit bricht die Verbindung ab. Jetzt weiß sie alles. Sie, die Menschen, haben das getan. Mutter kannte sie. Sie hat sie immer schon gekannt. Sie hat die Nachricht geheimgehalten. Sie hat die Hinrichtung all derer befohlen, die den geringsten Hinweis hätten geben können. Sie hat ihnen, den Menschen, sogar gegen ihr eigenes Volk geholfen. Die neue Belo-kiu-kiuni betrachtet ihre leblose Mutter. Als die Wachen kommen, um den Körper abzuholen und auf die Deponie zu werfen, schreckt sie hoch. Nein, dieser Kadaver wird nicht weggeschafft. Sie untersucht die alte Belo-kiu-kiuni, die bereits die Gerüche des Todes verströmt. Sie regt an, daß die abgerissenen Glieder mit Harz wieder angeklebt werden. Daß man dem Körper seine Weichteile entnimmt und durch Sand ersetzt. Sie will ihn in ihrer Loge aufbewahren. Chli-pu-ni, die neue Belo-kiu-kiuni, versammelt einige Kriegerinnen. Sie schlägt vor, die Hauptstadt nach modernen Gesichtspunkten wieder aufzubauen. Ihrer Meinung nach waren die Kuppel und der Stamm viel zu verwundbar. Und man muß sich auch auf die Suche nach unterirdischen Flüssen machen, ja sogar überlegen, ob man nicht Kanäle bohrt, die alle Städte der Föderation miteinander verbinden. Für sie liegt darin die Zukunft, in der Zähmung des Wassers. Auf diese Weise kann man sich besser vor Bränden schützen, aber auch schneller und gefahrlos reisen. Und was ist mit den Menschen? Sie antwortet ausweichend: Die sind nicht besonders interessant. Die Kriegerin läßt nicht locker: Und wenn sie uns wieder mit ihrem Feuer angreifen? Je stärker der Feind ist, um so mehr sind wir verpflichtet, über uns hinauszuwachsen. Und die, die unter dem großen Felsen leben? Belo-kiu-kiuni gibt keine Antwort. Sie bittet darum, allein gelassen zu werden, dann wendet sie sich dem Kadaver der alten Belo-kiu-kiuni zu. Die neue Königin neigt behutsam den Kopf und senkt ihre Antennen auf die Stirn ihrer Mutter. Und so verharrt sie sehr lange, reglos, wie in einen ewigen Gedankenaustausch versunken. Glossar ABSOLUTE KOMMUNIKATION (AK): Vollständiger Austausch von Gedanken durch Antennenkontakt ALKOHOL: Die Ameisen sind in der Lage, eine Gärung des Honigtaus der Blattläuse und des Getreidesafts herbeizuführen. alter DER geschlechtslosen: Eine Arbeiterin oder Soldatin der roten Ameisen wird in der Regel drei Jahre alt. ALTER DER KÖNIGIN: Eine Königin der roten Ameisen wird durchschnittlich fünfzehn Jahre alt. Ameisensäure: Waffe in Form von Strahlen. Größte Ätzwirkung bei einer Konzentration von vierzig Prozent. AUGEN: Gesamtheit der Facetten auf dem Augapfel. Jede Facette hat zwei Linsen, eine große äußere und eine kleine innere. Jede Zelle ist direkt mit dem Gehirn verbunden. Die Ameisen sehen nur nahe Objekte, aber auf große Entfernung können sie trotz allem die geringste Bewegung wahrnehmen. Ausrichtung der STADT: Die roten Ameisen bauen ihre Städte so, daß der breitere Teil nach Südosten zeigt, um zu Beginn des Tages eine starke Sonneneinstrahlung zu erhalten. bel-o-kan: Hauptstadt der roten Föderation. BELO-KIU-KIUNI: Königin von Bel-o-kan. BERGFRIED: Nebenturm auf der Kuppel, eher auf Termitenhügeln als Ameisenhaufen zu finden. Bevölkerungsdichte: In Europa zählt man durchschnittlich (alle Arten zusammengenommen) 80 000 Ameisen pro Quadratmeter. BROT: Kügelchen aus gehacktem und zerstampftem Getreide. CHITIN: Stoff, aus dem die Ameisenpanzer bestehen. CHU-PU-NI: Tochter von Belo-kiu-kiuni. chli-pu-kan: Ultramoderne, von Chli-pu-ni gegründete Stadt. DEPONIE: Kleine Anhöhe am Eingang der Ameisenhaufen, auf die die Insekten ihre Abfälle und Kadaver kippen. DIONAEA: Häufig vorkommendes pflanzliches Raubtier in der Umgebung von Bel-o-kan. Gefahr. dodekalsystem: Zählweise der Ameisen. Die Ameisen zählen im Zwölfersystem, weil sie zwölf Krallen haben (zwei pro Bein). DOGMA der Königinnen: Bündel wertvoller Informationen, die von der Königin auf die Tochterkönigin via Antennenkontakt weitergegeben wird. dufour-drüse:    Drüse,    um die Pheromonenpisten zu verschließen. DUNKELHEIT: Die Städterinnen lieben es, im Dunkeln zu leben. DYNASTIE: Folge von Königinnentöchtern auf dem gleichen Gebiet. EI: Sehr junge Ameise. EIDECHSE: Drachen in der Ameisenzivilisation. Gefahr. EINTAGSFLIEGE: Eine Art kleine Libelle mit gespaltenem Schwanz. Die Larve lebt drei Jahre, das Insekt, das daraus schlüpft, zwischen 3 und 48 Stunden. Eßbar. ERDBEERKHIEG: Krieg, in dem sich im Jahr 9 999 986 die gelben und roten Ameisen gegenüberstanden. ERDE: Würfelförmiger Planet. ERNÄHRUNG: Üblicher Ernährungsplan einer roten Ameise: 43 % Blattlaushonigtau, 41 % Insektenfleisch, 7 % Saft von Bäumen, 5 % Pilze, 4 % geschrotene Samenkörner. EXKREMENT: Das Exkrement einer Ameise ist tausendmal leichter als ihr Körper. FASTENZEIT: Eine Ameise kann während des Winterschlafs 6 Monate leben, ohne zu fressen. FEST DER WIEDERGEBURT: Hochzeitsflug der Männchen und Weibchen, der gewöhnlich in den ersten warmen Tagen stattfindet. FEUER: Tabuisierte Waffe. Fledermaus: Fliegendes Monster, das in Höhlen lebt. Gefahr. fleischfressende pflanzen: Fettkraut, Venusfliegenfalle, Sonnentau. Gefahr. FLIEGENDE BOTSCHAFTER:    Technik der Zwergameisen, Nachrichten durch kleine Fliegen zu übermitteln. Eßbar. Föderation: Zusammenschluß von Städten der gleichen Art. Eine Föderation roter Ameisen umfaßt durchschnittlich neunzig Nester auf 6 Hektar, 7,5 Kilometer getrampelter Pisten und 40 Kilometer Duftpisten. GEBURTSKAMMER: Raum, in dem die Königin ihre Eier legt. GESCHWINDIGKEIT: Bei 10° bewegt sich eine rote Ameise mit 18 m/h fort. Bei 15° geht sie mit 54 m/h. Bei 20° schafft sie 126 m/h. gewicht. Das Gewicht einer Ameise schwankt zwischen 1 und 150 Milligramm. GIFTDRÜSE: Blase, in der Ameisensäure gespeichert wird. Spezielle Muskeln können sie mit sehr hohem Druck ausstoßen. GIFTIGE PFLANZEN: Herbstzeitlose, Glyzinie, Oleander, Efeu. Gefahr. GOTTESANBETERIN: Insekt, das unmäßig Liebe und Fressen betreibt. Gefahr. GRAD: Maßeinheit von Zeittemperatur und Zeitablauf. Je wärmer es wird, um so kleiner werden die Zeitgrade; je kälter es wird, um so mehr dehnen sie sich aus. GRÖSSE: Die roten Ameisen messen durchschnittlich 2 Kopf. guayei-tyolot: Kleines Frühjahrsnest. herz: Drei birnenförmige, verschachtelte Taschen. Befindet sich im Rücken. HÖHE: Je höher ein Nest ist, um so mehr strebt die Stadt nach einer großen, von der Sonne beschienenen Oberfläche. In heißen Zonen liegen die Ameisenhaufen ganz unter der Erde. Indolessigsäure : Unkrautvertilgungsmittel. INFRAROT-OZELLEN: Drei kleine Augen, die in Dreiecksform auf der Stirn der Fortpflanzungsfähigen angeordnet sind und diese befähigen, in völliger Dunkelheit zu sehen. KADAVER: Leere Cuticula. KÄLTE: Universelles Beruhigungsmittel in der Welt der Insekten. KARTOFFELKÄFER:    Käfer    mit orangefarbenen, von fünf schwarzen Längslinien durchzogenen Deckflügeln. Ernährt sich generell von Kartoffeln. Sein Saft ist ein tödliches Gift. KASTE: In der Regel finden sich drei Kasten: Fortpflanzungsfähige, Soldatinnen, Arbeiterinnen. Jede Kaste ist in Unterkasten unterteilt: Ammen, Artilleristinnen usw. Klimatisierung: Wärmeregulation in großen Städten durch Solarien, Exkremente und Luftlöchern in der Kuppel. KOPF: Längenmaß der Ameisen. Entspricht 3 Millimeter. kraft: Eine rote Ameise kann das Sechzigfache ihres Gewichts schleppen. Sie erzeugt also 3,2 x 10 Pferdestärken. KRANKHEITEN: Die häufigsten Krankheiten der Ameisen sind die Konidie (hervorgerufen durch einen parasitären Pilz), die Aegeritelle (??) (eine Art Fäule des Panzers), der Hirnwurm (ein parasitärer Wurm, der sich in Höhe der Ganglien unterhalb der Speiseröhre einnistet), die Hypertrophie der labialen Drüsen (eine anormale Schwellung des Thorax, die bereits im Larvenstadium auftritt) und die alternaria (tödliche Sporen). la-chola-kan: Westliche Stadt der Föderation. LARVE des Ameisenlöwen: Fleischfressender beweglicher Sand. Gefahr. LEGION: Menge von Soldatinnen, die in der Lage sind, simultan zu manövrieren. LOMECHUSE (??): Käfer, Lieferant einer tödlichen Droge. Gefahr. MANDIBELKAMPF: Ameisensport. Männchen: Insekten aus unbefruchteten Eiern. MARIENKÄFER: Viehräuber. Eßbar. maskierte AMEISE: In organischer Chemie hochbegabte Art. MENSCHEN: Gigantische Ungetüme, die in einigen modernen Sagen vorkommen. Man kennt vor allem ihre gezähmten rosigen Tiere: die Finger. Gefahr. METAMORPHOSE: Übergang in eine zweite Lebensform, bei den meisten Insekten anzutreffen. MISTKÄFER: Kugelschieber. Eßbar. mithridisation: Fähigkeit der sozialen Arten, sich an ein tödliches Gift zu gewöhnen. Geht so weit, daß sie Eier legen, die genetisch gegen die Gefahr immun sind. MÜCKE: Die Männchen schlecken den Saft der Pflanzen. Wovon sich die Weibchen ernähren, ist unbekannt. Eßbar. MUSIK: Ton oder Ultraschall, hervorgerufen durch Grillen und Zikaden, die ihre Flügel aneinander reiben. Die pilzzüchtenden Ameisen können mit ihren Hinterleibsgelenken ebenfalls Musik erzeugen. NASHORNKÄFER: Käfer, der mit einem großen Hörn auf der Stirn ausgerüstet ist. NI: Dynastie von belokanischen Königinnen. NR. 56: Mädchenname von Chli-pu-ni. NR. 327: Junges belokanisches Männchen. NR. 801: Tochter von Chli-pu-ni, als Spionin eingesetzt. NR. 4000: Jägerin, lebt in Guayei-Tyolot. NR. 103 683: Belokanische Soldatin. OLEINSÄURE: Ausdünstungen von Ameisenkadavern. PANZER: Kampftechnik, die darin besteht, daß sechs kleine, bewegliche Arbeiterinnen eine Arbeiterin mit großen Mandibeln tragen. PASS: Geruch des Geburtsnests (oder Adoptivnests bei den Söldnerinnen). pflanzenläuse: Vieh. Eßbar. Pförtnerinnen: Unterkaste mit rundein, flachen Kopf. Beauftragt, strategisch wichtige Gänge zu blockieren. PHEROMON: Flüssiges Wort oder flüssiger Satz. regen: Tödliches Wetter. riechen: Die Geschlechtslosen besitzen 6500 sensorische Zellen pro Antenne, Männchen und Weibchen 300 000. Salamander: Gefahr. SAMENKORN: Die roten Ameisen lieben das Elajosom (??) der Samenkörner, mit anderen Worten, das ölhaltigste Teil. Ein durchschnittliches Nest erntet 70 000 Samenkörner pro Saison. SANITÄRE EINRICHTUNGEN: Becken, das die Exkremente der Städterinnen aufnimmt. schabe: Vorfahr der Termiten. Erstes Insekt auf Erden. SCHLACHT AM Klatschmohnhügel: Erster Föderationskrieg im Jahr 10 000 066, bei dem sich bakteriologische Waffen und Panzer gegenüberstehen. SCHLANGE: Gefahr. SCHLUPFWESPE: Wespe, die ihre hungrigen Eier in anderen Körpern ablegt. Gefahr. SCHNECKE: Fundgrube von Proteinen. Eßbar. Schnitterinnen: Bäuerliche Ameisen des Ostens. Schwimmkäfer: Wasser- und Unterwasserkäfer. Eßbar. sehen: Die Ameisen sehen wie durch ein Gitter. Männchen und Weibchen können Farben sehen, aber sämtliche Farbtöne tendieren zum Ultraviolett. shi-gae-pu: Stadt der Zwergameisen im Nordwesten. SKLAVENHALTERINNEN: Kriegerische Art, kann nur mit Hilfe von Dienerinnen überleben. SÖLDNERINNEN:    Einzelgänger, die im Austausch gegen Nahrung und eine neue Identität für ein anderes Nest kämpfen. Sozialkropf: Organ der Freigebigkeit. spinne: Ungetüm, das ihre Opfer stückchenweise verzehrt und sie nach jedem Happen wieder betäubt. Gefahr. TEMPERATUR: Die roten Ameisen können sich erst ab einer Temperatur von mindestens 8° bewegen. Die Männchen und Weibchen wachen mitunter ein wenig früher auf, bei 6°. Temperatur des Nests: Eine Stadt der roten Ameisen ist so wärmereguliert, daß je nach Etage stets eine Temperatur von 20° bis 30° herrscht. TERMITEN: Rivalen der Ameisen. TRANSPORT: Um eine andere zu transportieren, packt die Ameise sie mit den Mandibeln. Die andere rollt sich zusammen, um möglichst wenig über den Boden zu scheuern. TROPHALLAXIE:    Austausch von Nahrung zwischen zwei Ameisen. VERBOTENE STADT: Festung zum Schutz der Geburtskammer. Besteht aus Holz, Zement oder sogar hohlem Gestein. VÖGEL: Fliegende Ungetüme. Gefahr. WAFFEN der AMEISEN: Mandibeln als Säbel. Giftstachel, zerstäubter Klebstoff, Ameisensäurestrahlen, Krallen. weben: Arbeit, die mit einer Larve ausgeführt wird. WEBERINNEN: Wanderameisen des Ostens, die ihre eigene Larve als Weberschiffchen benutzen. wellen: Der kleinste gemeinsame Nenner, der in dieser oder jener Form von allen Wesen oder beweglichen Objekten ausgestoßen wird. WESPEN: Primitive und giftige Kusinen der Ameisen. Gefahr. wind: Hebt einen vom Boden hoch, um einen irgendwo wieder abzusetzen. WINTERSCHLAF: Großer Schlaf von November bis März. ZUCHT: Hochentwickelte Kunst einiger Arten, Pflanzenläuse und Schildläuse zu zähmen und deren anale Sekretionen aufzufangen. Im Sommer liefert eine Pflanzenlaus dreißig Tropfen Honigtau pro Stunde. ZISTERNE: Honigtaureservoir. zubi-zubi-kan: Stadt des Ostens, berühmt für ihren großen Viehbestand. Zwerginnen: Hauptfeindinnen der roten Ameisen.