Fieber Bentley Little Titel der Originalausgabe: »The Policy« Für Larry und Janice Weldon, meinen Onkel und meine Tante EINS 1. Einen Tag früher als geplant brach Hunt Jackson auf. Mitten in der Nacht fuhr er los, während im Fernsehen noch die Conan-O'Brian-Show lief. Zwei Stunden später jagte er mit weit überhöhter Geschwindigkeit an Palm Springs vorbei und weiter in Richtung Osten. Nachdem jetzt endlich die Scheidung rechtskräftig war und Hunt obendrein seinen Job bei Boeing verloren hatte, hielt ihn nichts mehr. Er konnte tun und lassen, was er wollte, und gehen, wohin es ihm gefiel. Er war nicht mehr im alltäglichen Einerlei des Ehelebens gefangen, in den Verhaltensmustern und dem Trott, in die er verfallen war. Er fühlte sich herrlich frei, als er nun über den noch leeren, windgepeitschten Highway raste. Es war eine mondlose Nacht; zahllose Sterne funkelten am Himmel. Klar und deutlich konnte Hunt das Schimmern der Milchstraße sogar durch die getönte Windschutzscheibe des Saab hindurch erkennen. Ein Saab. Wann hatte Hunt sich eigentlich in einen Saab-Fahrer verwandelt? Er wusste es nicht, doch es lag schon so weit in der Vergangenheit, dass die Frage ihm beinahe müßig erschien - als gehöre es einfach dazu, sie jetzt zu stellen, auch wenn er eigentlich gar keine Antwort darauf erwartete. Durch die Windschutzscheibe sah er hoch über sich eine Sternschnuppe. Während seiner Kindheit in Tucson waren Sternschnuppen ein fester Bestandteil seines Lebens gewesen, doch erst jetzt ging ihm auf, dass er keine mehr gesehen hatte, seit er nach Süd-Kalifornien gezogen war. In den Nachrichten waren Meteoritenschauer erwähnt worden, fiel ihm jetzt wieder ein; Fernseh-Wetterfrösche hatten dieses Phänomen angekündigt und zugleich erklärt, warum man sie über Los Angeles und dem Gebiet von Orange County nicht würde sehen können - wegen der Luftverschmutzung, der Inversionswetterlage oder der »Lichtverschmutzung«. Hunt war es egal gewesen; er hatte nicht mehr darüber nachgedacht. Doch jetzt, hier draußen auf der Landstraße, begriff er, wie sehr ein sternenklarer Himmel ihm gefehlt hatte. Mit dröhnender Hupe donnerte ein Sattelschlepper an ihm vorbei. Übermütig hupte Hunt seinerseits und ließ dazu die Lichthupe aufflammen, doch der Truck war schon weit vor ihm, und Hunts Versuch der Aufsässigkeit missglückte. Matt und kraftlos strahlte sein Fernlicht nur noch die Heckklappe des Lasters an, der in der Ferne verschwand. Gegen drei Uhr früh erreichte er Blythe, und ehe die Sonne über Casa Grande aufging, hatte Hunt bereits Phoenix passiert und hielt Richtung Süden auf Tucson zu. Er frühstückte in einem Fast-Food-Schuppen für Trucker und bestellte eine übermäßig fettige Mahlzeit, die Eileen ihm niemals hätte durchgehen lassen; schließlich war so etwas nicht gut für die Arterien. Und so saß er hier, in einem Fernfahrer-Imbiss mitten in der Wüste, stopfte sich mit Fett und Kalorien voll und starrte auf ein handgemaltes Schild draußen, auf dem »HOLT DIE US AUS DER UN« stand. Auch wenn die Trennung in beiderseitigem Einvernehmen erfolgt war - verzweifelt hatten sie beide versucht, dieser Hölle aus Streitereien, Geschrei und noch unschöneren Dingen zu entrinnen, zu der ihre Beziehung verkommen war -, musste Hunt in letzter Zeit doch oft an Eileen denken. Er dachte daran, wie er mit ihr zusammengelebt hatte, und versuchte jetzt, sich eine Zukunft ohne sie vorzustellen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Sicher, er fühlte sich freier, als er jemals gewesen war und vielleicht jemals wieder sein würde. Die ganze Welt stand ihm offen. Er konnte hingehen, wohin er wollte. Er konnte nach New Orleans oder nach New York, nach Miami oder Seattle, Chicago oder Honolulu. Aber das wollte er gar nicht, erkannte er nun. Er wollte nach Tucson. Dort war er geboren, dort war er aufgewachsen und zur Schule gegangen, dort hatte er Eileen kennen gelernt. Und jetzt zog er wie ein geprügelter Hund mit eingekniffenem Schwanz ab ... Sollte er nicht lieber versuchen, ein neues Leben anzufangen und das eintönige Dasein abzuwerfen, in dem er sich verfangen hatte? Noch einmal von vorne anfangen? Vielleicht konnte er sein Leben in die Richtung lenken, in die er es schon längst hätte führen sollen. Zwanzig Minuten später war Hunt wieder unterwegs, vorbei an der einsamen Schroffheit des Picacho Peak, auf dem Weg in sein altes Zuhause - nach Tucson. In den zehn Jahren, die er fort gewesen war, hatte Tucson sich sehr verändert. Hunt fuhr durch die Außenbezirke der Stadt und versuchte sich zunächst einmal dort zurechtzufinden, ehe er sich in die Innenstadt wagen wollte. Vom Freeway aus hatte er gesehen, dass sich neue Wohnanlagen und Einkaufszentren entlang der Catalinas im Norden bis weit hinter die Ina Road erstreckten; neue Häuser kletterten im Westen immer höher in die Tucson Mountains in Richtung Gate's Pass hinauf; eine völlig neue Stadt schien südlich der I-10-Auffahrt auf dem Weg zur Mission aus dem Boden geschossen zu sein, und der Rincon District des Saguaro-Nationalparks lag jetzt nicht mehr außerhalb der Stadt, sondern unmittelbar an deren östlichem Rand. In der Innenstadt waren viele Läden und Restaurants verschwunden; Gebäude waren abgerissen und durch neue ersetzt worden. Der ehemals einzigartige Charakter der Stadt schien einer allgemeinen Gleichförmigkeit gewichen zu sein, den typischen Zeichen der allgemeinen Kalifornisierung Amerikas, die bewirkte, dass es an jeder zweiten Ampel einen Burger King gab und jedes neu errichtete Bürogebäude leicht mediterrane Züge aufwies. Die Gegend, in der Hunt aufgewachsen war, gab es zwar noch, aber sie sah viel schäbiger aus, als er sie in Erinnerung hatte, regelrecht heruntergekommen. Das Haus, das früher seinen Eltern gehört hatte, machte da keine Ausnahme. Wer immer jetzt dort wohnte, hatte den Vorgarten mittels Gussbeton in einen Parkplatz verwandelt. Jetzt standen dort drei Muscle-Cars aus den Sechzigerjahren in unterschiedlichen Phasen der Restaurierung; die Veranda, die Hunts Vater an der Seite des Hauses angebaut hatte, war abgerissen. Seine Eltern wären entsetzt gewesen, hätten sie das Haus jetzt sehen können. Hunt war versucht, sie anzurufen und ihnen die Bruchbude zu beschreiben, zu der das Haus verkommen war, damit sie sich noch schuldiger fühlten, es verkauft zu haben und fortgezogen zu sein. Doch dann wurde ihm klar, wie kleinlich dies wäre. In Minnesota waren seine Eltern glücklicher. Und wenn ihm das Haus wirklich so wichtig gewesen wäre - warum hatte er es seinen Eltern dann nicht abgekauft, als er die Gelegenheit dazu gehabt hatte? Nein, das Haus war ihm gar nicht so wichtig. Er wünschte sich einfach nur, seine Eltern wären jetzt hier, weil er sich ein Zuhause wünschte - einen Ort, an den er zurückkehren konnte. Die Nacht verbrachte er in einem Motel; im Nebenzimmer lag ein Pärchen, das sich lautstark über den Kauf eines Außenbordmotors stritt und dann ebenso lautstark zu Liebesspielchen überging. Am nächsten Morgen kaufte sich Hunt in der Lobby eine Tageszeitung und schaute beim Frühstück die Kleinanzeigen nach einem Haus oder einem Apartment durch, das er mieten konnte. Jetzt, wo er hier war, erschien ihm die Vorstellung, sämtliche Brücken hinter sich abzubrechen, längst nicht mehr so romantisch. Plötzlich gingen ihm all die lästigen Kleinigkeiten durch den Kopf, die ein solcher Umzug unweigerlich mit sich brachte. Er würde ein Adressänderungsformular beim Postamt ausfüllen und sicherstellen müssen, dass während des Umzugs keine Rechnungen oder wichtigen Briefe verloren gingen; er musste eine neue Telefonnummer beantragen und die Familie und Freunde benachrichtigen; er musste das Abonnement der Los Angeles Times kündigen. Ganz zu schweigen davon, dass er seine Möbel und seine Habseligkeiten hierherschaffen musste. Vielleicht war das alles den Aufwand gar nicht wert. Doch. Es musste sein. Zumal es Vorteile gab. Zum Beispiel, dass die Mieten in Arizona viel niedriger waren als in Kalifornien. Für den Preis seines kleinen Ein-Zimmer-Apartments dort konnte er hier nicht bloß eine Maisonette-Wohnung mieten, sondern ein richtiges Haus - wenn auch vielleicht nicht gerade in der besten Lage der Stadt. Genau so etwas fand Hunt dann auch bereits an diesem Morgen nach kurzer Suche: ein Lehmsteinhaus mit drei Zimmern in einer Straße im Südosten der Stadt. Das Haus stand zwischen einer heruntergekommenen Villa im Ranch-Stil und einem Bau, der kaum mehr war als eine Sperrholzhütte, die zu einer erst kürzlich erbauten, schmucken Doppelgarage gehörte. Das einzige weitere Gebäude auf dieser Straßenseite war ein Laden der Circle-K-Kette an der Ecke. Gegenüber erstreckte sich ein Baumwollfeld auf einem der Grundstücke, die irgendwelchen Großunternehmen gehörten, sodass dort weder Häuser noch Scheunen oder Schuppen benötigt wurden. Doch so ärmlich die Gegend auch sein mochte, irgendetwas daran sprach ihn an. Es mochte nicht der eleganteste Stadtteil sein, aber die Gegend war ländlich und bodenständig, und sie erinnerte Hunt an das Tucson, in dem er aufgewachsen war. Vom kleinen Vorgarten aus konnte er im Osten die Rincons sehen, im Norden die Catalinas, und über sich einen großen Ausschnitt des Himmels. Was konnte er sich mehr wünschen? Also hatte Hunt sein Handy gezückt und die Nummer gewählt, die unten auf dem ZU-VERMIETEN-Schild stand. Dann hatte er in der Auffahrt gewartet, dass der Eigentümer eintraf. Fünfundvierzig Minuten später, nach einer kurzen gemeinsamen Begehung des Hauses und einem Abstecher zum Geldautomaten im Circle K, um eine Anzahlung abzuheben, konnte er das Haus haben. Natürlich musste noch seine Kreditwürdigkeit überprüft werden, aber Hunt wusste, dass er da keine Probleme zu erwarten hatte. Eigentlich war das Haus größer, als notwendig gewesen wäre, doch Hunt gefiel der Gedanke, wieder in einem richtigen Haus zu wohnen. Es gab ihm das Gefühl, wieder solide und sesshaft zu sein, und auch wenn er nur zur Miete wohnte, hatte er jetzt ein willkommenes Gefühl der Beständigkeit, wie er es seit der Trennung von Eileen lange nicht erlebt hatte. In Hochstimmung fuhr er zum Motel zurück. Jetzt musste er erst einmal nach Kalifornien zurück und seine Habseligkeiten zusammenpacken. Jemanden zu finden, der ihm dabei half, sollte kein Problem darstellen - in seinem Apartmentkomplex gab es ein paar Nachbarn, die er flüchtig kannte -, aber das Ausladen hier in Tucson mochte kniffliger werden. Er dachte an die Sperrholzhütte und die heruntergekommene Villa, die sich wie Buchstützen an sein neues Heim quetschten. Natürlich hätte er die Leute dort fragen können, ob sie ihm halfen, aber er wollte seine neuen Nachbarn nicht gleich mit einer Bitte belästigen. Also versuchte er, ein paar seiner alten Kumpel anzurufen, doch keiner schien im Telefonbuch zu stehen. Hunt wurde nur zu deutlich klar, wie sehr er die Freunde von einst aus seinem Leben verbannt hatte; er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie im Auge zu behalten oder mit ihnen in Verbindung zu bleiben. Er hatte fast ausschließlich in der Gegenwart gelebt, hatte zugelassen, dass seine Vergangenheit sich von selbst auslöschte, und nur selten hatte er an seine Freunde aus der Kindheit, der Jugend und den ersten Jahren des Erwachsenseins gedacht. Nun, so schien es, waren die meisten von ihnen verschwunden. Mike arbeitete als Feuerwehrmann in New York, Jordan und Eck waren beide nach Phoenix gezogen, und bei Victor wussten selbst dessen Eltern nicht, was aus ihm geworden war. Aber Joel war noch da, und dafür war Hunt sehr dankbar. Während der Grundschulzeit und in der Junior High School war Joel McCain sein bester Freund gewesen, und auch wenn sie sich später in andere Richtungen entwickelt hatten, hatte es doch immer noch eine gewisse Verbundenheit zwischen ihnen gegeben. Nun rief Hunt ihn an - dankbar, dass es noch jemand Vertrauten in dieser plötzlich so fremden Stadt gab. Joel war Lehrer geworden und unterrichtete Sozialwissenschaften am Mountain Valley Junior College. Das war bemerkenswert, weil Joel ein gleichgültiger Schüler gewesen war - »faul« war vermutlich das bessere Wort -, und dass er selbst einmal Lehrer würde, hätte Hunt am wenigsten erwartet. Während der Junior-High-Zeit hatte Joel immer gesagt, er wolle Trucker werden. Es gäbe nichts Schöneres, hatte er behauptet, als kreuz und quer durchs Land zu fahren, dabei Musik zu hören und dafür auch noch bezahlt zu werden. Offenbar hatte Joel seine Meinung geändert, nachdem er seinen Abschluss an der High School gemacht hatte. Joel lachte, als Hunt ihm sagte, er sei überrascht, dass Joel Lehrer geworden sei. »Ich habe mich einfach an diesen Schul-Zeitplan gewöhnt. Ich konnte mir wirklich kein Leben vorstellen, bei dem ich den Sommer über nicht frei habe. Außerdem würde es aus jedem einen vorbildlichen Collegestudenten machen, einen ganzen Sommer lang mit meinem Vater in der Sonne zu ackern. Und was ist mit dir? Was treibst du jetzt so? Bist du nur zu Besuch hier, oder wirst du bleiben?« Hunt erzählte ihm die ganze Geschichte: Trennung, Scheidung, Verlust des Arbeitsplatzes und wie er sich aus einer Laune heraus dafür entschieden hatte, nach Tucson zurückzukehren. »Weißt du schon, wo du wohnen kannst?«, wollte Joel wissen. »Na ja ...«, setzte Hunt an, dem das Ganze jetzt ein wenig peinlich wurde. »Eigentlich rufe ich deswegen an. Ich habe gerade heute etwas gefunden und muss erst wieder nach Kalifornien, um meine Klamotten, Bücher und Platten zu holen - und die paar Möbel, die mir nach der Scheidung geblieben sind. Das ist nicht genug, dass sich ein Umzugsunternehmen lohnen würde, und ich dachte, dann mache ich das eben selbst, und deshalb ...« »Deshalb brauchst du jemanden, der dir hilft.« »Ja. Aber viel ist es nicht. Ein Bett. Ein Schlafsofa. Ein großer Fernseher. Ein Esstisch. Den Rest kann ich wahrscheinlich alleine ausräumen. Das wird vielleicht 'ne halbe Stunde dauern.« »Mach dir keine Sorgen. Ich bin dabei. Ich wollte sowieso vorschlagen, dass wir uns mal wieder sehen.« »Danke, Joel.« »Was machst du heute Abend?« »Hab noch nichts vor.« »Warum kommst du dann nicht vorbei? Meine Frau und meine Tochter sind auf einem Pfadfindertreffen. Wir könnten über die alten Zeiten reden, ohne aufpassen zu müssen, was wir sagen.« »Du hast eine Tochter?« »Lilly. Ist jetzt acht.« »Meine Güte, ich kann mich noch erinnern, als wir acht waren«, sagte Hunt. Und es kam ihm vor, als wäre das noch nicht einmal so lange her. »Ja. Ist schon irre, wie schnell die Zeit vergeht, was?« »Allerdings«, sagte Hunt. Joel gab ihm die Adresse und eine Wegbeschreibung zu seinem Haus. Nachdem Hunt einen Hotel-Notizblock und einen Stift gefunden hatte, schrieb er sich alles auf. Dann verabschiedeten sich die beiden. Bis sieben Uhr - auf die Zeit hatte er sich mit Joel geeinigt - hatte er noch Zeit, also beschloss er, ein wenig durch die Gegend zu fahren und ein paar seiner Lieblingsplätze von früher aufzusuchen. Hunt verspürte das Bedürfnis, Eileen anzurufen und ihr zu erzählen, dass er umziehen werde - warum, wusste er selbst nicht. In den letzten anderthalb Jahren waren sie nicht gerade gut miteinander ausgekommen. Außerdem waren ihre Vermögenswerte aufgeteilt; Alimente standen Eileen nicht zu, und laut Gesetz gab es keine wechselseitigen Verpflichtungen mehr. Dennoch erschien es Hunt sonderbar, dass er sich überhaupt nicht mehr um sie kümmern sollte; dass er nicht mehr verpflichtet sein sollte, sie über seinen aktuellen Aufenthaltsort in Kenntnis zu setzen. Er war es nicht gewohnt, alleine zu sein. Den Nachmittag verbrachte er damit, durch Antiquariate und Schallplattenläden zu streunen. Ein paar seiner Lieblingsgeschäfte von früher gab es nicht mehr, doch zwei Läden der Bookmans-Kette existierten noch, und er fand ein paar Chick-Corea-Alben und den Roman Das Geheimnis der Goldmine, den er als Teenager einmal gelesen hatte. Dann schaute er sich in einem Möbellager der Heilsarmee und einem Secondhand-Laden der St. Vincent-dePaul-Society um, fand aber nicht das Richtige. Nachdem er zu seinem Motel zurückgekehrt und kurz in den Swimmingpool gesprungen war, bestellte er sich eine Pizza und aß sie, während er sich die Nachrichten anschaute. Dann machte er sich auf den Weg. Joel wohnte in einem relativ neuen Stadtviertel, nur wenige Meilen von Hunts neuem Haus entfernt. Die Häuser waren ziemlich groß, die Vorgärten jedoch kaum der Rede wert. Das gleichförmige Aussehen der Bäume und Hecken, die aufeinander abgestimmten Briefkästen und das für die gesamte Siedlung gleiche Farbschema ließen Hunt vermuten, dass hier eine Eigentümervereinigung das Sagen hatte. Auch wenn diese Häuser offensichtlich deutlich teurer waren als das, was Hunt gerade erst angemietet hatte, hätte wohl keine Macht der Welt ihn dazu bringen können, hier einzuziehen. Die gleichförmigen Nachbarhäuser und der weiße Geländewagen, der in Joels Einfahrt stand - und der sich kein bisschen von den Wagen unterschied, die vor den umliegenden Häusern geparkt waren -, machten Hunt anfangs skeptisch, doch Joel erwies sich als der gleiche verschrobene, lustige, ein wenig zynische Kerl, den er von früher kannte. Die Einrichtung des Hauses strafte das konventionelle Äußere Lügen, als wäre die Fassade nur eine geschickte Tarnung, um niemanden erahnen zu lassen, was sich dahinter verbarg. Das Mobiliar war auf unkonventionelle Weise bunt zusammengewürfelt. Als Bücherschrank im Wohnzimmer diente eine riesige Hausbar, von der Joel berichtete, er habe sie aus der Bar einer alten Geisterstadt hinter McGuane »gerettet«, und das Wüsten-Terrarium, das gleich daneben stand, befand sich in der übergroßen Glaskugel einer alten Zapfsäule. Auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers war ein vertrockneter Saguaro-Kaktus zu einer Stehlampe umgearbeitet worden. In Joels Arbeitszimmer stand eine Rohleder-Couch neben einem Beistelltisch, der aus einem schwarzen Felsbrocken und einer Glasscheibe bestand. Eine Wand des Zimmers wurde vom Neonschild einer vermutlich abgerissenen Hamburger-Bude eingenommen, auf dem BURGERS, FRIES, SHAKES stand. »Coole Bude«, sagte Hunt, und seine Stimme verriet ehrliche Bewunderung. »Nicht wahr?« »Erinnerst du dich an unser Clubhaus? Roland hatte das Stoppschild vom Highway geklaut, und dann hatten wir noch diesen alten Spiegel, den wir im Sperrmüll gefunden und neben das Mötley-Crüe-Poster gehängt hatten, das uns Mikes Bruder geschenkt hat. Das hier«, er machte eine Armbewegung, die den ganzen Raum einschloss, »ist genau das, was wir immer wollten.« »Ja. Das hätte uns wirklich gefallen. Vor allem das Neonschild.« Joel lachte. »Ich habe das ästhetische Empfinden eines Achtjährigen!« »Nein, du hast es einfach nur geschafft«, sagte Hunt. »Und dafür hast du dich nicht selbst verraten müssen.« Joel klopfte Hunt auf die Schulter. »Ich freue mich, dass du wieder da bist, alter Junge. Ich hab's bisher nicht gewusst, aber ich habe dich vermisst.« »Ich dich auch.« Sie gingen ins Wohnzimmer zurück. »Hast du noch Kontakt zu den Jungs von früher?«, fragte Hunt. Joel schüttelte den Kopf. »Nee. Ich kriege jedes Jahr eine Weihnachtskarte von Jordan, und ich schicke ihm auch eine, aber damit hat es sich auch schon.« Hunt merkte ihm an, dass ihm das Thema unangenehm war. »Ich weiß gar nicht warum. Ich habe bisher nie darüber nachgedacht, und es gibt auch keine Entschuldigung dafür.« »Das sagt mir alles, das sagt mir alles!«, gab Hunt zurück und klang wie in alten Zeiten nach Monty Python. »Hast du vor, die alte Truppe wieder zusammenzutrommeln?«, fragte Joel. »Eigentlich nicht. Ich habe ein bisschen herumtelefoniert. Die meisten Jungs sind weg, in alle Himmelsrichtungen verstreut. Bei Victor wissen nicht mal die Eltern, wo er abgeblieben ist.« Joel legte die Stirn in Falten. »Victor?« »Ach ja, den kannte ich erst seit der Highschool. Victor hast du wahrscheinlich gar nicht kennen gelernt.« Joel legte Musik auf und holte Bier, und die nächste Stunde saßen sie zusammen und sprachen über die alten Zeiten. Als Hunt auf die Uhr schaute, war es schon nach acht. »Ist spät geworden«, sagte er und stand auf. »Du musst doch nicht schon weg?«, fragte Joel. »Nun ja, ich ...« »Komm, bleib noch!« »Mein Motel ist am anderen Ende der Stadt, und ich muss morgen früh raus. Bis Seal Beach ist es weit.« »Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass du morgen schon zurück willst«, sagte Joel. Einen Augenblick dachte Hunt nach; dann setzte er sich wieder. »Ach, was soll's.« Er betrachtete die eingerahmten Fotos der Familie, die auf dem Schrank der Stereoanlage aufgestellt waren. »Sind das deine beiden Frauen?« »Ja.« Hunt stand auf, um sich Joels Familie genauer anzuschauen. Er betrachtete ein Foto, das Joel zusammen mit einem hübschen jungen Mädchen in Disneyland vor dem Matterhorn zeigte, und ein weiteres Bild von demselben Mädchen, diesmal zusammen mit ihrer lächelnden Mutter am Grand Canyon, und schließlich ein Foto von allen dreien vor dem Giraffen-Gehege in einem Zoo. Irgendetwas an der Frau kam Hunt bekannt vor, und er schaute sich die Bilder genauer an, bis ihm ein Gedanke kam. Ungläubig drehte er sich zu Joel um. »Du hast Stacy Williams geheiratet?« Sein Freund grinste. »Jou.« »Wow!« »Das sage ich mir auch dauernd, jeden Tag auf's Neue.« Die Stacy, die Hunt von früher kannte, war ausnehmend hübsch gewesen, Jahrgangsbeste an der Highschool, Cheerleaderin, Chefredakteurin der Schülerzeitung und umschwärmter Star der Schule. Sie hatte zu den Girls gehört, an die Hunt und Joel niemals herangekommen wären. Stacy Williams spielte in einer anderen Liga und hatte wahrscheinlich nicht einmal von der Existenz ihrer Bewunderer gewusst. Und nun hatte Joel sie geheiratet! Hunt stellte die einzige Frage, die in diesem Zusammenhang logisch war: »Wie ist das denn passiert?« »Wir sind beide auf die University of Arizona gegangen, und da haben wir uns im Soziologiekurs wiedergetroffen. Oder besser, da hat sie mich zum ersten Mal gesehen. Ich wusste natürlich ganz genau, wer sie war, deswegen hatte ich mich neben sie gesetzt. Als ich dann beiläufig erwähnte, dass ich auf der John Adams gewesen war, hatte ich so gut wie gewonnen, denn Stacy hatte zu der Zeit niemanden und fühlte sich überfordert. Deshalb war sie froh, einen Bekannten zu treffen, mit dem sie reden konnte. Na ja, vielleicht nicht gerade einen Bekannten, aber doch jemanden, der aus der gleichen Ecke kam. Wir sind gut miteinander ausgekommen, haben zusammen gebüffelt und sind ein paarmal was trinken gegangen. Ich hätte nicht gedacht, dass daraus mehr würde oder dass ich überhaupt eine Chance bei ihr habe - schließlich war Stacy die heißeste Braut an unserer alten Schule. Dann, nach dem letzten Kurs, habe ich eine Weihnachtskarte von ihr bekommen. Sie hat sich bedankt, jemanden gehabt zu haben, mit dem sie reden konnte, und der ihr geholfen hat, ein hartes Semester zu überstehen. Unten auf die Karte hatte sie ihre Telefonnummer geschrieben. Tja, da hab ich sie kurz entschlossen zum Essen eingeladen. Bald darauf waren wir zusammen. Und nachdem wir beide unseren Abschluss hatten, habe ich sie geheiratet.« In diesem Augenblick wurde die Haustür geöffnet, und mit großen Schritten betraten Joels Frau und seine Tochter die Diele. Sie redeten, lachten und stellten lautstark Plastiktüten vor der Garderobe ab. Stacy war noch hübscher als auf den Fotos und noch schöner als während der Highschoolzeit, und sie hatte eine sachliche, nüchterne Art, die ihren Charme nur noch betonte. »Sie müssen Hunt sein«, sagte sie und streckte ihren Arm an Lilly vorbei, um ihm die Hand zu schütteln. »Schön, Sie kennen zu lernen. Joel hat erzählt, Sie hätten angerufen und würden vorbeikommen. Sie waren auch auf der John Adams, oder?« Er nickte. »Und auf der Bodie Junior High.« »Ich auch!« Stacy schob ihre Tochter zur Treppe. »Tut mir leid, dass ich hier so eine Hektik mache, aber das Treffen hat länger gedauert als erwartet, und Lilly sollte längst schlafen. Morgen ist Schule«, erklärte sie. »Ich bring sie rasch ins Bett, dann komme ich zu euch. Sag gute Nacht, Lilly!« »Gute Nacht«, sagte das Mädchen artig. »Gute Nacht«, sagte Hunt. Die beiden eilten die Treppe hinauf. Hunt schüttelte den Kopf. »Stacy Williams.« »Jetzt Stacy McCain.« »Du hast echt Schwein, weißt du das?« »Oh ja, ich weiß. Warte 'nen Augenblick. Ich gehe eben rauf und sage Lilly gute Nacht. Bin gleich wieder da.« »Okay.« Joel ging zur Treppe. »Sag mal, deine Frau hat nicht zufällig Single-Freundinnen?«, fragte Hunt. Grinsend wandte Joel sich um. »Kann schon sein«, sagte er. »Gut möglich.« 2. Nachdem er ein wenig herumtelefoniert hatte, wusste Hunt, dass es billiger sein würde, seine Habseligkeiten aus Kalifornien nicht mit einem gemieteten Laster von U-Haul oder Ryder hierherzuverfrachten, sondern mit dem Transporter einer ortsansässigen Firma namens »Eezee Rent«, die mit ihren Preisen nicht nur zehn Dollar unter dem günstigsten Angebot der Konkurrenz lag, sondern außerdem noch fünfzig Frei-Meilen anbot. Hunt stellte seinen Wagen in der Auffahrt seines neuen Hauses ab, ließ sich von Joel zu der Autovermietung fahren und machte sich dann auf die lange Fahrt nach Kalifornien; er hoffte, das Ganze werde nicht länger als zwei Tage dauern. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit erreichte er sein altes Zuhause und verbrachte den Rest des Abends damit, alles zusammenzupacken. Einen Großteil der Bücher und der Platten hatte er schon in Kartons gepackt, bevor er nach Arizona aufgebrochen war, doch viele Küchenutensilien, Lebensmittelvorräte, Kleidung und verschiedene Kleinigkeiten mussten noch in Kisten verstaut werden. Als Hunt sich endlich schlafen legte, war es schon nach Mitternacht. Um sechs Uhr klingelte der Wecker. Hunt packte ein paar letzte Kleinigkeiten, ehe er sich ein schnelles Frühstück genehmigte. Es war Samstag, also waren die meisten Mitbewohner des Apartmentkomplexes zu Hause, und wie er gehofft hatte, sahen ihn die beiden Nachbarn, die er am besten kannte - Bill Curtis und David Virgil -, wie er Kisten schleppte. Sofort erboten sich die beiden, ihm beim Beladen des Lasters behilflich zu sein. Im Gegenzug lud Hunt sie zum Mittagessen ein. Am Nachmittag waren der Wagen fertig beladen und das Apartment gereinigt. Nach der Schlepperei war Hunt zu müde, um noch die Neun-Stunden-Fahrt nach Tucson anzutreten, also fuhr er zur Ocean Avenue und schlenderte am Pier des Seal Beach entlang. Seit der Trennung hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, hier spazieren zu gehen und die Fischer und die Wellen, die Möwen und die Strandnixen zu beobachten. Dabei konnte er sich am besten entspannen. Als er nun im warmen Wind, der vom Landesinneren wehte, zu Ruby's Restaurant am Ende des Piers spazierte, erkannte Hunt, dass er dies alles vermissen würde. Die Nacht verbrachte er in einem Schlafsack auf dem Fußboden seiner alten Wohnung. Am nächsten Morgen brach er früh auf und war schon unterwegs, ehe die Sonne aufgegangen war. Kurz nach ein Uhr war er wieder in Tucson. Als er den Laster auf die Einfahrt lenkte, sah er einen Riss in der Heckscheibe seines Pkw. »So ein Mist«, murmelte er. Er stieg aus und blickte unwillkürlich zum Nachbarhaus auf der linken Seite. Niemand war dort zu sehen, nur ein mürrischer, hagerer Hund, der mit einem ausgefransten Seil an einem Metallstab angebunden war, äugte zu ihm herüber. Hätte Hunt Vermutungen anstellen müssen, hätte er gesagt, dass der Ball, der Stein oder was immer das Fenster seines Wagens getroffen hatte, von dort drüben gekommen war. Hunt ging zum Heck seines Wagens und schaute sich die Scheibe genauer an. Er hatte damit gerechnet, an dem Riss Schmutzreste oder Steinsplitter zu erkennen, oder eine Stelle, an der die Glasscheibe pulvrig war vom Aufprall eines Steins oder eines anderen Gegenstands. Doch da war nichts. Es schien, als hätte der Riss in der Scheibe sich ohne äußere Einwirkung gebildet. »Verdammt noch mal«, fluchte Hunt. Er rief Joel an. Der kam sofort und half ihm, die Möbel auszuladen und in der Wohnung aufzustellen. Dann fuhren sie den Laster zurück zur Autovermietung. Am nächsten Morgen rief Hunt seine Versicherung an. Die Policen befanden sich noch irgendwo in einer der Kisten, die nun im Wohnzimmer standen, doch die Versichertenkarte steckte in Hunts Brieftasche. Er zog sie hervor und wählte die darauf angegebene Nummer. Nach kurzem Klingeln informierte ihn eine Stimme vom Band, dass er das automatische Telefonsystem der United Automobile Insurance erreicht hatte. United Automobile Insurance? Er war doch bei der Statewide Insurance versichert! Hunt runzelte die Stirn, legte auf und wählte erneut, hörte jedoch die gleiche Bandansage. Dieses Mal blieb er in der Leitung und lauschte der Berieselungsmusik, ehe die Ansage kam: »Um mit dem nächsten verfügbaren Mitarbeiter zu sprechen, drücken Sie bitte die Null, oder bleiben Sie in der Leitung.« Hunt drückte die Null. »Bitte warten Sie«, sagte eine ausdruckslose, ebenfalls aufgezeichnete Frauenstimme. »Einer unserer Mitarbeiter wird gleich für Sie da sein. Bitte nennen Sie dann Ihren Namen, Ihre Versicherungsnummer sowie Automarke und Modell. Dieser Anruf kann aufgezeichnet werden, um unseren Kunden über die Qualitätssicherung einen besseren Service bieten zu können.« Wieder setzte Berieselungsmusik ein. Hunt wartete eine Minute, zwei Minuten, fünf, sechs, sieben. Er wollte schon auflegen und erneut wählen, als die Musik verstummte und ein Mann sich meldete: »United Automobile Insurance. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?« »Hallo. Ich, äh ... Ich bin eigentlich gar nicht Kunde bei der United Automobile«, setzte Hunt zögernd an. »Ich bin bei der Statewide Insurance. Aber als ich die Nummer angerufen habe, die auf meiner Karte steht, bin ich bei Ihrer Firma gelandet.« »Wir haben die Statewide Insurance aufgekauft. Sie hätten per Post eine entsprechende Nachricht erhalten müssen, Sir.« »Habe ich aber nicht.« »Nun, auf jeden Fall kümmern wir uns nun um alle ehemaligen Kunden der Statewide. Also, was kann ich für Sie tun?« »Ich habe einen Riss in der Heckscheibe meines ...« »Versicherungsnummer?« Hunt blickte auf seine Karte und las die Nummer vor. Dann folgte eine kurze Pause. »Sie sind Hunt Jackson? Und das Fahrzeug, um das es geht, ist ein Saab?« »Ja.« »Und Sie wohnen 114 Tenth Street, Apartment B in Seal Beach?« »Nein, nicht mehr. Ich bin gerade nach Tucson, Arizona, umgezogen. Gestern, um genau zu sein. Ich hatte bisher noch keine Gelegenheit, die Adressänderung anzugeben, und ...« »Wo hat sich der Unfall ereignet, Sir?« »Ich weiß nicht genau, ob man hier von einem Unfall sprechen kann, weil ...« »Wo ist es zu dem Zwischenfall gekommen, der zu dem Riss in der Heckscheibe geführt hat?« »Tucson. Auf der Auffahrt vor meinem Haus.« Dann fiel ihm auf, dass er die Adresse noch gar nicht auswendig kannte. »Warten Sie einen Moment.« Er lief zur Küchenzeile, auf der er eine Kopie des Mietvertrags abgelegt hatte. Dann griff er wieder nach dem Hörer. »Das ist 2112 Jackrabbit Lane.« »Und wie ist es passiert?« »Das weiß ich nicht. Ich habe den Wagen in der Auffahrt geparkt und habe dann einen Laster gemietet, um meine Möbel aus Kalifornien zu holen. Ich war zwei Tage weg. Als ich zurückkam, hatte die Heckscheibe einen Sprung.« »Wann ist das passiert?« »Irgendwann in den letzten zwei Tagen.« »Ich brauche eine Uhrzeit.« »Die weiß ich nicht.« »Mir genügt eine grobe Schätzung.« Langsam wurde Hunt ärgerlich. »Hören Sie, können Sie mir nicht einfach sagen, wie hoch meine Selbstbeteiligung ist? Wenn ich jemanden finden kann, der mir das billiger reparieren kann, dann ...« »Und um wie viel Uhr, sagten Sie, hat der Zwischenfall sich ereignet?« »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, ich war zwei Tage weg! Als ich zurückkam, war die Scheibe kaputt! Es ist irgendwann in diesen zwei Tagen passiert!« »Das muss ich schon genauer wissen.« »Das ist doch scheißegal! Sie können eintragen, was immer Sie wollen!« »Halb Affenarsch, viertel vor Hodensack.« Hunt glaubte, sich verhört zu haben. »Was?« »Das trage ich ins Feld für die Uhrzeit ein.« »Sie können doch nicht ...« »Die Felder müssen ausgefüllt sein, und da Sie sich als unkooperativ erweisen, bin ich gezwungen, nach eigenem Ermessen zu handeln und selbst einen Eintrag vorzunehmen. Haben Sie jetzt einen geschätzten Zeitpunkt für mich?« »Ich habe Ihnen doch schon gesagt ...« Im Hintergrund hörte Hunt das Klappern einer Tastatur. »Halb Affenarsch, viertel vor Hodensack.« Diesmal sprach der Mitarbeiter der Versicherungsgesellschaft die Worte mit einem übertriebenen Südstaatenakzent aus, sodass Hunt die Bindestriche im Wort »Hodensack« praktisch hören konnte: Ho-den-sack. »Was soll denn das?«, wollte Hunt wissen. »Ich möchte mit Ihrem Abteilungsleiter sprechen!« »Einen Moment.« Hunt hörte ein Klicken, dann war die Leitung tot. Dieser Blödmann hatte tatsächlich aufgelegt! Sofort wählte Hunt die Nummer erneut. Dieses Mal hatte er nach der Bandaufzeichnung und fünfminütiger Wartezeit eine Mitarbeiterin an der Strippe. Sie war freundlich und höflich und hatte keine Erklärung für das bizarre erste Gespräch. Hunt gab der Frau - »Kara«, sagte sie, mit »K« - sämtliche Informationen über die geborstene Heckscheibe, und Kara notierte alles. Sie sagte Hunt, sie brauche keine Angabe über den Zeitpunkt des Zwischenfalls und dass ein Sachverständiger noch an diesem Morgen vorbeikommen werde, um den Schaden abzuschätzen. Dann notierte sie Hunts neue Adresse und Telefonnummer und bat ihn, der Versicherung eine Kopie seiner Zulassung in Arizona zu schicken, sobald der Wagen umgemeldet war. Zum Schluss sagte sie ihm zu, eine neue Versicherungspolice, mit der neuen Adresse, werde innerhalb der nächsten Woche erstellt und ihm zugeschickt. »Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen?«, fragte Kara dann noch. »Klar.« »Sie sollten sich überlegen, eine Hausratversicherung abzuschließen. Den Statistiken zufolge, die mir hier vorliegen, wohnen Sie zwar nicht in einer Gegend mit extrem hoher Kriminalität, aber sie liegt über dem Durchschnitt, was gemeldete Fälle von Vandalismus betrifft.« »Sind Sie denn nicht eine reine Autoversicherung?« »Es stimmt schon, wir verkaufen tatsächlich keine Hausratversicherungen«, gab sie zu. »Aber wir arbeiten mit der All Homes Insurance zusammen, und die bieten das vollständigste Deckungskonzept auf dem ganzen Markt an, ohne Ausschlussklauseln, also sollten sie Ihnen ein faires Angebot machen können. Wenn Sie mögen, kann ich Sie gleich durchstellen.« »Im Augenblick nicht, danke.« »Dann möchte ich Ihnen nur noch eines empfehlen: Wenn Sie eine Hausratversicherung abschließen, sollten Sie sich für die maximale Deckungssumme entscheiden. Sie werden es brauchen.« Sie werden es brauchen? Aus irgendeinem Grund hörte sich das für Hunt wie eine Drohung an. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«, fragte Kara. »Was ist mit dem Mann, der als Erster meinen Anruf entgegengenommen hat? Werden Sie Ihrem Abteilungsleiter davon berichten? Ihr Kollege sollte mit einem solchen Benehmen nicht durchkommen.« »Wie war noch mal sein Name?« »Den hat er mir nicht genannt.« »Seltsam. Alle Mitarbeiter im Telefondienst sind verpflichtet, sich mit Namen zu melden.« »Offensichtlich hält der Kerl sich nicht an die Vorschriften.« »Sind Sie sich sicher, dass er tatsächlich Mitarbeiter der United war?« »Ich habe genau diese Nummer gewählt und das gleiche automatisierte System durchlaufen wie jetzt, ehe ich ihn an der Strippe hatte. Und er konnte die Informationen über meine Police abrufen. Also würde ich schon sagen, dass er echt war.« »Nun, im Moment kann ich mich nur noch einmal dafür entschuldigen. Ich versichere Ihnen, dass wir den Zwischenfall untersuchen werden.« »Danke.« Hunt legte auf. Seltsam, dachte er. Sehr seltsam. 3. Zwei Wochen lang suchte Hunt erfolglos nach einer neuen Arbeitsstelle: Er las Kleinanzeigen, verschickte Lebensläufe und suchte immer wieder das Arbeitsamt auf (genauer, das »Amt für Ökonomische Sicherheit«, wie es mittlerweile beschönigend genannt wurde). Bei jeder Firma und jeder Gesellschaft füllte er Formulare aus, in jedem Krankenhaus und an jeder Schule, in jedem Stadt-, Bezirks- und Bundesamt, das Hunt nur hatte finden können. Bei den meisten jedoch standen gerade selbst Entlassungen an; es gab keine Neueinstellungen, und in dieser vor PCs geradezu überquellenden Welt schien niemand einen Experten für Großrechner zu benötigen, wie Hunt es war. Seine Abfindung hatte er fast schon aufgebraucht, und obwohl der Papierkram - der zwischen den einzelnen Staaten noch länger zu brauchen schien als ohnehin schon - endlich erledigt war und Hunt wieder Arbeitslosengeld bezog, reichte es kaum für die Miete. Hunt brauchte dringend eine Finanzspritze, doch ihm fiel keine andere Möglichkeit ein, als bei »Kelly« oder einer anderen Zeitarbeitsfirma anzuheuern und sich irgendeinen Aushilfsjob zu suchen - oder für den Mindestlohn bei einer Fast-Food-Bude anzufangen und den ganzen Tag damit zu verbringen, Hamburger zu wenden. Wie der Zufall es wollte, schaute Hunt gerade die Stellenangebote in den Kleinanzeigen durch, als ihn Reed Abrams anrief, Chef der Personalabteilung bei der Bezirksverwaltung, um ihm einen Job anzubieten. Nur war es nicht die Stelle in der Computerabteilung, für die Hunt sich beworben hatte, sondern ein Job bei der Abteilung für Landschaftspflege: Hunt sollte Bäume beschneiden. »Als Sie Ihre Erst-Bewerbung ausgefüllt haben, haben Sie unter ›Tätigkeitsfelder‹ auch ›Andere‹ angekreuzt«, erklärte der Personalchef. »Und das bedeutet, dass Sie im Endeffekt darum gebeten haben, bei sämtlichen zu besetzenden Stellen berücksichtigt zu werden. Und selbst wenn Sie hoffnungslos überqualifiziert sind: Es gibt tatsächlich eine freie Stelle im Landschaftspflegetrupp - eine Einstiegsstellung, für die keinerlei Berufserfahrung erforderlich ist. Auch wenn das vielleicht nicht wie ein geeigneter Job für jemanden mit Ihrer Ausbildung und Ihrer Qualifikation aussieht, möchte ich doch anmerken, dass es sehr viel einfacher ist, Sie als Quereinsteiger in eine andere Abteilung zu versetzen oder sogar zu befördern, sobald beim County neue Stellen frei werden. Im Augenblick suchen wir keine Mitarbeiter für die EDV, aber sobald das der Fall ist, werden wir uns zuerst hausintern umschauen, ehe wir die Stelle ausschreiben, und dann wären Sie in der optimalen Position.« Hunt stellte ein paar oberflächliche Fragen und tat so, als wäre er nicht sonderlich interessiert, obwohl er bereits beschlossen hatte, die Stelle anzunehmen. Was hatte er auch für eine Wahl? Entweder beschnitt er Bäume, oder er landete in einer Frittenbude. Abrams bat ihn, am nächsten Morgen vorbeizukommen, und gab ihm einen kurzen Überblick, was ihn dort erwartete; dann legte er auf. Einen Augenblick lang versank Hunt beinahe in Selbstmitleid. Wie sind die Helden gefallen, dachte er. Doch dieses negative Gefühl wurde rasch durch neu aufkeimenden Optimismus ersetzt. Die Bezahlung war nicht deutlich schlechter als das, was er bei manchen privaten Firmen in Tucson als Computerexperte verdient hätte, und die Sondervergütungen waren äußerst großzügig. Die Versicherungsleistungen konnten es allemal mit denen aufnehmen, die ihm sein alter Arbeitgeber Boeing seinerzeit gewährt hatte. Objektiv betrachtet war das wirklich kein schlechtes Angebot. Außerdem war Hunt ja genau deswegen hierhergekommen: Er wollte ganz von vorne anfangen, und was konnte befreiender sein als eine derartige Umstellung? »Und«, sagte er später zu Joel, »mein Job ist ja schließlich nicht mein Leben. Er dient nur dem Geldverdienen, damit ich mein Auskommen habe.« Hunt hatte sich seit der Scheidung tatsächlich sehr verändert. Er war nicht mehr von dem Wunsch getrieben, sich selbst zu beweisen, und er wollte nicht mehr unbedingt irgendwelche Karriere-Meilensteine erreichen. Seit seiner Kindheit hatte er sich ständig im Wettstreit mit allem und jedem gesehen, hatte um gute Noten gekämpft, um ein angesehenes College besuchen zu können, und hatte dafür gesorgt, einen Job zu bekommen, den er auch wirklich verdiente - und auch die entsprechenden Beförderungen. Hunt war erfolgreich gewesen, aber das bedeutete nicht notwendigerweise, dass er auch glücklich gewesen war. Nun sah er die Gelegenheit, es genau andersherum anzugehen und nicht mehr dem Erfolg, sondern dem Glück nachzujagen. Joel gab ihm einen Klaps auf die Schulter. »Na dann«, sagte er. »Herzlichen Glückwunsch zu deinem neuen Job.« »Danke«, erwiderte Hunt. »Langsam sieht alles ein bisschen besser aus.« Um halb sechs Uhr riss der Wecker ihn aus dem Schlaf. Als Hunt sich ungeschickt durch die Dunkelheit bis zur Anrichte vortastete, wo der Wecker stand, stolperte er über einen Stuhl. Fluchend stellte er den Alarm aus, stand einen Augenblick reglos da, hielt sich an der Kante der Anrichte fest und versuchte, seinem vom Schlaf noch umnebelten Verstand zumindest einen Hauch von Wachheit aufzuzwingen. In Kalifornien war er immer schon um fünf Uhr aufgestanden, um nicht in den Berufsverkehr zu kommen, doch mittlerweile war er nicht mehr daran gewöhnt, so früh aufzustehen; es fühlte sich fast so angenehm an, als würde ihm ein Zahn gezogen. Hunt duschte und rasierte sich. Dann stand er in Unterwäsche vor seinem Kleiderschrank und suchte etwas Passendes. Um halb acht Uhr sollte er beim Chef der Personalabteilung sein, um eine erste Einweisung zu erhalten, und um neun Uhr hatte er einen Termin mit dem Leiter der Abteilung für Landschaftspflege. Der Personalchef hatte ihm nicht gesagt, was er anziehen solle, und Hunt hatte nicht daran gedacht, eigens danach zu fragen. Eine Krawatte wäre vermutlich zu förmlich, aber saloppe Freizeitkleidung sollte er wahrscheinlich auch nicht gerade anziehen. Gab es beim Landschaftspflegetrupp nicht eigene Uniformen? Overalls in Orange oder etwas in der Art? Oder waren die für Gefängnisinsassen? Hunt wusste es nicht. Schließlich entschied er sich für eine neue Jeans und ein schickes Hemd. Ein echter Kompromiss. Es stellte sich heraus, dass es für den Landschaftspflegetrupp tatsächlich Uniformen gab, doch Hunt hatte sich für genau die richtige Kleidung entschieden, denn einen Großteil des Morgens verbrachte er in den Büroräumen des Bezirks-Gebäudes und sprach mit zahllosen Bürokraten, musste sich ein »Willkommen bei der Bezirksverwaltung«-Video anschauen, füllte Versicherungsformulare und Steuerformulare und Haftungsformulare aus. Kurz nach zehn wurde er dann endlich zu Steve Nash geschickt, dem ruppigen Leiter der Abteilung Landschaftspflege. Nash führte Hunt auf den Hof, erklärte ihm einige der Maschinen, mit denen Hunt zukünftig würde arbeiten müssen, und händigte ihm dann einen Karton mit einer gelbbraunen Uniform und einer Mütze aus. Danach führte er Hunt wieder ins Haus zurück, damit »der Neue« sich ein weiteres Video anschauen konnte - dieses Mal über Bäume und wie man sie zu beschneiden hatte. Nach einer halbstündigen Mittagspause hatte Hunt sich in einer Klinik zu melden, die ganz in der Nähe lag, um sich dort einer Einstellungsuntersuchung und einem Drogentest zu unterziehen. Es war fast drei Uhr, als er endlich alles hinter sich hatte. »Soll ich dann jetzt wieder auf den Hof zurück?«, fragte er. »Ich dachte, ich solle schon heute anfangen.« »Morgen«, erklärte der Personalchef. »Aber Ihre Einstellung hier ist erst mal als ›vorläufig‹ vermerkt, bis uns die Ergebnisse des Drogentests vorliegen und Sie eine Probezeit von sechs Monaten absolviert haben, während der Sie jederzeit ohne Angabe von Gründen entlassen werden können.« »Und was mache ich jetzt?« »Gehen Sie nach Hause, schlafen Sie sich aus, und melden Sie sich morgen früh um acht bei Steve im Hof.« Als Hunt am nächsten Morgen um acht Uhr erschien, kam er zu spät. Sämtliche Lastwagen und Arbeitstrupps waren bereits aufgebrochen. Der Chef der Landschaftspflege klärte Hunt darüber auf, dass zwar die Büroleute um acht anfingen und um fünf Feierabend hatten, die Trupps hingegen immer schon um sieben losführen, im Sommer um sechs. »Dieses Mal mache ich Ihnen noch keinen Ärger, schließlich hat ja dieses Arschloch Abrams Mist gebaut, aber ab jetzt kommen Sie lieber pünktlich!« »Mach ich«, versprach Hunt. Misstrauisch starrte Steve ihn an. Mit seinem Schnurrbart, der untersetzten Figur und seiner beständig finsteren Miene sah er aus wie eine unsympathischere Ausgabe von Dennis Franz, der in NYPD Blue den Unerschütterlichen gemimt hatte. »Jackson«, sagte er dann mit zusammengekniffenen Augen, »was machst du eigentlich hier?« Hunt schaute ihn verdutzt an. »Bitte?« »Was macht ein College-Bürschchen wie du hier? Schreibst du ein Buch?« Hunt wusste nicht, was er antworten sollte. »Nein«, sagte er schließlich. »Ich brauchte einen Job.« »Also ist das hier für dich nur eine Übergangslösung, ja? In einem Monat oder so bist du wieder weg, wenn du was Besseres findest, und lässt uns hier im Stich, was?« »Nein«, log Hunt. »Jetzt hau schon ab«, sagte Steve verächtlich. »Und komm nicht noch einmal zu spät. Du bist hier noch in der Probezeit, vergiss das nicht!« Hunt wurde einem Drei-Mann-Trupp zugeteilt - wobei er selbst der dritte Mann sein sollte -, also griff er nach der Karte, die Steve ihm reichte, und fuhr dann mit seinem Wagen zu einem Park im Osten der Stadt. Den Laster der Bezirksverwaltung fand er mühelos, doch die anderen Baumbeschneider aufzuspüren, erwies sich als problematischer. Endlich fand Hunt sie dann doch, mehrere hundert Meter von ihrem Wagen entfernt auf einem Wanderpfad, der sich in der Nähe eines ausgetrockneten Wasserlaufs durch das hügelige Gelände schlängelte. Edward Stack, ein stämmiger Weißer, der wie ein Profiwrestler aussah, stand auf einer metallenen Trittleiter und durchtrennte mit einem langen Schnittwerkzeug die oberen Äste eines Grünholzbaums. Jorge Marquez - klein, hager und dunkel - sammelte die Schnittreste auf und lud sie in einen orangefarbenen Karren, der an einem kleinen Motorfahrzeug festgemacht war. Überschwänglich entschuldigte Hunt sich für seine Verspätung, doch seinen beiden Kollegen schien es egal zu sein. Beide legten eine Pause ein und stellten sich erst einmal vor. Unter einem Busch versteckt, stand ein Kühlbehälter mit Eis. Jorge zog drei Flaschen Snapple-Eistee mit Himbeergeschmack hervor, behielt eine für sich und reichte die beiden anderen weiter. »Ich hab erst vor 'ner halben Stunde gefrühstückt«, lehnte Hunt ab. »Da hast du Glück. Wir arbeiten schon eine Stunde hier, und es ist höllisch heiß«, gab Jorge zurück. Die beiden führten ein eigenes, deutlich inoffizielleres Vorstellungsgespräch mit Hunt, während sie tranken, fragten ihn nach seinem Leben, seinen bisherigen Arbeitsstellen und wie er an diesen Job gekommen sei. Sie schienen sich keine allzu großen Sorgen zu machen, dass er noch keine Erfahrung hatte - was gut war -, und sie schienen ihn zu mögen - was noch besser war. Nachdem sie mit ihren Fragen fertig waren und offenbar zu der Ansicht gelangt waren, dass Hunt in Ordnung sei, zeigten sie ihm, was er zu tun hatte. Natürlich hatte Hunt das Video über den Baumbeschnitt gesehen, und Steve hatte ihm auch erklärt, wie das Handwerkszeug zu benutzen sei, doch dieser grobe Überblick erwies sich nun als nutzlos. Edward und Jorge zeigten Hunt stattdessen, wie man in der Praxis vorzugehen hatte, und ließen ihn erst ein wenig üben, ehe sie ihn aufforderten, die abgeschnittenen Äste aufzusammeln und im Karren zu stapeln. »Du hast dir 'nen guten Tag ausgesucht, hier anzufangen«, sagte Jorge, während er zu dem Grünholzbaum hinüberging. »Gleich lernst du Big Laura kennen!« »Wer ist Big Laura?« Edward lachte leise. »Das wirst du schon sehen. Wie viel Uhr ist es, Jorgy-Baby?« »Fast viertel nach neun!«, rief Jorge. »Auf Big Laura kann man sich genauso verlassen wie auf den Stuhlgang meiner Oma. Unsere Laura joggt jeden Tag hier entlang. Und an Tagen, an denen wir hier sind, sagt sie gern mal ›hi‹.« Edward deutete auf den staubigen Wanderpfad. »Schau da rüber. Laura wird jeden Moment hier sein.« Tatsächlich sah Hunt etwas Rotes zwischen den Bäumen und Büschen schimmern, und einen Augenblick später kam eine junge blonde Frau auf den Trupp zu gejoggt. Sie war hochgewachsen und kräftig gebaut; aber das war offensichtlich nicht der Grund, warum Edward und Jorge sie Big Laura nannten. Nein, die beiden Gründe dafür hüpften vor ihrem Brustkorb auf und ab wie zwei Gelee-Basketbälle und füllten sogar das weit geschnittene Sweatshirt fast bis zum Platzen aus. Als Laura an den drei Männern vorüberlief, lächelte sie freundlich, lupfte ihr Oberteil und entblößte die größten Brüste, die Hunt jemals gesehen hatte. Dann war sie fort, hinter der Biegung des Pfades verschwunden. Edward und Jorge lachten. »Ein paar Annehmlichkeiten bietet dieser Job schon«, sagte Jorge. Hunt schüttelte den Kopf. »Wow! Scheint wirklich so.« »Warte erst mal den Donnerstag ab«, sagte Edward. »Was ist denn am Donnerstag?« »Da arbeiten wir an der East Side, im Rillito-Bezirk. Gleich nebenan ist ein Neubaugebiet.« »Und da ist auch Stripping Susan«, sagte Jorge. »Das ist ein Anblick, den du so schnell nicht vergessen wirst.« »Stripping Susan?« Jorge grinste. »Big Laura war nur der erste Akt. Willkommen beim Baumbeschnitt.« ZWEI Nein. Das konnte nicht sein. Obwohl Sy Kipplinger nie zuvor ein Erdbeben erlebt hatte, wusste er doch genau, dass dies hier eines war. Der Boden unter seinen Füßen wogte und schwankte wie ein kleines Boot bei schwerer See, das zudem unablässig von Hammerhaien angegriffen wurde. Die Zeit schien sich zu dehnen. Sekunden kamen Sy Kipplinger wie Minuten vor; sämtliche Sinne, durch die Panik geschärft, nahmen überdeutlich wahr, was geschah. Kipplinger sah, wie die Hängepflanzen in der Küche hin und her schaukelten, hörte das Knarren des Holzfundaments unter seinen Füßen und nahm den Geruch von Gas wahr: Die Leitung des Durchlauferhitzers war gerissen. Sein Frühstück klatschte auf seinen Schoß. Orangensaft und Eier hinterließen große Flecken auf der Hose. Mary schrie und schrie. Sy packte sie und versuchte, sie aus der Küche in den Hinterhof zu zerren. Aus den offenen Regalen stürzten Teller und Tassen zu Boden. Eine Salatschüssel traf Mary fast am Kopf - und dann schob sich rumpelnd der Kühlschrank vor die Hintertür und versperrte ihnen den Weg. Das Fenster über der Spüle barst. Glassplitter regneten auf sie herab. Zahllose Scherben zerschnitten Sy Arme und Gesicht. In seinen siebzig Lebensjahren hatte Sy Kipplinger schon Vieles erlebt, aber nichts und niemand hatte ihn auf etwas Derartiges vorbereitet: Der Boden selbst bewegte sich unter seinen Füßen, verschob sich in alle Richtungen, war nicht mehr fest und sicher ... beinahe so, als wolle die Erde ihn verscheuchen wie eine Fliege, durch die sie sich belästigt fühlte. Vor ihnen brach ein Stück der Decke ein und stürzte herab, während sie ins Wohnzimmer eilten. Beinahe wäre Sy über das Deckenstück gestürzt; nur weil er immer noch Marys Schulter umklammert hielt, konnte er sich aufrecht halten. Er hatte keine Ahnung, wie lange das Erdbeben schon dauerte - wahrscheinlich weniger als eine Minute -, doch es fühlte sich an wie eine ganze Stunde, und es gab keinerlei Anzeichen, dass es sich beruhigte oder gar aufhörte. Wenn überhaupt, nahm es an Stärke zu. Die wogenden, rollenden Bewegungen waren verschwunden; jetzt gab es nur noch eine wilde Folge heftigen Rüttelns und Schüttelns. Der Fernseher kippte um und zerbarst auf dem Hartholzboden; Marys Regal mit den Porzellanfigürchen kippte vornüber und schleuderte die ganze Sammlung über die Couch, den Kaffeetisch und den Läufer, der davor lag. Einen kurzen, unmöglichen Moment lang glaubte Sy im Flur zu seiner Linken die Silhouette eines Menschen zu sehen, eines stämmigen Mannes mit Hut; dann taumelten seine Frau und er gemeinsam über den rüttelnden Boden auf die Vordertür zu und wichen umstürzenden Möbelstücken aus, und Sy hatte die Gestalt schon wieder vergessen. Sie hatten es gerade eben ins Freie geschafft, als die gesamte, nach Osten liegende Hälfte des Hauses zusammenbrach. Sys Schuppen und die beiden Schlafzimmer sackten in sich zusammen, als hätte jemand einen Stift herausgezogen, der das Haus zusammengehalten hatte. Hinkend taumelten Mary und er über den Vorgarten. Irgendwann bemerkte Sy, dass das Beben aufgehört hatte und dass er immer noch versuchte, einer Bewegung entgegenzuwirken, die gar nicht mehr stattfand. Sie erreichten die Straße und drehten sich um, starrten auf den Schutthaufen, der ihr Zuhause gewesen war. Dann, ohne Vorwarnung, begann Mary auf Sy einzuschlagen, und während sie mit der Faust immer wieder seine Schultern und seinen Brustkorb traktierte, stieß sie schluchzend hervor: »Ich habe dir doch gesagt, wir sollten eine Erdbebenversicherung abschließen!« Sie kreischte jetzt beinahe. »Ich hab's dir gesagt!« Wie betäubt starrte Sy auf die Stelle, an der einst sein Schuppen gestanden hatte, und fragte sich, warum keines der Nachbarhäuser betroffen war. »Wir sind hier in Tucson«, erwiderte er. »Hier gibt es keine Erdbeben.« Nachbarn strömten aus ihren Häusern, viele noch im Morgenmantel; manche hielten ihre Kaffeetasse in der Hand. Alle starrten verwirrt auf die Überreste des Hauses der Kipplingers. Einige kamen zu ihnen, um zu helfen, falls möglich. »Ich hab's dir gesagt!«, schluchzte Mary und schlug weiter auf Sy ein. »Wir sind hier in Tucson«, wiederholte er. »Hier gibt es keine Erdbeben, verflixt noch mal!« DREI 1. Stacy hatte tatsächlich eine Freundin, die noch Single war, und auch wenn Hunt es nur im Scherz gesagt hatte, versuchten Joel und seine Frau tatsächlich, sie zu verkuppeln, indem sie die beiden an einem Freitag zum Abendessen einluden. Ehrlicherweise hatten sie Hunt und Stacys Freundin vorgewarnt, also kam es nicht völlig überraschend. Beiden wurde versichert, es sei nicht als Blind Date anzusehen, und sie wollten die beiden keineswegs unter Druck setzen ... aber irgendwie war alleine das schon Druck genug, und so ertappte Hunt sich dabei, wie er vor dem Spiegel verschiedene Outfits ausprobierte, um möglichst gut auszusehen. Sie hieß Beth und arbeitete zusammen mit Stacy in der PR-Abteilung von Thompson Industries. Zu Beginn des Abends blieb Beth bei Stacy in der Küche, während Hunt und Joel im Wohnzimmer saßen, fernsahen und sich unterhielten. Lilly lief immer wieder zwischen ihren Eltern hin und her. Das Abendessen nahmen sie dann am großen Esstisch ein, und Hunt und Beth saßen praktischer- und keineswegs zufälligerweise nebeneinander. Die beiden kamen sofort sehr gut miteinander aus, und auch wenn Stacy und Joel für derartige Aufgaben jederzeit zur Verfügung gestanden hätten, benötigten Beth und Hunt keinerlei Unterstützung oder Konversationshilfen ihrer Gastgeber, die sich deshalb ganz auf ihre Tochter und deren dramatische Schilderung ihrer Erlebnisse an diesem Tag konzentrieren konnten. Danach brachte Stacy das Mädchen ins Bett, während Joel sich in die Küche zurückzog, um die Spülmaschine einzuräumen, sodass Hunt und Beth auf sehr diskrete Art und Weise alleine zurückblieben. Sie saßen nebeneinander auf dem Sofa, nah, aber nicht zu nah, und leiteten das Über-sich-selbst-Reden damit ein, einander zu berichten, wie sie die McCains kennen gelernt hatten. Beth erzählte, wie sie und Stacy sich als Kolleginnen bei Thompson Industries angefreundet hatten, und Hunt berichtete, Joel und er hätten früher in der gleichen Straße gewohnt und seien während der Grundschulzeit die besten Freunde gewesen. »Wow«, sagte Beth. »So lange kennen Sie einander schon?« »Na ja, es gab große zeitliche Lücken. Während der High School haben wir getrennte Freundeskreise aufgebaut, und danach hat jeder sein eigenes Leben angefangen. Ich bin nach Kalifornien gezogen, habe einen Job gefunden und geheiratet. Zu Joel habe ich erst wieder Kontakt aufgenommen, als ich letzten Monat hierhergezogen bin, nachdem meine Scheidung endlich durch war. Davor habe ich lange nichts von ihm gesehen oder gehört, vielleicht fünfzehn Jahre lang nicht.« Stacy kam die Treppe herunter. »Ihr beide solltet ein bisschen spazieren gehen«, schlug sie vor, als sie auf dem Weg in die Küche durchs Wohnzimmer kam. »Ist so ein schöner Abend.« »Subtil«, stellte Beth fest. »Sehr subtil.« Stacy lachte. Doch Beth und Hunt beschlossen, diesen Vorschlag tatsächlich aufzunehmen, und nachdem sie ihren Gastgebern gesagt hatten, sie würden ein wenig an die frische Luft gehen, spazierten sie die Auffahrt hinunter, dann den Bürgersteig entlang und an den fast gleich aussehenden Häusern vorbei. »Sie sind also geschieden«, sagte Beth. »Stört Sie das?« »Ich weiß nicht.« »Was ist mit Ihnen?« »Hab nie geheiratet. Hab sogar noch nie mit jemandem zusammengelebt«, gab Beth zu. Die Überraschung musste Hunt deutlich anzusehen gewesen sein. »Ich habe allerdings nicht wie eine Nonne gelebt«, fügte Beth hinzu. »Ich hatte eine Menge Freunde. Mit dem letzten war ich mehr als fünf Jahre zusammen.« »Aber zusammen gewohnt haben Sie nicht.« »Manchmal hat er bei mir übernachtet, oder ich bei ihm ... aber richtig zusammengewohnt haben wir nicht.« »Und warum haben Sie sich getrennt?« »Sie sind ganz schön neugierig, meinen Sie nicht?« »'tschuldigung. Ich bin nicht ... ich habe nicht ... ich bin das schon eine ganze Weile nicht mehr gewohnt ...« Er holte tief Luft. »Ich weiß überhaupt nicht, was ich hier tue. Ich improvisiere nur. Es tut mir leid, wenn ich ...« Beth lachte. »Ist schon gut. Ich hätte nichts gesagt, wenn ich gewusst hätte, dass Sie das so ernst nehmen. Es ist bloß ... ich verstehe mich nicht gut darauf, mich selbst zu analysieren, und Sie haben mich ... du hast mich ...« »Ich habe dich dazu gebracht, dich selbst zu analysieren?« »Genau.« »Tut mir leid.« »Muss es nicht. Und damit du's weißt: Tad und ich haben uns getrennt, weil er mich abgeschossen hat. Er hatte in einer Kneipe ein Flittchen kennen gelernt, und am nächsten Morgen hat er mich angerufen und mir gesagt, dass es aus ist.« »So ein Blödmann«, sagte Hunt. »Soll das ein Kompliment sein?« »Ja.« Sie hakte sich bei ihm ein. Er spürte die Wärme des Körpers neben sich. Das lief alles deutlich besser, als er gehofft hatte. »Wo wir schon in einer so schönen Beichtstimmung sind: Warum hast du dich scheiden lassen?« Er zuckte mit den Schultern. »Das Übliche, nehme ich an. Wir sind uns nur noch gegenseitig auf die Nerven gegangen. Jedenfalls hatte keiner von uns eine Affäre ... wir konnten nur einfach nicht zusammen leben. Wahrscheinlich hätten wir besser nie geheiratet.« Eine halbe Stunde später kehrten sie zurück, Hand in Hand. Joel und Stacy waren mit dem Abwasch fertig und saßen im Wohnzimmer auf dem Sofa; im Hintergrund lief eine alte Spyro-Gyra-CD. Beth bat um Entschuldigung und ging ins Badezimmer. Hunt blickte zu Joel hinüber und sah, dass sein Freund grinste und dabei die Augenbrauen auf und ab tanzen ließ - in übertriebener Groucho-Marx-Manier. Hunt nickte und grinste ebenfalls. Vielleicht klappte es ja wirklich. 2. Von einer stürmischen Romanze konnte man wahrlich nicht sprechen. Beide hatten sich erst vor kurzem die Finger verbrannt, und so ließen Beth und Hunt es langsam angehen. Er wartete eine Woche, bis er sie überhaupt anrief; eine Woche später hatten sie ihr erstes »richtiges« Date: die traditionelle Kombination aus Abendessen und Kino. Hunt hatte schon befürchtet, es gebe vielleicht nichts mehr, worüber sie noch hätten reden können, und dass sie all ihre intelligenten Äußerungen und interessanten Themen schon beim Abendessen verbraucht hätten, sodass nun lange Pausen peinlicher Stille entstehen könnten, gelegentlich unterbrochen von mitleiderregenden Versuchen, so etwas wie eine Konversation einzuleiten. Doch wenn überhaupt, kamen die beiden noch besser miteinander aus als bei Joel, und sie unterhielten sich prächtig. Sie hatten viel gemeinsam. Nicht dass die Gefahr bestand, dass sie zu einem dieser Pärchen mutierten, die immer alles gemeinsam machten, doch es genügte, um ein Fundament zu haben, auf dem eine echte Beziehung würde wachsen können. Nach dem Film gingen sie einen Kaffee trinken und plauderten bis Mitternacht. Als Hunt sie dann bei ihr zu Hause absetzen wollte, fragte Beth ihn, ob er nicht mit reinkommen und die Nacht mit ihr verbringen wolle. Danach verging kein Wochenende mehr, an dem sie nicht gemeinsam etwas unternahmen. Sie machten ganz alltägliche Dinge - gingen in Buchhandlungen und Einkaufszentren, gingen wandern, liehen sich Filme aus, verbrachten einen Samstag in Tombstone und einen anderen in den Old Tucson Studios. Edward und Jorge, Hunts Arbeitskollegen, machten sich über ihn lustig, weil er offensichtlich schon so unter dem Pantoffel stand, dass er einen ganzen Sonntagnachmittag damit zubrachte, in Beths Garten Unkraut zu jäten. »Ich arbeite die ganze Woche an Bäumen und Büschen«, sagte Jorge. »Das Letzte, womit ich mein Wochenende verbringen will, ist Gartenarbeit!« Zugleich aber verstanden sie ihn, und beide mochten Beth. An einem kühlen Samstagnachmittag gingen sie alle miteinander aus: Beth und Hunt, Joel, Stacy und Lilly sowie Edward und Jorge mit ihren Frauen. Sie besuchten das Sonora Desert Museum und gingen anschließend zum Essen in ein italienisches Restaurant, wo Lilly auf dem Fußboden einschlief und die anderen sich unterhielten, bis der Laden schloss. Beths Haus war neuer und größer als Hunts, aber es war keiner von diesen Möchtegern-Mediterran-Bauten, die mit erschreckender Geschwindigkeit anscheinend in jedem Teil der Stadt hochgezogen wurden. Es war ein langgestrecktes, niedriges Haus im Pseudo-Santa-Fe-Stil und lag auf einem Grundstück, das groß genug war, um neben dem Gebäude selbst noch Platz für einen Gemüsegarten zu haben, während hinter dem Haus einige Blumenbeete lagen. Beth wohnte nicht zur Miete, das Haus gehörte ihr, und Hunt verbrachte mehr und mehr Nächte dort. Schließlich kam der Punkt, an dem Beth ihn fragte, ob er nicht bei ihr einziehen wolle. Hunt könne ja die Hälfte der monatlichen Hypothek beitragen, fügte sie schnell hinzu, weil sie fürchtete, er könne sich beleidigt fühlen, wenn sie ihm anbot, mietfrei bei ihr zu wohnen. Zwar wäre Hunt nur zu gern mit Beth zusammengezogen, doch er war noch nicht bereit, sich so schnell festzulegen, und so sagte er ihr in gespieltem Macho-Tonfall, er sei ein Mann, der seine Freiheit brauche. Sie lachte, doch sie verstand, was mit diesem Scherz gemeint war, und so drängte sie ihn zu nichts. Also gingen sie weiter miteinander aus, waren zusammen und hatten Spaß. Hunts Exfrau Eileen war keine sonderliche Musikliebhaberin gewesen und nur aus Pflichtgefühl auf Konzerte mitgegangen - und auch nur dann, wenn Hunt nicht irgendwelche Kumpel hatte auftreiben können, die ihn begleiteten. Nach der Trauung hatten sie kein einziges Konzert mehr gemeinsam besucht. Im Laufe der Jahre war Hunt träge geworden und ging kaum noch aus; inzwischen zog er es vor, zu Hause zu bleiben und CDs zu hören. Bei Beth war es genau andersherum. Sie liebte das Nachtleben, und über Internet, die Underground- und Alternativ-Presse hielt sie sich auf dem Laufenden, was die Veranstaltungskalender sowohl der kleineren Clubs als auch der größeren Konzertsäle der Stadt anging. In den ersten drei Monaten, die sie zusammen waren, hatte Hunt mehr Livekonzerte besucht als im ganzen Jahrzehnt zuvor. An einem Samstagabend, als sie von einem Santana-Konzert kamen, sahen sie eine Bande Chicanos mit kahlrasierten Schädeln und blauen Tattoos, die vor der Halle einen schlaksigen Loser-Typen in leuchtend purpurner Kleidung brutal zwischen sich hin und her schubsten, begleitet von grölendem Gelächter. Hunt führte Beth in die entgegengesetzte Richtung, als auch schon mehrere Polizisten aus der Halle kamen, die Schlagstöcke erhoben. Vier Tage später sahen sie den gleichen Loser-Typen wieder, dieses Mal vor einem Kino. Es war das Programmkino gleich neben der Universität; Beth und Hunt hatten sich eine französische Komödie angeschaut, angeblich einer der besten Filme des Jahres, doch er hatte sie zu Tode gelangweilt. Vor dem Gebäude galt Parkverbot, also hatten sie den Wagen dahinter abgestellt. Während der Rest des Publikums langsam zum Hauptausgang drängte, verließen sie den Saal durch einen Notausgang, um Zeit zu sparen. Hinter ihnen fiel die schwere Tür ins Schloss - und erst da bemerkten sie den Tumult, der über ihnen am Kopf der Treppe herrschte. Der Mann trug die gleiche purpurne Kleidung, doch es war eine andere Bande, die ihm dieses Mal zusetzte - vier bärtige, übergewichtige Biker brüllten ihm eine Obszönität nach der anderen entgegen, während sie ihm ins Gesicht und in den Magen boxten und dann, nachdem er zu Boden gestürzt war, auf ihn eintraten. Wahrscheinlich ein Drogendealer, dachte Hunt. Aber Drogendealer oder nicht, Beth war wütend über das, was diese Gang da mit dem wehrlosen Mann anstellte. »Lasst ihn in Ruhe!«, rief sie und stürmte die Treppe hinauf. Innerlich völlig verkrampft, eilte Hunt ihr hinterher und rechnete schon damit, fürchterlich zusammengeschlagen zu werden, doch zu seiner Überraschung liefen die Biker tatsächlich davon. Offensichtlich hatten sie Angst, identifiziert werden zu können. Der Mann, auf den sie eingeschlagen hatten, lag zusammengekrümmt am Boden und presste sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hände auf den Leib. Vermutlich war eine Rippe gebrochen, wahrscheinlich sogar mehrere - doch das war es nicht, was Hunt wirklich verängstigte. Es war das Blut, das dem Mann aus den Ohren strömte, beängstigend viel Blut, das zum Teil im rissigen Beton versickerte; der Rest bildete eine Lache, die absurderweise fast so aussah wie eine auf dem Kopf stehende Karte beider Teile des amerikanischen Kontinents. Hastig tastete Hunt nach seinem Handy. »Ich ruf die Polizei!« »Nein!«, keuchte der Mann zwischen den Stöhnlauten, die er vor Schmerzen ausstieß. »Keine Bullen!« »Gleich um die nächste Ecke ist ein Krankenhaus«, sagte Beth. »Am einfachsten wäre es, ihn dahin zu bringen.« »Ich glaube nicht, dass wir ihn bewegen sollten.« »Keinen Arzt!«, stieß der Mann hervor. »Aus Ihrem Ohr läuft Blut, verdammt noch mal!«, sagte Hunt. »Vielleicht haben Sie eine schwere Kopfverletzung. Das könnte Sie umbringen!« Das schien endlich zu dem Mann vorzudringen. Vor Schmerzen zusammengekrümmt, rollte er sich stöhnend auf die Seite; dann stemmte er sich auf die Knie, eine Hand auf das immer noch blutende Ohr gepresst. »Dann bringt mich hin ... aber keinen Krankenwagen ... keine Bullen.« Natürlich würden die Ärzte fragen, was geschehen sei, und wahrscheinlich wären sie sogar verpflichtet, die Polizei zu informieren, das wusste Hunt - aber das sollte der Mann selbst herausfinden. Er gab Beth die Wagenschlüssel, und schon lief sie über den Parkplatz hinter dem Kino. Hunt half dem Mann auf die Beine und stützte ihn, als er ihn zum Seitenstreifen führte, wo Beth mit dem Wagen hielt. Sie hatte bereits ein paar Taschentücher aus dem Handschuhfach geholt und reichte sie Hunt, kaum dass sie die Tür hinter dem Fahrersitz geöffnet hatte. »Versuch damit die Blutung zu stillen«, sagte sie. Hunt gab dem Mann die Taschentücher, der sie sich sofort ans Ohr presste. »Ganz fest drücken«, wies Beth ihn an. »Wir sind gleich da.« Der Mann lehnte sich im Sitz zurück, rollte sich instinktiv auf die linke Seite und schluchzte leise vor sich hin. Hunt schlug die Tür zu, lief zur Beifahrerseite, sprang in den Sitz, und schon fuhren sie los. Das Desert Regional Hospital lag tatsächlich in der Nähe; es war weniger als einen Häuserblock entfernt. Beth hielt mit kreischenden Reifen auf einem der Parkplätze, die für Rettungswagen reserviert waren. Dann lief sie zum Eingang der Notaufnahme. Ehe Hunt dem Mann helfen konnte auszusteigen, kamen bereits zwei Pfleger mit einer Krankentrage aus der gläsernen Schiebetür, hoben den Patienten geschickt vom Rücksitz und betteten ihn auf das weiche Kissen, das auf der Trage lag. Hunt folgte ihnen durch den Eingang, doch dann wurden sie alle von einer streng wirkenden Frau aufgehalten, die sich aus dem Fenster einer kleinen Wachstube lehnte und sich weigerte, den Öffner der Sicherheitstür zu betätigen, der das Wartezimmer vom eigentlichen Krankenhaus trennte. »Ich brauche Informationen über die Versicherung, ehe der Patient zugelassen werden kann«, sagte die Frau. Beth stand neben dem Fenster, aufgebracht und fassungslos. »Ich habe keine Krankenversicherung!«, heulte der Mann. »Dann tut es mir leid«, gab die Frau zurück, »dann werden Sie zum County General müssen. Mittellose nehmen wir nicht mehr auf.« »Ich kann bezahlen«, stöhnte der Mann. »Schauen Sie in meiner Tasche nach.« »Wir nehmen keine unversicherten Patienten auf.« »Sie müssen ihn aufnehmen!«, sagte Beth. »Das ist unverantwortlich!« »Es tut mir leid.« »Der Mann ist brutal zusammengeschlagen worden und blutet aus dem Ohr. Es könnte eine innere Kopfverletzung sein.« »Wie ich schon sagte, Sie müssen zum County ...« »Na gut«, warf Hunt ein. »Dann lassen Sie ihn dort hinbringen!« »Sie müssen ihn dorthin bringen«, erklärte die Frau. »Wir können keine Krankenwagen entbehren, und der Mann unterliegt nicht unserer Zuständigkeit. Wir sind nicht dafür verantwortlich, dass Sie ihn ins falsche Krankenhaus gebracht haben.« »Sie müssen uns jetzt hier nicht anmeckern!«, fauchte Beth. Dann wandte sie sich den beiden Pflegern zu. »Können Sie uns helfen, den Mann wieder in unseren Wagen zu schaffen, oder gehört das auch nicht mehr zu Ihrem Job?« Die Krankentrage wurde den gleichen Weg wieder zurückgerollt, und die Pfleger, denen das alles sehr peinlich zu sein schien, legten den verletzten Mann vorsichtig und so bequem wie nur möglich auf die Rückbank; eines der Kissen aus der Krankentrage ließen sie freundlicherweise unter seinem Kopf. Dieses Mal setzte Hunt sich ans Steuer, doch er wusste nicht, wohin er fahren musste. »Weißt du, wo dieses Krankenhaus ist?«, fragte er. Beth nickte. »Bis dort sind es ungefähr zehn Minuten, wenn alle Ampeln grün sind. Fahr los.« Sie setzten sich in Bewegung. Von der Rückbank kam nur noch Schweigen, und Hunt verstellte den Innenspiegel. Der Verletzte hatte die Augen geschlossen. Er musste das Bewusstsein verloren haben. Hunt fuhr so schnell, wie es erlaubt war, doch nun trat er das Gaspedal tiefer durch und erhöhte die Geschwindigkeit um weitere zehn Meilen die Stunde. Beinahe hoffte er, ein Streifenwagen würde sie anhalten und anschließend mit Blaulicht zum Krankenhaus eskortieren. Dieses Glück hatten sie nicht. Die erste Ampel stand auf Grün, bei der zweiten rasten sie über Gelb, und dann wurden sie von einer roten Ampel aufgehalten. Von nun an waren sie im zähfließenden Verkehr eingepfercht und mussten fünf Meilen unter der Höchstgeschwindigkeit bleiben. Mehrere Häuserblocks vom Krankenhaus entfernt erwachte der Mann wieder. Gerade als sie an einem Supermarkt vorbeikamen, schrie er vor Schmerzen auf. »Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich Beth. »Natürlich nicht!«, schrie er zurück. »Wir sind fast da.« »Setzen Sie mich einfach ab«, verlangte er. »Sie müssen zu einem Arzt«, sagte Hunt. »Vielleicht haben Sie innere Verletzungen oder ...« »Ich geh ja ins Krankenhaus!«, sagte der Mann mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich weiß, dass ich Hilfe brauche. Ich hab Schmerzen! Es tut so verdammt weh!« »Wir können Sie nicht einfach hier absetzen.« »Ich bin nicht versichert. Vielleicht schicken die mich auch weg! Wenn ihr mich einfach nur absetzt und dann verschwindet, müssen die mich nehmen. Ich tu so, als würde ich ohnmächtig, dann haben die gar keine andere Wahl!« Der Mann hat recht, überlegte Hunt. Vielleicht würde er auch vom zweiten Krankenhaus abgewiesen. Und wohin sollten sie ihn dann bringen? Hunt fuhr auf den Parkplatz des Krankenhauses und auf das hell erleuchtete NOTAUFNAHME-Schild zu. »Helft mir rein. Und dann haut ab. Von da an schaff ich es schon.« Sie hatten keine Zeit mehr, zu diskutieren. »Okay.« »Hunt ...«, setzte Beth an. »Der Mann hat recht«, sagte er. »Die müssen ihn behandeln.« Zu beiden Seiten stützten sie den Fremden und halfen ihm, in die Notaufnahme zu humpeln. Bei jedem Schritt sog er scharf die Luft ein. »Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte Beth, während sie auf den Empfang zuhinkten. »Ist doch egal.« Die Dienst habende Krankenschwester schaute sie besorgt an. Sie griff schon nach einem Klemmbrett, auf dem einige Formulare lagen. »Was haben Sie denn?« »Ich schaff das«, sagte der Mann. »Geht jetzt. Und danke.« Hunt griff nach Beths Hand und zog sie in Richtung Ausgang. »Ich bin in 'ne Prügelei geraten«, hörte er den Mann hinter sich sagen. »Ich glaube, ich hab 'n paar gebrochene Rippen, und mein Ohr blutet ...« Dann waren Hunt und Beth durch die Tür. »Das ist doch nicht richtig so!«, sagte Beth. »Wir haben getan, was wir konnten. Mehr als die meisten anderen getan hätten. Und wir hatten keine Wahl.« Er öffnete die Tür und stieg in den Wagen. »Wir hätten gleich einen Rettungswagen rufen sollen.« »Aber hätten die ihn mitgenommen?« Die Frage konnte Hunt nicht beantworten. Es war schon nach Mitternacht, und Hunts Haus lag hier deutlich näher als Beths, also kam Beth dieses Mal mit zu ihm. Die Nachbarn feierten eine Party. Den ganzen Häuserblock entlang waren Autos geparkt, und mehrere Pickups waren einfach auf das Baumwollfeld auf der anderen Straßenseite gefahren. Aus einer lärmenden Stereoanlage dröhnte Rapmusik. Offensichtlich lief die Party schon eine ganze Weile, und die Stimmung schien immer noch zu steigen. Die Feier hatte sich bis zu Hunts Hinterhof ausgebreitet, doch er war müde und nicht in der Stimmung, sich jetzt mit einer Horde betrunkener White-Trash-Gestalten anzulegen und mit ihnen über Grundstücke und Hausfriedensbruch zu diskutieren. Beth und er ignorierten die Nachtschwärmer, gingen ins Haus, schlossen hinter sich ab und fielen ins Bett. Sie waren sogar für Sex zu müde, also küssten sie sich nur züchtig und rollten sich dann jeweils fast bis an die Bettkante - und dort schliefen sie auch prompt ein. Hunt träumte, der Loser-Typ in den purpurnen Klamotten hätte Beth niedergestochen, und mit wachsender Panik fuhr Hunt nun sie von Krankenhaus zu Krankenhaus, von Tucson über Phoenix bis nach Los Angeles. Aber niemand wollte sie aufnehmen. 3. »Meine Fresse«, sagte Joel. »Das ist nicht zu fassen!« Hunt nickte. »Was ist bloß mit dem Gesundheitswesen in diesem Land passiert? Wenn wir als Kinder krank geworden sind, sind wir einfach zum Arzt gegangen. Als ich mir mal den Arm gebrochen hatte, sind wir ohne Probleme in die Notaufnahme gekommen. Und unsere Eltern waren nicht gerade reich. Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn! Wir haben die besten Ärzte und die am besten ausgestatteten Krankenhäuser der Welt, die berühmtesten Forscher und die größten Pharma-Unternehmen, die immer neue Mittel herstellen, aber wir können uns nicht mal um Leute kümmern, die zusammengeschlagen wurden, oder um Unfallopfer, oder um Menschen, deren gesundheitliche Probleme leicht zu behandeln sind! Wer hat noch mal gesagt, man solle ein Land danach beurteilen, wie es seine ärmsten Bürger behandelt? Wenn das stimmt, leben wir in einem ziemlich jämmerlichen Land. Ist doch wahr, Mann!« »Jou«, stimmte Hunt zu, doch seine Gedanken kreisten immer noch um Beth. Ob sie gut versichert war? Gefragt hatte er sie nicht, aber das hätte er wohl tun sollen, erst recht nach diesem entsetzlichen Traum. »Diese ganze verdammte Medizin heutzutage wird von den Versicherungen zu eigenen Zwecken genutzt, und die letztendlichen Entscheidungen treffen die Bürokraten. Aber die Gesundheitsfürsorge darf nicht profitorientiert sein! Sie ist eine Notwendigkeit und sollte allen und jedem offenstehen.« Die beiden saßen in Joels Wohnzimmer und hörten ein altes Meat-Puppets-Album, das Hunt aus einem beachtlichen Plattenstapel auf dem Fußboden ausgewählt hatte. Zusammen mit einer Freundin rannte Lilly durchs Zimmer. Die Mädchen waren auf dem Weg zum Hinterhof. Eine Sekunde später hörten sie Stacys Stimme aus der Küche: Sie ermahnte die Mädchen, nicht so durchs Haus zu rennen. »Es muss doch einen Verbraucherschutz geben, an den man sich wenden kann! Ach verdammt, vielleicht sollte ich einfach unseren Kongressabgeordneten und unsere Senatoren anschreiben. Für irgendwas müssen die doch gut sein!« Joel lachte. »Was ist daran so lustig?« »Du. Der gute alte Hunt. Erinnerst du dich noch an die Junior High? Als Mrs. Halicki dich gezwungen hat, deinen Tisch auf den Gang zu stellen und deine Klausur draußen zu schreiben, weil du ein Ozzy-T-Shirt anhattest? Und wie du die Petition geschrieben hast, sie zu feuern?« Hunt lachte leise. »Ja. Bloß, dass Mrs. Halicki Wind davon bekam und mir einen Verweis erteilte.« »Und jedem anderen von uns, die deinen Wisch unterschrieben hatten.« Lilly streckte den Kopf durch die Tür. »Daddy? Spielt ihr mit uns Basketball, du und Onkel Hunt?« Joel blickte zu Hunt, worauf dieser lächelte. »Na klar.« »Ich und Onkel Hunt gegen Kate und Daddy!«, verkündete Lilly, als sie auf den Hof kamen. »He! Willst du nicht mit deinem Daddy ins gleiche Team?« Lilly lachte. »Sorry, Daddy!« »Also gut, Mädchen! Dann wirst du eben untergehen!« Hunt war erstaunt, wie schnell Joel und er nach einer Pause von fast fünfzehn Jahren wieder zueinander gefunden hatten. Und er war dankbar dafür. Das machte den ganzen Umzug viel einfacher - so einfach sogar, dass Hunt die Umstellung kein bisschen bedauerte und auch gar kein Heimweh hatte. Nicht einmal den einst so geliebten Strand vermisste er. Hunt war einfach froh darüber, nach Tucson zurückgekehrt zu sein. Für ihn schien sich alles zum Besten gewendet zu haben. Immer noch konnte er kaum fassen, dass Joel tatsächlich Stacy geheiratet hatte. Als Hunt mit Eileen nach Kalifornien gezogen war, hatte er alle Wurzeln gekappt und sämtliche Brücken hinter sich abgerissen; deshalb hatte er auch nicht die Weiterentwicklung seiner alten Freunde und Bekannten im »Leben nach der Schule« miterleben können. Er dachte über sie alle immer noch wie vor fünfzehn Jahren, und dass Joel und Stacy ein Ehepaar waren, erschien ihm noch immer fast unglaublich. Hunt fühlte sich wie jemand, dessen Leben eine Zeitlang wie eingefroren gewesen war, während alle anderen weitergelebt hatten. Doch nun holte er die verlorene Zeit langsam nach, und dabei hatte er das Gefühl, als würde er zwei- oder dreimal die Woche bei seinen Eltern anrufen, um ihnen immer wieder erstaunliche Neuigkeiten mitzuteilen: Mr. Llewelyn war vor zwei Jahren gestorben; Hope Williams hatte sich als Lesbe entpuppt; Dr. Crenshaw war pleitegegangen ... Seine Eltern, vor allem seine Mutter, freuten sich jedes Mal, Neuigkeiten aus Tucson zu erfahren, doch sie waren alles andere als glücklich darüber, dass ihr Sohn jetzt als Baumbeschneider arbeitete. Hunt hatte sich schon gedacht, wie sie darauf reagieren würden; deshalb hatte er es so lange wie nur möglich aufgeschoben, es ihnen zu sagen. Doch irgendwann ließ es sich einfach nicht mehr verheimlichen. Zunächst hatte Hunt ernstlich in Erwägung gezogen, ihnen zu erklären, er habe diesen Job nur angenommen, weil es auf seinem Fachgebiet einfach keine offenen Stellen gegeben hatte und er dringend Geld brauchte - aber auch wenn das faktisch richtig war, entsprach es doch nicht der Wahrheit. Die Wahrheit war, dass Hunt sich gar nicht mehr um eine Stelle als Computerfachmann bemühte. Schließlich hatte er jetzt einen Job. Vielleicht würde sich irgendwann etwas im Management-Informationssystem des County ergeben, vielleicht auch nicht. Wie auch immer - Hunt machte sich keine Sorgen darüber. Er nahm die Dinge, wie sie sich entwickelten. Beim Kartenspiel hatten Hunt und Lilly ihre Gegner Joel und Kate vernichtend geschlagen. Nach dem Spiel hatte Joel gefragt, ob Hunt zum Essen bleiben wolle, doch er lehnte ab. In dieser Woche hatte er bereits zweimal bei den McCains gegessen und wollte deren Gastfreundschaft nicht überstrapazieren. Außerdem war er immer noch müde von der letzten Nacht. Er wollte nur noch nach Hause, Beth anrufen, ein bisschen Fernsehen und dann ins Bett. Als Hunt zu Hause ankam, fand er in seinem Briefkasten ein Schreiben der United Automobile Insurance. Er riss den Umschlag auf und legte die Stirn in Falten. Was wollten die denn? Seine nächste Rate war erst in zwei Monaten fällig. In letzter Zeit hatte er sich weder einen Strafzettel eingefangen noch irgendeinen Unfall gebaut. Ging es vielleicht um seine Heckscheibe? Aber in dieser Sache hatte er die Versicherung gar nicht in Anspruch nehmen müssen: Seine Selbstbeteiligung lag bei zweihundert Dollar, doch es hatte nur hundertfünfundzwanzig gekostet, die Scheibe ersetzen zu lassen, also hatte Hunt die Reparatur ganz aus eigener Tasche bezahlt. Hunt überflog das Schreiben. Zwar hatte er für die Reparatur die Leistungen der Versicherung nicht in Anspruch genommen, doch er hatte sie informiert, also waren sie verpflichtet, die entsprechenden Informationen weiterzuleiten - so besagte es dieses Schreiben. Auch wenn Hunt keinerlei Schuld an dem Zwischenfall träfe, hieß es, der zu dem Riss in der Heckscheibe geführt habe, sei der Schaden doch zu einem Zeitpunkt entstanden, da er für den Wagen haftete, und zwar zu einem Zeitpunkt, da der Wagen durch die aktuell gültige Police versichert gewesen sei; folglich bliebe der Versicherung keine andere Möglichkeit, als seine Police entsprechend anzupassen. Hunt schüttelte fassungslos den Kopf, als er die letzte Zeile des Schreibens las. Seine Versicherung hatte ihm den Schadenfreiheitsrabatt gestrichen. 4. Langsam spazierten Beth und Stacy durch die Foothills Mall, plauderten und bummelten an den Schaufenstern vorbei. Ein paar Schritte vor ihnen schlürfte Lilly einen Shake von Orange Julius und warf verstohlen einen Blick in das Schaufenster von Victoria's Secret. Dann schaute das Mädchen über die Schulter. Das Blut schoss ihr ins Gesicht, als sie bemerkte, dass ihre Mutter sie beobachtete. Sofort drehte Lilly sich wieder um. Als sie an dem Dessous-Geschäft vorbeigingen, deutete Stacy auf das Schaufenster und fragte Beth: »Brauchst du irgendwas?« Beth lachte. Es war schon eine Weile her, dass sie das letzte Mal über dieses Thema hatte lachen können - und ihre Freundin hatte die Veränderung offensichtlich bemerkt. Beth wusste nicht recht, ob sie stolz darauf sein sollte oder eher peinlich berührt, doch wie auch immer: Sie war froh, dass ihr Liebesleben sich zum Besseren verändert hatte und dass sie das Leben wieder genießen konnte. Dass sie Hunt kennen gelernt hatte. Hunt. Er war anders als die Männer, mit denen sie ausgegangen war, nachdem Tad sie »abgeschossen« hatte. Tad war gut aussehend gewesen, erfolgreich und charmant, aber er war auch kleinlich gewesen, sehr auf Kontrolle bedacht und hoffnungslos egozentrisch. Hunt war viel sanfter, ausgeglichener und netter. Auch wenn das nicht unbedingt die Eigenschaften waren, die Beth bei einem Mann suchte, hätte man sie gefragt. Doch Hunt war auch - trotz seines offensichtlichen Mangels an Ehrgeiz - viel intelligenter als Tad, und das sprach Beth schon eher an. Aber das Wichtigste war, dass Hunt sie glücklich machte. Sie war gerne mit ihm zusammen und freute sich jedes Mal darauf, ihn wiederzusehen. Ihre Gefühle für Hunt wurden immer stärker, und sie war fast sicher, dass sie es gemeinsam schaffen konnten. Wäre es nach Beth gegangen, wären sie sofort zusammengezogen, aber sie hatte Verständnis dafür, dass Hunt zögerte, sich so schnell derart fest zu binden. Nach seiner Scheidung war er ein wenig misstrauisch, und das konnte man ihm schwerlich zum Vorwurf machen. Beth selbst jedoch verspürte keine derartige Zögerlichkeit, trotz ihrer eigenen, durchaus emotional belasteten Lebensgeschichte. Sie war schon immer bereit gewesen, Risiken einzugehen, und sie hatte sich schon immer gut darauf verstanden, notfalls rasche Entscheidungen zu fällen. Außerdem hatte sie schon am ersten Abend bei Stacy und Joel beschlossen, dass sie Hunt behalten wollte. Eine schick gekleidete Frau, die durchaus ein Model hätte sein können, kam mit großen Schritten aus dem Victoria's Secrets und hätte Beth und Stacy beinahe umgerannt. Sie sprach in ihr Handy und nahm die beiden Frauen kaum wahr, während sie vorübereilte und währenddessen weitersprach. »Nein, Tristan«, sagte sie. »Nach dem Schwimmunterricht hast du Karate, und morgen musst du zum Werken ...« »Hast du das gesehen?«, fragte Beth ungläubig. »Hast du das gehört?«, gab Stacy zurück. »Ja. Ihr Sohn tut mir leid.« »Mir auch. Die Kinder heutzutage haben einen übervollen Zeitplan. Viele bekommen Ballettstunden, Klavierunterricht oder gehen in Sportvereine, um später die Chance auf ein Hochschulstipendium zu haben. Wir haben versucht, das alles bei Lilly auf ein Mindestmaß zu beschränken. Sie ist bei den Pfadfindern, und jetzt hat sie sich für die Schulband angemeldet. Zumindest so viel lässt sich kaum vermeiden.« Sie seufzte. »Das ist nicht mehr wie früher, als wir selbst noch Kinder waren. Die Mädchen heutzutage haben gar nicht mehr die Zeit, im Einkaufszentrum herumzuhängen oder zusammen zu Hause zu sitzen, zu tratschen und verschiedene Nagellackfarben auszuprobieren.« »Ja, ist irgendwie schade. Kinder sollten auch ein bisschen Zeit haben, die nicht total verplant ist. Lasst Kinder doch Kinder sein!« Stacy nickte. »Und die Zeit verfliegt so schnell. Mir kommt es vor, als wäre Lilly gestern noch in Windeln herumgelaufen. Und jetzt dauert es nur noch ein paar Jahre, dann ist sie ein Teenager.« »Jedenfalls hast du bei deiner Tochter gute Arbeit geleistet. Sie ist ein prächtiges Mädchen.« »Das ist sie.« Vielsagend blickte Stacy zu Beth hinüber. »Hast du schon mal an eigene Kinder gedacht?« »Aber Stacy!« Abwehrend hob sie die Hand. »Ich meine, ganz allgemein. Nicht konkret, und nicht unbedingt mit Hunt. Ich habe mich nur gefragt, ob du dich irgendwann in der Zukunft als Mutter siehst.« »Weil meine biologische Uhr tickt?« »Das habe ich nicht gesagt.« »Nein, das habe ich gesagt. Ja, natürlich habe ich schon darüber nachgedacht. Ganz allgemein, nicht konkret.« Sie hielt inne und lächelte. »Und in letzter Zeit auch nicht ganz so allgemein.« »Aha!« Stacy grinste. »Hunt könnte schon der Richtige sein.« »Valley Girl.« »Was soll das jetzt heißen?« »Am Ende von Valley Girl, als Nicolas Cage mit dem Mädchen den Abschlussball verlässt und die Band auf der Bühne ist. Da fängt die Sängerin - ich glaube, es war Josie Cotton - mit diesem Song an:He could be the one ...« Erst jetzt bemerkte Stacy die Verständnislosigkeit in Beths Miene. »'tschuldigung. War wohl vor deiner Zeit.« »So viel jünger als du bin ich nun auch nicht!« »Nimm jedes Kompliment mit, das du kriegen kannst.« »Mommy!«, rief Lilly. Als die beiden Frauen das Mädchen erreichten, spähte Lilly gerade durch die Fensterscheibe einer Zoohandlung und beäugte drei junge rote Kätzchen, die sich spielerisch über ein mit Teppich bezogenes Regal rollten. »Kriege ich eine Katze?« »Da musst du deinen Vater fragen«, sagte Stacy. »Und das weißt du auch.« »Das heißt dann wohl nein.« »Ich habe dir schon mal gesagt: Wenn du deinem Dad beweist, dass du die Verantwortung für eine Katze übernehmen kannst, wird er dir eine kaufen.« »Aber ich kann ihm nicht beweisen, dass ich mich um ein Haustier kümmern kann, solange ich keins habe. Das ist doch ein Teufelskreis.« Stacy lachte. »Ein Teufelskreis? Woher kennst du denn den Ausdruck?« »Ich höre zu«, sagte Lilly. »Ich passe gut auf.« »Kleine Kinder, große Ohren«, warnte Beth lächelnd. »Was ist mit Hunt?«, fragte Stacy. »Meinst du, der mag Katzen?« »Wird er schon«, versprach Beth. »Wird er schon.« »Courtney!« Beth stellte ihre Einkaufstaschen auf den Küchentisch und schaute sich nach der Katze um. Normalerweise begrüßte Courtney sie in dem Augenblick, da sie zur Tür hereinkam. Doch das Klappern des Schlüssels im Schloss und ihre Schritte hatten das Tier dieses Mal noch nicht angelockt, also rief Beth noch einmal: »Courtney!« Aus dem Wohnzimmer war ein Miauen zu hören, und Beth folgte dem Geräusch. »Courtney?«, rief sie leise. Die Katze - eigentlich ein Kater, aber Beth hatte der Name Courtney so gut gefallen, dass sie über derartige Kleinigkeiten hinwegsehen konnte - saß vor dem Durchgang zum Flur, stocksteif, den Blick unverwandt auf das Schlafzimmer am anderen Ende der Diele gerichtet. Unwillkürlich lief Beth ein Angstschauer über den Rücken - eine Regung, die sie gar nicht zur Kenntnis nehmen wollte. »Was machst du denn?«, fragte sie und hob den Kater hoch. Courtneys Muskeln waren starr, fast zum Zerreißen gespannt. Beth hielt ihn sich vors Gesicht, schaute ihm in die grünen Augen. Erst jetzt entspannte er sich und maunzte sein Frauchen fröhlich an. »Komm, holen wir uns ein Leckerchen.« Beth trug Courtney in die Küche zurück. Sie wusste nicht, warum das Tier so angespannt gewesen war und was es am Ende des Flures gesehen zu haben glaubte, doch es machte Beth nervös, und sie hatte Angst, nachzusehen. Sie wünschte, Hunt wäre hier. Das war ein weiterer Grund, warum sie sich so sehr wünschte, er würde bei ihr einziehen - auch wenn Beth es nur sich selbst gegenüber eingestanden hätte. In letzter Zeit hatte sie ein seltsames Gefühl, was dieses Haus betraf. Immer wieder gab es Augenblicke, in denen sie aufschreckte oder sich ohne jeden erkennbaren Grund unwohl fühlte. Wahrscheinlich kam es daher, dass sie zu lange alleine gelebt hatte. Doch es war immer noch beunruhigend, und sie fühlte sich viel besser, wenn Hunt bei ihr war. »Schauen wir doch mal, was wir heute gekauft haben«, sagte sie, einfach nur, um eine Stimme zu hören, irgendeine Stimme, und wenn es ihre eigene war. Sie kramte in der ersten Tasche. »Neue Turnschuhe. Und neue Socken. Endlich.« Sie öffnete die zweite Tasche. »Jeans! Jetzt habe ich endlich wieder eine Hose, die mir passt!« Irgendwo im hinteren Teil des Hauses - es hörte sich an, als käme es aus ihrem Schlafzimmer - war ein leises, stetiges Klopfen zu hören, wie Holz, das auf Holz trifft; in der Stille des Hauses erschien es Beth widernatürlich laut. Courtney fauchte und machte einen Buckel; dann wich er von seinem Fressnapf zurück. Da ist nichts, sagte sich Beth. Doch als sie die möglichen Ursachen für das Geräusch durchging - Wasserleitungen, spielende Kinder vor dem Haus, das Fundament, das sich ein wenig setzte, Ratten -, erschien ihr nichts davon plausibel. Was wäre ihr denn plausibel erschienen? Sie wehrte sich gegen diesen verrückten Gedanken, wollte gar nicht erst weiter darüber nachdenken. Aber sie dachte darüber nach. Und auch, wenn es helllichter Tag war, auch wenn alle Gardinen offen waren, erschien ihr das Innere des Hauses plötzlich finster und bedrohlich. Durch das Küchenfenster konnte sie die Außenwelt sehen: ihren Wagen, den Vorgarten ihrer Nachbarn, der Valdez, ein Flugzeug am Himmel. Normale, alltägliche Dinge, die Beth jedoch plötzlich eine Million Meilen weit entfernt zu sein schienen. Sie öffnete eine Küchenschublade und nahm das große Tranchiermesser heraus. Sie umklammerte das Heft, ging aus der Küche durchs Wohnzimmer und nach kurzem Zögern in die Diele. Einen Augenblick hatte das Klopfen aufgehört - wie eine Grille, wenn jemand sich näherte -, doch fast sofort setzte es wieder ein. Nun erkannte Beth, woher das Geräusch kam: aus dem Gästezimmer. Langsam ging sie weiter und versuchte, keinen Laut zu machen. Die Tür zum Gästezimmer war geschlossen, auch wenn Beth sie sonst immer offen ließ. Nun stand sie davor und lauschte dem Klopfen, das hinter der Tür zu hören war. Sie wusste nicht, was sie erwartete, doch unwillkürlich ging ihr eine Szene aus einem alten Kinderbuch durch den Kopf - eine Gruselgeschichte über ein Haus, in dem der Geist eines alten Schusters spukte. Beth stellte sich vor, wie sie das Zimmer betrat und in einer Ecke eine verschrumpelte Gestalt vorfand, ein weißhaariges Gespenst mit einem weißen Totenschädel anstelle eines Gesichts; die Gestalt saß an einem kleinen Tisch in einem uralten Stuhl und arbeitete wie besessen an einem Paar ebenso geisterhafter Schuhe. Das Klopfen wurde allmählich leiser und verstummte dann völlig. Dann erklang es wieder mit voller Lautstärke - ein lautes, stetes Hämmern. Vor ihrem geistigen Auge sah Beth riesige grüne Fingerknöchel, die gegen die Tür pochten und Einlass begehrten. Ihr Instinkt riet ihr, davonzulaufen und sofort das Haus zu verlassen, doch sie blieb stehen, zwang sich mit aller Kraft, nicht die Flucht zu ergreifen. Sie riss sich zusammen, öffnete die Tür und trat ein. Da war gar nichts. VIER 1. Der Tag fing schon schlecht an. Natürlich war es ein Montag - immer der schlimmste Tag der Woche. Und als Hunt zur wöchentlichen Einsatzbesprechung mit Steve im Hof der Bezirksverwaltung eintraf, erfuhr er, dass eine ältere Dame eine Beschwerde vorgebracht hatte: Sie behauptete, Holzsplitter aus dem Häcksler, mit dem die Baumbeschneider die Äste zerkleinerten, hätten die Motorhaube ihres Cadillac beschädigt - und das war alles andere als erfreulich, da sich ohnehin schon eines der Aufsichtsratsmitglieder dafür einsetzte, für entsprechende Tätigkeiten externe Arbeitskräfte anzuheuern. Und wie nicht anders zu erwarten, war Steve stocksauer. »Wisst ihr eigentlich, wie ich jetzt dastehe?«, fuhr er sie an. »Immer wenn ihr Idioten Mist baut, wirkt sich das schlecht auf meinen Ruf aus. Und ich habe wirklich keine Lust, Ärger zu kriegen, bloß weil ihr unfähig seid! Was haltet ihr von dem Satz: Noch so 'n Ding, und ihr seid draußen?« »Was hältst du von der Idee, dass die alte Schachtel lügt?«, gab Edward zurück. »Vielleicht hätte die einfach nur den Wagen gerne neu lackiert, und jetzt denkt die, das kann sie sich vom County spendieren lassen?« Steve starrte ihn an, bis sein Gegenüber den Blick senkte. »Du glaubst wirklich, so was steckt dahinter? Du glaubst, dass diese Lady recherchiert hat, was für Geräte wir benutzten, dann zu dem Schluss gekommen ist, der Häcksler sei am besten dafür geeignet, ein Auto zu beschädigen, und jetzt würde sie behaupten, damit sei der Lack ihres Wagens zerkratzt worden, nur um das County um ein paar hundert Piepen zu betuppen?« »Nein«, gab Edward zurück. »Nein!« »Hey«, mischte Jorge sich ein. »Unfälle können doch mal passieren.« »Aber die haben nicht zu passieren, solange ich die Verantwortung trage, und auch nicht, solange ihr im Dienst seid. Habt ihr verstanden?« Sie murmelten zustimmend. Als wäre das alleine nicht schon schlimm genug, mussten Edward, Jorge und Hunt dann, als sie den kleinen Platanenhain erreichten, in dem sie die nächsten drei Tage arbeiten sollten, auch noch feststellen, dass irgendjemand - wahrscheinlich Teenager oder ein paar Jungs aus den zahlreichen Studentenverbindungen der University of Arizona - eine der dort aufgestellten Dixi-Toiletten umgeworfen und quer über den Feldweg geschleift hatte, um sie anschließend mit Wucht gegen einen Baum zu schmettern. Aber das war noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass Hunt, als er nach Hause kam, feststellen musste, dass seine Haustür weit offen stand und jemand sein Haus verwüstet hatte. Vorsichtig trat er ein. Die Stereoanlage war verschwunden - das fiel ihm sofort auf, auch wenn der Einbrecher die Boxen hatte stehen lassen. Ebenso fehlten sein Fernseher, sein Videorekorder und der DVD-Player. Hunt wusste nicht, ob der oder die Einbrecher auch etwas von seinen Büchern, Videokassetten, CDs, Schallplatten oder DVDs mitgenommen hatten, aber auf jeden Fall hatten sie ein gewaltiges Chaos hinterlassen: Sie hatten Bücherregale umgeworfen, den Inhalt anderer Regale heruntergefegt und alles über den Boden verstreut. In der Küche war der Inhalt sämtlicher Schränke und des Kühlschranks auf dem Linoleumfußboden verteilt, und der Küchentisch selbst war zerschmettert. Hunt wählte die Nummer der Polizei, während er vorsichtig durch die Trümmer stieg und in die Diele trat. Das andere Zimmer hatte er als Stauraum genutzt; darin befand sich nicht viel: ein paar Umzugskartons, sein Gepäck, selbstgebaute Regale, in denen weitere Schallplatten standen. Dieser Raum war nicht verwüstet worden. Doch Hunts eigentliches Schlafzimmer war ein einziges Schlachtfeld. Sämtliche Schubladen aus seiner Kommode waren herausgerissen, der Inhalt über den Boden verstreut; der Spiegel über der Kommode war zerschlagen, die Matratze seines Bettes hatte jemand aufgeschlitzt, und nun quoll die Füllung aus den parallel geführten Schnitten hervor wie Blut aus einer offenen Wunde. »Ich möchte einen Einbruch melden«, sagte er zu dem wachhabenden Beamten, der seinen Anruf entgegennahm. Detailliert beschrieb er die Szenerie und wies darauf hin, dass es nicht so aussehe, als befänden sich die Eindringlinge noch im Haus; dann gab er Name und Adresse an. »Es kommt sofort jemand«, versprach ihm der Wachhabende, »fassen Sie nichts an, vielleicht gibt es noch Fingerabdrücke oder andere Beweismittel.« Wenige Minuten später hielten zwei Polizeiwagen vor der Auffahrt. Wieder bahnte Hunt sich seinen Weg zwischen den Trümmern hindurch, und nachdem er ins Freie getreten war, ertappte er sich dabei, wie er misstrauisch zu der White-Trash-Hütte neben seinem Haus hinüberspähte. Er war versucht, der Polizei zu erklären, dass er die Gestalten dort drüben für die Hauptverdächtigen hielte. Doch er wusste, dass das unsinnig wäre, solange er keine Beweise hatte, und nachdem er den Polizisten alle Informationen gegeben hatte, die sie haben wollten, trat Hunt zur Seite und ließ sie ihre Arbeit tun. Vom Vorgarten aus rief er Joel und Beth an. Während bei Joel nur der Anrufbeantworter ansprang, war Beth schon von der Arbeit nach Hause gekommen und machte sich sofort auf den Weg zu ihm. »O Gott!«, stieß sie hervor, als sie das Ausmaß des Schadens sah. Die Spurensicherung war immer noch damit beschäftigt, nach Fingerabdrücken zu suchen und die Trümmer nach weiteren Beweismitteln zu durchforsten. »Was meinst du, wer das war?« »Ich habe keine Ahnung«, gab er zu. Die Anwesenheit zweier Polizeiwagen hatte das Interesse seiner Nachbarn geweckt, und auch wenn keiner von ihnen genug Mut aufbrachte, zu ihm zu kommen und ihn zu fragen, was eigentlich los sei, versammelte sich inzwischen eine immer größere Menschenmenge zu beiden Seiten seines Grundstücks; die Leute kniffen die Augen zusammen, um besser sehen zu können, und tuschelten aufgeregt miteinander. Sie sahen so hilflos aus, wie Hunt sich fühlte, und gegen seinen Willen musste er zugeben, dass es vermutlich doch nicht seine Nachbarn gewesen waren, die in sein Haus eingedrungen waren. Aber wer dann? Und warum? Gleich nach seinem Gespräch mit Beth hatte Hunt seinen Vermieter angerufen, um zu erklären, was geschehen war, und nun traf der Mann in einer Staubwolke und einem klirrenden Kieselsteinregen ein. Sid Sayers sprang aus seinem Pickup, als hätte er sich an seinem Sitz den Hintern verbrannt, ignorierte Hunt und Beth und all die Zuschauer, ging mit großen Schritten über die Veranda und stapfte geradewegs ins Haus hinein. »Wer ist hier verantwortlich?«, hörte man ihn fragen. »Wer leitet das Ganze?« Wenige Sekunden später trat er wieder ins Freie, begleitet von einem gewissen »Lieutenant Badham«, der auch Hunt einige Fragen zu dem Schaden gestellt hatte. Der Lieutenant führte ihn entschlossen auf die Veranda, sodass die Spurensicherung weiterhin die einzelnen Räume absuchen konnte, doch er blieb tatsächlich bei Sayers und beantwortete sämtliche Fragen. Danach kam der Vermieter zu Beth und Hunt hinüber, die immer noch in der Auffahrt standen, und gemeinsam starrten die drei schweigend zum Haus hinüber. »Haben Sie Feinde?«, fragte Sayers misstrauisch. Hunt schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste.« »Was ist mit diesen Nachbarn, diesen Nichtsnutzen? Hatten Sie mit denen schon mal Ärger?« »Nein.« »Tja, dann weiß ich auch nicht.« Kurz darauf war die Polizei fertig und ließ alle wieder ins Haus. Sayers holte eine Polaroid-Kamera aus seinen Pickup und machte eigene Fotos vom Innern des Hauses. Er war versichert, doch abgesehen von den eingeschlagenen Fensterscheiben schien das Haus selbst keine ernstlichen Schäden davongetragen zu haben. Der eigentliche Schaden lag eindeutig bei Hunts privaten Besitztümern. Aber Hunt hatte eine Hausratversicherung, und sein Vermieter empfahl ihm, die Versicherung zu informieren und so schnell wie möglich einen Sachverständigen kommen zu lassen. Hunt hoffte nur, dass die Versicherungssumme hoch genug war, um den gesamten Schaden abzudecken. Erst am Abend zuvor hatte ein Mitarbeiter der All-Homes-Versicherung bei Hunt angerufen und ihm geraten, die Deckungssumme anzuheben, doch Hunt hatte aufgelegt, nachdem er dem Mann gesagt hatte, er sei nicht interessiert. Die Nummer seines Versicherungsscheins wusste Hunt natürlich nicht auswendig; er wusste nicht einmal, wo in diesem ganzen Chaos er seine Police eigentlich würde finden können, doch den Namen seiner Versicherung kannte er, also rief er bei der Auskunft an, um sich die Nummer geben zu lassen, und wählte sie gleich. Geduldig erklärte er, was geschehen war, nannte seinen Namen und seine Sozialversicherungsnummer, und der Telefonist rief seinen Versicherungsschein auf. Nachdem Hunt dann noch belegt hatte, dass er wirklich derjenige war, der zu sein er vorgab, indem er sein Geburtsdatum und den Mädchennamen seiner Mutter nannte, wurde er darüber informiert, dass sein Privatbesitz auf bis zu zehntausend Dollar versichert war. Zehntausend. Damit würde er nicht alles wieder ersetzen können, aber für das Nötigste würde es reichen. Vielleicht würde er diese Zusatzversicherung doch nicht benötigen. Der Telefonist ließ sich noch einige weitere Informationen geben; dann erklärte er, wie nun angesichts der Ansprüche verfahren werde, und sagte, Hunt stehe ein Tagegeld von sechzig Dollar zu, bis hin zu einer Gesamtsumme von eintausend Dollar, damit er in einem Motel würde unterkommen können, bis die Aufräumarbeiten abgeschlossen seien. »Ein Schadensregulierer wird sich die Wohneinheit morgen früh anschauen, und sobald er den Gesamtschaden geschätzt und einen Bericht abgegeben hat, werden wir dafür sorgen, dass die Aufräumarbeiten eingeleitet werden. Bis zum Ende der Woche sollte Ihr Haus wieder so gut wie neu aussehen.« »Der Schadensregulierer kommt morgen früh?« »Ja, Sir.« »Ich weiß nicht, ob ich für morgen frei bekomme. Mittwoch wäre besser.« »Es besteht keine Notwendigkeit, dass Sie sich frei nehmen.« »Ich muss doch dabei sein.« »Das ist nicht nötig. Lassen Sie den Haustürschlüssel unter der Fußmatte, der Schadensregulierer lässt sich dann einfach selbst in die Wohnung. So macht der das jeden Tag. Wir werden Sie anrufen, um Sie über die Abschätzung zu informieren, oder wir können Ihnen auch eine Kopie seines Berichts faxen, wenn Sie wünschen. Lassen Sie uns nur eine Nummer da, unter der wir Sie erreichen können. Am besten wäre eine Handynummer oder die Nummer, unter der man Sie während der Arbeitszeit erreichen kann.« »Aber wenn Sie da aufräumen ...« »Machen Sie sich keine Sorgen. Die Firma, mit der wir zusammenarbeiten, macht das wirklich gut. Die werden alles retten, was noch zu retten ist, und Sie anrufen, falls etwas fraglich sein sollte - oder für Sie vielleicht von persönlichem Interesse oder Wert ist -, und den Rest werden die ersetzen. Wenn es um irgendwelche wichtigen Papiere und Dokumente geht oder irgendwelche Dinge, die einen rein ideellen Wert für Sie haben, würde ich Ihnen raten, sie jetzt selbst zu bergen und mitzunehmen. Ansonsten lassen Sie einfach eine Nachricht da - die können Sie an die Innenseite der Haustür heften oder kleben, und da geben Sie dann alle Dinge an, die Sie nicht ersetzt wissen wollen. Um den Rest werden die sich schon kümmern.« Hunt lieh sich von Beth einen Stift und ein Blatt von einem Notizblock und notierte sich - wobei er die Wohnzimmerwand als Schreibunterlage nutzte - seine Schadensregulierungsnummer und den Namen des Versicherungsvertreters, mit dem er gesprochen hatte. »Und? Wie sieht's aus?«, fragte Beth, nachdem er aufgelegt hatte. Er erklärte es ihr. »Die wollen das machen, während du bei der Arbeit bist?« Sie runzelte die Stirn. »Aber du musst doch dabei sein, um das Ganze im Auge zu behalten.« »Das hab ich auch gesagt. Ich will nicht, dass irgendwelche Fremden meine Sachen durchwühlen. Aber die Versicherung hat gesagt, für die sei das eine Routineangelegenheit und dass die das immer so machen und mich nicht brauchen.« »Aber trotzdem ...« »Na ja, ich werde morgen früh noch versuchen, frei zu kriegen und hier vorbeizufahren, aber ich weiß nicht, ob ich mir wirklich Urlaub nehmen kann. Eigentlich bin ich ja immer noch in der Probezeit.« »Jorge und Edward übernehmen bestimmt deine Arbeit.« »Ja, aber Steve kann manchmal nerven und mir das Leben ziemlich zur Hölle machen. Außerdem werde ich die wirklich wichtigen Sachen jetzt gleich mitnehmen. Der Rest ...« Er deutete auf den Inhalt des Zimmers. »Das sind doch nur Möbel. Die lassen sich ersetzen.« »Und wo willst du heute schlafen? Du kannst doch unmöglich hierbleiben.« »Ich kriege ein Tagegeld, um irgendwo unterzukommen, während die am Haus arbeiten. Das gehört zu meiner Versicherung dazu.« »Du bleibst bei mir.« Er wollte schon sagen, dass er die nächsten Tage in irgendeinem Hotel verbringen würde, vielleicht in einem der Motel-6-Kette. »Du brauchst doch nicht ...«, setzte er an. »Ich möchte das aber!« Hunt musste zugeben, dass es sehr nett klang. Die Vorstellung, in einem Motel wohnen zu müssen, gefiel ihm ganz und gar nicht - vor allem, da sie diese Woche weit draußen bei Green Valley arbeiten würden, und da Jorges Wagen gerade in der Werkstatt war, hatten sie eine Fahrgemeinschaft gebildet. Die Vorstellung, Hunt könne seine Abende mit Beth verbringen, selbst gekochtes Essen bekommen und neben seiner Freundin auf dem bequemen Riesenbett schlafen, erschien ihm sehr reizvoll. Vor allem nach diesem ganzen Mist hier! Die Sonne versank schon im Westen, warf lange Schatten in die entgegengesetzte Richtung und ließ alles seltsam verzerrt wirken, geradezu expressionistisch. Sayers kam den Flur hinauf und schüttelte ein weiteres Polaroid-Foto trocken. »Die Dreckskerle haben das ganze Klo vollgeschissen«, sagte er und verzog das Gesicht. »Hoffentlich kriegen die Bullen 'ne anständige DNA-Probe.« Beth schaute ihn angewidert an. »Die haben nicht mal abgezogen?« »Das ist sein Job«, sagte er und deutete auf Hunt. »O Gott.« Der Vermieter trat ins Freie und ließ lautstark die Fliegengittertür zuknallen. »Sagen Sie mir, was noch alles passiert«, erklärte er dann. »Ich würde gerne auf dem Laufenden bleiben. Das ist schließlich immer noch mein Haus.« »Das ist ja 'n freundlicher Kerl«, merkte Beth trocken an. »Oh ja.« »Also, wie sieht's jetzt aus? Willst du einfach nur abschließen und ... gehen?« »Ich muss erst noch nach ein paar Sachen suchen. Ich will mich vergewissern, dass die nicht geklaut oder zerstört wurden. Versicherungspolicen, Quittungen und Garantiebelege, Zettel mit Adressen, Fotos. All so 'n Zeug.« »Aber danach kommst du mit mir nach Hause.« Er schaute sie an und nickte. »Jou«, sagte er. »Das mach ich.« 2. »Ich glaube, da draußen ist jemand«, flüsterte Nina. Dreckschweine! Die Smith & Wesson in der Hand, war Steve schon aus dem Bett gesprungen, rannte den Flur hinunter und zum Anbau, ehe Nina überhaupt den nächsten Satz aussprechen konnte. Das waren diese verdammten Cholos, da war Steve sich ganz sicher. Diese blöden illegalen Einwanderer, die sauer waren, weil er die ganze Arbeit alleine machte, und dass er nicht sie oder einen von ihren genau so illegalen Kumpeln angeheuert hatte, um diesen Anbau fertig zu stellen - und jetzt wollten sie es ihm heimzahlen. Als er letzten Sonntagmorgen mit dem Verputzen hatte anfangen wollen, hatte er mitten auf dem Sperrholzboden eine leere Tequilaflasche gefunden, und irgendjemand hatte in die Ecke gepinkelt. Diese Dreckskerle hatten in seinem neuen Anbau eine Party gefeiert, während Nina und er geschlafen hatten! Das hatte er jetzt davon, dass er unbedingt in diesem beschissenen Stadtteil hatte bleiben wollen, dass er nicht weggezogen war, als die braune Flut aus der Nachbarschaft immer weiter hier herübergeschwappt war. Aber Steve hatte sich geschworen, dass das niemals wieder passieren würde! Und wenn jetzt jemand auf seinem Grundstück war, würde Steve erst schießen und die Fragen später stellen. Wenn es zum Äußersten kam, konnte er immer noch behaupten, er habe eine Waffe gesehen; es sei nur Selbstverteidigung gewesen. Doch Steve bezweifelte, dass es so weit kommen würde. Das war das Tolle an den alten Wild-West-Staaten: Hier baute man noch auf Eigentumsrechte, und wenn jemand auf deinem Grundstück war und unbedingt eine verpasst haben musste, konnte man tun, was notwendig war - und jeder verstand es. Steve hatte die Tür am Ende des Flurs erreicht. Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf: Was, wenn das kein illegaler Einwanderer war, sondern jemand von der Arbeit? Oder - noch schlimmer - jemand, den er entlassen oder der im Zorn gekündigt hatte? Von solchen Leuten gab es weiß Gott genug. Die Baumpflegeabteilung der Bezirksverwaltung galt als eine Art Strafbataillon, und dort hatten schon viele Leute gearbeitet, die Steve jetzt abgrundtief hassten. Wenn er jemanden erschoss, den er kannte, würde der Beweis, dass es kein Vorsatz gewesen war, viel schwerer zu erbringen sein. Er blieb stehen und lauschte. Nina hatte recht. Es war jemand im Anbau. Gleich hinter der Tür ... so hörte es sich zumindest an. Da, wo der Sperrriegel war. Steve hörte Stiefel auf dem Holzboden, dann ein Geräusch, das wie ein Schniefen klang. Steve beobachtete die Tür. Er war sich nicht sicher, ob das wirklich die beste Vorgehensweise wäre. Weil die Tür zum Anbau hinausführte und dieser Anbau kaum mehr war als ein nur teilweise mit einem Dach geschütztes Gerüst, das jeder betreten konnte, hatte Steve die Tür mit drei Schlössern gesichert: dem normalen Schloss im Drehknauf der Tür, einem Schlossriegel und einer Kette. Bis Steve die alle geöffnet hatte, begleitet vom Klappern und Klimpern der Schlüssel, wäre der Eindringling längst vorgewarnt und vermutlich geflohen. Vielleicht war es besser, zur Hintertür zu gehen und um das Haus herum zu schleichen, um den Eindringling zu stellen. Leise zog er sich wieder von der Tür zurück, schlich den Flur hinunter und achtete sorgsam darauf, ja keinen Laut zu machen. Nina streckte den Kopf aus der Schlafzimmertür, und mit einer verärgerten Handbewegung scheuchte Steve sie zurück. »Bleib da drin!«, zischte er und eilte leise am Schlafzimmer vorbei. Die Hintertür war näher; außerdem lag sie im Schatten. Vorsichtig schob er den Schlossriegel zurück, drehte den Türknauf und huschte dann in die Dunkelheit hinter dem Haus, die Waffe im Anschlag. Er hatte jetzt nicht mehr die Absicht, den Eindringling einfach kaltblütig zu erschießen. Damit würde er sich nur jede Menge Ärger einhandeln, den er im Augenblick wirklich nicht gebrauchen konnte. Er wollte dem Dreckskerl bloß damit drohen, ihn zu erschießen, und ihn dann festhalten, bis die Bullen kamen, um denen das Problem zu überlassen. Dabei war es Steve egal, ob das Ganze nur ein Scherz sein sollte oder vielleicht gar keine Absicht war. Unerlaubt das Grundstück eines anderen zu betreten war ein Verbrechen, und Steve würde dafür sorgen, dass der Verbrecher bestraft wurde. Jetzt war er hinter das Haupthaus getreten und spähte vorsichtig um die Ecke, sodass er die Umrisse des Anbaus erkennen konnte. Auf der gegenüberliegenden Seite, die in mattes Mondlicht getaucht war, glaubte Steve einen stämmigen Mann mit Hut zu erkennen - einem dieser Hüte aus den Vierzigern, die Steve für sich immer als »Humphrey-Bogart-Hüte« bezeichnete. Und der Mann schien sich am Knauf der Tür zu schaffen zu machen, die in den Flur des Haupthauses führte. Zorn brandete in Steve auf, und er rannte über den Hinterhof, auf den Stromkasten zu, die Waffe ausgestreckt. Keine Bewegung!, wollte er schreien. Stehen bleiben! Mit ein bisschen Glück machte der Kerl sich in die Hose, wenn er erst die Knarre sah, die auf ihn zielte. Steve erreichte den Stromkasten und schaltete das Licht ein. Da war niemand. Der Anbau war leer. 3. Mit Beth zusammenzuleben war großartig. Die letzten Jahre mit Eileen hatten Hunt so vergiftet, dass er explosionsartige Wut schon bei den kleinsten Kleinigkeiten erwartet hatte, grundlose Streitereien, gefolgt von grimmigem Schweigen. Tatsächlich aber kamen Beth und er wunderbar miteinander klar. Natürlich war er auch mit Eileen eine Zeitlang glücklich gewesen, ehe alles den Bach runtergegangen war, also konnte man daraus noch nicht allzu viel schließen, doch alleine schon die Tatsache, dass Hunt jeden Tag mit Beth zusammen sein konnte und immer noch ihre Anwesenheit genoss - dass er sich immer noch auf jeden Augenblick freute, den sie gemeinsam verbrachten -, gab Hunt Zuversicht. Er hatte Angst davor gehabt, in dieser Beziehung einen Schritt weiter zu gehen, weil er befürchtete, dieser eine Schritt könne alles zerstören. Die größte Überraschung waren Beths Kochkünste. Natürlich hatte sie ihn schon vorher bekocht, doch weil sie eben nicht zusammenlebten, waren es stets besondere Anlässe gewesen - Mahlzeiten, mit denen sie Hunt beeindrucken wollte. Doch sie zauberte jeden Abend eine phantastische Gourmet-Küche, und Hunt hatte nicht das Gefühl, als würde sie es nur seinetwegen tun. So war Beth eben. Hunt hatte gewusst, dass Kochen zu ihren Hobbys gehörte und dass sie hingebungsvoll die Kochsendungen im Fernsehen verfolgte, doch Hunt hatte nicht begriffen, dass es eine Leidenschaft war. Das gefiel ihm. Eileen hatte Restaurants geliebt. Und Tiefkühlkost. Und Tacos. Hunt hatte sich nie für den Typen gehalten, der nach Hause kommt und ruft: »Hey, Schatz, was gibt's zu essen?« Es war ihm peinlich, in eine derartige Rolle zu verfallen - er hatte sogar ein wenig Schuldgefühle deswegen -, doch Beth war nicht das unterwürfige Hausweibchen aus der Vorstadt, sie kochte nur einfach gerne für ihn, und das machte Hunt dankbarer denn je, dass er sie kennen gelernt hatte. Am Freitagmorgen machte er gerade Pause, als ein Vertreter der Versicherung ihn auf seinem Handy anrief und ihm berichtete, sein Haus sei fertig. Sofort erzählte Hunt es Edward und Jorge, doch er wartete bis zum Mittag, bis er Beth davon berichtete. Die Wahrheit war: Er wollte dort gar nicht mehr fort. Er hatte bei Beth nur vier Nächte verbracht, doch sie waren in der Zeit einander viel nähergekommen, und Hunt fühlte sich so wohl dort, dass es ihm jetzt wie sein Zuhause vorkam. Jetzt wieder in sein eigenes Mietshaus zurückzugehen ... das wäre so, als würde er einen gewaltigen Schritt rückwärts tun. Obwohl die Miete bis zum Ende des Monats bezahlt war, hatte Hunt nicht mehr den Wunsch, dort zu wohnen. So erklärte er sich nur zu gern einverstanden, als Beth ihn bat, ganz offiziell bei ihr einzuziehen. Hinter ihnen brachen Edward und Jorge, die das Gespräch belauschten, in Jubelrufe aus. Beth und er lachten. Doch Hunts ganzer Krempel war noch in dem Haus, das er gemietet hatte. Also fuhren sie nach der Arbeit dorthin, um sich das Ergebnis der Renovierung anzuschauen. Die Schlösser waren ausgetauscht worden, doch wie versprochen waren die neuen Schlüssel unter einem Stein auf der rechten Seite der Veranda versteckt. Hunt hob die Schlüssel auf, öffnete die Tür und trat ein. »Ach du meine Fresse!«, entfuhr es ihm. Sämtliche Wände waren schwarz gestrichen worden. Statt der gerahmten Plakate klassischer Filme, die vorher in seinem Wohnzimmer gehangen hatten, fand er dort jetzt groteske Gemälde verstümmelter Frauen in grässlich bunten Rahmen. Die Bücher, die vorher in den Regalen gestanden hatten, waren gegen schauerlichere Lektüre ausgetauscht worden: ein Bildband über medizinische Gräuel der Nazis stand neben einem Lehrbuch über die Einbalsamierung von Leichen. Dazu fand er eine Gesamtausgabe des Marquis de Sade vor und zahlreiche Fetisch-Romane mit so vielsagenden Titeln wie Ich lecke dein Blut und Fuß-Fuck-Daddy. Ähnliches galt für seine Videos und DVDs, die allesamt durch Sado-Hardcore-Pornos ersetzt worden waren. Statt seiner alten Vinyls - Rock-, Jazz-, Blues-, Folk- und Country-Alben, die sich seit seiner Kindheit angesammelt hatten - standen dort nur Boxen über Boxen, allesamt mit Unmengen der gleichen Platte gefüllt: You light up my Life von Debbie Boone. »Was ... ist das?«, brachte Beth hervor. Wie betäubt schüttelte Hunt den Kopf. »Keine Ahnung.« »Da hat aber jemand so richtig Mist gebaut.« »Jou.« Wie in Trance ging er in die Küche. Eine Axt stak in einem freistehenden, blutroten Hackklotz, der den Platz des Tisches in der Essecke eingenommen hatte, und eine altmodische Handpumpe hatte den Wasserhahn über der Küchenspüle ersetzt. Mitten auf dem schwarzen Linoleumboden lag ein Teppich, der anscheinend aus einem Gorillapelz gefertigt war. Das Maul des Affen war weit geöffnet, die Reißzähne entblößt. »Ich dachte, die sollten nur die beschädigten Möbel und die zerstörten Sachen ersetzen, aber nicht alles rausschmeißen und es mit ... so was ... ersetzen.« »Das dachte ich auch. Und wie können die mir so einen Mist hier reinstellen! Die können doch nicht einfach über meinen Kopf hinweg entscheiden.« Hunt ging zum Schlafzimmer hinüber, und Zorn loderte in ihm auf. Sogar das Bett, das gar nicht beschädigt gewesen war, hatte man ersetzt - durch ein Wasserbett in Penisform. Und statt seiner Kommode sah er einen mit roter Glitzerfolie überzogenen Schreibtisch, auf dem etwas stand, das ziemlich genau so aussah wie ein Gynäkologen-Plastikmodell der weiblichen Genitalien. Beth konnte es nicht fassen. »Das ist illegal! Du hast doch nichts unterschrieben, womit du denen so etwas erlaubt hast, oder?« »Natürlich nicht. Ich war während der Renovierungsarbeiten nur einmal hier, am Dienstag, und da sah alles noch völlig normal aus. Ich habe denen nicht gesagt, dass sie das so machen sollen, und die haben mir nicht gesagt, dass sie es so machen werden.« Beth öffnete die Tür des Kleiderschranks und fand eine ansehnliche Auswahl Gothic-Kleidung vor. Hunt knirschte mit den Zähnen. »Wir müssen zurück zu dir ...« »Zu uns.« »Zu uns, damit ich mir das Kleingedruckte meiner Police noch einmal durchlesen kann. Du hast recht, das kann nicht legal sein! Die haben nicht nur beschädigte Gegenstände ersetzt, die haben das ganze Haus auf den Kopf gestellt, haben meinen Privatbesitz gestohlen und mich gezwungen, diesen kranken Mist hier einfach hinzunehmen!« »Nimm eine Kamera mit, wenn wir das nächste Mal hierherfahren«, schlug Beth vor. »Du brauchst Fotos für den Fall, dass du vor Gericht gehen musst. Wir müssen das alles dokumentieren.« »Später. Komm, lass uns abhauen.« In der Kiste mit Papieren, die sie aus dem Haus mitnahmen, entdeckte Hunt seine Versicherungspolice, und die nächste Stunde verbrachte er damit, das Kleingedruckte zu lesen. Um auf Nummer sicher zu gehen, rief er die Zentrale der Versicherungsgesellschaft in Delaware an. Nachdem er sich durch ihr verschlungenes Telefonmenü gekämpft hatte, konnte er endlich eine Nachricht hinterlassen: Langsam und deutlich gab er seinen Namen, seine Versicherungsscheinnummer und seine Schadensregulierungsnummer an; dann beschrieb er, was geschehen war. Nachdem er aufgelegt hatte, schaute er zu Beth hinüber. »Was für eine Hausratversicherung hast du eigentlich?« »Oh, ich hab Glück gehabt. Die sind prima. Ich musste die mal anrufen, als vor zwei Jahren das Dach undicht war, und in dem Jahr davor, als bei einem Sturm ein Ast das Fenster im Schlafzimmer eingeschlagen hat, und die haben alles problemlos erledigt.« »Da hast du wirklich Glück.« »Ja, aber ich zahle auch ordentlich dafür. Deshalb habe ich denen auch nichts davon erzählt, als ich letztes Jahr das Badezimmer umbauen ließ. Sobald man etwas im Haus umbaut, schießen die Beiträge in die Höhe. Ich habe den Fehler gemacht, es denen zu melden, als ich mal neue Wandschränke einbauen ließ und konnte nicht fassen, um wie viel die daraufhin meinen Beitrag erhöht haben! Deswegen habe ich dieses Mal nichts gesagt.« »Wenn die dich erwischen, nennen die das Versicherungsbetrug. Und deine Police ist dann null und nichtig. Die werden keinen Cent zahlen, wenn etwas passiert. Du solltest dich lieber mal erkundigen.« »Ich überleg's mir.« Am Montagmorgen, gleich nach dem Frühstück, rief Hunt die Versicherung an - in Arizona war es sechs Uhr, an der Ostküste neun. Der Mann, der den Anruf entgegennahm, sprach sehr lebhaft und war übertrieben diensteifrig. »Würden Sie mir bitte Ihre Schadensregulierungsnummer nennen, Sir?« »Fünf Zwo Eins, Fünf Sechs Vier U.« »U?« »Ja. U wie in ›unzufrieden‹.« »Wo liegt denn das Problem, Mr. Jackson?« »Ich will Ihnen sagen, wo das Problem liegt!« Hunt hatte zwei Tage Zeit gehabt, sich zu überlegen, wie er seinem Ärger Luft machen wollte, und nun verpasste er dem Mann eine volle Breitseite, als er die schwarzen Wände beschrieb, die skurrilen Möbel, die seine eigenen ersetzt hatten, und die pornographischen Bücher und Videos. »Ich weiß nicht, wer das gemacht hat oder warum, und was für eine durchgeknallte Firma Sie beauftragt haben, diese Arbeiten durchzuführen, aber die haben totalen Mist gebaut! Ihre Versicherung hätte diese Arbeiten doch überprüfen müssen! Das wäre nicht passiert, wenn Sie aufgepasst hätten! Ich erwarte, dass das Haus in seinen alten Zustand zurückversetzt wird, einschließlich der Einrichtung! Haben Sie verstanden?« Der Mann ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Darf ich fragen, wann die Reparaturarbeiten abgeschlossen wurden.« »Freitagmorgen, nehme ich an.« »Sie nehmen an?« »Also, ich ...« Hunt stockte. »Ich muss hier eine genaue Uhrzeit eintragen, Sir«, fuhr der Mann ungerührt fort. »Und da Sie die nicht wissen ...« Hunt hörte das Klappern einer Tastatur, und dann, im Südstaaten-Singsang: »Halb Affenarsch, viertel vor Ho-den-sack.« »Was?«, fragte Hunt verwirrt. »Ich ...« Bellendes, irres Gelächter unterbrach ihn. Dann wurde die Verbindung unterbrochen. Hunt hörte nur noch das Freizeichen. Entgeistert starrte er auf den Hörer, den er immer noch in der Hand hielt. Er war so wütend wie beim letzten Mal, aber dieses Mal kam ein Gefühl der Beunruhigung hinzu. Wie war das möglich? Seine Autoversicherung und die Versicherungsgesellschaft, die sich um seinen Hausrat kümmerte, gehörten zum gleichen Mutterkonzern und hatten die gleichen Telefonisten. Der Mann war von einer Versicherungsgesellschaft zur anderen gewechselt und hatte tatsächlich noch seinen Namen im Gedächtnis behalten ... Hunt atmete tief durch und wählte erneut, und wie beim letzten Mal nahm eine professionell auftretende Frau das Gespräch an. Dieses Mal stellte sie sich als »Alice« vor. Hunt nannte seinen Namen und seine Schadensregulierungsnummer und schilderte erneut den Vandalismus an seinem Haus und seinen Besitztümern und berichtete dann von den sonderbaren Objekten, die seinen Privatbesitz ersetzt hatten. Hunt klang jetzt weniger zornig, weil er fast seine ganze Wut beim ersten Gespräch verausgabt hatte, doch er war immer noch verärgert, und die Telefonistin war sich seiner Unzufriedenheit merklich bewusst. Doch sie hielt sich genau an die Regeln ihrer Versicherungsgesellschaft, und statt Hunt zu versprechen, der Vorfall werde umgehend untersucht, las sie die Informationen auf ihrem Computerbildschirm durch und erklärte dann, die Versicherung habe alles ordnungsgemäß durchgeführt. »Aber genau darum geht es doch!«, erklärte Hunt aufgebracht. »Das hat sie eben nicht!« »Ich verstehe Sie ja, Mr. Jackson, aber ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, dass die All Homes alles getan hat, wozu sie vertraglich verpflichtet war. Unsere Verpflichtungen sind den Bedingungen Ihres Vertrages gemäß genau definiert.« »Und warum steht dann ein pimmelförmiges Wasserbett in meinem Schlafzimmer? Warum habe ich Kartons mit dreihundert Exemplaren von You light up my Life im Wohnzimmer? Warum stehen in meiner Videosammlung plötzlich Aufnahmen von Selbstmorden?« »Wenn Sie sich Ihre Versicherungspolice einmal genau ansehen«, erklärte Alice, »werden Sie feststellen, dass alle Bedingungen erfüllt wurden. Die All-Homes-Versicherung ist lediglich verpflichtet, die beschädigten Gegenstände durch gleichwertige Objekte zu ersetzen, nicht durch identische Objekte.« »Ich habe die Police hier gerade vor mir liegen, ich habe sie das ganze Wochenende immer wieder gelesen, und das steht da definitiv nicht drin!« »Haben Sie die Ausschlussklausel gelesen?« »Ausschlussklausel?« Das brachte Hunt aus dem Konzept. »Was für eine Ausschlussklausel?« »Die finden Sie im Kleingedruckten auf der Rückseite Ihrer Police. Anhang D, Unterabschnitt Eins A. Und da steht klipp und klar, dass bei jeglichen Hausratsversicherungen über eine Deckungssumme von zehntausend Dollar oder weniger zu versuchen ist, die beschädigten Gegenstände zu ersetzen, dass aber, falls geeigneter Ersatz nicht zu beschaffen ist, sie durch Objekte gleichen Wertes zu ersetzen sind, wobei All Homes die Abschätzung der Gleichwertigkeit vorzunehmen hat. Wenn Sie allerdings eine zusätzliche Versicherung über die Deckungssumme abgeschlossen hätten, wie einer unserer Mitarbeiter es Ihnen kürzlich vorgeschlagen hatte, wären Ihre sämtlichen Besitztümer nach Ihren Wünschen ersetzt worden.« Hunt wurde misstrauisch. »Woher wissen Sie, dass man mir vorgeschlagen hat, meine Deckungssumme aufzustocken?« Erschöpft seufzte Alice. »Hören Sie, Mr. Jackson, ich kann Ihnen höchstens ein Beschwerdeformular zuschicken. Darin können Sie Ihr Problem schildern und erklären, wie Sie die Sache sehen, und dann wird einer unserer Schlichter sich noch einmal mit der Angelegenheit befassen und gegebenenfalls notwendige Schritte einleiten. Wir legen sehr viel Wert auf die Zufriedenheit unseren Kunden und sind bisher ausnehmend gut beurteilt worden. Wir wollen auf keinen Fall, dass unsere Kunden ...« »Schicken Sie mir das Formular«, sagte Hunt nur. Die Mitarbeiterin der Versicherung vergewisserte sich, die aktuell gültige Adresse vorliegen zu haben, und spulte dann belanglose Verabschiedungsfloskeln herunter. Hunt legte auf. »Diese Arschlöcher!« Beth hatte mit angehört, was er während des Gesprächs gesagt hatte. »Du hast denen gar nichts von den neu gestrichenen Wänden erzählt. Die haben viele Dinge am Haus selbst verändert, nicht nur an der Einrichtung.« »Das soll der Hauseigentümer selbst herausfinden«, sagte er. »Ich wohne nicht mehr da. Ich wohne jetzt mit dir zusammen.« »Ja.« Sie lächelte und gab ihm einen sanften Kuss auf die Lippen. »Ja, das tust du.« FÜNF Alles geschah auf einmal, und Brian Kutz konnte nicht richtig denken, konnte nicht entscheiden, was jetzt wichtig war und was nicht, was sofort getan werden musste und was warten konnte. Er handelte rein instinktiv, reagierte auf jede der Veränderungen, die sich in Sekundenbruchteilen ereigneten. Der Feuermelder hat nicht reagiert. Das war der einzige bewusste Gedanke, der ihm immer wieder durch den Kopf schoss; wie auf einer Endlosschleife wiederholte er sich ständig in seinem Hirn, während er aus dem Bett sprang und splitternackt durch die dichten Rauchwolken stürmte, dorthin, wo er die Schlafzimmertür finden würde, da war er sich ganz sicher. Nur dass die Tür nicht dort war. Brian prallte gegen eine Wand - viel früher, als es eigentlich hätte passieren dürfen. Als wäre in der Nacht sein Bett verrückt worden. Als Brian zurücktaumelte, spürte er sein warmes, feuchtes Blut, das ihm von der Stirn ins Auge und über die Wange strömte. Viel schlimmer aber waren der Rauch und die zunehmende Hitze im Zimmer ... Der Feuermelder hat nicht reagiert. ... und so tastete er sich panisch an der Wand entlang, bis seine Fingerspitzen einen Türrahmen fanden. Brian tränten die Augen, sie brannten von Blut, Schweiß und Rauch, und irgendwo in der Ferne - auf der Vorderseite des Hauses, glaubte er - hörte er etwas zerbersten: einen Fernseher, oder die Mikrowelle, oder einen Computer, oder die Stereoanlage. Der Feuermelder hat nicht reagiert. Im Flur leckten ihm unerträgliche heiße Flammenzungen über die linke Hand - die Hand, mit der er sich noch an der Wand entlangtastete. Brians Haut verkohlte, wurde schwarz, schälte sich ab und legte nackte, rosige, untere Hautschichten bloß, die nun schutzlos der Hitze ausgesetzt waren. Sein ganzer Arm bestand nur noch aus Schmerz, als würde jemand ihn mit einem Skalpell zerschneiden. Brian hoffte inständig, Geräusche aus dem Schlafzimmer der Zwillinge zu hören. Er wollte einfach nur wissen, dass sie noch lebten. Doch nichts war zu hören, nur das Prasseln der Flammen ... ... und dann zuckte der ganze Fußboden wie bei einem Erdbeben, und vom Dach hörte Brian ein ungeheures Tosen. Er rannte durch den Rauch, der ihm jede Sicht und jede Luft nahm, und ignorierte die Gefahren. Er musste die Mädchen finden und sie hinausschaffen, ehe das Dach über ihnen zusammenbrach! Er fand eine Tür, die zu ihrem Zimmer führen musste, doch die Luft war bereits zu rauchverhangen, um wirklich sicher sein zu können, und als Brian sich ins Zimmer beugte, schlug ihm unerträglich sengende Hitze entgegen, die sein Gesicht zu rösten schien und ihm das Gefühl gab, jeden Moment würden ihm die Augen schmelzen; rücklings taumelte er gegen die Wand im Flur. »Deb!«, schrie er. »Michelle!« »Daddy! Mommy!« »Mommy! Daddy!« Die Stimmen klangen matt und leise im Tosen der Flammen und dem Krachen und Stöhnen des sterbenden Hauses, doch sie waren irgendwo vor ihm, in der Nähe des Hauseingangs, und mit tränenverhangenem Blick taumelte Brian durch die Rauchschwärze, dankbar, dass seine Mädchen geistesgegenwärtig genug gewesen waren, ihr Zimmer zu verlassen. »Raus hier!«, rief er ihnen zu, doch seine Kehle war trocken und seine Stimme nicht annähernd so laut, wie er es beabsichtigt hatte. Noch einmal versuchte er zu schreien, doch es wurde ein Hustenanfall daraus. Aber wenigstens waren die Mädchen in der vorderen Hälfte des Hauses, im Wohnzimmer oder in der Küche, und hier, im hinteren Teil, schien der Brand noch schlimmer zu sein. Er hoffte nur, dass Nanci ihm folgte oder schon an ihm vorbeigehastet war - oder das Schlafzimmerfenster eingeschlagen hatte, um auf diese Weise zu flüchten. Jetzt dachte Brian allmählich wieder logischer; sein Hirn hatte die letzten Nebelfetzen des Schlafes abgeschüttelt, und nun begriff er, was hier eigentlich geschah und wo er war und was er tun müsse. Er wünschte, er wäre nicht nackt, hätte wenigstens Unterwäsche angezogen, würde Schuhe oder Hausschuhe tragen, doch nichts davon war wichtig, und so eilte er vorwärts, so schnell er nur konnte, die unverletzte Hand immer noch an der Wand, um nicht wieder die Orientierung zu verlieren, wobei er hoffte, dass keine brennenden Möbelstücke ihm plötzlich den Weg versperrten. Immer noch hustete er. Jeder Versuch, nach dem Husten wieder Luft zu holen, transportierte auch weiteren Rauch und Ruß in die Lunge. Als Brian es schließlich geschafft hatte, aus dem Flur herauszukommen und das Wohnzimmer zu durchqueren, erbrach er sich. Sein Mageninhalt platschte ihm auf die nackten Füße und auf die Fußmatte; einen kurzen Augenblick dachte er, er müsse ersticken, denn er schien nicht mehr atmen zu können. Doch dann taumelte er weiter fort von seinem Haus, wankte auf die versammelte Nachbarschaft zu, sah, dass die alte Mrs. Childiss die beiden verzweifelt schluchzenden Zwillinge festhielt. Und dann spürte Brian die willkommene Kühle frischer, sauberer, rauchfreier Luft. Auch er schluchzte, als er die Mädchen fest in die Arme schloss. »Daddy!«, rief Michelle weinend. »Daddy!«, schluchzte Deb. Aber wo war Nanci? Grelles Entsetzen durchfuhr Brian. Neuerliche Panik erfasste ihn. Er rief den Namen seiner Frau, drehte sich um, suchte nach einer Spur von ihr. Er wusste, dass er die Mädchen nicht verängstigen sollte, doch er war selbst zu verängstigt, um darauf achten zu können. »Nanci!«, rief er. »Nanci!« Keine Antwort. Nur das Prasseln der Flammen war zu vernehmen. »Passen Sie auf die beiden auf!«, rief er Mrs. Childiss noch zu und schob ihr die Zwillinge entgegen. Dann rannte er zur Seite des brennenden Hauses, schrie immer wieder den Namen seiner Frau, lief über den Hinterhof zur anderen Seite und suchte nach einem Anzeichen, dass Nanci der Flammenhölle hatte entkommen können. Er verfluchte sich selbst, nicht geistesgegenwärtig genug gewesen zu sein, seine Frau zu retten, als er die Chance gehabt hatte. Die Lampe neben dem Bewegungsmelder über der Küchentür flammte auf, als er sich näherte. Und dann sah er den Versicherungsvertreter. Wie angewurzelt blieb Brian stehen. Der Mann stand neben dem geborstenen Küchenfenster, aus dem nun dichte Rauchschwaden quollen; anfangs hatten sie sich in der Nacht aufgelöst, doch allmählich schwängerten sie auch hier die Luft. Der Mann trug einen Mantel, der fast aussah wie ein Trenchcoat, und dazu einen weichen Filzhut. Auch wenn er in dieser Kleidung aussah wie ein Privatdetektiv aus einem Schwarzweißkrimi aus den Vierzigerjahren, wirkte es doch nicht fehl am Platze ... und zum ersten Mal begriff Brian, dass der Versicherungsvertreter tatsächlich aus einer anderen Zeit zu stammen schien. Und das war schon immer so gewesen. »Tss, tss«, sagte der Vertreter. Verrückterweise schoss Brian der Gedanke durch den Kopf, dass er noch nie jemanden wirklich »Tss, tss« hatte sagen hören. Das war eine dieser Phrasen, die man immer nur in Büchern las, aber nie im wahren Leben hörte, und tatsächlich klang es gekünstelt und spöttisch aus dem Munde des Versicherungsvertreters. Nancis verbrannter Leib lag zu seinen Füßen, zuckte noch ein wenig. Brian fühlte sich, als hätte jemand ihm die Faust in den Magen gedroschen. »Nein ...«, brachte er mühsam heraus. »Ja.« »Das ist nicht ...« »Leider doch.« »Ich wollte es doch morgen abschicken!«, kreischte Brian. »Ich habe den Scheck schon geschrieben! Es steckt in meiner Brieftasche!« »So ein Pech aber auch«, sagte der Vertreter. »Wirklich eine Schande.« Brian ließ sich auf den Boden fallen, unmittelbar neben seine Frau. Sie war dermaßen verbrannt, dass er sie kaum noch erkannte. Aus der Nähe konnte er das Blut unter den verkohlten Hautschichten sehen, sah das feine Zucken der Muskeln. Zwischen dem, was von ihren verbrannten Lippen übrig war, drang kein Laut hervor, und irgendwie war dies das Schlimmste von allem. Nanci starb unter entsetzlichen Schmerzen, doch sie konnte nicht schreien. Ihre Kehle war versiegelt. Brian wollte sie festhalten, wollte ihr Trost spenden, doch er wusste, dass er es nicht konnte. Er schluchzte, weinte, schrie. »Nein!« Der Versicherungsvertreter tippte sich an die Hutkrempe und trat in den Vorgarten, hinaus in die Dunkelheit, während nun die Wagen der Feuerwehr eintrafen. »Es war mir eine Freude, mit Ihnen Geschäfte zu machen.« SECHS 1. Die Zeit verstrich. Hunt erhielt das Angebot, in der Bezirksverwaltung aufzusteigen und in einem schmucken Büro zu arbeiten, statt weiter draußen beim Baumbeschnitt, doch zu jedermanns Erstaunen - von ihm selbst abgesehen - lehnte er ab. Es war sonderbar, aber Hunt hatte festgestellt, dass ihm die Arbeit wirklich Spaß machte. Außerdem verdiente er genug, dass er und Beth mit ihrem gemeinsamen Einkommen sehr gut zurechtkamen. Er sah keinen Grund, sich umzustellen. Es war beinahe so, als würde er zwei unterschiedliche Leben führen. Das Leben vor der Scheidung und das nach der Scheidung. Vorher hatte er ein großes Haus in der Vorstadt in Südkalifornien gehabt, und dazu einen relativ gut bezahlten Techniker-Job bei einem multinationalen Konzern, und nun lebte er im Haus seiner Freundin und verrichtete körperliche Arbeit für das Pima County. Aber es war schön. Hunt hatte nie zu den »Zurück-zur-Natur«-Typen gehört, die sich nach einer ländlichen Idylle sehnten, die es gar nicht gab. Doch Hunt empfand es als erfrischend und regelrecht belebend, in der freien Natur zu arbeiten und endlich wieder saubere Luft atmen zu können - nach all den Jahren in der Metropole Los Angeles, in der man einen klaren Tag daran erkannte, dass man durch den Smog gerade noch die umliegenden Berge erkennen konnte. Außerdem mochte Hunt seine Kollegen wirklich. Das war ganz anders als bei Boeing. Damals war es ihm völlig egal gewesen, dass er vermutlich keinen seiner Kollegen jemals wiedersehen würde. Zwar hatte es dort niemanden gegeben, den Hunt gehasst hätte, und mit den meisten Kollegen war er gut ausgekommen, aber echte Freundschaften hatte er nicht geschlossen; es hatte niemanden dort gegeben, der ihm wirklich nahegestanden hätte. Seine Kollegen waren allenfalls Bekannte gewesen, aber keine Freunde. Edward und Jorge hingegen waren echte Freunde. Sie unternahmen gemeinsam Dinge, verbrachten manches Wochenende zusammen, besuchten einander zu Hause. Am meisten überraschte es Hunt - und auch Joel -, dass die vertrauten Klischees einfach nicht zutrafen. Edward war ein Freund der klassischen Musik, ein richtiger Liebhaber. Und er hörte nicht nur die alten Klassiker, sondern auch Ausgefalleneres - Monk, Lentz, Reich, Andriessen und andere Komponisten, von denen Hunt bisher nicht einmal die Namen gehört hatte, geschweige denn, dass er ihre Musik verstünde. Und Jorge las mehr als jeder andere, den Hunt jemals kennen gelernt hatte - nicht nur die üblichen Bestseller, sondern auch obskure Autoren aus Südamerika, deren Werke in den USA noch gar nicht auf dem Markt waren. So seltsam es erscheinen mochte: Die beiden Baumbeschneider kamen Intellektuellen viel näher als Hunt oder Joel oder jemand von deren Berufskollegen aus der Vorstadt - nicht, dass die beiden es jemals zugegeben hätten. Die Welt war schon sonderbar. In gewisser Hinsicht war Hunt in einem Elfenbeinturm aufgewachsen: Sohn eines Bibliothekars und einer Lehrerin am Junior College, und trotz aller Bemühungen, ein Weltbild zu entwickeln, das so demokratisch wie möglich war, hatte er tief in seinem Innern immer ein gewisses Klassendenken besessen, hatte körperlich hart arbeitenden Menschen und der »ungebildeten Masse« einen gewissen Geschmack und gewisse Merkmale zugeschrieben, den »er und seinesgleichen« nicht aufwiesen. Er hatte erst selbst einen Job annehmen müssen, bei dem es um körperliche Arbeit ging, um in dieser Hinsicht eines Besseren belehrt zu werden und zu begreifen, dass Vorurteile und vorgefasste Meinungen tatsächlich so unzutreffend und schädlich waren, wie es immer gerne behauptet wurde. Auch seine Arbeit als Baumbeschneider überraschte ihn stets aufs Neue. Pima County war so groß und die Vegetation so abwechslungsreich, dass Hunt immer wieder in Gegenden arbeitete, die völlig neu und fremdartig für ihn waren. Natürlich gab es einen gewissen Zeitplan und bestimmte Gebiete - etwa die Stadtmitte -, die regelmäßig aufgesucht werden mussten, doch dieser Zeitplan war so angelegt, dass sämtliche Baumbeschneider-Trupps sich darin abwechselten, und wenigstens ein paar Mal jeden Monat waren sie in sehr abgelegenen Gegenden unterwegs, die man nur über selten befahrene Straßen erreichte. Der sonderbarste Ort, den Hunt bisher gesehen hatte, war der »Knast«. Zumindest nannten Edward und Jorge ihn so. Tatsächlich wusste niemand, wozu dieses Gebäude wirklich diente. Es lag im Südosten der Stadt, nahe den Überresten einer alten Geisterstadt, am Grunde eines ausgedienten Wasserreservoirs, doch nun war es nur noch eine knochentrockene Grube, von Wüstenvegetation überwuchert und von dicht wachsenden Mesquitebäumen umstanden. Die Dürre des letzten Jahres hatte dafür gesorgt, dass das gesamte Gebiet als Brandrisiko eingestuft worden war, und nun sollten Hunt und seine Kollegen die Bäume dort ausdünnen; später in der Woche würde ein anderer Trupp kommen, um das vertrocknete Unterholz zu entfernen. Doch zuerst wurde Hunt von Edward und Jorge einen steilen Kiesweg hinuntergeführt, geradewegs in die Grube hinein, in der dichte, dornige Disteln hüfthoch ein sonderbares Steingebäude umrankten, das nur wenig größer war als ein Toilettenhäuschen. Es hatte keine Fenster, und die Tür - ein verrostetes Rechteck zahlreicher, einander überkreuzender Eisenstangen - war in halb geöffnetem Zustand festgerostet. Innen waren die Wände völlig mit Moos überzogen, und der Boden war feucht und voller Algen, als befände sich das kleine Gebäude oberhalb einer Quelle, aus der immer wieder Wasser aufstieg und für Feuchtigkeit, Fäulnis und Moder sorgte. »Wir haben immer noch nicht rausgekriegt, warum es den Knast hier überhaupt gibt«, sagte Jorge. »Offensichtlich ist er sehr alt, wahrscheinlich so alt wie diese Geisterstadt, aber zu der Zeit muss es hier unten Wasser gegeben haben.« Edward versuchte, die Tür weiter zu öffnen. »Ich glaube, die haben Leute da drin eingesperrt, wenn der Wasserstand niedrig war, und sie dann drin gelassen, wenn der Wasserspiegel gestiegen ist, um sie zu ersäufen. Hexen und so.« Jorge nickte. »Schon möglich.« Es war noch früh am Morgen, aber schon heiß, und so stapften sie den Pfad wieder hinauf, zu ihren Wagen zurück. Der »Knast« ging Hunt den ganzen Tag nicht mehr aus dem Kopf, doch aus irgendeinem Grund erzählte er Beth nichts davon. Beth und er waren einander näher denn je. Ihre Beziehung entwickelte sich immer weiter und immer besser, fast wie eine Liebesgeschichte bei Lifetime-TV. Sie waren tatsächlich verliebt, auch wenn keiner von beiden es bisher gesagt hatte; weder Hunt noch Beth hatten bis jetzt die berühmten Worte ausgesprochen. Und auch wenn Hunt nicht recht wusste, warum eigentlich nicht, so hatte er doch die Absicht, dies bald zu ändern. Nach seinen Erfahrungen mit Eileen hatte er nicht geglaubt, sich so rasch wieder auf eine neue echte Beziehung einlassen zu können, doch jetzt erkannte er, dass er sich nichts so sehr wünschte, wie den Rest seines Lebens mit Beth zu verbringen. Vor einem Club, in dem sie sich an einem Freitagabend einen Auftritt von Jimmie Dale Gilmore angeschaut hatten, trafen sie ihren alten Kumpel wieder, den Loser-Typen im purpurnen Anzug. Es schien ihm zurzeit ziemlich gut zu gehen; und anscheinend ging er wieder seinem alten Gewerbe nach. Obwohl er Hunt und Beth offensichtlich gesehen hatte, schien er sie doch nicht zu erkennen. Hunt konnte es nur recht sein. Der Kerl gehörte nun wirklich nicht zu den Menschen, mit denen er eine Bekanntschaft pflegen wollte. Dabei stellte Hunt fest, dass er sich unterschwellig fragte, ob das Krankenhaus, vor dem sie den »Loser« abgesetzt hatten, den Mann tatsächlich behandelt hatte, oder ob er wie ein Obdachloser aus einem Charles-Dickens-Roman fortgeschickt worden war, weil er keine Versicherung vorweisen konnte. Aber jetzt war er hier, und es schien ihm gut zu gehen, also ging Hunt davon aus, dass man die Verletzungen des Mannes behandelt hatte. Doch irgendwie hatte Hunt das Gefühl, dass der Purpur-Mann nicht zu ihm hinüberschauen würde, wenn er ihm einen Gruß zuriefe - weil er auf dem Ohr taub war, das zu behandeln man sich im ersten Krankenhaus geweigert hatte. Hunt hatte immer noch Ärger mit seiner Versicherung wegen der Einrichtung des Hauses, das er nach wie vor gemietet hatte. Die Versicherung war der Ansicht, er sei angemessen entschädigt worden: Seine zerstörten Möbel und die anderen Besitztümer habe man durch Gleichwertiges ersetzt; für die Versicherung sei der Fall damit abgeschlossen. Doch Hunt wollte das so nicht hinnehmen und hatte Widerspruch bei der staatlichen Versicherungskommission eingelegt, um gegen diese Ungerechtigkeit anzugehen. Doch die Mühlen der Bürokratie mahlten langsam, und so wusste Hunt nicht, wann eine Entscheidung fallen würde - und ob diese zu seinen Gunsten ausfiele. Insgeheim dachte er schon darüber nach, dem Senator seines Bundesstaates, seinem Abgeordneten und seinem Kongressabgeordneten zu schreiben und dabei detaillierte Richtlinien vorzuschlagen, die seines Erachtens zum Gesetz gemacht werden sollten, damit anderen Menschen solche Beleidigungen und Misshandlungen erspart blieben. Die Richtlinien, die Hunt vorschlagen wollte, waren logisch und sinnvoll, und ihm fiel kein Grund ein, warum jemand - außer den Versicherungsgesellschaften - etwas dagegen haben sollte. Deshalb hätte man ihn eigentlich anhören und entsprechende Maßnahmen ergreifen müssen. Aber Versicherungsgesellschaften waren reich und mächtig. Und tief in seinem Innern glaubte Hunt auch nicht, dass sich etwas ändern würde. 2. »Jorge!« Er hörte seine Frau erst rufen, als er den Rasenmäher abgestellt hatte, doch an der Panik, die in ihrer schrillen Stimme mitschwang, erkannte er, dass sie schon einige Zeit nach ihm gerufen hatte. »Jorge!« Wenn es wirklich so wichtig war, warum kam sie dann nicht zu ihm? Vielleicht konnte sie nicht kommen! Er rannte los, stürmte ins Haus, ohne sich die Schuhe abzuputzen, und verschmierte Schlamm und Gras auf den Teppich, während er nach ihr rief. »Ynez? Ynez!« Sie war nicht im Wohnzimmer und nicht im Esszimmer, das sah er sofort, doch er hörte ihre Stimme aus der Küche, zusammen mit einem sonderbaren Geräusch, das er nicht einordnen konnte. Er rannte hinüber. Es war wie eine Filmszene, wie in einer Komödie, auch wenn eigentlich gar nichts daran komisch war. Seine Frau stand vor der Spülmaschine und versuchte verzweifelt, einen Wasserstrahl aufzuhalten, der durch den Spalt der geschlossenen Frontklappe in sämtliche Richtungen spritzte. Nicht nur der Fußboden und die Arbeitsplatte in der Küche waren nass, auch Ynez selbst war völlig durchnässt. Ihr Haar troff, als wäre sie gerade aus der Dusche gekommen, und ihr Oberteil klebte an ihrem Körper, als hätte sie an einem Wet-T-Shirt-Wettbewerb teilgenommen. »Hilf mir!«, rief sie. »Dreh das Wasser ab! Tu doch endlich was!« Ein eiskalter Nebel sprühte Jorge ins Gesicht, und ein kräftiger Wasserstrahl traf ihn geradewegs im Schritt, als er sich neben Ynez stellte und an der Spülmaschine hektisch einen Knopf nach dem anderen drückte. »Das habe ich auch schon versucht!«, schrie sie. »Geh raus und dreh das Wasser ab!« »Moment mal, ich hab 'ne Idee!« Er sank in die Knie, riss die Tür unter dem Spülenunterschrank auf, der gleich daneben stand, und schaute sich um. Genau wie er gehofft hatte, fand er dort zwei Wasseranschlüsse, einen für die Spüle und einen für die Spülmaschine. Hektisch drehte er sowohl den roten als auch den blauen Hahn. Der Druck des Wassers, das immer noch in alle Richtungen spritzte, wurde schwächer und verschwand dann völlig. Jorge erhob sich. »Was ist passiert?« Ynez versuchte sich das Wasser aus der Stirn zu wischen, doch ihre Hände waren ebenfalls klatschnass. Sie riss ein Papierhandtuch vor der Rolle und wischte sich damit übers Gesicht. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich hab das Ding nicht mal eingeschaltet. Ich hatte gerade angefangen, das Geschirr von heute Morgen auszuräumen. Kaum hatte ich die letzte Schüssel rausgenommen, ist das Ding plötzlich von ganz alleine explodiert. Ich hab die Tür zugeknallt und alle möglichen Knöpfe gedrückt, aber das hat nichts geholfen, und da habe ich nach dir gerufen.« Mit dem feuchten Papierhandtuch rieb sie sich den Hals ab. »Warum hat das eigentlich so lange gedauert?« »Ich habe den Rasen gemäht, da habe ich dich nicht gehört.« Sie betrachtete die Spülmaschine. »Wir werden wohl jemanden anrufen müssen, der das Ding repariert.« »Stimmt.« Er grinste sie an. »Du siehst ganz schön sexy aus, so klatschnass.« »Nicht jetzt.« »Warum nicht? Haben wir doch früher auch gemacht.« Unterhalb der Spüle hörte man ein lautes Gurgeln und ein ekelerregendes Gluckern, und dann kam plötzlich wieder Wasser aus der Spülmaschine - diesmal nicht so heftig spritzend wie vorher, doch es sickerte unter der Tür hervor und rann auf den Fußboden. »Das ist doch unmöglich!«, stieß Jorge hervor. »Ich hab den Hahn zugedreht.« »Ich habe dir ja gesagt, dass wir eine Garantieverlängerung abschließen sollten«, sagte Ynez. »Ich hab's dir gleich gesagt.« Aus der Waschküche hinter der Küche hörte man ein klapperndes Krachen und das Zischen eines kräftigen Wasserstrahls. Gemeinsam liefen sie hinüber und sahen, dass die Waschmaschine Seifenlauge ausspie. Die Tür der Maschine stand weit offen und schlug hin und her. Jorge blickte seine Frau an. »Du hast recht«, sagte er. »Wir hätten die verdammte Versicherung abschließen sollen.« 3. Im Oktober gaben Beth und Hunt eine Halloween-Party. Hunt war eigentlich kein Partygänger, doch wieder einmal holte Beth ihn aus seinem Schneckenhaus und brachte ihn zum Mitfeiern und sogar dazu, sich als Cowboy zu verkleiden, und zu Hunts eigener Überraschung amüsierte er sich prächtig. Auf der Gästeliste standen vor allem Freunde und Freundinnen von Beth, alles Bekannte von ihrer Arbeit. Doch auch Joel, Edward und Jorge waren erschienen. Joel war als Michael Myers verkleidet, Edward als Südstaaten-Hinterwäldler und Jorge als undefinierbare unmännliche Gestalt, die niemand erkannte, bis Jorge verkündete, er habe sich als das beliebteste Mitglied einer derzeit schwer angesagten Boygroup verkleidet. »Hat meine Nichte vorgeschlagen«, fügte er lahm hinzu. Hunt kümmerte sich zwar um jeden seiner Gäste, aber letztendlich landete er doch bei seinen Freunden auf der Veranda. Joel hatte die Michael-Myers-Maske abgenommen, und die beiden sprachen darüber, wie es früher gewesen sei, Halloween zu feiern, als sie jüngere Kinder in Panik versetzt und Nachbarn an den Rand des Wahnsinns getrieben hatten. »Sagt mal«, Jorge grinste, »habt ihr das mit Steve und diesem Vandalen mitgekriegt?« »Nein. Was war denn da?«, fragte Hunt. »Irgendwer ist bei ihm eingebrochen, hat auf den Boden gekackt und auf die Wände eingeschlagen - hat jede Menge Löcher in den Putz gehauen. Der Schaden liegt bei mindestens siebenhundert Dollar, aber die Versicherung meint, das übersteige das Deckungskonzept seiner Police. Jetzt muss Steve das Ganze aus eigener Tasche bezahlen.« »Diese verdammten Versicherungen.« Joel schüttelte den Kopf. Edward lachte leise. »Das würdest du nicht sagen, wenn du Steve kennen würdest. Der Kerl hat das echt verdient!« »Trotzdem, mir geht es ums Prinzip. Man schmeißt diesen Kerlen die ganze Zeit das Geld in den Rachen, und wenn man sie braucht, weigern die sich, dir genau den Dienst zu leisten, für den du bezahlt hast. Hab ich nicht recht, Hunt?« Sein Freund hob die Hände, als wollte er sich ergeben. »Von mir wirst du keinen Widerspruch hören.« Beth kam auf die Veranda. Sie hatte sich als Pocahontas verkleidet und sah verdammt sexy aus. Wenn jetzt keine Leute hier wären, ging es Hunt durch den Kopf, würde ich sie vernaschen. Beth musste seine Gedanken gelesen haben, denn das Lächeln, das sie ihm zuwarf, versprach ihm, dass er später genau das würde tun dürfen. »Sind alle mit der Party zufrieden?« Zustimmendes Gemurmel. Beth strahlte. »Danke, dass ihr alle gekommen seid. Wir freuen uns wirklich sehr!« Sie griff nach Hunts Hand und drückte sie. »Ich würde gerne bei euch hier draußen bleiben, aber irgendwer muss angemessen gesellig bleiben und sich um die etwas anspruchsvolleren Gäste kümmern, damit die Party nicht den Bach runtergeht.« Sie warf Hunt einen gespielt vorwurfsvollen Blick zu. Er lachte und gab ihr einen Kuss. »Kannst du einen Augenblick hierbleiben, Beth?«, fragte Ynez. »Klar«, erwiderte sie. »Entschuldige, ich wollte nicht unhöflich sein. Ich dachte nur ...« »Nein, darum geht es nicht.« Hinter ihnen öffnete sich die gläserne Schiebetür. Stacy, die sich im Haus die ganze Zeit mit einer ihrer Kolleginnen von Thompson Industries unterhalten hatte, kam auf sie zu und zog Joel wieder die Maske über das Gesicht. »Das ist eine Halloween-Party«, kicherte sie. »Immer schön in der Rolle bleiben.« Stacy war als Schönheitskönigin verkleidet. »Sie geht als Vanessa Williams«, hatte Joel erklärt, als sie hereingekommen waren. »Die berüchtigten Lesben-Fotos von damals hab ich in der Brieftasche.« Ynez holte tief Luft. »Okay«, sagte sie. »Jetzt, wo alle da sind, möchte ich etwas bekannt geben.« Sie schaute zu Jorge hinüber und legte ihm eine Hand auf den Arm. Er nickte und lächelte. »Wir bekommen ein Baby!« Jorge? Ein Baby? Hunt wusste nicht, wie es den anderen ging, aber er selbst war regelrecht schockiert von dieser Nachricht. Jorge war ihm immer als der unwahrscheinlichste Kandidat für eine Vaterschaft erschienen. Unwillkürlich fragte sich Hunt, ob das Kind geplant gewesen war oder ein »Unfall«. Dennoch freute er sich für seinen Freund, und zusammen mit den anderen gratulierte er herzlich. Jorge strahlte. »Danke, Mann! Danke!« Edward legte ihm einen Arm um die Schulter. »Dann wollen wir mal hoffen, dass der Kleine eher nach Ynez schlägt als nach dir.« »Ich kann das Gästezimmer nicht ausstehen«, sagte Beth unvermittelt. Sie aßen gerade zu Abend, ein wenig früher als sonst. Hunt blickte von seinem Teller mit dem geschmorten Truthahn auf. »Bitte was?« »Und Courtney mag das Zimmer auch nicht.« Der Kater schmiegte sich an ihr Bein und schnurrte, als verstünde er genau, worum es ging. »Wovon redest du überhaupt?« »Glaubst du, dass es Spukhäuser gibt?« Beth wartete nicht auf seine Antwort. »Ich habe nie daran geglaubt. Ich dachte immer, so was gibt es nicht, dass es bloß Phantastereien sind und dass jeder, der an so etwas glaubt, unter Neurosen leidet oder halt 'ne Schraube locker hat. Aber ...« Sie beendete den Satz nicht. »Aber was?« »Das Gästezimmer. Ich höre da immer wieder Geräusche«, erklärte sie. »Nicht ständig, nicht einmal regelmäßig, aber manchmal eben doch ...« Hunt schwieg. »Wahrscheinlich hältst du mich jetzt für verrückt, und vielleicht bin ich 's ja auch, aber ich glaube, da spukt es.« Hunt runzelte die Stirn. »Seit wann?« »Ich weiß nicht. Seit kurzem.« Sie senkte den Blick, schaute auf den Tisch. »Seit ich dich kennen gelernt habe.« »Dann ist es meine Schuld?« »Das habe ich nicht gesagt. Aber seitdem wir zusammen sind, höre ich diese Geräusche.« »Ich habe sie auch schon gehört«, gab er zu. »Wirklich?« Er nickte. »Warum hast du nichts davon gesagt?« »Weil ich dachte, ich hätte es mir nur eingebildet.« »Hast du nicht. Da hört man wirklich was.« »Ich bin sicher, es ist nur Einbildung.« »Von uns beiden? Unabhängig voneinander? Das glaube ich nicht.« Beth schob ihren Stuhl zurück. »Komm, wir gehen uns das ansehen.« Hunt blickte auf seinen Teller. »Jetzt?« »Warum nicht?« »Wir essen doch gerade.« »Es dauert nur einen Augenblick.« »Warum können wir nicht warten, bis wir wieder etwas hören? Die Geräusche kommen und gehen doch. Sie sind ja nicht die ganze Zeit da ...« »Lass uns trotzdem gehen.« Hunt seufzte, wischte sich die Hände an der Serviette ab und erhob sich. »Na gut.« Gemeinsam traten sie aus der Küche und gingen durchs Wohnzimmer in den dunklen Flur. Hunt ging voran. Einen Augenblick blieb er im Flur stehen, öffnete die Tür zum Gästezimmer, spähte hinein und ... ... verdammt, es war wirklich unheimlich. Beiden richteten sich die Nackenhaare auf; ein kühler Hauch schien ihnen entgegenzuwehen, und unwillkürlich starrten beide auf das Doppelbett an der gegenüberliegenden Wand. Hunt hätte die Tür am liebsten sofort wieder zugeschlagen. Es gefiel ihm nicht, dass er dieses Bett so anstarrte ... dass auch Beth es so anstarrte. Da war nichts Unnatürliches, nicht am Bettgestell, nicht am Kopfteil und nicht an der Matratze, überhaupt nichts Ungewöhnliches; dennoch verlieh gerade diese Unscheinbarkeit dem Bett irgendeine bedrohliche Aura und schien es auffälliger zu machen, als es inmitten des Südweststaaten-Dekors des Zimmers eigentlich hätte wirken dürfen. Einen Augenblick standen beide schweigend da und lauschten, doch keiner machte Anstalten, das Zimmer zu betreten. »Ich höre nichts«, sagte Hunt schließlich. »Ich auch nicht.« Hunt wusste genau, warum Beth so viel Angst hatte, dass sie das Gästezimmer gar nicht erst betreten wollte, und warum sie so schnell wie möglich von hier fort wollte, zurück in die Küche, so weit weg von hier ... und dem Bett ... wie es nur ging. »Sollen wir in ein anderes Haus umziehen?«, fragte Hunt. Beth seufzte, und die unheimliche Atmosphäre verschwand. »Nein. Außerdem könnten wir uns sowieso nichts Hübsches wie das hier leisten. Im Moment jedenfalls nicht.« »Was sollen wir tun? Einen Exorzisten rufen?« Erneut spähten beide in den kleinen Raum, und wieder wurde Hunts Blick von dem unauffälligen Bett wie magisch angezogen. Schnell schloss er die Tür, und ohne noch ein Wort zu sagen, gingen beide in die Küche zurück und beendeten ihr Abendessen. 4. Steve schaute aus dem Fenster seines Büros auf den Hof der Abteilung Landschaftspflege hinunter. Am Montagmorgen war es jedes Mal am schlimmsten. Früher hatte er das immer richtig genossen. Da musste er die Aufgaben für die Woche verteilen; seine Arbeitstrupps waren versammelt, und er konnte sie spüren lassen, wer ihr Boss war. Aber inzwischen verabscheute Steve es, diesen Abschaum sehen zu müssen, an diesem einen Ort versammelt. Sämtliche Loser dieser Welt, die für das verdammte County arbeiteten: weiße Penner, ständig betrunkene Rothäute, aggressive Nigger und dämliche Immigranten. Sogar ein Schlitzauge war dabei. Und das Schlimmste war: Er konnte sie nicht einfach entlassen. Für jeden Angestellten gab es dann ein endlos langes Rechtsmittelverfahren, und am Ende gab das County, das ständig Angst davor hatte, vor Gericht gezerrt zu werden, jedes Mal nach und stellte den Nichtsnutz wieder ein. Mit Lohnnachzahlung. Im Hof sagte Edward Stack gerade etwas so laut, dass Steve ihn hören konnte, aber nicht laut genug, um es zu verstehen, und die umstehenden Kollegen reagierten mit jaulendem Gelächter. Und wie üblich nahm Stack das Geheul mit seiner unerträglichen Art zur Kenntnis, die er nun mal hatte, und hob abwiegelnd beide Hände. Auf der Führungsebene wurde schon davon gesprochen, die Abteilung Baumbeschnitt aufzulösen und die Aufgabe an Arbeiter von außerhalb der Verwaltung zu vergeben, an Privatfirmen - und Steve war voll und ganz dafür. Verdammt, wenn sämtliche Arbeiten der Landschaftspflege extern vergeben werden könnten, das wäre herrlich! Dann hätte Steve es endlich mit Subunternehmern zu tun, nicht mehr mit Angestellten, und dann würde er den Chefs der anderen Firmen einfach sagen können, wenn ihre Leute miese Arbeit ablieferten, und dann müssten diese Chefs sich um die Dreckarbeit kümmern und ihren Arbeitern sagen, dass sie nichts taugten. Steve selbst würde einfach hier sitzen und Papiere durchgehen. Und er würde von Unternehmern, die ein Stück vom Kuchen abhaben wollten, schick zum Essen eingeladen werden und vielleicht die eine oder andere Gefälligkeit bekommen ... Das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte, und Steve hob den Hörer ab und schwenkte seinen Drehsessel vom Fenster fort. »Abteilung Landschaftspflege, Steve Nash am Apparat.« »Mr. Nash!« Steve erkannte die Stimme wieder. Das war der Versicherungsvertreter, der schon gestern Abend angerufen hatte. Am Sonntagabend. Dieser Versicherungsfritze, der an einem Samstagmorgen plötzlich vor seiner Tür gestanden hatte, mit einem Aktenkoffer voller Broschüren und einem ganzen Arsenal wohlklingender Verkäufer-Phrasen auf den Lippen. Dieser Versicherungsfuzzi, der ihm seit fast einer Woche damit auf die Nerven ging, er solle eine zusätzliche Immobilienversicherung abschließen. Steve wusste nicht, woher dieser Kerl die Telefonnummer von seiner Arbeitsstelle hatte, aber er mochte es gar nicht, während der Arbeit belästigt zu werden, und so sagte er grob »Kein Interesse« und legte auf. Sofort klingelte das Telefon erneut. »Mr. Nash«, sagte der Versicherungsvertreter in einem Tonfall, der beschwichtigend und tadelnd zugleich klang. »Hören Sie, ich habe es Ihnen gerade schon gesagt: Ich habe kein Interesse, weitere Versicherungen abzuschließen. Hören Sie auf, mich hier anzurufen.« »Sie spielen mit dem Feuer, Mr. Nash. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ihre derzeitige Immobilienversicherung deckt nichts von Ihren neuen Bauvorhaben ab. Sie werden die Deckungssumme aufstocken müssen ...« »Wenn alles fertig ist, werde ich das tun. Aber ich werde nicht gutes Geld aus dem Fenster werfen, nur um ein Gerüst, Sperrholz und Trockenputz zu versichern.« »Und Stromleitungen, Wasserrohre ...« »Ich hab's Ihnen schon gesagt! Außerdem habe ich mir meinen Versicherungsschein noch einmal genau angeschaut. Der Anbau ist abgedeckt. Ich habe sogar schon Ansprüche wegen eines Wasserschadens bei meiner Versicherung geltend gemacht. Also brauche ich nichts Neues.« »Ihre derzeitige Police bietet nur bedingte Deckung, bis zu einer gewissen Schadenshöhe.« »Das reicht mir.« »Aber Sie haben viel mehr in Ihren Hobbyraum investiert, als es kosten würde, ihn auf unbegrenzte Schadenshöhe zu versichern«, erläuterte der Versicherungsvertreter mit ruhiger Stimme. »Ganz zu schweigen von der Arbeit und den Mannstunden.« »Ich werde keine weiteren Versicherungen abschließen. Jetzt nicht. Basta!« »Es wäre außerdem angeraten, zusätzlich eine Risikoversicherung abzuschließen, für den Fall, dass Sie einen Unfall haben, während Sie zum Beispiel auf dem Dach arbeiten.« »Einen schönen Tag noch«, sagte Steve mit fester Stimme. »Und rufen Sie mich nicht noch einmal an.« Er legte auf. Dann schwenkte er seinen Sessel wieder herum und blickte mit gerunzelter Stirn aus dem Fenster. Ein paar Arbeitstrupps waren bereits aufgebrochen, doch ein Großteil der Männer lungerte immer noch in der Nähe des offenen Garagentores herum. Zwei der Burschen dort unten kannte Steve jedoch nicht. Zwei Männer, die nicht hierhergehörten ... die nicht hier hätten sein dürfen. Stämmige Männer mit Humphrey-Bogart-Hüten. Steve gefror beinahe das Blut in den Adern, als er sich an die Nacht zurückerinnerte, in der er genau so eine Gestalt im Anbau gesehen hatte. Steve hatte sich schon eingeredet, er habe sich das alles nur eingebildet, doch sowohl er selbst als auch Nina hatten Geräusche gehört, und irgendetwas musste diese Laute ja hervorgerufen haben. Und ehe Steve das Licht eingeschaltet hatte, hatte er in der Ecke einen Mann stehen sehen, der genau so aussah wie ... Wo waren sie denn auf einmal hin? Stirnrunzelnd stand Steve auf, presste die Stirn fast gegen die Fensterscheibe. Die beiden Männer mit den Humphrey-Bogart-Hüten waren verschwunden. Gerade eben hatten sie noch mitten zwischen den Arbeitern gestanden, gleich neben der Garageneinfahrt; dann hatte Steve geblinzelt, und sie waren fort. Nun trat er einen Schritt nach rechts, spähte seitwärts durch die Scheibe, drehte sich in die andere Richtung, doch immer noch sah er keine Spur von den Männern. Das war unmöglich! Sie konnten sich nicht einfach in Luft aufgelöst haben! Doch im Hof der Abteilung Landschaftspflege waren sie nicht. Vielleicht waren sie ja in der Garage. Ja, sicher! So war das. Sie waren in die Garage gegangen; deswegen konnte er sie jetzt nicht mehr sehen. Aber er wollte auch nicht hingehen und nachschauen; er wollte keinen der Arbeiter im Hof fragen. Steve wandte sich vom Fenster ab und ließ sich in seinen Sessel sinken. Wieder klingelte das Telefon, und wieder der Versicherungsvertreter. Steve hob den Hörer an und ließ ihn sofort wieder auf die Gabel fallen, ohne ein Wort zu sagen. Er dachte an die Tequila-Flaschen und die Rinnsale aus Urin und die Fäkalien, die er in seinem noch nicht fertigen Hobbyraum gefunden hatte. Vielleicht sollte er tatsächlich eine zusätzliche Versicherung abschließen. Nein! Er richtete sich in seinem Sessel auf. Das brauchte er nicht. Er hatte schon eine Versicherung. Mehr war nicht nötig. Diese Versicherung lag auf seinem Nachttisch neben seinem Bett. Und genug Munition dafür hatte er auch. 5. Joel hatte schon öfter gehört, dass die weitaus meisten Unfälle sich auf Parkplätzen ereigneten, aber einen Beleg dafür hatte er noch nie gefunden. Die meisten Unfälle, die er bisher miterlebt hatte, waren auf oder in der Nähe von Kreuzungen geschehen. Reine Propaganda der Versicherungen, hatte er immer vermutet. Sein erster Unfall seit seiner Teenager-Zeit hatte sich auf dem Parkplatz der Schule ereignet. Wie üblich war Joel erst spät losgekommen - einige Teilnehmer seines Mittwochnachmittags-Kurses »Prinzipien der Amerikanischen Regierung« waren noch geblieben, um mit ihm über aktuelle Entwicklungen zu diskutieren -, und er hatte beschlossen, die Abkürzung über den Studenten-Parkplatz zu nehmen, statt bis zur Ausfahrt für das Lehrpersonal zurückzufahren und dann den ganzen Umweg entlang der Ostseite des Campus nehmen zu müssen. Der Wagen fuhr rückwärts ... und geradewegs in ihn hinein. Joel war gerade eine der Ost-West-Straßen entlanggefahren, achtete mit müden Augen auf plötzlich aufflammende Bremslichter und wusste sehr genau, dass viele Studenten im ersten Jahr, vor allem die Jungs, sich noch wie angeberische Schüler verhielten, nicht wie College-Studenten, als plötzlich zu seiner Rechten ein schwerfälliger, alter Dodge ausscherte und mit beachtlichem Schwung in seine Beifahrertür krachte. Es war kein harter Treffer, eher ein Antippen, doch der Wagen war ein Koloss aus dem goldenen Zeitalter von Detroit, und Joel wusste, ohne erst nachschauen zu müssen, dass sein Toyota mit größter Wahrscheinlichkeit Schaden genommen hatte. Sofort blieb er stehen und stieg aus dem Wagen. Die Fahrerin des Dodge tat es ihm gleich. Sie war Vietnamesin, und als Joel um seinen Wagen herumging, um den Schaden zu begutachten, sah er, dass sie zitterte wie Espenlaub. Er sah, dass ihr Schweiß auf der Oberlippe stand, fast wie ein glitzernder Schnurrbart. Genau wie Joel befürchtet hatte, sah er in der unteren Hälfte der Beifahrertür deutlich eine Delle. Stoßstange und Kofferraum des Dodge waren unbeschädigt, doch das rechte Rücklicht war zerschmettert. »Ich brauche Versicherung«, sagte sie nervös und mit deutlich hörbarem Akzent. »Sie haben keine Versicherung?« Na großartig, dachte Joel. »Nein. Ich brauche ...« Sie holte tief Luft. »Ihre Versicherung.« Mit zitternden Händen reichte sie ihm einen Stift und ein Blatt Papier. »Ach so.« Er schrieb seinen Namen auf, seine Adresse, seine Telefonnummer, den Hersteller und das Modell seines Wagens, sein Kennzeichen, die Nummer seines Führerscheins und seine Versicherungsnummer. Sie überflog den Zettel und gab ihn dann zurück. »Nein. State Farm.« »Was?« »State Farm Insurance.« »Ich bin nicht bei der State Farm«, erklärte Joel. Dann deutete er auf die entsprechende Zeile auf dem Zettel und sagte langsam und deutlich: »Ich bin bei der UAI. United Automobile Insurance.« »Nein! State Farm!« Offensichtlich wusste sie nicht, dass es außer der State Farm noch andere Versicherungen gab! Joel fragte sich, wie er ihr begreiflich machen konnte, dass es die UAI tatsächlich gab - auch wenn sie keine Fernsehwerbung schaltete, so wie die Versicherung der Vietnamesin. »Ich rufe Polizei.« Joel warf einen Blick auf die Uhr und seufzte. »Fein.« Beide griffen nach ihren Handys. Die Vietnamesin rief die Polizei an, Joel seine Frau, um ihr zu erzählen, dass er einen Unfall gehabt hatte und deswegen etwas später kommen werde. Als das Wort »Unfall« fiel, geriet Stacy beinahe in Panik, doch Joel versicherte ihr sofort, er sei nicht verletzt, und auch der Wagen habe nur ein paar kleine Dellen. Dann sagte er ihr, sie und Lilly sollten ruhig schon essen, weil er nicht wisse, wie lange das Ganze dauern werde und wann er nach Hause käme. »Polizei kommen«, sagte das Mädchen, nachdem er sein Handy wieder eingesteckt hatte. Joel nickte bestätigend; dann schrieb er sich ihre Informationen auf. Sie hieß My Nguyen und wohnte nicht weit vom Campus entfernt - in einer Straße, von der Joel wusste, dass sie im ärmeren Teil von Tucson lag. Mehr gab es nicht zu sagen, also wartete jeder von ihnen im jeweiligen Wagen, bis die Polizei eintraf. Schon bald war Joels Toyota die Ursache für einen kleinen Stau, weil jetzt die Studenten vorbeiwollten, deren Kurse um sechs Uhr endeten, doch Joel war eine Lehrkraft und als solche eine Autoritätsperson, und so leitete er persönlich den Verkehr um, sorgte dafür, dass die hinteren Wagen frühzeitig auf die linke Spur wechselten, damit die vorderen seinem Wagen ausweichen konnten. Es hatte schon etwas Ironisches: Erst gestern Abend hatte er einfach aufgelegt, als ihn unvermittelt ein Versicherungsvertreter anrief, er solle die Deckungssumme seiner Autoversicherung aufstocken; schließlich habe die Versicherung seine aktuelle Police analysiert und sei zu dem Schluss gekommen, eine höhere Anspruchsobergrenze und eine breiter gefasste Deckung seien erforderlich. Und jetzt hoffte Joel, die Einschätzung möge falsch gewesen sein. Es dauerte eine halbe Stunde, bis die Polizei eintraf - kein Wagen des Sicherheitsdienstes, der auf dem Campus tätig war, sondern ein Streifenwagen der Polizei von Tucson -, und Joel musste geradezu unerträglich lange warten, bis die Frau ihre Sicht der Dinge geschildert hatte, bevor auch Joel den Unfallhergang darstellen konnte, so wie er ihn in Erinnerung hatte. Joel reichte dem Polizisten seinen Führerschein und seine Versichertenkarte und wartete darauf, dass der Polizist ihm eine Kopie seines Berichts aushändigte. Er ging davon aus, dass es damit dann erledigt wäre, dass My und er sich voneinander verabschieden konnten und alles Weitere ihren Versicherungsgesellschaften überlassen blieb. Doch zu seiner großen Überraschung ging der Polizeibeamte zu seinem Streifenwagen zurück und forderte über Funk zwei Abschleppwagen an. »Moment mal!«, unterbrach Joel ihn. Abwehrend hob der Polizist die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Mein Toyota ist doch in Ordnung! Das ist doch nur 'ne kleine Delle! Ich brauche keinen Abschleppwagen!« Der Polizist gab die letzten Details seiner Anforderung durch, dann hob er verärgert den Kopf. »Mr. McCain«, setzte er an. »Mrs. Nguyen hat mich ausdrücklich darum gebeten, für sie einen Abschleppwagen zu rufen, also habe ich das getan. Ich bin gesetzlich verpflichtet, für alle Versicherungsnehmer der UAI einen Abschleppwagen zu rufen. Wenn Sie sich die Rückseite Ihrer Versichertenkarte einmal anschauen würden ...« Er gab Joel die Karte wieder zurück. Joel drehte sie um und las das Kleingedruckte. Unterhalb der 1-800er-Nummer für Anspruchsforderungen und Beschwerden fand sich tatsächlich ein Passus, der besagte, ein Polizist müsse, sobald bei einem Unfall ein schriftlicher Bericht erforderlich wurde, einen Abschleppdienst informieren und dafür sorgen, dass das betreffende Fahrzeug zum nächsten Autohändler oder der nächstgelegenen Werkstatt gebracht wurde, die am Programm der UAI teilnahmen. Aber das war doch völlig sinnlos! Warum musste der Polizist den Abschleppdienst rufen und nicht der Versicherungsnehmer? Und warum wurde das Ausmaß des Schadens nicht vor dem Abtransport ermittelt - warum blieb dieser Teil des Formulars unausgefüllt? Der Officer gab jetzt auch dem Mädchen die Versichertenkarte zurück; dann händigte er beiden eine Kopie seines Berichts aus. »Fahren Sie vorsichtig«, sagte er noch, bevor er in den Streifenwagen stieg und die Tür schloss. Joel war versucht, einfach einzusteigen und nach Hause zu fahren, den Schaden abschätzen zu lassen und die verbeulte Tür dann bei jemandem reparieren zu lassen, den er selbst auswählte, doch er wusste, dass seine Versicherung die Reparaturen dann wahrscheinlich nicht bezahlen würde - vielleicht würde sie sich sogar weigern, sich um die Forderungen der Versicherung dieser Studentin zu kümmern, oder ihn gleich ganz rauswerfen. Also schob er seinen Wagen von der Fahrbahn auf einen Parkplatz und wartete auf den Abschleppwagen. Sie beide warteten. Dankenswerterweise kam Joels Abschleppwagen zuerst: ein langer, flacher Laster, auf dessen Türen in schablonierten Buchstaben Bricklin Brother's stand. Ein bulliger Mann mit auffallend gerötetem Gesicht - er mochte vierzig Jahre alt sein, vielleicht aber auch sechzig - stieg aus und blickte mit zusammengekniffenen Augen in die Abendsonne. »Joel McCain?«, fragte er dann. »Ja.« »Ist es der Corolla da?« »Ja.« »Setzen Sie ihn raus, dann können wir los.« Joel steuerte seinen Wagen wieder auf die Fahrbahn, und der Fahrer des Lasters entrollte ein Kabel, befestigte zwei Hakenketten an der Unterseite des Toyota, schaltete in den Leerlauf und zog den Wagen dann mit einer Motorwinde auf die schräge Ladefläche des Abschleppwagens. Ein weiterer Motor brachte die Ladefläche anschließend in die Waagerechte, und der Fahrer schaltete den Toyota auf »Parken«, blockierte die Räder und sagte: »Los geht's.« Joel kletterte auf den hohen Beifahrersitz. »Ich weiß nicht genau, wohin der Wagen ...« »Zum Händler«, erwiderte der Mann schlicht. »Ihre Versicherung hat bereits angerufen.« Seltsam, dachte Joel. Er hatte seine Versicherungsgesellschaft doch noch gar nicht informiert. Aber vielleicht der Officer. Oder Stacy. Nein, Stacy nicht. Und Joel bezweifelte auch, dass der Polizist es getan hatte. Er wusste nicht, wie seine Versicherung so schnell von diesem Unfall hatte erfahren können, und irgendwie ging ihm das Ganze mehr und mehr an die Nieren. Die ersten Meilen schwiegen sie. Schließlich griff der Fahrer nach einem Kaffeebecher, der neben ihm auf dem Sitz lag, und spuckte hinein. Joel roch Kautabak. »Arbeiten Sie am College?« Joel nickte. »Sind Sie da Professor?« Joel versuchte, ein freundliches Lächeln zustande zu bringen. Er wusste jetzt schon, worauf es hinauslaufen würde. »Jou.« »Ist ganz schön gut bezahlt, was?« »Nicht schlecht.« »Hmm.« Eine längere Pause. »Wie viel verdienen Sie denn so im Jahr?« »Nicht so viel, wie die meisten glauben.« »Echt?« »Ja.« »Ich hab das schon immer wissen wollen. Wie kommt es, dass Professoren und Lehrer drei Monate Urlaub im Jahr kriegen? Ich meine, ich werf Ihnen das jetzt nicht vor, verstehen Sie? Aber wissen Sie, wie viel Urlaub ich im Jahr kriege? Zwei Wochen. Manchmal haben wir so viel zu tun, dass ich nicht mal die bekomme. Also arbeite ich in einem Jahr, in dem es gut läuft, mindestens fünfzig Wochen. Mindestens. Also, für mich sieht das so aus, als hätten Sie 's verdammt gut, verstehen Sie?« »Ja, verstehe«, sagte Joel. Es war ein Gespräch, wie er es schon öfter hatte führen müssen, als ihm lieb war. Dahinter steckte die anti-intellektuelle Grundhaltung, seine Arbeit sei gar keine richtige Arbeit, weil es keine körperliche Arbeit war. Der aufgebrachte Elitist tief in Joel hätte gerne geantwortet: Ich kriege mehr Urlaub als Sie, weil die Arbeit, unseren zukünftigen führenden Politikern, Wissenschaftlern, Künstlern und Technikern all das beizubringen, was sie nun einmal wissen müssen, um auf ihrem jeweiligen Gebiet erfolgreich sein zu können, schwieriger ist, als mit einem Laster hin und her zu fahren. Doch er verkniff sich diese Retourkutsche und starrte nur durch die staubige Windschutzscheibe hindurch auf die vorbeihuschenden Gebäude. Wieder eine Pause. »Also verdienen Sie gar nicht so viel, was?« »Nein.« »Aber Lehrer werden zwölf Monate im Jahr bezahlt, arbeiten aber nur neun, stimmt's? Ich frag das nur, weil ich Steuerzahler bin. Diese Gehälter da, die zahle ich ja aus meiner Tasche.« Joel war versucht, darauf hinzuweisen, dass er ebenfalls Steuerzahler war, dass er also mit einem Teil seiner Steuern sein eigenes Gehalt mitfinanzierte, und das bedeutete, dass er faktisch sogar noch weniger verdiente; stattdessen korrigierte er lediglich die Fehlinformationen, denen der Fahrer aufgesessen war. »Wir arbeiten neun Monate und werden auch für neun Monate bezahlt. Das bedeutet, dass wir in jedem Jahr drei unbezahlte Monate haben. Deswegen nehmen viele Lehrer Teilzeitjobs an, wo sie dann als Getränkefahrer arbeiten, oder in einer Autowerkstatt, oder was weiß ich.« Das sollte der Kerl jetzt erst einmal verdauen. Tatsächlich wirkte der Fahrer ehrlich beeindruckt. »Echt? Das wusste ich gar nicht. Hmm.« Wieder spuckte er in seinen Kaffeebecher. »Und was machen Sie so während der Ferien? Wo arbeiten Sie?« Die Wahrheit war, dass er gar nichts tat. Er spielte mit Lilly, las ein wenig, ging wandern, ging aus. Aber das konnte er dem Fahrer ja schlecht erklären. Joel war jetzt schon so weit gegangen, also setzte er hinterher: »Ich versuche, ein Geschäft aufzumachen.« »Echt? Was denn so?« »Computer.« Der Lastwagenfahrer nickte, weise und verständig. »Kann man viel Geld mit machen.« Glücklicherweise hatten sie mittlerweile den Toyota-Händler erreicht, also brauchten sie sich nicht weiter zu unterhalten. Joel stieg aus, kaum dass der Abschleppwagen angehalten hatte, und schaute zu, wie der Fahrer die Ladefläche wieder absenkte und sämtliche Ketten von seinem Wagen löste. Joel unterschrieb alle erforderlichen Papiere, dankte dem Fahrer und ging in das Büro, in dem der Leiter der Kundendienstabteilung - ein hagerer Mann mit Schnurrbart, auf dessen Overall der Name »Bud« aufgestickt war - schon auf ihn wartete. Seine Versicherung hatte bereits angerufen, und Joel brauchte jetzt nichts weiter zu tun, als dem Chef der Kundendienstabteilung den Schaden am Wagen zu zeigen und dann die Papiere zu unterschreiben, mit denen er die Reparaturen in Auftrag gab. »Wir haben sogar schon den Leihwagen für Sie fertig«, erklärte Bud. Er führte Joel aus dem Büro und dann an der Werkstatt vorbei zu einem kleinen Parkplatz. Joel riss die Augen auf. Auf der Fläche mit den penibel markierten Parkbereichen stand ein einziges Fahrzeug. Es sah aus wie eines der Mini-Autos, die man aus Europa kannte. Er hatte ungefähr die Form eines VW-Käfers, war dabei aber so winzig, dass Joel sich kaum hätte daraufsetzen können, und er fragte sich allen Ernstes, wie es ihm gelingen sollte, sich hineinzusetzen. »Was ist das denn?«, fragte er. »Es tut mir leid«, erklärte Bud. »Das ist das Fahrzeug, das Ihre Versicherung angegeben hat.« »Was?« Der Leiter der Kundendienstabteilung zuckte mit den Schultern. »Ich habe die Regeln nicht aufgestellt. Bei den meisten Versicherungen gibt es eine Obergrenze der Kosten für einen Leihwagen - und wir haben genaue Mietpreise für sämtliche unserer Fahrzeuge -, aber UAI verlangt von uns, dass wir ihre Kunden mit genau diesem Modell versorgen.« »Warum das denn?« »Keinen blassen Schimmer.« Joel überquerte den kleinen Parkplatz und legte die Hand auf das Dach des kleinen Autos. Dann beugte er sich vor und spähte ins Wageninnere. »Wie soll ich denn mit so was fahren, bitte schön?« »Keine Ahnung«, sagte Bud. »Aber irgendwie geht es wohl.« Zehn Minuten später hatte Joel sich in einen winzigen Vordersitz gequetscht, saß zusammengekauert hinter dem Lenkrad, fuhr die Swan Road hinauf und war die Zielscheibe des Spottes sämtlicher Fahrer rings um ihn her, zumal der Auspuff des winzigen Wagens in unregelmäßigen Abständen explosionsartig und lautstark Rußwolken ausstieß. »Meine Probleme mit der Versicherung haben auch mit dem Auto angefangen«, sagte Hunt. »Von da an wurde es dann immer schlimmer.« Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte Joel die Meinung seines Freundes für ein klares Anzeichen einer ausgewachsenen Paranoia gehalten, doch er hatte in letzter Zeit entschieden zu viel gesehen und gehört, um Verschwörungstheorien einfach von der Hand weisen zu können. »Du bist doch auch bei der UAI versichert, oder?« Hunt nickte. »Ich wollte eigentlich wechseln, und ich habe auch drei weitere Versicherungen angerufen, aber alle hätten den Riss in meiner Heckscheibe als Unfall behandelt. Die eine wollte mich gar nicht nehmen, und bei den anderen wären meine Beiträge ins Unermessliche gestiegen. Obwohl die UAI mir meinen Schadensfreiheitsrabatt gestrichen hat, waren die immer noch billiger als alle anderen ... also bin ich geblieben.« »Vielleicht hättest du das besser nicht getan.« »Ja, vielleicht. Manchmal mag es sinnvoll sein, ein bisschen mehr zu zahlen - einfach nur, um seine Ruhe zu haben.« Joel nahm einen Schluck Bier. »Hab ich dir eigentlich schon mal erzählt, dass Howard Hughes meinen Großvater umgebracht hat?« Hunt blickte ihn erstaunt an. »Was?« »Bei einem Verkehrsunfall in Hollywood, lange vor meiner Geburt. Mein Opa war da auf Geschäftsreise - er war Einkäufer für einen Möbelfabrikanten in Phoenix und wollte neue Materialien ausprobieren. Er fuhr gerade von der Textilfabrik zurück zu seinem Hotel, als dieser Verrückte eine rote Ampel einfach ignoriert hat und volle Pulle in Opas Wagen reingekracht ist. Das war Howard Hughes. Hughes hat ihn dann in seinem eigenen Wagen ins Krankenhaus gefahren, hat die besten Ärzte bezahlt, aber am nächsten Tag ist mein Opa trotzdem gestorben. Howard Hughes hat sogar noch die Beerdigung bezahlt, auch wenn er selbst nicht gekommen ist.« »Und was ist dann passiert? Wurde er festgenommen? Hat es einen Prozess gegeben? Hat deine Familie ein Vermögen an Schmerzensgeldern bekommen?« »Nein. Es ist gar nichts passiert. Das war's einfach. Damals waren die Menschen noch dümmer.« »Meine Fresse, die Geschichte habe ich ja noch nie gehört!« »Ich hab sie auch nur erzählt, weil sie zeigt, dass es in meiner Familie schon immer Probleme mit Autos gegeben hat.« Das Telefon klingelte, und einen Augenblick später streckte Stacy den Kopf um die Ecke im Flur. »Ist der Autohändler«, sagte sie. »Es geht um den Wagen.« Joel warf Hunt einen bedeutungsschwangeren Blick zu, erhob sich und ging in die Küche. Dann nahm er Stacy den Hörer aus der Hand. »Hallo?« Es war Bud. »Ich fürchte, ich habe eine schlechte Nachricht für Sie«, sagte der Chef der Kundendienstabteilung. »Wir haben unseren Kostenvoranschlag eingereicht, und Ihre Versicherung ist nicht bereit, den gesamten Schaden zu tragen. Die weigert sich sogar, überhaupt eine Reparatur an dem Fahrzeug zu bezahlen. Sie bieten Ihnen allerdings den vollen Listenwert, wenn Sie den Wagen verschrotten und einen anderen kaufen. Aber etwas anderes bieten die Ihnen nicht an.« »Was? Das glaube ich nicht.« »Das ist bei den meisten Versicherungen gang und gäbe, wenn Autos oder Laster einen Beinahe-Totalschaden haben und eigentlich nur noch mit Spucke und Kupferdraht zusammengehalten werden. Aber die UAI ist die einzige Versicherung, die so rigoros vorgeht.« »Vielleicht kann ich das ja aus eigener Tasche bezahlen. Wie teuer wird es denn?« »Na ja, es sieht so aus ... wir haben noch ein paar andere Probleme entdeckt. Am Getriebe. Ich glaube nicht, dass die von dem Unfall stammen, aber Sie werden dennoch ein neues brauchen, und auch eine neue Zylinderkopfdichtung. Mit den Arbeiten an der Karosserie selbst kommen wir dann auf ungefähr viertausendfünfhundert, plusminus ein bisschen. Also, so wie ich das sehe, haben Sie drei Möglichkeiten. Nummer Eins: Sie zahlen das alles aus eigener Tasche - wobei ich nicht der Meinung bin, dass der Wagen das überhaupt wert ist. Nummer Zwei: Sie leben mit dem Problem weiter, bis ihnen die Karre ganz verreckt, und das wird wahrscheinlich ziemlich bald sein. Nummer Drei - und das ist mein Rat an Sie: Lassen Sie den Wagen verschrotten und holen Sie sich einen neuen. Oder einen guten Gebrauchten. Für das, was Sie bezahlen müssten, um den hier zu reparieren - und dazu das, was die Versicherung Ihnen geben würde -, kann ich Ihnen einen anständigen gebrauchten Celica oder Corolla besorgen.« Joel umklammerte den Hörer so fest, dass ihm die Fingerknöchel schmerzten. Der Zorn, der in ihm aufwallte, überstieg bei weitem die Verärgerung, die er normalerweise verspürte, wenn er es mit unnachgiebigen Firmen-Lakaien oder Bürokraten der Regierung zu tun hatte. Das hier betraf ihn persönlich, und Joel verspürte einen glühenden Hass - so heftig, dass er am liebsten um sich geschlagen hätte. Hätte jetzt der Direktor der UAI-Versicherung vor ihm gestanden, hätte er den Mann wahrscheinlich erwürgt. Dennoch klang seine Stimme ruhig und beherrscht, als er antwortete - ein Erwachsener, der mit einem anderen Erwachsenen geschäftliche Dinge bespricht: »Ich denke darüber nach und ruf Sie wieder an.« Eine Antwort wartete er nicht ab, sondern legte sofort auf - genauer gesagt, knallte er den Hörer auf die Gabel. Stacy blickte zu ihm hinüber. »Was ist denn?« Mittlerweile stand auch Hunt im Eingang zur Küche. »Die Versicherung will die Reparatur am Toyota nicht bezahlen. Die sagen, es wäre zu teuer, und der Wagen sei es nicht wert. Also haben sie mir angeboten, mir dafür den Wert des Wagens nach der aktuellen Gebrauchtwagenliste auszuzahlen, damit ich mir einen neuen kaufen kann.« »Das ist doch Scheiße!«, sagte Stacy. Im Hinterhof hörten sie Lilly und ihre Freundin kichern. Etwas leiser sprach Stacy weiter. »Du solltest dir Kostenvoranschläge von verschiedenen Werkstätten einholen, dir dann den billigsten aussuchen und den blöden Wagen reparieren lassen.« »›Sollte‹ ist hier das entscheidende Wort. Unserer Versicherungspolice zufolge sind wir verpflichtet, genau diesen Händler zu nehmen, und jetzt wurde der Kostenvoranschlag dieses Händlers abgelehnt. Die zahlen keinen Cent für die Reparatur.« »Das ist doch Kacke!« Von draußen war erneutes Kichern zu hören. »Damit ist die Sache für mich noch längst nicht erledigt! Noch längst nicht! Ich werde die UAI anrufen und notfalls bis ganz nach oben gehen. Ich will ein paar Antworten, verdammt! Und ich werde diesen Verein melden! Ich werde mich an die staatliche Versicherungskommission wenden, und an den Verbraucherschutz ...« »Kommt mir irgendwie bekannt vor«, merkte Hunt an. Joel schaute ihn an. »Es muss doch eine Möglichkeit geben, es diesen Dreckskerlen heimzuzahlen!« »Nein«, gab Hunt zurück. »So langsam glaube ich nicht mehr daran.« SIEBEN Der Versicherungsvertreter stand vor dem Tresen; in seiner hoch zugeknöpften Weste mit der goldenen Taschenuhr sah er wie ein Schaffner in einem Zug aus dem Viktorianischen Zeitalter aus. Dolores Bessett tat so, als würde sie weiterhin die Kassenbons des Tages zusammenzählen. Sie wollte den Versicherungsvertreter nicht anschauen, wollte nicht einmal daran denken, dass er ihr zuhörte. Sie hatte Angst vor ihm. Es stimmte, auch wenn Dolores selbst nicht wusste, warum. In den zehn Jahren, seit sie ihr eigenes Geschäft eröffnet hatte - wenn man die winzige Buchhandlung, deren Geschäftsräume kaum mehr als ein Loch in einer Wand waren, als »Geschäft« bezeichnen konnte -, hatte sie täglich mit echten Problemfällen zu tun gehabt: obdachlose Schnorrer, aufdringliche Verkäufer, Pädophile, die Kinderfotos aus alten Bildbänden ausschnitten, Spinner, die sich in ihrer Kundentoilette einen runterholten. Aber keiner von denen hatte Dolores jemals verängstigt oder eingeschüchtert. Nur dieser Versicherungsvertreter. Einen erkennbaren Grund dafür gab es eigentlich nicht. Trotz seiner etwas ungewöhnlichen Bekleidung sah der Mann genau nach dem aus, was er war: Versicherungsvertreter. Er hatte dieses weiche, teigige, blasse Gesicht, das so typisch war für Männer mittleren Alters im Dienstleistungsgewerbe, und seine Stimme und sein Auftreten waren verbindlich und freundlich und ließen darauf schließen, dass er ein uninteressantes, nüchternes Leben führte. Dennoch: Immer, wenn er hereinkam, bekam Dolores eine Gänsehaut. Sie wünschte sich, es würde noch ein Kunde kommen, der auf die letzte Minute schnell noch etwas kaufen wollte, oder ein Junge von der High School, der einen Job suchte, oder der Mann vom UPS oder ... irgendwer. Doch Dolores blieb mit dem Versicherungsvertreter alleine im Geschäft und tat weiterhin so, als wäre sie mit Feinheiten der Buchhaltung beschäftigt, während der Vertreter sie zu überreden versuchte, ihre Versicherung aufzustocken. »Was Sie brauchen, ist eine Betriebsversicherung«, erklärte er gerade. »Eine Versicherung für einen Kleinbetrieb. Das schließt Haftung ein, Besitz, Unfallentschädigungen für Angestellte, Krankenversicherung, Lebensversicherung, Arbeitsunfähigkeit und alles, was noch so dazugehört. Wahrscheinlich haben Sie jeden Cent Ihres Ersparten in diesen Laden gesteckt, und ein einziges Streichholz an der falschen Stelle oder eine Meute Jugendlicher, die mutwillig alles zerstören, und schon könnten Sie Konkurs anmelden und sich bei Wal-Mart um einen Job bemühen. Das alles lässt sich vermeiden ...« Dolores faltete den Kassenabschluss-Ausdruck zusammen und legte ihn in die Stahlkassette, die zu ihren Füßen stand; dann drehte sie das Schild im Fenster herum, sodass es jetzt nicht mehr GEÖFFNET, sondern GESCHLOSSEN zeigte. Als Dolores den Versicherungsvertreter dann zum ersten Mal anblickte, seit er angefangen hatte, seine Sprüche herunterzubeten, versuchte sie so geschäftsmäßig zu wirken wie nur möglich. »Wir haben jetzt geschlossen. Ich fürchte, wir müssen jetzt gehen.« Er lächelte sie an. »Wir?« Dolores schoss das Blut ins Gesicht. Ihre Stimme hatte nicht nervös geklungen, sondern fest und selbstbewusst, doch dieser Versprecher hatte sie verraten. Nie zuvor hatte sie versucht, in den Gesprächen mit diesem Versicherungsvertreter die Oberhand zu gewinnen; stets hatte sie sich beinahe unterwürfig gezeigt und war immer auf ihn eingegangen. Nun war gleich der erste Versuch gescheitert, sich offen gegen ihn aufzulehnen. »Sie«, verbesserte sie sich und hoffte, diesen Lapsus ausmerzen zu können. »Sie werden gehen müssen.« Sein Lächeln wurde noch breiter, und vielleicht war es doch nicht so verbindlich, doch nicht so freundlich. »Sie werden eine Kleinbetriebsversicherung abschließen müssen.« »Hören Sie mal«, versuchte Dolores an seinen gesunden Menschenverstand zu appellieren. »Ich habe keinen einzigen Angestellten. Also brauche ich auch keine Versicherung für die Unfallentschädigungen von Angestellten und all die anderen Dinge, die Sie aufgezählt haben. Ich bin wirklich ausreichend versichert. Sie haben mir all diese Versicherungen doch verkauft.« »Ja. Und nachdem ich noch einmal analysiert habe, was Sie alles benötigen, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Sie eine Kleinbetriebsversicherung brauchen.« Dolores' Herz hämmerte, doch sie ging um die Theke herum und an ihm vorbei, öffnete die Eingangstür und klimperte mit dem Schlüssel, den sie bereits in der Hand hielt. »Die kann ich mir im Augenblick nicht leisten.« »Sie können es sich nicht leisten, diese Versicherung nicht abzuschließen.« »Ich kann es mir nicht leisten«, wiederholte Dolores, diesmal mit festerer Stimme. »Und der Laden ist jetzt geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.« Er nickte ihr zu, auf eine Art und Weise, die respektvoll sein mochte, aber genauso gut auch herablassend. »Also gut«, sagte er. »Aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.« Er lächelte ihr zu, nickte und trat auf den Bürgersteig hinaus. Rasch schloss Dolores die Tür hinter ihm ab. Ihre Handflächen waren schweißnass, ihr zitterten die Hände. Sie musste mehrmals tief durchatmen, um genügend Luft in die Lunge zu saugen, als hätte sie mehrere Minuten lang den Atem angehalten. Auf dem Tresen, das bemerkte sie erst jetzt, hatte der Vertreter eine Broschüre liegen lassen, in der für »Betriebsversicherungen für Kleinstbetriebe« geworben wurde. Dolores knüllte sie zusammen und warf sie in den Papierkorb. Dann nahm sie wieder den Kassenabschluss-Ausdruck aus der Stahlkassette und rechnete die Beträge dieses Mal wirklich zusammen - nicht, dass es viel zusammenzurechnen gegeben hätte. Dann überprüfte sie noch einmal das Bargeld, ehe sie alles wieder in die Kassette legte, das Licht ausschaltete und durch den Hintereingang des Ladens hinausging. Die Kassette und ihre Handtasche legte sie in ihren Wagen, überprüfte jeweils zweimal die Vorder- und die Hintertür, um sicherzugehen, dass wirklich alles abgeschlossen war. Dann machte sie sich auf den Heimweg. Erst als sie die Auffahrt zu ihrem Apartmentkomplex erreicht hatte, begriff Dolores, dass sie die Kiste mit den Fawcett-Taschenbüchern aus der »Gold-Medal«-Ausgabe vergessen hatte, die sie einem Stammkunden zu einem geradezu unverschämt günstigen Preis abgekauft hatte. Dolores hatte Hunger und war müde und wollte sich eigentlich eine Lasagne aufwärmen, sich vor den Fernseher setzen und die Wiederholung von Friends anschauen. Aber wenn Dolores die Bücher nicht an diesem Abend mitnahm, würde sie sie frühestens morgen Abend bei eBay einstellen können, und sie benötigte so schnell wie möglich eine Finanzspritze. Das Internet war wirklich ein Gottesgeschenk, wenn es darum ging, Bücher mit Sammlerwert loszuwerden. Bücher, die Monate, vielleicht sogar Jahre in ihrem Laden gestanden hätten, ehe sie einen Käufer fänden, ließen sich jetzt innerhalb von Wochen, manchmal sogar Tagen verkaufen. Die Sonne ging nun rasch unter; die Rincons im Osten waren bereits im Dunkel der Nacht verschwunden, und die Tucson Mountains waren kaum mehr als ein schwarzer Schatten vor dem orange gefärbten Abendhimmel. Als Dolores zum Laden zurückkam, war es fast dunkel. Sie stellte den Wagen gleich am Bürgersteig ab, weil sie keine Lust hatte, bei Nacht durch die Nebenstraße zu fahren und das Auto auf den kleinen Parkplatz dahinter zu setzen. Sie stieg aus und schloss die Tür ab. Erst da sah sie die Bewegung im Laden. Wie angewurzelt blieb sie stehen und starrte vom Bordstein aus in ihr Geschäft hinein, durch das Schaufenster hindurch ... und plötzlich klopfte ihr Herz so heftig, dass sie spürte, wie ihr das Blut in den Ohrmuscheln pulsierte. In ihrem Laden wütete eine Bande von vier Jugendlichen. Ganz offen, sodass jeder, der vorbeiging, es hätte sehen können, warfen sie sich quer durch den Laden Bücher zu, rissen Seiten heraus und stießen den Inhalt ganzer Regalbretter auf den Fußboden. Nur dass es gar nicht alles Jugendliche waren: An der Wand dem Eingang gegenüber stand ein stämmiger Mann mit auffallend schlechter Haltung und einem altmodischen Hut mit breiter Krempe. Über die Entfernung konnte Dolores sein Gesicht nicht erkennen - sie sah kaum mehr als seine Silhouette -, doch sie wusste, dass dieser Mann älter war als der Rest der Bande und dass er diese Zerstörungsorgie initiiert hatte. Dolores wollte in den Laden stürzen, sich den Baseballschläger schnappen, der stets hinter dem Tresen lag, wollte auf die Mistkerle einprügeln und sie anschreien, sie sollten auf der Stelle ihren Laden verlassen. Wahrscheinlich hätte sie genau das auch getan. Doch der Mann mit dem Hut machte ihr Angst. Er ängstigte sie auf die gleiche Art und Weise wie der Versicherungsvertreter, tief in ihrem Innersten, und so ertappte Dolores sich dabei, wie sie sich lautlos zurückzog, vom Bürgersteig herunter auf die Straße, und sich dabei immer im Schatten hielt, während sie zu ihrem Wagen zurückschlich. Die Mistkerle fingen jetzt an, die Regale umzureißen. Das erste brachte zwei weitere zum Umsturz wie riesige Dominosteine. Ich glaube, ich hätte doch diese Versicherung abschließen sollen, dachte Dolores verzweifelt. Der Mann an der Rückwand des Ladens rührte sich immer noch nicht. Dolores startete den Wagen und ließ ihn, ohne die Scheinwerfer einzuschalten, auf die Fahrbahn rollen. Sie wollte nicht gesehen werden. Erst als sie das andere Ende des Häuserblocks erreicht hatte, ließ sie die Scheinwerfer aufflammen. Dann bog sie nach rechts ab und fuhr geradewegs zur Polizeiwache. ACHT 1. Im Januar fragte Hunt Beth, ob sie ihn heiraten wolle. Sie waren jetzt seit fast acht Monaten zusammen, und seit vier Monaten wohnten sie unter einem Dach. Zuerst hatte Hunt mit Joel darüber gesprochen, hatte Edward und Jorge davon erzählt, ehe er Beth selbst fragte, denn er brauchte den Blickwinkel eines anderen, die Meinung eines Außenstehenden, um sicher sein zu können, dass er nicht zu schnell vorging oder in die falsche Richtung stürmte. Nein, sagten ihm alle, Beth sei großartig, die beiden seien das ideale Paar, und eine Hochzeit sei nur der nächste logische Schritt. Und Beth sagte nicht nur Ja - sie wollte so schnell wie nur möglich heiraten. »Das ist besser, als endlos lange verlobt zu sein«, erklärte sie. »Wenn ein Paar erst einmal die Entscheidung gefällt hat, zu heiraten, sollte es auch handeln.« Und genau das taten sie auch. Beide waren nicht gerade angetan von der Vorstellung einer großen kirchlichen Zeremonie - vor allem, da sie beide sowieso nie in die Kirche gingen -, doch sie wollten auch nicht einfach nur die nüchterne Sachlichkeit eines kurzen Termins im Rathaus. Also entschieden sie sich für eine konfessionslose Trauung, abgehalten von einem Freund Joels, der Philosophie lehrte und zugleich ordinierter Priester einer dieser rechtlich anerkannten, spirituell jedoch zweifelhaften New-Age-Kirchen war. Sie planten, sowohl die Trauung selbst als auch den anschließenden Empfang in einer Cabana mitten in einem der schönsten Parks von Tucson abzuhalten - einem Park, der praktischerweise an genau dem Tag für den Publikumsverkehr gesperrt sein würde, weil dort Baumbeschnitt und andere Arbeiten vorgenommen werden mussten. Beths Vater war bereits vor einiger Zeit gestorben, doch ihre Mutter kam schon eine Woche vor dem Termin aus Las Vegas, um Beth bei der Auswahl eines Kleides zu helfen und sich um den Blumenschmuck und dergleichen zu kümmern. Sie schlief im Gästezimmer, und falls sie dort ungewöhnliche Laute hörte, so sprach sie zumindest nicht davon. Jeden Morgen wirkte sie erholt und entspannt, also ging Hunt davon aus, alles sei in bester Ordnung. Seine Eltern kamen aus Minnesota und brachten einen ganzen Tross entfernter, fast vergessener Verwandter mit: Tanten und Cousins und den Onkel seines Vaters, den Hunt noch nie gesehen hatte. In Park Rapids liege hoch Schnee, berichtete seine Mutter; daran, wie sie es erzählte, merkte Hunt sofort, dass sie sich wünschte, nie aus Tucson fortgezogen zu sein. Hunts Vater indes schien durch den Umzug regelrecht verjüngt; er wirkte zufriedener und lebendiger, als Hunt ihn je gesehen hatte. Joel war sein Trauzeuge. Da es keine klassische Hochzeit war, hatte Joel nicht viel mehr zu tun, als während des Empfangs einen Toast auszubringen, doch er schien dennoch gerührt, dass Hunt ihn gefragt hatte. Anstelle eines typischen Junggesellenabschieds kehrten die beiden zur William Bodie Junior High zurück und lieferten sich ein Match Horse Basketball, so wie damals, als sie dreizehn Jahre alt gewesen waren. Die Turnhalle selbst war natürlich abgeschlossen, doch die Spielfelder im Freien waren allesamt zugänglich, und so übten die beiden erst eine Zeitlang Würfe, bis sie sich an das Spiel selbst machten. Die Schule kam Hunt kleiner vor, als er sie in Erinnerung hatte, die Körbe hingegen erschienen ihm erstaunlicherweise größer, und die Platten hinter den Körben nervten mit ihrem Scheppern und Klappern, sobald ein Ball sie traf, genau so wie früher. »Erinnerst du dich noch«, fragte Joel, »wie wir meinem Dad das Bier aus dem Kühlschrank geklaut und uns geteilt haben? Und dann hast du dir mitten im Spiel auf die Schuhe gekotzt!« »Ja«, sagte Hunt kichernd. »Ich erinnere mich.« »Und Mr. Hunter hat dich ganz entsetzt gefragt, was los ist. Daraufhin hab ich ihm erzählt, Bill Groff hätte dich gezwungen, einen Käfer zu essen, und darum müsstest du reihern.« Hunt lachte. »Und der arme Groff hat eine Woche lang nachsitzen müssen.« »Das waren noch Zeiten, Mann!« »Und wir dachten immer, das würde sich niemals ändern.« Hunt versuchte sich an einem Hakenwurf von der Mitte des Platzes aus, doch der Ball prallte gegen die Kante des Bretts und knallte scheppernd gegen den Maschendrahtzaun. Hunt hatte Joel all die Jahre wirklich vermisst, auch wenn ihm das erst nach seiner Rückkehr nach Tucson klar geworden war. Ach, verdammt, er vermisste alle seine alten Kumpel von früher. Das Leben riss die Leute sowieso schon viel zu oft auseinander: Man entwickelte sich in völlig unterschiedliche Richtungen, oder Freundschaften aus der frühesten Kindheit wurden einfach auseinandergerissen und durch andere, oberflächlichere und viel weniger enge Beziehungen ersetzt. Hunt blickte zu Joel hinüber und versuchte in dem ruhigen, gesetzten College-Lehrer den wilden, antiautoritären Unruhestifter wiederzufinden, den er aus seiner Jugendzeit kannte. Dieser Junge mochte noch irgendwo dort tief im Innern seines Freundes verborgen sein, doch mittlerweile war er erwachsen geworden, seine Ecken und Kanten waren abgeschliffen, und Joel war zu genau der Sorte Mensch geworden, die er früher so heftig verspottet und abgelehnt hatte. Das geht uns allen so, vermutete Hunt. Er selbst hatte sich seit der Junior High ebenfalls sehr verändert. Er war weniger arrogant, weniger anmaßend, deutlich bereitwilliger, Kompromisse einzugehen, anderen gegenüber weniger ablehnend und im Ganzen viel mitfühlender. Doch irgendwie, aus irgendeinem Grund, waren sie doch wieder Freunde. Beide waren als Erwachsene ganz anders, als sie und ihre Bekannten es wohl vermutet hätten, und doch befanden sie sich jetzt wieder im Einklang. Irgendwie hatte sich der Kreis in ihrem Leben geschlossen. Joel vollführte einen Sprungwurf. »Und? Hast du 's deiner Ex schon erzählt?« »Eileen?« Hunt schüttelte den Kopf. »Um ehrlich zu sein, ich weiß noch nicht mal, wo ich sie überhaupt erreichen könnte.« Er ahmte Joels Sprungwurf perfekt nach; dann stützte er die Hände auf die Knie und hockte sich auf den Boden, um einen Augenblick zu verschnaufen. »Aber ich habe natürlich daran gedacht. Ich war nicht gerade glücklich verheiratet, aber ich war verheiratet. Ich kann jetzt nicht so tun, als wäre das alles nie gewesen, oder dass es Eileen gar nicht gibt.« Joel hockte sich neben ihn. »Hast du noch Gefühle für sie?« »Nein. Zumindest keine positiven. Und Beth ... Beth ist einfach klasse, sie ist perfekt. Ich wünschte nur, dass es meine erste Heirat wäre, verstehst du? Dass ich nicht so viele Altlasten aus der ersten Ehe in meinem Innern herumschleppen würde.« »Macht es Beth etwas aus?« »Nein. Sagt sie zumindest.« »Warum sollte es dir dann was ausmachen? Vergiss es einfach, Mann! Dieses Mal heiratest du richtig. Das andere war nur die Trockenübung.« »Du hast recht.« »Ich weiß.« Joel gewann das Match. Anschließend gingen sie zu Pancho Muldoon's, einer Bar in der Nähe der Uni, in der Hunt während der Collegezeit oft herumgehangen hatte. Noch immer war es eine Kneipe, die hauptsächlich von Collegestudenten besucht wurde; Joel und Hunt waren beide mindestens ein Jahrzehnt älter als der Durchschnitt der Gäste. Nach einem Bier fühlten sich beide so fehl am Platze, dass sie nach Hause gingen. »Erwachsen sein«, sagte Joel, »ist schon irgendwie blöd.« Der große Tag war schlichtweg chaotisch. Es schienen hundert Leute in Beths Haus - im Haus der Frischvermählten - zu sein, und alle machten sich gleichzeitig fertig: Beth und ihre Mom, Hunt und seine Eltern sowie zahlreiche Verwandte beider Familien, dazu noch jede Menge Freunde. In der Küche ging Hunt mit Joel gerade die Bezahlung und das Trinkgeld für den Priester durch, als Beths Mutter kurz hereinkam, um sich ein Glas Wasser zu holen. »Ich habe gestern Abend die Nachrichten gesehen. In der Wettervorhersage hieß es, dass es heute vielleicht regnet«, erklärte sie. »Ihr hättet eine Heiratsversicherung abschließen sollen, nur für den Fall. Dann hättet ihr nicht ganz so viel Ärger, falls der Regen alles verdirbt.« Hunt schaute zu Joel hinüber und sah in dessen Blick die gleiche Beunruhigung, die auch er spürte, als dieses Wort gefallen war. »Mach dir keine Sorgen«, sagte Hunt. »Alles wird gut laufen. Das wird schon!« Er sollte recht behalten. Die Zeremonie selbst war kurz und stimmungsvoll, und obwohl tatsächlich am Nachmittag Wolken aufzogen, sorgte das lediglich dafür, dass die Temperaturen recht angenehm blieben; der Regen selbst kam nicht. Nach dem Empfang war Edward betrunken und hätte sich beinahe eine Schlägerei mit dem Philosophieprofessor geliefert; Jorge und Joel mussten ihn zurückhalten. »Ich reiß dir die Arme ab, du schwanzloses Hemd!«, schrie er. Eine von Beths alten Freundinnen, mit denen sie früher durch die Clubs gezogen war, erbrach sich in den Ententeich. Diese Ereignisse schienen Hunts Eltern ein wenig zu entsetzen, und mit einem Anflug von Rebellion war Hunt regelrecht stolz darauf. Das hier war seine Hochzeit, es waren seine Freunde, und er war erwachsen. Er konnte herumhängen, mit wem er wollte. Doch kurze Zeit später sah er, dass sein Vater sich ausgiebig mit Jorge unterhielt, und seine Mutter lachte schallend über einen zotigen Witz, den eine Kollegin von Beth und Stacy erzählte. Beide Elternteile schienen Beth sehr zu mögen, und dafür war Hunt überaus dankbar. Natürlich wollte er, dass die beiden Beth mochten - und umgekehrt. Erst hatte Hunt sich ein wenig Sorgen gemacht, weil seine Eltern mit Eileen nicht so recht warm geworden waren, doch diese Sorgen hätte er sich diesmal nicht zu machen brauchen. Anscheinend sahen sie in Beth die gleichen Qualitäten, die auch er selbst sah. Hunt war überglücklich, als ihm klar wurde, dass sie alle vielleicht eine große, glückliche Familie werden konnten. Ihre Hochzeitsnacht verbrachten sie im Westward Look, einer Luxus-Hotelanlage am Fuße der Catalinas, von der aus man einen atemberaubenden Blick auf die Stadt bei Nacht hatte. Im Süden tobten Gewitter; vom Fenster ihrer Suite aus sahen sie blauweiße Lichtblitze, die jenseits der bunten Lichter der Stadt zuckten. »Es ist wunderschön«, sagte Beth und kuschelte sich an ihn, während sie vor dem Fenster standen. Und das war es auch. Die Blitze erhellten immer wieder die dräuenden Gewitterwolken am Nachthimmel und enthüllten eine Schönheit, die Hunt niemals erwartet hätte; der Kontrast zwischen den wilden, aufzuckenden Blitzen und der ruhigen Künstlichkeit der Stadtlichter hatte etwas Magisches. Eine Zeitlang standen sie einfach nur da, bis das Gewitter sich ein wenig beruhigte; dann gingen sie zum Bett hinüber, streichelten einander die Kleider vom Leib und liebten sich langsam und leidenschaftlich. Ursprünglich hatten sie sich ein aufwändigeres Szenario für ihre Hochzeitsnacht zurechtgelegt, damit es etwas anderes würde als eine »normale Nacht«, und sie hatten sich verschiedene, exotischere Stellungen überlegt. Dann aber erkannten sie, dass sie so etwas gar nicht nötig hatten. Die Nacht war ohnehin schon etwas Besonderes. Das »Normale« war wunderbar. Eng umschlungen schliefen sie ein. Am nächsten Morgen brachen sie zu ihrer Hochzeitsreise auf. Hunt hatte nach Montana oder Wyoming fahren wollen, vielleicht sogar nach Kanada, um eine Zeitlang die Abgeschiedenheit zu genießen, doch Beth wollte nach Kalifornien und dort sämtliche Touristenattraktionen aufsuchen, und Hunt hatte ihre Wünsche sofort und begeistert aufgenommen. Tatsächlich vermisste er Kalifornien ein wenig, und die Vorstellung, seine Frau herumzuführen und ihr alles zu zeigen, gefiel ihm sehr. Sie fuhren nach Hollywood, nach Disneyland, in den Griffith-Park und die Huntington Library, doch am Wichtigsten war es Beth, an den Strand zu gehen, denn das Wetter war warm und sonnig und so schön, wie ein August nur sein konnte, nicht so drückend heiß wie im Juni. Hunt zeigte ihr Seal Beach, wo sie über seinen Lieblings-Pier spazierten und dann in einem mexikanischen Restaurant auf der Main Street essen gingen. Dann fuhren sie die Küste entlang nach Crystal Cove. Offensichtlich hatten viele andere Leute die gleiche Idee, denn es war schlichtweg unmöglich, eine Parklücke zu finden. Zweimal fuhr Hunt um den gesamten Parkplatz herum, bis er schließlich zwei Teenies sah, die zu einem VW-Käfer-Kabrio schlenderten. Er blieb stehen und wartete, doch die Mädchen ließen sich Zeit. Als sie den Wagen schließlich aus der Parklücke setzten, kam ein roter Mustang angeschossen und drängte sich vor. Hunt drückte auf die Hupe und ließ die Scheibe herunter. »Du blöder Arsch!«, rief er. Beth legte ihm eine Hand auf den Arm. »Das ist es doch nicht wert, sich aufzuregen. Schau, da drüben wird wieder was frei.« Und tatsächlich - die Bremsleuchten eines Nissan-Pickup, der nur zwei Lücken weiter stand, flammten soeben auf. Diesmal wollte Hunt kein Risiko eingehen. Er setzte seinen Wagen fast genau hinter den Nissan und verhinderte auf diese Weise, dass jemand anders in die Lücke schlüpfen konnte. Er wollte rückwärts einparken, sobald der Pickup herausfuhr, und dabei so wenig Platz wie möglich zwischen den beiden Wagen lassen - eine Technik, die er während der Collegezeit perfektioniert hatte, als die Wettkämpfe um Parkplätze auf dem Campus-Gelände ihren Höhepunkt erreichten. Der Pickup rollte langsam zurück, und Hunt legte schon den Rückwärtsgang ein, doch ein alter Chevy-Lieferwagen war unmittelbar hinter ihm und versperrte ihm den Weg. Und der Pickup setzte weiter zurück. Hunt drückte auf die Hupe, doch beide Fahrer ignorierten ihn oder hörten ihn nicht. Und Hunt hatte keinen Platz zum Ausweichen. Der Pickup stieß gegen seinen Wagen. Sofort sprang der Fahrer aus der Tür, um sich den Schaden zu besehen. »Es tut mir leid«, sagte er. »Mann, tut mir echt leid. Ich hab Sie nicht gesehen. Ist alles in Ordnung?« Hunt und Beth stiegen jetzt ebenfalls aus. »Alles in Ordnung«, sagte Hunt. Er deutete hinter sich. »Der Schwachkopf da hat mir den Weg versperrt. Ich konnte nicht ausweichen.« Der Chevy-Lieferwagen hatte ein Stück zurückgesetzt und wartete jetzt darauf, dass einige Parklücken entfernt ein roter Jeep den Platz freimachte. »Wie sieht's mit Ihrem Wagen aus?«, fragte der Mann. Gemeinsam untersuchten Hunt und Beth die Front des Saab, konnten jedoch keine Dellen oder Kratzer entdecken. Auch der Fahrer des anderen Wagens schaute genau hin. »Ich sehe nichts«, sagte er mit hoffnungsvoller Stimme. »Ich auch nicht. Scheint so, als hätten wir noch mal Glück gehabt.« »Vielleicht sollten wir unsere Versicherungs-Informationen austauschen ... nur für den Fall.« Versicherung. Unweigerlich erschauerte Hunt, obwohl es ein schöner warmer Tag war. »Nein«, sagte er. »Ist schon in Ordnung.« »Vielleicht entdecken Sie ja später noch was ...« »Keine Sorge«, beruhigte Hunt ihn. »Sind Sie sicher?« Halb Affenarsch, viertel vor Ho-den-sack. »Ja.« »Vielleicht sollten wir ja doch ...«, setzte Beth an. »Ist schon in Ordnung«, sagte Hunt. »Alles klar.« 2. In der Mittagspause traf sich Jorge in der Praxis der Geburtshelferin mit Ynez. Unruhig saß sie auf einem der unbequemen Lederstühle im Wartezimmer und blätterte in einer Frauenzeitschrift, auf deren Titelseite eine Talkshow-Moderatorin neben einem riesigen Blumenbukett stand. »Tut mir leid, dass ich so spät dran bin«, sagte Jorge. Ynez lächelte und drückte ihm die Hand. Die Tür neben dem Fenster zum Zimmer der Sprechstundenhilfe öffnete sich, und eine Krankenschwester, ein Klemmbrett in der Hand, streckte den Kopf durch den Spalt. »Mrs. Marquez?« Gemeinsam standen Jorge und Ynez auf und folgten der Schwester einen kurzen Flur hinunter in ein zweckmäßig eingerichtetes Behandlungszimmer, in dem die Schwester Ynez wog und Blutdruck und Temperatur maß. In den letzten zwei Wochen hatte Ynez fünf Pfund zugenommen, und alles war normal. »Dr. Bergman ist gleich bei Ihnen«, sagte die Schwester und schloss die Tür hinter sich. Ynez blieb auf der gepolsterten Behandlungsliege sitzen, während Jorge nervös durch den Raum strich und sich das Glas mit den Wattetupfern anschaute, die antibakteriellen Flüssigseifen, die hinter dem Waschbecken aufgereiht waren, und das vierfarbige Poster, auf dem das weibliche Fortpflanzungssystem abgebildet war. »Wir können auch zu einem anderen Arzt gehen«, sagte er. »Es gibt jede Menge andere Ärzte in unserer Versicherungsgruppe.« »Ich find's gut, eine Ärztin zu haben«, erwiderte Ynez. »Ich sag ja bloß.« Nach höflichem Anklopfen kam Dr. Bergman herein. Nicht dass sie eine Frau war, beunruhigte Jorge, sondern dass sie so verdammt jung war. Sie sah aus, als hätte sie gerade erst ihr Medizinstudium abgeschlossen, und selbst wenn sie die Jahrgangsbeste gewesen wäre, zählte für Jorge vor allem Berufserfahrung. Es ging hier immerhin um ihr erstes Kind. Ihm wäre es viel lieber gewesen, wenn Ynez für die Geburtsvorbereitung zu einem alten, weißhaarigen Herrn mit buschigem Schnurrbart gegangen wäre. Doch das sachliche, nüchterne Auftreten von Dr. Bergman beruhigte Jorge ein wenig, und er musste zugeben, dass die Ärztin zu wissen schien, was sie tat. Außerdem vertraute Ynez ihr. Und das hieß ja auch schon was. Dr. Bergman schob Ynez' Bluse ein Stück hoch und begann dann vorsichtig, den schon erkennbar angeschwollenen Unterleib abzutasten. »Alles in Ordnung?«, fragte Jorge besorgt. »Alles bestens«, versicherte die Ärztin ihm. Nachdem sie den Unterleib abgetastet hatte, fragte sie: »Wollen Sie jetzt den Herzschlag hören?« Ynez lächelte glücklich. »Ja.« Das war der Teil der Untersuchung, den sie am meisten liebte, doch für Jorge war das alles nur nervenaufreibend. Es mochte ja dieses Wunder des Lebens geben und so weiter und so fort, und Technologie und moderne Medizin waren wirklich etwas Tolles, aber Jorge selbst wurde die Sorge nicht los, es könne irgendetwas falsch sein; die Ärztin könne Unregelmäßigkeiten im Herzschlag feststellen oder einen angeborenen Herzfehler, oder Anzeichen für eine schwere Erkrankung, die dem Kind vielleicht ein Leben lang Probleme bereiten würde. Aus einer Tube drückte Dr. Bergman Ynez eine gelartige Masse auf den Bauch - das Zeug sah sogar kalt aus -, und dann griff sie nach dem kleinen Wunderwerkzeug, das für Jorge immer noch aussah wie ein umgebautes Widerstandsmessgerät. Raues Zischen drang aus dem kleinen Lautsprecher des Geräts, mit dem die Ärztin Ynez nun über den Bauch fuhr. Nach und nach konnte man in dem Rauschen tatsächlich ein Muster entdecken. »Da ist es«, sagte die Ärztin und lächelte. Selbst jetzt noch, nach so vielen Malen, klang es für Jorge immer noch nicht wie ein Herzschlag. Und es war viel zu schnell! Es war ein zischendes, fauchendes Geräusch, das zugleich etwas Mechanisches hatte. Dr. Bergman hatte die beiden jetzt schon oft genug in der Praxis gehabt, um die nächste Frage erraten zu können, und ehe Jorge sie stellen konnte, sagte sie: »Der Herzschlag des Kindes hört sich sehr gut an. Schön kräftig.« Jorge atmete auf. Wieder eine Hürde genommen. Gemeinsam lauschten sie noch ein wenig; dann schaltete die Ärztin das Gerät ab, legte die Sonde beiseite und wischte Ynez die Salbe vom Bauch. Anschließend machte sie sich daran, auf ihrem Klemmbrett einige Notizen einzutragen. Sie blätterte ein paar Seiten um; dann hob sie den Kopf. »Ich nehme an, man hat Sie wegen der Befunde bei der Fruchtwasseruntersuchung schon angerufen, ja?« »Ja«, bestätigte Ynez. Das war wieder so ein Albtraum gewesen. Es war ja schon schlimm genug, miterleben zu müssen, wie seiner Frau diese riesige Nadel in den Unterleib gestoßen wurde, dann auf den Ultraschall-Monitor zu blicken und mitanzusehen, wie die Nadel plötzlich angehalten und der Fötus bewegt wurde, damit die Nadel nicht in den winzigen Kopf eindrang - aber das Warten danach war noch viel schlimmer gewesen. Erst hatten sie vierundzwanzig Stunden gewartet, um sicher sein zu können, dass keine der bekannten Nebenwirkungen einer Fruchtwasserpunktion auftrat, zum Beispiel eine Fehlgeburt. Dann mussten sie noch mehrere Tage abwarten, um endlich erfahren zu können, ob ihr Kind vielleicht geistig oder körperlich behindert sein würde. Der Anruf aus dem Labor, drei Tage später, war Jorge wie ein Vollstreckungsaufschub durch den Gouverneur persönlich erschienen. »Ich nehme an, man hat Ihnen gesagt, dass alles in Ordnung ist.« »Ja.« Einen Augenblick schwieg Dr. Bergman und blickte lächelnd von Jorge zu Ynez. »Also ... wollen Sie es wissen?« Jorge wandte sich zu Ynez. Das war die große Frage. Sie hatten viele Male darüber gesprochen und immer gesagt, sie würden nicht vor der Geburt erfahren wollen, welches Geschlecht das Kind hat, sondern sich überraschen lassen. Doch die Frau, die vor ihnen stand, wusste es bereits. Und das Gleiche galt für die technischen Assistenten im Labor und wahrscheinlich für ein paar der Krankenschwestern. Und jetzt, wo sie vor der Entscheidung standen, sich die Information geben zu lassen oder nicht, war Jorge sich nicht mehr so sicher, ob sie nicht doch nachgeben sollten. Fragend schaute er Ynez an. Sie lächelte, nickte, griff nach seiner Hand. »Sagen Sie 's uns«, bat sie die Ärztin. »Wir wollen es wissen.« »Schön«, sagte Dr. Bergman. »Es wird ein Junge.« 3. Im Gästezimmer brannte Licht. Vor zehn Minuten, als Hunt zur Arbeit aufgebrochen war, hatte es noch nicht gebrannt, da war Beth sich ganz sicher. Doch jetzt war das Licht eingeschaltet, und als sie im Zwielicht vor Sonnenaufgang im Flur den gelblichen Schein unter der Tür sah, gefror ihr das Blut in den Adern. »Courtney!«, rief sie. Das Miauen der Katze kam aus weiter Ferne - aus der Küche oder der Waschküche. Beth selbst musste ebenfalls zur Arbeit. Es war ihr erster Arbeitstag nach den Flitterwochen, und sie konnte es sich nicht erlauben, zu spät zu kommen. Sie sollte jetzt aufbrechen und später wiederkommen, zusammen mit Hunt - am besten, wenn alles vorbei war. Wenn alles vorbei war. Genau. Was immer in dem Zimmer geschehen mochte, es geschah jetzt noch immer. Beth betätigte den Lichtschalter, doch nichts tat sich. Der Flur blieb dunkel. Von dem dünnen Lichtstreifen unter der Tür zum Gästezimmer abgesehen. Einen Augenblick lang zögerte sie, wusste nicht recht, was sie tun sollte. Aus dem Zimmer war ein Geräusch zu hören. Dieses Mal war es kein Klopfen, sondern ein unheimliches, leises Pfeifen, fast wie ein Teekessel, den man auf dem Herd vergessen hatte und dessen Inhalt fast schon gänzlich verkocht war. Das Pfeifen war kaum zu hören, wurde beinahe von Beths vor Angst schnell gehendem Atmen und Courtneys Miauen in der Ferne übertönt. In wenigen Minuten würde die Sonne aufgehen. Wenn Beth noch ein bisschen wartete, würde durch die Ostfenster Licht ins Haus fallen und die Dunkelheit vertreiben. Aber Beth konnte nicht warten. Mit jeder Minute wurde der Berufsverkehr dichter. Sie musste jetzt los, wenn sie es noch pünktlich zu Thompson Industries schaffen wollte. Sie holte tief Luft, um sich auf alles gefasst zu machen; dann ging sie zügig den Flur hinunter, packte den Knauf an der Tür zum Gästezimmer, drehte ihn und drückte. Die Tür ging nicht auf. Beth lehnte sich dagegen, stemmte sich mit der Schulter gegen das Holz, sah den Lichtschein, der unter der Tür hervordrang und auf ihre Schuhe fiel, doch die Tür wollte einfach nicht aufgehen. Ein eisiger Hauch fuhr ihr über den Rücken. Und die Tür schwang auf. Beth schrie. In dem Sekundenbruchteil, ehe das Licht im Gästezimmer wieder erloschen war, hatte Beth im Spiegel über der Kommode unmittelbar neben sich die Umrisse eines Mannes gesehen: eines stämmigen Mannes mit schlechter Haltung, der einen altmodischen Hut mit breiter Krempe trug. Und dann rannte Beth schon durchs Wohnzimmer, so schnell sie konnte, durch die Küche und aus dem Haus. »Und wie fühlt's sich da unten an?« »Was?« »Wenn dein Schwanz jetzt nicht wundgescheuert ist und fast abfällt, bist du kein richtiger Mann.« Hunt lachte und warf ein Aststück nach Edward. Mehrmals drehte es sich in der Luft, flog geradewegs auf das Gesicht des kräftigen Mannes zu, bis dieser einen Schritt zur Seite machte und der Ast harmlos klappernd auf dem Kies landete. »Du warst auf Hochzeitsreise, Mann!« »Und?« »Und jetzt sollte dein Ding knallrot und wund sein.« »Worauf willst du denn hinaus? Willst du mir die Hose runterziehen und es dir angucken, oder was? Was willst du?« »Details!«, verkündete Jorge, der auf der anderen Seite des Baumes zwischen den Zweigen kauerte. »Wir wollen Details!« »Tja, die kriegt ihr aber nicht.« »Da würde ich doch glatt sagen, dass du wohl nichts gekriegt hast!«, sagte Edward. Er stieß sein tiefes Wrestler-Lachen aus, und dann hielten die drei kurz inne, als zwei Mütter mit Sportkinderwagen vorbeigejoggt kamen. »Also ehrlich jetzt«, setzte Edward erneut an, »wie war die Hochzeitsreise?« »Großartig«, sagte Hunt. »Natürlich gab es auch ein paar weniger schöne Momente, gerade genug, dass man die Reise nicht vergisst ...« »Du brauchst ein paar weniger schöne Momente, damit du deine Hochzeitsreise nicht vergisst?« Edward schüttelte den Kopf. »Du weißt genau, was ich meine. Auf der Olvera Street haben wir uns 'ne Lebensmittelvergiftung geholt ...« »Ja, ja, Durchfall während der Hochzeitsreise ist immer sexy und romantisch«, merkte Jorge an und kletterte aus dem Baum. Hunt ignorierte ihn. »Dann hatte ich am Strand einen kleinen Unfall.« Edward schüttelte mitfühlend den Kopf. »Und was hat deine Versicherung dieses Mal gesagt?« »Gar nichts. Ich habe es denen nicht gemeldet. An beiden Wagen war kein Kratzer, also haben wir's dabei bewenden lassen.« »Wahrscheinlich genau das Richtige. Hast du das mit Steves Immobilienversicherung gehört?« »Nein. Was denn?« »Gekündigt!«, rief Jorge. Hunt blickte zu Edward hinüber, der nur nickte. »Stimmt. Ich glaube, der hat bei denen etwas eingereicht, was die als unseriöse Forderung angesehen haben, und da haben sie ihn rausgeschmissen.« Jorge lachte. »Da steht er jetzt, mit 'nem halb fertigen Haus und ohne Versicherung. Einen Besseren hätte es nicht treffen können.« »Wisst ihr, Steve mag ja wirklich ein Blödmann sein«, wandte Hunt ein, »aber das mit den Versicherungen ist erschreckend.« »Ich weiß, was du meinst, aber es geht hier um Steve!« »Ich glaube nicht, dass du weißt, was ich meine. Ich habe in letzter Zeit viel darüber nachgedacht. Sagt mal ... Ist euch eigentlich klar, wie sehr wir uns auf unsere Versicherungen verlassen? Wir brauchen die für unser Auto, unser Haus, unsere Gesundheit, für unser Leben. Leute machen Jobs, die sie eigentlich verabscheuen, bloß weil sie da gut versichert sind - vor allem, wenn sie Kinder haben. Das betrifft fast alles. Ich glaube, dass mehr Träume aufgegeben werden, weil man eine Versicherung haben muss, als aus irgendeinem anderen Grund.« Er blickte Edward an. »Wie viele Leute mehr würden Musik komponieren oder Bilder malen, wenn sie nicht unbedingt die Beiträge für die Versicherung ihres Autos bezahlen müssten?« Er schaute zu Jorge. »Wie viele Leute mehr würden Bücher schreiben, die sie schon längst im Kopf haben, wenn sie nicht unbedingt einen Job bräuchten, damit sie die Krankenversicherung ihrer Kinder bezahlen können?« Schweigen breitete sich aus, als seine Freunde diesen Gedanken verdauten. »Die Leute brauchen nicht noch mehr Kunst«, sagte Edward schließlich. »Die brauchen beschnittene Bäume. Legen wir wieder los!« »Genau«, pflichtete Jorge ihm bei. »Außerdem geht es hier um Steve!« Hunt kam vor Beth nach Hause und ging sofort zum Gästezimmer, um es zu begutachten. Schon am frühen Morgen hatte sie ihn auf dem Handy angerufen und ihm geschildert, was passiert sei, hatte ihn dann in der Mittagspause erneut angerufen, um mehr ins Detail zu gehen, und auch wenn es sich ein bisschen lächerlich angehört hatte, solange Hunt dort draußen gewesen war - im wahren Leben sozusagen, außerhalb des Hauses -, erschien es ihm nun, wo er hier war, längst nicht mehr so unvorstellbar. Sie habe nichts angefasst, hatte Beth gesagt, doch als Hunt nun das Zimmer betrat, fiel ihm als Erstes auf, dass die Tagesdecke auf dem Gästebett heruntergerissen war. Die Decke war nicht gewechselt, nicht einmal mehr angerührt worden, seit Beths Mutter abgereist war, und als Hunt sie jetzt zusammengeknautscht auf dem Boden liegen sah, überlief ihn eine Gänsehaut. Sonst schien im Zimmer nichts verändert. Der Lichtschalter war heruntergedrückt, die Lampen waren aus. Geräusche gab es keine. Er hörte, wie draußen Beths Saturn vorfuhr, dann das Knallen der Autotür, und dann wurde die Küchentür geöffnet. »Ich bin hier!«, rief Hunt, als er sicher sein konnte, dass seine Frau in Hörweite war. Ihre Schritte auf dem Fußboden klangen zögerlich, doch einen Augenblick später stand Beth neben ihm und starrte auf das zerwühlte Bett. »Ich nehme an, das warst nicht du«, sagte sie. »Stimmt, das war ich nicht.« Sie schaute sich im Zimmer um, suchte nach irgendetwas anderem, das anders war als sonst, konnte aber nichts entdecken. »Ich habe in dem Spiegel wirklich etwas gesehen«, sagte Beth. Hunt hörte die Angst in ihrer Stimme. »Ein großer Mann, der neben mir stand. Aber da war niemand.« »Hast du dich durch den Mann bedroht gefühlt? Hattest du das Gefühl, er wollte dir etwas antun?« Hunt konnte nicht fassen, dass er so etwas fragte. Aber es führte kein Weg daran vorbei. Nicht nach dem, was passiert war. In dem Zimmer spukte es. So einfach war das. Beth schüttelte den Kopf. »Ich habe überhaupt nichts gespürt, wenn du das meinst. Ich hatte nicht das Gefühl, dass er mir etwas tun wollte. Aber ich hatte noch nie im Leben eine solche Angst.« Sie deutete auf ihre Unterarme. »Schau«, sagte sie. »Gänsehaut. So ist das heute schon den ganzen Tag.« Hunt zupfte am Bettlaken, legte die Tagesdecke wieder zurecht und rechnete beinahe schon damit, dass sie ihm jeden Moment aus den Händen gerissen und quer durchs Zimmer segeln würde. Doch nichts geschah. Hunt strich die Decke glatt. Innerlich atmete er erleichtert auf. »Manche Menschen leben doch mit Geistern, oder nicht? Die verpassen denen sogar niedliche Namen, wie Georgie oder Louie, und erklären allen, dass sie freundlich sind und keinem Böses wollen. Vielleicht sollten wir es genauso halten.« »Ein Spukhaus«, sagte Beth und wiederholte seine eigenen Gedanken. »Wir wohnen in einem Spukhaus.« »Scheint so.« Er schaute sie an. »Was willst du machen? Es verkaufen und woanders hinziehen?« »Nein«, sagte Beth, dachte dann aber noch einmal nach. »Jedenfalls noch nicht.« NEUN 1. Die ganze Woche war Steve ihnen allen gewaltig auf den Zeiger gegangen, und Hunt war dankbar, als endlich der Freitag kam. Auf dem Heimweg fuhr er zum Tanken. Auf der anderen Straßenseite war ein Waffle House; während Hunt den Tank füllte, schaute er hinüber und fragte sich, wer wohl um diese Uhrzeit Waffeln essen mochte. Leute auf Nachtschicht, vermutete er. Lastwagenfahrer und Lokführer. Dann schaute er zu dem Obdachlosen hinüber, der Zeitungen auf der Verkehrsinsel verkaufte, mit der die beiden Fahrbahnen der Nord-Süd-Straße geteilt wurden, und dann zur Bushaltestelle vor dem Circle K. Er runzelte die Stirn. Zwei Frauen saßen auf der Bank und warteten auf den Bus; eine der beiden kam ihm sehr bekannt vor. Hunt erkannte weder die Kleidung noch die Frisur, doch etwas an der Art und Weise, wie sie die Schultern hielt, die Kopfhaltung ... Die Frau drehte sich nach links und zeigte ihm ihr Profil. Es war Eileen. Seit der Scheidung hatte Hunt sie nicht mehr gesehen, hatte nicht einmal in Erwägung gezogen, dass auch sie nach Tucson würde zurückkehren können. Doch da war sie, in einer der ärmlicheren Gegenden der Stadt, und schien auf den Bus zu warten. Eileen wirkte alt und unglücklich, und das verschlechterte Hunts eigene Stimmung. Vermutlich hätte es seine Stimmung auch gedrückt, hätte sie blendend ausgesehen, mit einem neuen Mann und einem Baby im Schlepptau ... doch aus irgendeinem Grund war das hier noch schlimmer. Hunt hatte nicht gedacht, dass er sich noch um Eileen würde sorgen können, nicht nach dieser unschönen, erbitterten Trennungsgeschichte, doch offensichtlich war das sehr wohl der Fall. Einmal vertraut, immer vertraut, vermutete er, und unwillkürlich musste er daran denken, wie es mit ihnen beiden angefangen hatte, in diesem letzten Jahr an der High School. Sie waren zum »Paar, das wahrscheinlich am längsten zusammen bleibt« gewählt worden, und tatsächlich hatten sie jeden Augenblick gemeinsam verbracht. Eileen war schön und intelligent gewesen, Hunt beliebt und ehrgeizig, und sie beide waren jung. Die ganze Zukunft lag noch vor ihnen. Jetzt war Eileen eine Frau mittleren Alters, und sie war allein. Hunt wurde die Frage nicht los, ob ihr Leben heute wohl anders aussehen würde, wenn sie zusammengeblieben wären. Oder wenn sie einander nie kennen gelernt hätten. Es war unmöglich zu sagen, wie viel Einfluss eine Person auf eine andere hatte; vielleicht wäre alles so oder so gekommen, wie es war. Doch Hunt hatte seine Zweifel. Vor seinem inneren Auge sah er das kluge, hübsche junge Mädchen vor sich, und es schmerzte ihn so sehr, dass er beinahe in Tränen ausgebrochen wäre. Der Bus kam, gerade als der Tank seines Wagens voll war und die Automatik der Zapfsäule den Benzinfluss unterbrach. Hunt schaute zu, wie Eileen aufstand, ruhelos die Stufen hinaufstieg und im Bus verschwand; regungslos blieb er stehen, als der Bus sich wieder in den Verkehr einordnete und nach Osten fuhr. Erst als Hunt den Bus aus den Augen verloren hatte, hängte er die Zapfpistole ein, schraubte den Tankdeckel zu und ging bezahlen. Dann fuhr er nach Hause zu Beth. Und hielt sie ganz fest. Rollender Donner und das Tropfen von Wasser im Schlafzimmer weckten sie. Das Dach war undicht! Hunt setzte sich im Bett auf, blickte zum Digitalwecker auf der Kommode und versuchte, die Uhrzeit abzulesen. Halb drei? Halb vier? Neben ihm schaltete Beth die Lampe auf ihrem Nachttisch ein. Hunt stand auf, um den Lichtschalter umzulegen ... und rutschte fast in der Wasserlache aus, die sich auf dem Hartholzboden gesammelt hatte. »Ach du Schande!«, rief er und umklammerte gerade noch rechtzeitig einen Bettpfosten. Dann stieg er auf Zehenspitzen durch die Wasserlache, die erstaunlich tief war - das musste schon eine ganze Weile so gehen -, und wollte gerade die Deckenlampe einschalten, als Beth ihm sagte, er solle das bloß lassen. Hunt drehte sich um und schaute zu der Stelle, auf die Beth deutete. Selbst im matten Schein ihrer Nachttischlampe konnte er erkennen, dass der Regen an zwei Stellen durchs Dach kam: über dem Lehnsessel in der Ecke des Zimmers und neben Hunts Seite des Bettes. »Das bedeutet, der Dachboden ist nass«, erklärte sie. »Ich weiß ja nicht, ob sich das irgendwie auf die Stromleitungen auswirkt, aber ich möchte nicht, dass du 'ne Sicherung durchbrennen lässt oder dir einen Schlag einfängst.« Hunt kannte sich mit elektrischen Leitungen nicht gut genug aus, als dass er gewusst hätte, ob diese Gefahr tatsächlich bestand, aber er wollte es nicht aus erster Hand herausfinden, also bewegte er sich vom Lichtschalter weg. Beth war bereits aus dem Bett gestiegen und zog den Sessel ein Stück vor, sodass er nicht mehr unter der undichten Stelle stand. »Sieh mal im Wohnzimmer nach«, wies sie ihn an. »Nicht dass da auch noch was undicht ist.« Hunt machte sich auf den Weg, schaltete im Wohnzimmer eine der Stehlampen ein und fand auch hier zwei undichte Stellen an der Decke: Von beiden tropfte es gleichmäßig, einmal auf den Couchtisch, einmal auf die Couch. Beth kam ihm hinterher. »Wir müssen das schnellstens reparieren!«, rief sie, um das Krachen des Donners zu übertönen. »Sonst sind unsere ganzen Möbel hin!« »Das machen wir dann schon ...« »Jetzt sofort!« »Wir können doch jetzt niemanden hierherrufen!«, fauchte er sie an. »Es ist mitten in der Nacht! Wir müssen bis morgen früh warten.« Beth drängte sich an ihm vorbei. »Das weiß ich auch, du Blödmann! Aber wir müssen die Möbel verrücken und Schüsseln aufstellen. Wir können doch nicht einfach wieder ins Bett gehen und alles so lassen!« »Du hast gesagt, wir müssen es sofort reparieren!«, schimpfte Hunt. Beth schob den Couchtisch zur Seite. »Entschuldige, dass ich mich nicht so präzise ausgedrückt habe, wie ich es hätte tun sollen. Aber mir ging es mehr um meine Möbel, die hier kaputtgehen, als um die richtige Wortwahl.« Eine Sekunde lang warfen sie einander böse Blicke zu; dann eilten sie zu den beiden Seiten des Sofas und zogen es aus der Gefahrenzone. Gemeinsam eilten sie in die Küche und suchten nach Behältern, mit denen sie das tropfende Wasser auffangen konnten. Das war ihr erster Ehekrach gewesen, und Hunt sah an Beths Gesichtsausdruck, dass es ihr genau so leidtat wie ihm. Bevor sie sich hinkniete, um den Schrank nach Töpfen und Pfannen zu durchwühlen, nahm er sie rasch in den Arm. »Tut mir leid«, sagte er. »Mir auch.« Beth fand einen Schmortopf und eine Alupfanne, die eigentlich für Truthähne gedacht war. Hunt holte währenddessen unter der Küchenspüle den Plastikeimer hervor, den Beth immer benutzte, wenn sie den Boden wischte. Damit blieb aber noch eine undichte Stelle, für die sie noch keinen Auffangbehälter gefunden hatten, also eilte Hunt zurück ins Schlafzimmer, stellte den Eimer dorthin, wo vorher der Sessel gestanden hatte, und holte den Papierkorb aus dem Bad, den er auf seiner Seite des Bettes auf den Boden stellte. Im Wohnzimmer trafen sie wieder zusammen. In der Küche und im Badezimmer hielt das Dach, und auch im Flur sickerte nirgends Wasser durch. Die Waschküche, das Arbeitszimmer und die Gästetoilette waren ebenfalls trocken. Damit blieb nur noch ... Beth sprach es aus: »Was ist mit dem Gästezimmer?« »Wir sollten nachschauen«, sagte Hunt, auch wenn es das Letzte war, was er jetzt tun wollte. Draußen tobte immer noch das Gewitter, und der Flur kam Hunt mit einem Mal viel dunkler vor als gerade eben noch. Blitz und Donner vermochten jedes Haus wie ein Spukhaus aussehen zu lassen, und sie unterstrichen die ohnehin unheimliche Atmosphäre des Gästezimmers. Die Tür stand offen ... Hatten sie die nicht geschlossen? ... und schon von der Stelle aus, an der Hunt stand, konnte er erkennen, dass das Bett schon wieder zerwühlt war. Die Tagesdecke und das Laken lagen zusammengeknautscht am Fuße der Matratze, und so, wie beides dalag, wirkte es beängstigend, ja erschreckend. Irgendetwas stimmte da nicht. Laken und Decke lagen so, als wäre eine Gestalt darunter, die Hunt irgendwie bekannt vorkam, ohne dass er sie einordnen konnte. Es jagte ihm ein Schauder über den Rücken, und ihm stockte der Atem. Beths Hand schloss sich um die seine, und allein schon daran, wie ihre Muskeln sich verkrampften, spürte Hunt, dass Beth sich fürchtete. Ein Blitz zuckte auf. Hunt blieb stehen und wartete - und da begriff er, dass er grauenhafte Angst vor dem hatte, was er würde sehen müssen, wenn der Blitz den Spiegel über der Kommode erhellte. Der Blitz verlosch, der Donner rollte, und noch ehe der nächste Blitz aufzucken konnte, sprang Hunt in das Zimmer und stolperte durch die Dunkelheit, um zum Schreibtisch zu gelangen und die Lampe dort einzuschalten. Wieder zuckte ein Blitz auf, stand als gezackte Linie am Himmel - so grell, dass er sich durch die vorgezogenen Vorhänge abzeichnete. Hunt hatte den Blick schon in Richtung Kommode gedreht, und in dem Sekundenbruchteil, ehe die Lampe aufleuchtete, sah er im Spiegel genau das, was Beth ihm beschrieben hatte: einen stämmigen Mann mit schlechter Haltung, der einen altmodischen Hut mit breiter Krempe trug. Beth sah ihn ebenfalls und schrie so schrill auf, dass Hunt zurückzuckte und beinahe die Lampe vom Schreibtisch gerissen hätte. Dann wurde das Zimmer endlich von elektrischem Licht erhellt. Im Spiegel sahen sie nur noch die Möbel und sich selbst - und was immer es gewesen sein mochte, war jetzt verschwunden. Abrupt verstummte Beths Schrei. Sie blickte sich hastig um, als wollte sie ganz sichergehen, jetzt mit ihrem Mann allein zu sein, als wollte sie sich vergewissern, dass die Gestalt, die sie im Spiegel gesehen hatte, tatsächlich fort war. Mit weit aufgerissenen Augen schaute sie Hunt an. »Du hast es auch gesehen, oder? Im Spiegel?« Hunt nickte bloß. Auf seine Stimme wollte er sich im Augenblick nicht verlassen. »Ein Mann mit Hut.« »Ja.« Ein Blitz flackerte, Donner krachte. Lautstark prasselte der Regen gegen das Fenster. Durch Hunts Anwesenheit und den Schein der Lampe ermutigt, ging Beth zur Kommode und besah sich ausgiebig den Spiegel. Hunt nutzte derweil die Gelegenheit, die Decke zurechtzuziehen und den beängstigenden Eindruck zu beseitigen, es läge jemand darunter. Beide gingen in unterschiedlichen Richtungen durchs Zimmer. Eine undichte Stelle gab es nicht mehr, aber ... Aber da war immer noch irgendetwas. Ein Geräusch, dachte Hunt. Wie ein Pfeifen. »Hörst du das?«, fragte er. »War es das, was du gehört hast? Dieses Pfeifen?« »Ich höre nichts ...« Dann aber verriet Beths entsetzte Miene, dass sie das Geräusch wiedererkannte: »Ja! Nur war es beim letzten Mal lauter.« Wieder zuckte ein Blitz auf. Donner krachte. Und das Pfeifen war verstummt. Sie warteten, doch das Geräusch kehrte nicht zurück, und so durchsuchten sie weitere fünf Minuten lang das Zimmer, schauten in den Schrank, zogen sämtliche Schubladen der Kommode auf, sahen im Schreibtisch nach, blickten unter das Bett. Sie wollten nichts finden, sie hatten Angst, etwas zu finden, doch irgendwie schien das Absuchen des Zimmers ihm das Bedrohliche, Geheimnisvolle zu nehmen und schwächte die düstere Macht, die der Raum auf sie beide ausübte. Rasch machte Beth das Bett richtig; dann schalteten sie das Licht aus und schlossen die Tür, machten sich daran, das Wasser aufzuwischen und überprüften die Töpfe, Schüsseln und Eimer, dass diese nicht voll waren und womöglich überliefen. Entweder hatte der Regen nachgelassen, oder es war mit dem undichten Dach doch nicht so schlimm, wie sie zunächst gedacht hatten, denn jetzt tropfte es nur noch langsam und ungleichmäßig. Falls es bis zum Morgengrauen nicht deutlich schlimmer wurde, würden die Gefäße, die sie aufgestellt hatten, mit Leichtigkeit mit dem Problem fertig. »Vielleicht sollten wir wach bleiben«, schlug Beth vor. »Uns einen Film anschauen oder so was. Aufpassen, dass nicht noch woanders etwas durchsickert.« »Es ist drei Uhr nachts! Wenn wir nur drei Stunden schlafen, gehen wir morgen früh auf dem Zahnfleisch!« »Und wenn es wieder schlimmer durchs Dach regnet?« »Was willst du denn machen? Die ganze Nacht an die Decke starren? Dann wirst du schneller einschlafen als mit 'ner Tablette. Außerdem glaube ich, dass das Gewitter so ziemlich vorbei ist.« Er hatte recht. Der Regen hatte fast aufgehört, und das letzte Grollen des Donners erklang bereits aus weiter Ferne. »Ich weiß nicht ...« Beth gähnte. »Siehst du?«, sagte Hunt. »Gehen wir wieder ins Bett.« Doch er wälzte sich unruhig hin und her, wachte immer wieder auf, schlief vielleicht zwanzig Minuten am Stück. Und in dem einen Traum, an den er sich nach dem Aufstehen erinnerte, schaute ein großer Mann mit schlechter Haltung, der einen Hut trug, unter dessen Krempe sein Gesicht nicht zu erkennen war, auf die Uhr und sagte im Singsang der Südstaaten: »Halb Affenarsch, viertel vor Ho-den-sack.« 2. Normalerweise war Steve nicht leicht zu wecken, wenn er erst einmal schlief. Nina hingegen hatte einen leichten Schlaf, doch sie hatte schon vor langer Zeit die Erfahrung gemacht, dass es besser war, einfach wach im Bett zu liegen als Steve zu wecken. So viel zumindest hatte er ihr beigebracht. Doch irgendetwas hatte sich verändert. Entweder machte der Stress ihm langsam zu schaffen, oder dieses Gewitter war verdammt viel lauter als die meisten anderen, denn als der erste Donner grollte, schreckte Steve ruckartig aus dem Schlaf auf, und sein Herz hämmerte wie verrückt. Lautstark, fast wie Hagel, prasselte der Regen gegen das Fenster und ließ das Dach in einem gedämpften Tosen dröhnen. Der Anbau! Sofort setzte Steve sich auf. Wie immer war Nina neben ihm schon hellwach. »Warum hast du mich nicht geweckt?«, fragte er. »Ich ...«, setzte sie an, doch er wartete ihre einfältige Erklärung gar nicht erst ab. Laut fluchend schlug er seine Decke zurück, schlüpfte in Hose, Hemd und Schuhe, und dann lief er auch schon den Flur hinab. Am Abend, nachdem Steve mit der Arbeit fertig gewesen war, hatte er sein neues Zimmer mit Folie abgedeckt, genau so wie immer - doch er hatte sich nicht den Wetterbericht angehört, und so hatte er sich auch nicht die Mühe gemacht, die Folie festzuzurren oder den Anbau vor dem Gewitter zu schützen. Mittlerweile mochte die Folie sonst wohin geflogen sein, und Wind und Regen ruinierten jetzt wahrscheinlich schon den frischen Putz an der Westwand. Und in dieser Wand gab es auch freiliegende Stromleitungen. Das Wasser konnte reichlich Schaden anrichten. Vom Blitz ganz zu schweigen. Dieser Blitz hier blieb erstaunlich lange am Himmel, und der Donner kam fast gleichzeitig. Steve fluchte. Er war ein Trottel, ein Riesenidiot! Wenn jetzt etwas schiefging, war es seine eigene Schuld. Noch an diesem Tag, während des Mittagessens, war der Versicherungsvertreter wieder aufgetaucht und hatte ihm eine Hauseigentümer-Police angeboten, und Steve hatte ihn einfach abgewiesen. Das war wirklich dumm gewesen; kaum war der Vertreter gegangen, hatte Steve auch schon gewusst, dass er sich soeben ins eigene Fleisch geschnitten hatte. Er hatte keine nennenswerte Versicherung mehr, nur noch eine einfache Police von einem ziemlich zweifelhaften Anbieter, den er in den Gelben Seiten herausgesucht hatte, nachdem diese Mistkerle von der All-Homes-Versicherung ihn rausgeworfen hatten. Und die Police, die ihm dieser Versicherungsvertreter da angeboten hatte, die hatte wirklich seriös gewirkt. Doch die hartnäckige Beharrlichkeit des Mannes war aufdringlich gewesen, und Steve hätte ihn beinahe mit körperlicher Gewalt vom County-Grundstück vertrieben und ihm gesagt, er solle ihn endlich in Ruhe lassen - nur mit sehr viel unfreundlicheren Worten. Jetzt wünschte Steve sich, er hätte die Versicherung doch abgeschlossen, denn angeblich hätte diese Police auch den Anbau mit eingeschlossen - teilweise zumindest, denn es hatte Ausnahmebestimmungen und Vorbehalte gegeben, was mit ein Grund dafür gewesen war, dass Steve darauf verzichtet hatte. Mittlerweile hatte er das Ende des Flurs erreicht, schnell die Tür aufgeschlossen und geöffnet, und eine Sekunde lang sah er diese drei stämmigen Männer mit ihren Hüten: einer stand genau in der Mitte des Anbaus, einer auf dem Rasen, gleich neben der Platane, und einer kauerte tatsächlich im Baum, in der untersten Gabelung der Äste. Dann hatte der Donner gegrollt, ein Geräusch wie beim Start eines Space Shuttle, und der Baum brach in der Mitte auseinander. Dass es so unwahrscheinlich war, diese Männer hier zu sehen - vor allem dort, wo sie sich befanden -, wurde sofort von der panikartigen Erkenntnis überschwemmt, dass ein großer Teil des Baumes auf das Gerüst für seinen Hobbyraum stürzte und es zerschmettern würde. Blindlings lief Steve vorwärts, so verrückt es auch war; er dachte, er könne vielleicht das Dach, die Wand und das Gerüst noch retten, wenn es ihm gelang, die fallende Platane nur ein klein wenig abzulenken, doch in letzter Sekunde ließ der Selbsterhaltungstrieb ihn vor dem umstürzenden Baum flüchten und im Haus Schutz suchen. Der Blitz hatte den Baum gar nicht berührt, erkannte er nun. Der Teil des Baumes war abgebrochen, als der Donner am lautesten gegrollt hatte. Aber Donner kann einen Baum nicht umstürzen lassen. Das kann nur ein Blitz. Dann löste sich auch dieser Gedanke in nichts auf, als die schweren Äste durch das einzige Stück bereits fertig gestellten Daches krachten und Wasser und Laub, Sperrholz und dicke Holzbalken in den Hobbyraum rissen. Eine der Stützwände brach zusammen, riss die Verkabelung mit sich, und wenige Sekunden lang sprühten Funken, als vor Steves Augen die gesamte Verkabelung verschmorte. Ein geborstener, spitzer Zweig landete genau dort, wo er gerade eben noch gestanden hatte. Steve hielt sich am Türknauf fest, um nicht umzufallen. Monate der Arbeit waren binnen Sekunden zerstört. Wieder zuckte ein Blitz über den Himmel, und Steve kam auf die Idee, noch einmal nach den Männern mit den Hüten zu schauen. Doch sie waren nicht da - wenn sie es jemals gewesen waren. 3. Gleich am Morgen rief Hunt die Gesellschaft an, bei der Beth die Immobilienversicherung abgeschlossen hatte, doch es hatte sich bereits eine Warteschlage der Anrufer gebildet, und er musste vierzig Minuten warten, bis endlich ein Mensch aus Fleisch und Blut das Gespräch entgegennahm. Bis dahin hatte Hunt sich Songs von Whitney Houston, Mariah Carey und Celine Dion anhören müssen, immer wieder, nur unterbrochen von der Ansage: »Ihr Anruf ist uns wichtig! Danke, dass Sie warten!« Endlich aber meldete sich eine Mitarbeiterin des Kundendienstes mit den Worten: »Mein Name ist Carole. Würden Sie mir bitte Ihre Versicherungsnummer nennen?« Das tat Hunt, und nach einer kurzen Pause fragte Carole: »Wie kann ich Ihnen behilflich sein?« Hunt berichtete von dem undichten Hausdach und sagte, es müsse unbedingt jemand herkommen, sofort, und es reparieren, bevor das nächste Unwetter aufzog. »In Ihrer Wohngegend gibt es mehrere Eigenheimbesitzer, die alle ein ganz ähnliches Problem haben und heute Morgen schon Ansprüche anmelden mussten«, sagte Carole. »Und ich bin mir sicher, dass es noch weitere Personen gibt, die bei anderen Versicherungsträgern sind und ebenso Hilfe benötigen. Es kann daher eine gewisse Zeit dauern, bis wir in der Lage sein werden, jemanden herauszuschicken, der den Schaden begutachtet. In Ihrer Wohngegend haben wir nur eine begrenzte Anzahl qualifizierter Fachkräfte, mit denen wir zusammenarbeiten.« »Ich verstehe«, erklärte Hunt und versuchte sich ein wenig bei der Frau einzuschmeicheln; doch es passte ihm gar nicht, dass er sich dazu gezwungen zu fühlen glaubte. Als wäre er eben erst auf diese Idee gekommen, fügte er hinzu: »Sie sortieren die Anträge nicht zufälligerweise nach Dringlichkeit, oder? Oder nach der Schwere des Schadens? Denn unser Dach scheint ziemlich in Mitleidenschaft gezogen zu sein. Wir reden hier nicht nur von einer kleinen undichten Stelle. Wir haben überall mehrere ernste Schäden. Ich mache mir Sorgen, das Dach könnte so sehr beschädigt sein, dass eine echte Gefahr für Leib und Leben besteht.« »Ich werde es notieren, Sir, und ich verspreche Ihnen, dass wir jemanden schicken, sobald wir können.« An dem Tag kam niemand, und es rief auch niemand an; am nächsten Tag war es nicht anders. Am dritten Tag, einem Mittwoch, arbeitete Hunt gerade in Flowing Well und zersägte einen Baum, der während des Sturms auf den Gehweg gestürzt war, als er einen Anruf erhielt: Innerhalb der nächsten Stunde werde jemand kommen, um sich das Haus anzusehen. »Wir sind hier fast fertig«, erklärte Edward ihm. »Fahr ruhig schon! Ich übernehme deine Arbeit.« Er grinste. »Und sollte ich zufälligerweise am ersten Tag der Jagdsaison nicht zur Arbeit erscheinen, kannst du dich ja revanchieren.« Hunt lachte. »Abgemacht.« Der Mann, der zu ihm kam, um das Dach zu begutachten, wirkte mürrisch und bärbeißig. Ursprünglich hatte Hunt möglichst schnell eine vertrauliche Basis zu diesem Mann aufbauen wollen und locker mit ihm zu plaudern versucht, um so vielleicht ein bisschen auf der Warteliste aufsteigen zu können, aber irgendwie kamen die beiden nicht sonderlich miteinander klar. Hunt war Baumbeschneider, und der Mann war Dachdecker; sie beide verrichteten an der frischen Luft körperliche Arbeit, doch als es dann im Gespräch hart auf hart kam, war Hunt eben doch nur ein heruntergekommener Computerspezialist, ein Bürohengst, der nur so tat, als wäre er ein echter Arbeiter, und der Unterschied zwischen ihnen beiden war unverkennbar und nicht zu überbrücken. Der Mann hieß Gary Donnell, und seine Firma war die Donnell Roofing. Hunt hatte das Gefühl, Gary sei der Besitzer und zugleich der einzige Angestellte. Pflichtschuldigst führte er den Dachdecker durch das Haus und gab vor zu wissen, was der Mann tat, als er die jetzt wieder getrockneten Flecken an der Decke begutachtete, dann mit einer Taschenlampe in den Hohlraum des Dachbodens leuchtete und die Oberseite des Flachdaches im Santa-Fe-Stil untersuchte. Donnell redete nicht viel, und als Hunt versuchte, ein Gespräch mit ihm anzufangen, erhielt er nur brummige, einsilbige Antworten. Endlich war die Untersuchung beendet. »Sie brauchen ein ganz neues Dach«, sagte Donnell und formulierte einen Kostenvoranschlag. »Genau das werde ich empfehlen, aber ich weiß nicht, ob Ihre Versicherung da mitspielen wird. Also werden die sich wieder an Sie wenden, und Sie wenden sich dann wieder an mich.« »Was glauben Sie, wie lange es dauern wird, bis alles repariert ist?« Desinteressiert zuckte der Dachdecker mit den Schultern. »Keine Ahnung.« »Was würden Sie schätzen?« »So was mache ich nicht.« Donnell riss den Durchschlag seines Kostenvoranschlags vom Klemmbrett und reichte ihn Hunt. »Hier. Ich werde eine Kopie an Ihre Versicherung faxen.« Man hatte Hunt gesagt, jemand von der Versicherung werde sich bei ihm melden, doch als ein Tag vergangen und immer noch nichts passiert war, rief Hunt selbst dort an. Die ganze Mittagspause verbrachte er am Telefon, nur um letztendlich zu erfahren, dass eine Entscheidung noch nicht gefällt worden sei. Ja, der Dachdecker habe ihnen den Kostenvoranschlag gefaxt, und ja, der Fall werde an einen Sachbearbeiter weitergeleitet, aber derzeit gäbe es zu viele Ansprüche, die allesamt abgearbeitet werden mussten. Man werde sich bei ihm melden, sobald es ging. Am nächsten Tag rief Hunt wieder an. Dann war Wochenende, und als er am Samstag versuchte, die Versicherung zu erreichen, informierte eine Aufzeichnung ihn, die Büros seien nicht besetzt. Im Falle eines Notfalls könne er nach dem Pfeifton eine Nachricht hinterlassen; man werde sich bei ihm melden. Hunt hinterließ eine Nachricht. Niemand meldete sich bei ihm. Endlich, am Montag, rief eine Mitarbeiterin der Versicherung an, um ihm mitzuteilen, dass sein Antrag auf ein neues Dach abschlägig beschieden worden sei. Die Versicherung war bereit, die Reparatur der undichten Stellen zu bezahlen, mehr aber nicht. »Das wird beim nächsten Regen sofort wieder undicht«, erklärte Hunt der Frau. »Das ganze Dach ist wie ein Sieb. Es wäre viel sinnvoller und auch viel kostengünstiger, das Ganze jetzt zu machen, als abzuwarten, bis es wieder passiert.« »Es tut mir leid, Sir. Wir bezahlen lediglich einen tatsächlich erlittenen Schaden und keine Reparaturen für Schäden, die noch nicht eingetreten sind.« »So etwas nennt man ›vorbeugende Instandhaltung‹.« »Wie ich bereits sagte, wir kümmern uns um Schäden, die bereits eingetreten sind. Die Instandhaltung Ihres Hauses obliegt Ihnen. Wir werden Ihnen diese Arbeit nicht abnehmen.« Bevor Hunt etwas entgegnen konnte, fuhr sie fort: »Wir werden den betreffenden Dachdeckerbetrieb kontaktieren und erklären, dass Sie einverstanden sind, und dann wird man sich um die Reparatur der Schäden an Ihrem Haus kümmern, sobald es möglich ist. Danke, dass Sie sich für AHI entschieden haben.« Dann war die Leitung tot. Hunt war fuchsteufelswild und ernstlich versucht, erneut anzurufen, mit dem Abteilungsleiter dieser Frau zu sprechen und eine Beschwerde vorzubringen, doch unter den gegebenen Umständen hielt er es für besser, damit zu warten, bis alle Reparaturen abgeschlossen und sämtliche Rechnungen bezahlt wären. Nur für alle Fälle. Glücklicherweise regnete es in den nächsten zwei Wochen nicht, denn genau so lange brauchte Gary Donnell, um wieder aufzutauchen. Wie Hunt schon vermutet hatte, war Donnell Roofing ein Ein-Mann-Betrieb, und der Dachdecker brauchte zwei Tage, um eine Arbeit abzuschließen, die eigentlich nur wenige Stunden hätten dauern dürfen. Als er fertig war, hinterließ er draußen ein gewaltiges Durcheinander: Im Vorgarten lagen Nägel, in Beths Garten abgerissene Streifen Teerpappe, und die Veranda und der Eingang hatten zahllose schwarze Flecken abbekommen. An diesem Abend kamen Joel, Stacy und Lilly zum Essen, und ehe die Sonne untergegangen war, führte Hunt Joel auf das Dach, damit der sich alles anschauen konnte. Selbst für den ungeübten Hunt sah die Arbeit amateurhaft aus. Über jede undichte Stelle des Daches war lediglich ein Stück Teerpappe geklebt und mit unsauber verschmiertem Teer befestigt worden. Joel beugte sich hinunter und begutachtete den ersten Flicken. »Meinst du wirklich, das wird halten?« »Ich hoffe es zumindest.« »Noch zweimal Regen, dann wird das wieder undicht sein, würde ich sagen.« »Na, danke auch.« »Hat der Dachdecker das überhaupt schon überprüft? Oder du selbst? Hast du mal mit dem Gartenschlauch draufgehalten oder so was?« »Um ehrlich zu sein«, gab Hunt zu, »hatte ich Angst davor. Ich weiß, dass der Kerl gepfuscht hat, aber das ist alles, was ich bekommen habe, und ich möchte es nicht unnötig strapazieren. Ich will, dass es so lange hält wie irgend möglich.« »Vier Grück«, rief Joel einen nachgeahmten Sprachfehler, mit dem er sich wirklich so anhörte, als wäre er geradewegs den »Jetsons« entsprungen. »Scooby-Doo!«, rief Hunt und deutete mit jener völlig übertriebenen Gestik auf seinen Freund, die sie als Kinder immer benutzt hatten. »Nahe dran, aber nicht ganz. Astro.« »Aber dass es ein Hund war, wusste ich.« »Gehen wir ins Haus, dann wird getrunken.« »Klingt nach 'nem guten Plan!« Nach dem Essen, während die Frauen und Lilly in der Küche waren und sich unterhielten - oder den Abwasch machten, den Nachtisch vorbereiteten oder was immer sie dort taten -, setzten Hunt und Joel sich auf die Veranda, schauten zu den Sternen hinauf und suchten nach der Raumstation, die - so hatten es zumindest die Nachrichten behauptet - gerade im Augenblick über den Südstaaten zu sehen sein müsse. Und wieder einmal, wie so oft in den letzten Tagen, kam das Gespräch auf Versicherungen. Joel beugte sich vor, hob ein dreieckiges Stückchen Dachpappe vom Betonboden der Veranda auf und schleuderte es auf den Hinterhof. »Hattest du das mitgekriegt, vor ein paar Jahren, als entweder Wal-Mart oder The Store Lebensversicherungen auf ihre Angestellten abgeschlossen haben? Immer, wenn ein Angestellter gestorben ist, hat die Firma das Sterbegeld eingesackt.« »Du verarschst mich!« »So wahr ich hier sitze, es ist die Wahrheit.« »Das ist ja wie Sklaverei.« Joel nickte. »Muss so zu der Zeit gewesen sein, als Tennessee Ernie Ford gestorben ist.« Die Vorstellung jagte Hunt einen kalten Schauer über den Rücken. Dass jemand für einen anderen eine Lebensversicherung abschließen sollte, ohne dass dieser andere etwas davon wusste, war beleidigend und entsetzlich zugleich. Nicht nur, dass es moralisch schlichtweg abscheulich war, es war auch eine unverschämte Verletzung der Privatsphäre. Was würde als Nächstes kommen? Leute, die Versicherungen für ahnungslose Obdachlose abschlossen? Firmen, die Wetten darauf abschlossen, welcher bekannte Verbrecher ins Gras beißen würde, und dafür gute Gewinne zahlten? »Wie ich schon sagte, es ist ja schon ein paar Jahre her, und Wal-Mart oder The Store, oder wer immer das gemacht hatte, hat deshalb mächtig Ärger bekommen. Aber die Versicherung, die die Policen erstellt hat, wurde natürlich nicht belangt. Ich vermute, die Begründung dafür muss gewesen sein, die Todesopfer als ›unwissende Beteiligte‹ zu betrachten. Aber weißt du, was ich letztlich gelesen habe? Dass irgendeine Versicherung - es kann sogar gut genau dieselbe gewesen sein - brutalen Gangstern Lebensversicherungen angeboten hat, die im Fall des Unfalltodes ausbezahlt würden. Wir reden hier von Leuten, die keine andere Versicherungsgesellschaft jemals angenommen hätte! Aber dieses Unternehmen hat es denen ermöglicht, eine Lebensversicherung abzuschließen, sodass ihre Ehefrauen noch Geld einsacken konnten, wenn die Kerle ins Gras gebissen hatten. Der Haken dabei war jedoch, dass die Begünstigten nur die Hälfte des Geldes bekommen haben. Die andere Hälfte ging gleich wieder zurück an die Versicherung selbst. Auf diese Weise haben die nicht nur die Beiträge bekommen, sondern konnten wenigstens die Hälfte behalten, wenn sie schon zahlen mussten. Ich glaube, irgendwann ist denen so etwas von höchster Stelle, wahrscheinlich vom Justizministerium, offiziell untersagt worden, aber an die genauen Einzelheiten kann ich mich nicht erinnern.« Versicherungsgesellschaften, die Mörder zu einer Kunden-Zielgruppe machten? Hunt dachte an berechtigte Ansprüche, wie seine eigenen, die dann abgewiesen wurden, um solche ausgefuchsten Betrügereien zu finanzieren, bei denen es nur darum ging, den Profit der Versicherung zu maximieren! Zorn loderte in ihm auf. Joel musste das Gleiche gedacht haben. »Wir sollten denen den Laden anstecken! Dann können sie die Versicherungsansprüche für ihren eigenen Kram geltend machen ... für Autos, Gebäude, was weiß ich ...« »Nachtisch ist fertig«, rief Beth aus dem Esszimmerfenster. »Kommt wieder rein!« Hunt und Joel wuchteten sich aus den Stühlen und machten sich auf den Weg in die Küche, holten dort ihre Kaffeetassen und die Teller mit dem Kuchen ab und gingen damit ins Wohnzimmer. Ihre Ehefrauen gesellten sich bald zu ihnen, doch Lilly blieb in der Küche, aß den Kuchen in der Essecke und schaute Iron Chef auf Beths Küchenfernseher. Hunt schaltete den Fernseher im Wohnzimmer ein und zappte auf eine Satelliten-Radiostation, die gerade ruhigen Jazz brachte. Beth deutete in Richtung Küche. »Lilly ist wundervoll«, sagte sie. »So ein liebes Kind.« Hunt nickte beipflichtend. »Jou.« »Und? Wollt ihr beide auch Kinder?«, fragte Stacy. Sie schaute ihn an, dann zu Beth hinüber, und dann wieder zu ihm - und Hunt bemerkte, dass er auf diese Frage keine Antwort wusste. Natürlich hatte er schon darüber nachgedacht, aber nicht eingehend genug, um eine Meinung parat zu haben. Und mit Beth hatte er über das Thema noch nie gesprochen. Langfristig würden sie wohl gerne ein Kind haben, aber jetzt bestimmt noch nicht, nicht in nächster Zukunft, ehe sie nicht genug Zeit füreinander gehabt hatten, ganz alleine. Beth fand eine geschickte Lösung für das Problem. »Im Moment denken wir noch nicht daran. Vielleicht irgendwann mal, aber nicht jetzt.« Sie drückte Hunts Oberschenkel, und er war froh, wieder einmal feststellen zu können, dass sie wirklich auf einer Wellenlänge lagen. Genau anders herum war es bei Eileen und ihm gewesen. Selbst wenn sie beide gerade gut miteinander ausgekommen waren, hatten sie doch nur sehr selten ähnlich gedacht. Gegen seinen Willen dachte Hunt in letzter Zeit immer häufiger an seine Exfrau. Es lag daran, vermutete er, dass er Eileen kürzlich an der Bushaltestelle gesehen hatte. Er wusste immer noch nicht, warum sie nach Tucson zurückgekehrt war, und manchmal fragte er sich, was sie wohl gerade tat, wohin sie ging, und ob sie mit jemandem zusammen war. Eigentlich war es ihm egal, und er hatte nicht das Bedürfnis, Eileen jemals wiederzusehen, doch er erzählte Beth dennoch nichts davon, und deswegen fühlte er sich ein wenig schuldig. Ihm wurde klar, dass ihre Beziehung noch in den Kinderschuhen steckte - auch wenn er Beth jetzt seit mehr als einem Jahr kannte, sie fast genauso lange zusammen wohnten und mittlerweile verheiratet waren. Es gab noch viele Dinge, die sie nicht vom anderen wussten. Zum Beispiel, ob sie Kinder wollten. Von der anderen Seite des Couchtisches grinste Joel sie an. »Eine kluge Entscheidung«, sagte er. »Habt erst mal ordentlich Spaß. Die Kinder kommen später. Weil später euer Sexualleben ... na ja, drücken wir es mal gnädig aus: Es wird nie wieder das Gleiche sein.« Stacy versetzte ihm einen Rippenstoß. »Aua!« »Das hast du verdient!« »Das hab ich gehört«, krähte Lilly aus der Küche herüber. »Nicht die Kinder verderben!« Alle lachten. Kurz nach neun Uhr machten die McCains sich wieder auf den Weg. Lilly, die auf dem Sofa eingeschlafen war, mussten sie wecken und fast zum Auto tragen. Hinter ihnen schloss Hunt die Tür ab; dann gingen Beth und er in die Küche und kümmerten sich um den Abwasch. Beth stellte die Reste vom Kuchen in den Kühlschrank, und Hunt spülte die Teller vor und sortierte sie gerade in die Spülmaschine, als Courtney in die Küche gesaust kam und sich mit einem immensen Katzenbuckel auf die Arbeitsplatte kauerte. Eine Sekunde später war aus dem Gästezimmer ein heftiges Knallen zu hören: ein lautes Schnalzen, fast, als würde eine Peitsche geschwungen. Hunt hörte es, Beth hörte es, doch keiner von ihnen sagte ein Wort, und keiner blickte den anderen an. Stattdessen taten sie beide so, als wäre nichts geschehen. Wenn wir jemals ein Kind haben, dachte Hunt, und wir dann immer noch hier wohnen, wird dieses Gästezimmer als Kinderzimmer dienen müssen. Er verdrängte den Gedanken sofort. Noch einmal war das laute Knallen zu hören, dann herrschte Stille im Zimmer. Wieder öffnete Hunt die Spülmaschine und räumte die Gläser ein, die Beth vorgespült hatte. Während er eine Salatschüssel entgegennahm, die Beth ihm reichte, schaute er aus dem Küchenfenster, doch er sah nur sein eigenes Spiegelbild vor der undurchdringlichen Schwärze der Nacht. Sein Spiegelbild wirkte halb durchscheinend, fast wie ein Geist, und Hunt wandte den Blick ab. Was er dort sah, gefiel ihm nicht. »Das war ein schöner Abend«, sagte Beth und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Fand ich auch.« Eileen hatte ihn nie so spontan geküsst, nachdem sie geheiratet hatten, nur in der Zeit davor, auf dem College, ging es Hunt durch den Kopf. Alles war jetzt anders. Und er war viel glücklicher. Er war glücklicher, aber war er glücklich? Ja, beantwortete er die Frage selbst. Alles in allem war er glücklich. 4. Jorge saß auf dem Sofa, schaute die Post durch und trank einen von Ynez' Obst-und-Gemüse-Säften. Diesmal war es Orange-Mango-Karotte. Er hätte ihr niemals diese Saftpresse zu Weihnachten schenken dürfen! Auf dem Couchtisch vor ihm lag ein Roman von Carlos Fuentes, den er immer noch nicht gelesen hatte; die ganze letzte Woche hatte er sich daran versucht. Normalerweise schaffte er ein Fuentes-Buch innerhalb weniger Tage, verbrachte jede freie Minute damit, die herrliche Sprache aufzusaugen, sich in erfrischenden politischen Ansichten zu aalen, doch in letzter Zeit hatte Jorge ernstlich Schwierigkeiten, sich auf etwas zu konzentrieren, was über die Tageszeitung hinausging. Ständig war er müde und geistig träge, und so landete er letztendlich immer wieder vor dem Fernseher, schaltete zwischen den Sendern hin und her und schaute stundenlang Wiederholungen von Law & Order. Das muss der Stress unmittelbar bevorstehender Vaterschaft sein, vermutete er. Er ordnete die Briefumschläge in zwei Stapeln: die Post für ihn und die für Ynez. Ihre erhielt hauptsächlich Werbung von Einrichtern für Schlaf- und Badezimmer, Kataloge mit Hochpreis-Artikeln, die sie sich niemals würden leisten können, und Bettelbriefe verschiedener Umweltaktivistengruppen, die anscheinend ganze Wälder abholzten, um genügend Geld zusammenzubringen, dass sie ein paar Bäume retten konnten. Er selbst bekam vor allem Rechnungen. Eine war von den Gaswerken, eine vom Kabelanbieter, eine von den Elektrizitätswerken, eine von Visa, eine von Sears, eine von ... Dr. Bergman? Mit gerunzelter Stirn riss Jorge den Umschlag auf. Er überflog die Rechnung; dann sprang er zornig vom Sofa auf, stapfte mit großen Schritten in die Küche und wedelte mit dem Schreiben. »Ich glaub's einfach nicht!«, sagte er. Ynez, die gerade die Einzelteile der Saftpresse in der Spüle reinigte, hob den Kopf. »Was glaubst du einfach nicht?« »Die sagen, wir müssten fünfhundertachtundachtzig Dollar für deine Fruchtwasseruntersuchung zahlen!« »Was?« Sie ließ den Filter Filter sein, trocknete sich die Hände an einem Spültuch ab, nahm Jorge die Rechnung aus der Hand und las sie. »Aber das übernimmt doch die Versicherung!« »Ich weiß.« »Wir haben keine fünfhundertachtundachtzig Dollar.« »Mach dir keine Sorgen«, beruhigte er sie. »Das regle ich schon.« Doch zwanzig Minuten später, während er immer noch in der Warteschleife hing und sein Arm langsam vor Reglosigkeit taub und sein Ohr, an das er die ganze Zeit den Hörer presste, immer roter und heißer wurde, dachte Jorge an Hunts donquichottische Angriffe auf die Windmühlen der Versicherungsgesellschaften; ihn überkam das Gefühl, sämtliche Versuche, gegen das Unrecht anzukämpfen, das ihm hier widerfuhr, seien von vornherein zum Scheitern verurteilt, und mehr und mehr hatte er die drückende Vorahnung, sie würden Ynez' Untersuchung aus eigener Tasche bezahlen müssen. Und tatsächlich, nach einer langen und hitzigen Diskussion mit der Hohlfritte, die das Gespräch entgegennahm, und einer ebenso langen und hitzigen Diskussion mit deren Abteilungsleiter, musste Jorge sich seine Niederlage eingestehen. Anscheinend gab es in ihrer Krankenversicherung eine Ausschlussklausel, die besagte, die Versicherung bezahle eine Fruchtwasseruntersuchung nur, wenn die werdende Mutter älter als vierzig Jahre war. Ynez war achtunddreißig. »Die Ärztin hat gesagt, meine Frau würde aufgrund ihres Alters zur Risikogruppe gehören«, versuchte er zu erklären. »Die Fruchtwasseruntersuchung ist bei allen Frauen über fünfunddreißig angeraten.« »Angeraten, aber nicht verpflichtend«, entgegnete der Abteilungsleiter. »Lesen Sie noch einmal Ihren Versicherungsschein. Die Wortwahl ist sehr spezifisch und absolut eindeutig.« »Ich glaub das einfach nicht!« »Wir werden sämtliche Checkups und Routineuntersuchungen bezahlen. Abzüglich Ihres Selbstbehalts, natürlich. Lediglich freiwillige und selbst gewählte Untersuchungen sind nicht im Leistungsumfang Ihrer Versicherung inbegriffen.« »Das war nicht freiwillig«, beharrte Jorge. »Die Ärztin hatte die Untersuchung angeordnet. Sie können Sie gerne fragen. Ich kann Ihnen auch eine eigenhändig unterschriebene Erklärung von ihr zukommen lassen.« »Es tut mir leid.« »Was ist mit der Geburt? Muss ich die auch aus eigener Tasche bezahlen?« »Nein, Mr. Marquez. Die Geburt gehört vollständig zum Leistungsumfang.« Gewinnen konnte er nicht mehr, und er wusste auch nicht, an wen er sich noch hätte wenden können. Nachdem er aufgelegt hatte, rief er Beth an, doch Hunt und Beth mussten ausgegangen sein, denn nach dem sechsten Klingeln meldete sich der Anrufbeantworter. Jorge stand nicht der Sinn danach, jetzt irgendetwas auf das Band zu sprechen, also ließ er den Hörer auf die Gabel fallen und nahm sich vor, es später noch einmal zu versuchen. »Und was heißt das jetzt?«, fragte Ynez. »Müssen wir das bezahlen?« »So sieht's aus.« »Aber das sind fast sechshundert Dollar. Die haben wir einfach nicht.« Jorge schüttelte den Kopf, enttäuscht und entmutigt. »Ich fürchte, wir haben keine andere Wahl.« ZEHN 1. Hunt war gerade nach Hause gekommen und im Badezimmer verschwunden, als es an der Tür klingelte. »Ich geh schon!«, rief Beth aus der Küche. Doch Hunt war schon aus dem Bad ins Wohnzimmer gekommen, und so erreichten sie die Tür gleichzeitig. Erneut klingelte es, und Hunt öffnete. Dort stand er im Türrahmen - ein Mann mit Hut, vor der untergehenden Sonne nur als Silhouette zu erkennen. Einen Sekundenbruchteil lang zog Hunt in Erwägung, die Tür einfach wieder zuzuknallen, abzuschließen und sich in irgendeinen sicheren Raum irgendwo im Innern des Hauses zurückzuziehen. Es war eine rein instinktive Reaktion, hervorgerufen durch diese Silhouette, diesen Mann, den Hunt zwar schon kannte, aber nicht einzuordnen wusste. Dann trat der Mann einen Schritt vor. Er war ein ganz normaler Mann. Nichts Besonderes, nichts Erschreckendes. Hunts Impuls zu fliehen verflog so schnell, wie er gekommen war, und er musterte den Besucher: ein Bursche normaler Körpergröße, normaler Körperfülle und einem recht freundlichen Gesichtsausdruck. Er trug einen altmodischen Hut, die Art, wie Privatdetektive sie in den alten Filmen trugen -, der zwar ein wenig ungewöhnlich wirkte, aber nicht sonderlich bedrohlich. Unter dem Arm trug der Mann einen schmalen Aktenkoffer aus Leder. »Ja?«, fragte Hunt. »Hallo«, sagte der Mann. »Ich bin Ihr neuer Versicherungsvertreter. Ich bin wegen Ihrer neuen Versicherung hier.« »Neue Versicherung ...?« Hunt legte die Stirn in Falten und schaute kurz zu Beth hinüber, die verständnislos den Kopf schüttelte. »Wir haben keine neue Versicherung.« »Das wird sich ändern, wenn Sie sich angehört haben, was ich Ihnen zu sagen habe. Darf ich hereinkommen?« Jetzt setzte Hunt an, die Tür zu schließen. »Es tut mir leid«, sagte er. »Wir haben kein Interesse.« »Das wird sich ändern. Darf ich hereinkommen?« »Das ist jetzt kein guter Zeitpunkt. Wir wollten gerade essen ...« »Es dauert nur eine Minute.« Der Kerl war aufdringlich. Das gehört zu den Jobanforderungen, vermutete Hunt, aber da war auch noch etwas anderes. Es wirkte dringlich. Eine echte Notwendigkeit. Ein Bedürfnis. »Mit Ihrer derzeitigen Autoversicherung sind Sie nicht zufrieden, nicht wahr? Und mit Ihrer Krankenversicherung, oder der Immobilienversicherung? Lebensversicherung und Zahnfürsorge? Lassen Sie mich herein, und wir können darüber sprechen.« »Hören Sie ...«, versuchte Hunt es erneut. »Kommen Sie herein.« Erstaunt schaute Hunt seine Frau an. Gerade eben hatte er den Kerl mit äußerst eindeutigen Worten abwimmeln wollen - eher »abbügeln«, denn Burschen wie der verstanden Andeutungen und dezente Hinweise ja nie -, und Beths Entscheidung, ihn nicht nur anzuhören, sondern sogar hereinzubitten, kam völlig überraschend. Sie erwiderte seinen Blick, und ihrer Miene war anzusehen, das sie mindestens ebenso erstaunt über das war, was sie da gerade gesagt hatte, wie Hunt. Er musste einen Schritt zur Seite machen, als der Mann sich an ihm vorbeidrängte, und nur eine Sekunde lang spürte er einen kalten Windhauch im Gesicht. Vampire müssen ausdrücklich in das Haus ihrer Opfer hereingebeten werden, dachte Hunt, und auch wenn er nicht genau wusste, was ihn auf diesen Gedanken gebracht hatte, erschien er ihm doch äußerst passend. Sobald der Mann erst einmal das Haus betreten hatte, wurde er ganz sachlich. Er ging geradewegs auf das Sofa im Wohnzimmer zu, setzte sich, nahm den Hut ab und öffnete auf dem Couchtisch seinen Aktenkoffer. Dann nahm er einen Aktenordner aus Manilapapier heraus, auf dessen Vorderseite »Hunt und Beth Jackson« aufgedruckt war. Hunt wusste nicht, woher der Vertreter ihre Namen hatte, aber allein schon die Tatsache, dass er sie hatte, verärgerte ihn. Es war nicht nur unverschämt, es kam Hunt wie eine offenkundige Verletzung seiner Privatsphäre vor, und die Vorstellung, ihre Kapitulation sei bereits beschlossene Sache, brachte ihn dazu, sich selbst Stein und Bein zu schwören, bei diesem Mann keinesfalls eine Versicherung abzuschließen. Der Vertreter zog einen Stift aus der Tasche und ließ ihn klicken. »Sie sind nur zu zweit, nicht wahr? Keine Kinder in der absehbaren Zukunft? Sagen wir, innerhalb des nächsten Jahres?« Neugierig schaute er sie an. »Äh ... nein«, antwortete Beth. »Ausgezeichnet, ausgezeichnet.« Hastig machte er sich auf einem Blatt Schmierpapier Notizen; dann füllte er ein paar Zeilen auf einem eng bedruckten Formular aus. Über seinen Kopf hinweg, den er über das Blatt gebeugt hatte, schauten Hunt und Beth einander an. Beide wirkten zutiefst verwirrt. »Also, Sie sind beide in Tucson geboren, und für Sie beide gelten keine gesonderten Vertragsbedingungen ...« Er sprach mit sich selbst, stellte keine Fragen und erwartete auch keine Bestätigung, und wieder fragte Hunt sich, wie und woher er diese Informationen hatte. »Sie: Hauseigentümerin, zwei Forderungen ... Er: Mieter, eine Forderung ...« Der Vertreter kritzelte wieder Notizen auf das Schmierblatt und füllte dann weiter das Formular aus. »Letzter Freund: Tad ... Exfrau Eileen ...« »He!«, warf Hunt ein. Abwehrend hob der Mann die Hand. »Ich bin fast fertig.« »Was mich betrifft, sind Sie bereits fertig. Jetzt. Ich habe keinerlei Interesse daran, bei Ihnen eine Versicherung abzuschließen!« »Mr. Jackson, Mr. Jackson ... Wir können jedes Angebot unserer Konkurrenten unterbieten, sodass Sie alleine schon bei der Immobilienversicherung bis zu fünfzig Prozent sparen. Ich denke, es würde sich lohnen, mich anzuhören.« »Wir sind nicht interessiert«, erklärte Hunt erneut. »Ich schon«, widersprach Beth, und dieses Mal klang sie weder überrascht noch verwirrt, sondern selbstsicher. »Es kann ja nicht schaden, sich das anzuhören.« »Ganz genau«, bestätigte der Versicherungsvertreter. Hunt versuchte, an Beths gesunden Menschenverstand zu appellieren. »Das ist ein Direktvertreter! Wir wissen doch überhaupt nichts über den Mann oder über die Firma, die er vertritt!« Der Vertreter schaute Hunt mit äußerster Ernsthaftigkeit an. »Lassen Sie mich Ihnen versichern, Mr. Jackson, dass wir seit sehr viel längerer Zeit als alle unsere Konkurrenten unsere Kunden zu deren vollster Zufriedenheit versichert haben, und wir genießen einen hervorragenden Ruf, was Qualität, Fairness, Zuverlässigkeit und Verantwortlichkeit betrifft. Wie ich schon sagte, sind unsere Kunden äußerst zufrieden, und unser Unternehmen zählt zu den besten seiner Branche, wie einschlägige Testzeitschriften immer wieder attestieren. Wir nehmen unsere Aufgaben sehr ernst, und wir sind sehr gut dabei.« Die Stimme des Versicherungsvertreters hatte jetzt etwas geradezu Messianisches. »Für eine Versicherung tätig zu sein ist ...« Er atmete tief durch. »Eine höhere Berufung.« Hunt warf Beth einen Blick zu, der besagte: Ich hab's dir ja gesagt, doch sie weigerte sich, ihm in die Augen zu schauen. »Das ist wirklich so. Versicherungen sind die Grundfeste von allem. Was glauben Sie denn, was eine Eheschließung ist? Eine Versicherung gegen die Einsamkeit ... eine Versicherung, dass die Liebe halten wird. Und Religion? Das ist die Versicherung für das Leben nach dem Tode, die Versicherung des Überlebens der Seele. Die Wahrheit ist, dass das ganze Universum chaotisch ist. Das Leben und alles, was dazugehört, ist vergänglich, und die einzige Möglichkeit, wie wir das ertragen können, wie wir unser Leben führen und unsere Arbeit tun und Tausende bedeutungsloser Aufgaben erfüllen können, die diese Welt funktionieren lassen, besteht darin, die Versicherung zu haben, dass alles auch so bleibt wie es ist. Wir brauchen eine stabile, garantierte Ordnung, die in diese ungeordnete und vergängliche Existenz gebracht wird.« Er vollführte eine ausladende Geste. »Und genau das ist der Sinn von Versicherungen.« Weder Hunt noch Beth wussten, was sie darauf erwidern sollten, und der Vertreter ließ ihnen auch keine Zeit, irgendetwas zu sagen. »Ich habe hier ein großartiges Angebot. Derzeit zahlen Sie achthundert Dollar im Jahr für Ihre Immobilienversicherung. Auf den Monat umgerechnet sind das sechsundsechzig Komma sechsundsechzig. Wir können Ihnen eine bessere Deckungssumme mit einem geringeren Selbstbehalt für nur fünfzig Dollar im Monat anbieten. Und ich kann Ihnen garantieren - wäre Ihr Dach während unserer Zuständigkeit undicht geworden, wäre sofort das gesamte Dach ausgetauscht worden, ohne dass Sie mehr hätten zahlen müssen als Ihren Selbstbehalt von einhundert Dollar.« Woher weiß der Bursche, wie viel wir für die Versicherung zahlen, fragte sich Hunt. Und woher weiß er das mit unserem Dach? Doch Beth nickte bereits zustimmend. »Haben Sie Informationsmaterial über die Police? Eine Broschüre oder so etwas? Wir würden uns gerne ein bisschen näher damit befassen.« »Aber selbstverständlich.« Der Vertreter zog eine Broschüre aus seinem Aktenkoffer und reichte sie ihnen. »Hier ist eine Beschreibung unseres Deckungskonzepts. Lesen Sie sich das durch, nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen. Sollten Sie irgendwelche Fragen haben, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.« Er lehnte sich auf dem Sofa zurück und überflog das Formular, das er ausgefüllt hatte, um ihnen Zeit zu lassen, die Broschüre durchzugehen. Gemeinsam, die Köpfe dicht beieinander, überflogen sie das Hochglanz-Heftchen. »Das sieht gut aus«, sagte Beth. Hunt nickte zögernd. Enthusiastisch beugte der Vertreter sich vor. »Und das ist noch nicht alles ...« Die nächsten zwanzig Minuten setzte er ihnen sämtliche Details ihrer Immobilienversicherung auseinander und erklärte, inwiefern sie sich von ihrer derzeitigen Versicherung unterschied. Als er fertig war, musste Hunt zugeben, dass es tatsächlich nach einem sehr viel besseren Leistungsumfang klang als das, was sie derzeit hatten. Beth blickte zu ihm hinüber, die Augenbrauen gehoben. »Was meinst du?« »Wenn Sie beide einen Augenblick allein sein wollen ...«, sagte der Vertreter, »um sich zu besprechen ...« Hunt kannte Beths Meinung bereits. Und wider besseres Wissen stellte er fest, dass er es ebenso sah. »Das wird nicht nötig sein«, sagte er. Beth lächelte. »Wir nehmen sie.« »Ausgezeichnet. Wenn Sie jetzt nur noch diese Formulare unterzeichnen und datieren würden, hätten wir schon alles.« Er schob ihnen einen Stift und einen Stapel Papiere hin. Kleine rote Pfeile zeigten an, wo sie Kreuze machen und unterschreiben mussten. Nicht das Kleingedruckte gelesen zu haben, hatte Hunt schon einmal Ärger eingebracht, also nahm er sich die Zeit, sämtliche Seiten durchzugehen. Es war viel Kleingedrucktes. Doch alles schien im Großen und Ganzen dem Üblichen zu entsprechen. Hunt war zwar kein Rechtsanwalt, doch zu seiner großen Überraschung schien es hier keine dieser verborgenen Minenfelder zu geben und keine der geschickten Formulierungen, die sich als Zeitbomben erweisen mochten und die tatsächlichen Leistungen erheblich einschränkten. Beth hatte deutlich mehr Übung darin, Verträge durchzuarbeiten als Hunt, und zeitgleich mit ihm las auch sie das Kleingedruckte ihres Formulars. Doch auch sie schien keine Nachteile finden zu können. »Für mich sieht das gut aus«, sagte sie und machte sich daran, die erste Seite zu unterschreiben. Was tun wir denn hier? Einen Augenblick lang verspürte Hunt einen irrationalen Anflug von Panik und war sich plötzlich ganz sicher, dass sie lieber die Finger von der Sache lassen sollten. Dann war Beth mit den Paraphen und Unterschriften auf ihrer Kopie des Vertrages fertig und reichte Hunt den Stift, und der Augenblick der Panik war vorbei. Er hatte wirklich keinen Grund, überzureagieren. Schließlich wechselten sie bloß von einer Versicherung zu einer anderen. Das taten Leute jeden Tag ... und wahrscheinlich hätten sie selbst das ebenfalls längst tun sollen, gleich nach diesem Debakel mit dem undichten Dach. Woher wusste der Vertreter davon? Hunt setzte seine Initialen an die bezeichneten Stellen und unterschrieb dann auf der gleichen Zeile wie Beth. »Ich danke Ihnen.« Der Vertreter sammelte die Formulare ein, legte sie in den Ordner zurück und hob den Kopf. »Was nun Ihre Autoversicherung angeht ...« Die nächste halbe Stunde verbrachten sie damit, die Unterschiede in Preis, Deckungsbereich und Leistungsumfang zwischen ihrer aktuellen Police bei UAI und der neuen durchzugehen, die ihnen hier angeboten wurde. Hunt musste sich nicht lange überreden lassen. Nach allem, was Joel und er selbst erlebt hatten ... Halb Affenarsch, viertel vor Ho-den-sack. ... konnte er es kaum erwarten, von UAI zu einer anderen Versicherung zu wechseln. Und dennoch war da irgendetwas, was dafür sorgte, dass Hunt sich ein wenig unwohl dabei fühlte, und er musste sich immer wieder beruhigend sagen, dass er auch bei dieser neuen Versicherung würde kündigen können, wenn es nicht so lief, wie er es sich gedacht hatte. Sie unterschrieben den Antrag. »Sehr gut. Was ist mit Ihrer Kranken- und der Zahnfürsorgeversicherung? Wir bieten ein umfassendes Komplettpaket mit Kranken-, Zahn- und Lebensversicherung an, das zu Ihrem Lebensstil und zu Ihrem Budget passen würde, und es würde Ihnen sämtliche Sicherheiten bieten, die man in diesen Zeiten voller ökonomischer Ungewissheit und steigender medizinischer Kosten benötigt.« Hunts Magen knurrte. Sie saßen jetzt schon seit mehr als einer Stunde hier, und die normale Essenszeit war längst vorbei. Die Vorhänge waren immer noch nicht zugezogen, und der Sonnenuntergang war längst der Nacht gewichen. Hunt erhob sich. »Ich werde langsam müde, und mein Gehirn hat einfach keine Lust mehr, noch weiter über Versicherungen nachzudenken. Ich würde sagen, für heute ist es genug.« Beth sagte: »Ja, es wird spät.« Der Vertreter klappte seinen Aktenkoffer zu und nickte sachlich. »Also schön. Hier ist meine Karte. Sollten Sie Fragen oder irgendwelchen Kummer haben, rufen Sie mich einfach an. Ich bin Versicherungsvertreter, das heißt, ich bin vierundzwanzig Stunden am Tag im Dienst, sieben Tage die Woche. Hinterlassen Sie mir eine Nachricht, und ich werde mich innerhalb einer Stunde bei Ihnen melden. Garantiert. Wenn Sie über die Kranken-, Zahn- und Lebensversicherung sprechen wollen, machen wir einen Termin, und ich werde Ihnen das umfassendste Deckungskonzept anbieten, die Sie bekommen können.« »Was das betrifft, sind wir über unsere Arbeitgeber versichert«, erwiderte Hunt. »Ja«, bestätigte Beth. »Aber trotzdem vielen Dank.« Der Mann setzte seinen Hut auf und erhob sich. »Ihre Policen dürften innerhalb der nächsten zwei Wochen eintreffen. Sie kommen per Post, aber wenn Sie es wünschen, komme ich auch persönlich vorbei und händige sie Ihnen aus.« »Wir werden sehen«, sagte Hunt. »Macht überhaupt keine Umstände, das tue ich gerne. Lassen Sie es mich nur wissen.« Der Vertreter hielt inne und wandte sich um. »Sind Sie sicher, dass Sie nicht vielleicht eine Zusatzversicherung abschließen wollen, um die Versicherungsleistungen Ihrer Arbeitgeber zu ergänzen? Damit können Sie gegebenenfalls richtig viel Geld sparen.« »Nein, danke.« »Vielleicht möchten Sie ja erst noch darüber nachdenken ...« »Nein«, wiederholte Hunt. »Wie Sie wünschen.« Sie begleiteten ihn zur Tür, und dort schüttelte er ihnen beiden die Hand. Seine Handflächen waren seltsam warm und trocken. Hunt hatte feuchte Handflächen erwartet, doch es fühlte sich eher so an, als würde er einen Lederhandschuh anfassen, der in der Sonne getrocknet war. Im Türrahmen drehte der Mann sich noch einmal um. Er schaute Beth an, als würde er irgendetwas abschätzen. »Ich rate Ihnen dringend, eine zusätzliche Zahnfürsorgeversicherung abzuschließen«, sagte er zu ihr. »Man weiß nie, wann Probleme auftauchen, die ausgiebige und kostspielige Zahnbehandlungen erfordern. Viele Behandlungen, die absolut notwendig sind, werden von zahlreichen Versicherungen heutzutage als ›kosmetisch‹ eingestuft und sind nicht abgedeckt.« »Alles in Ordnung«, versicherte sie ihm. »Sehr gut. Es war mir eine Freude, mit Ihnen Geschäfte zu machen.« Er tippte sich an die Krempe seines Detektiv-Hutes. »Ich melde mich dann.« Hunt schloss die Tür und verriegelte sie instinktiv. Plötzlich fiel ihm auf, dass der Vertreter ihnen überhaupt nicht seinen Namen genannt hatte. Das war ungewöhnlich. Beim Verkauf von Versicherungen herrschte ein rigoroser Verdrängungswettbewerb, und eigentlich neigten Vertreter dazu, ihre Namen auf Topflappen und Kühlschrankmagneten und jeden anderen prosaischen Haushaltsgegenstand zu drucken, der sich nur bedrucken ließ, um sich ganz in das Bewusstsein ihrer Kunden einzuprägen. Dieser Vertreter hingegen hatte ihnen lediglich eine Visitenkarte ausgehändigt, und als Hunt nun darauf blickte, sah er bloß zwei Worte und eine Telefonnummer: QUALITY INSURANCE 520-555-7734. Hunt wusste nicht einmal, ob »Quality Insurance« der Name der Gesellschaft war, für die dieser Vertreter arbeitete. Es konnte genauso gut bloß eine Beschreibung seiner Tätigkeit darstellen - eine Beschreibung dessen, was er zu liefern versprach: qualitativ hochwertige Versicherungen im Gegensatz zu qualitativ mittelmäßigen. Sonderbar, dachte Hunt. Wirklich sehr sonderbar. 2. Joel lag auf dem Sofa, aß Cheez-Its und schaute sich das Spiel im Fernsehen an. Dann wurde es durch den Werbespot einer Autoversicherung unterbrochen, und Joel griff nach der Fernbedienung und schaltete um. Man konnte dem wirklich nicht entgehen! Diese Versicherungen waren einfach überall. Die Haustür wurde geöffnet, und Stacy und Beth kamen herein; jede von ihnen trug eine vollgepackte Nordstrom-Tasche. Joel setzte sich auf. »Schon wieder zurück?« Stacy legte die Stirn in Falten. »Wo sind Lilly und Kate? Ich dachte, du solltest auf sie aufpassen.« »Tue ich doch.« »Also, falls die nicht gerade im Fernsehen sind, wüsste ich nicht, wie das gehen soll.« Er lachte leicht. »Sie sind oben in Lillys Zimmer. Und sie wollen nicht, dass ich ihnen nachspioniere. Die besprechen gerade irgendwas unheimlich Wichtiges.« Stacy stellte ihre Tasche ab und hängte ihre Handtasche an den Garderobenständer. »Ich dachte, du solltest sie aus dem Haus rauskriegen und draußen mit ihnen spielen.« »Hab ich auch versucht. Ich habe ihnen vorgeschlagen, Basketball zu spielen, aber das wollten sie nicht. Irgendwie scheinen die nicht in der Stimmung zu sein, überhaupt etwas zu spielen. Kate war wegen irgendwas ganz aufgeregt und wollte sich bei Lilly wohl ausweinen, also hab ich sie in Ruhe gelassen.« »Die waren die ganze Zeit da oben?« »Äh ... jou.« »Mach es dir bequem«, sagte Stacy zu Beth. »Ich gehe mal nachsehen.« Sie nahm immer zwei Stufen auf einmal, und Beth stellte ihre Tasche auf den Fußboden und setzte sich auf das andere Sofa Joel gegenüber. »Tut mir leid, dass Hunt es nicht geschafft hat. Aber sie hatten die Gelegenheit, ein paar Überstunden zu machen, und Jorge kann das Geld gut brauchen ...« »Ist doch nix dabei. Außerdem ist Babysitten nicht so toll, wie es immer dargestellt wird.« Sie deutete auf den Fernseher und die Cheez-Its-Packung. »Ja«, sagte sie nur. »Sieht echt anstrengend aus.« Joel lachte. Stacy kam die Treppe wieder hinunter und betrat das Wohnzimmer. »Denen geht's gut. Die hören sich CDs an.« Joel grinste. »Die haben dich rausgeschmissen, was?« »Wenn du 's unbedingt wissen willst: ja.« »Und du hast gedacht, ich sei als Vater einfach nur zu nachgiebig.« Stacy und Beth zogen sich in die Küche zurück, und Joel konzentrierte sich wieder auf das Spiel. Oder versuchte es zumindest. Doch seine Gedanken gingen ziellos auf Wanderschaft, und plötzlich war er bei My Nguyen, der vietnamesischen Studentin, die ihn auf dem Parkplatz angefahren hatte. Heute hatte er sie zum ersten Mal seit dem Unfall auf dem Campus gesehen. Er hatte gelächelt und ihr zugewinkt, um ihr zu zeigen, dass er keinen Groll hegte, doch sie war in ein Gespräch mit einem sonderbar gekleideten Mann vertieft gewesen, und als sie Joel dann erkannt hatte, da hatte sie sich schnell abgewandt, als wollte sie sich verstecken. Der Mann, ein ziemlich kräftiger Bursche mit schlechter Haltung und einem seltsamen Hut, war an Ort und Stelle stehen geblieben, doch er stand im Schatten eines Baumes, und so hatte Joel sein Gesicht nicht erkennen können. Und irgendetwas daran hatte Joel beunruhigt. Jetzt beunruhigte es ihn noch mehr, und er wünschte, er wäre zu dieser Mrs. Nguyen hinübergegangen und hätte sie angesprochen. Nicht, weil er unbedingt mit ihr hatte reden wollen oder ihr irgendetwas hätte sagen müssen, sondern einfach nur, weil er wissen wollte, wer der Mann war. Ein weiterer Werbespot kam, und Joel ging in die Küche, um sich etwas zu trinken zu holen. Am Frühstückstisch saßen Stacy und Beth einander gegenüber. »Mein Zahnfleisch tut weh«, sagte Beth gerade. »Immer beim Kauen.« »Wo denn?« Stacy beugte sich vor. »Hier.« Beth öffnete den Mund und deutete auf das Zahnfleisch links oberhalb der Schneidezähne. »Sieht ganz schön gerötet aus«, meinte Stacy. »Du solltest damit zum Arzt gehen.« »Jou«, meldete Joel sich zu Wort und öffnete den Kühlschrank. »Ich bin jahrelang nicht zum Zahnarzt gegangen - bis ich Stacy kennen gelernt habe und sie mich so lange gepiesackt hat, bis ich dann doch wieder da war. Als ich dann eine Routinekontrolle habe machen lassen, hatte ich sechs Löcher, drei davon ganz nahe am Zahnfleisch. Hat höllisch wehgetan, die behandeln zu lassen.« »Das glaube ich gern«, sagte Beth. »Ich weiß überhaupt nicht mehr, wann ich zum letzten Mal beim Zahnarzt war.« »Sei gut zu deinen Zähnen, dann sind deine Zähne auch gut zu dir«, erklärte Stacy den beiden. Joel hatte eine Flasche Sam Adams gefunden und schloss die Kühlschranktür wieder. Gespräche über Zahnärzte erinnerten ihn an seine Zahnfürsorgeversicherung, und das wiederum erinnerte ihn an diesen sonderbaren Prospekt, den er erst gestern in seinem Dienst-Postfach gefunden hatte. Darin wurden die Vorzüge der Angestellten-Versicherung gepriesen und garantiert, dass jeder, der eine solche Versicherung abschloss, davor geschützt wäre, jemals zurückgestuft zu werden, oder gar entlassen, oder auch nur vorübergehend von der Arbeit freigestellt. Das war einfach lächerlich, doch Joel musste zugeben, dass der Prospekt sehr gut gemacht war. Das war einer der Vorzüge von Heimcomputern: Sie hatten die Drucktechnologie demokratisiert. Joel hatte in den Postfächern seiner Kollegen nachgeschaut, doch er schien der Einzige zu sein, der diese Broschüre erhalten hatte. Wahrscheinlich einer meiner Studenten, dachte er. Kurz dachte er darüber nach, ob er Stacy und Beth davon erzählen solle, doch sie hatten bereits das Thema gewechselt - jetzt ging es um die widerliche Aufdringlichkeit der Verkäufer im Supermarkt -, und so ging Joel ins Wohnzimmer zurück. Als er sich wieder aufs Sofa hatte fallen lassen und sich den Spielstand anschaute, hatte er den Prospekt schon wieder völlig vergessen. 3. »Was ist das denn?«, fragte Hunt, als Edward ihm ein gedrucktes Flugblatt in die Hand drückte. »Betriebsratsversammlung. Die wollen darüber diskutieren, ob man die Stellen in der Landschaftspflege nicht an externe Arbeitskräfte vergeben könnte. Unsere Jobs, um genau zu sein.« »Ich dachte, das wäre längst vom Tisch. Und ich dachte, wir hätten gewonnen.« »Oh nein. Wenn Abteilungsleiter die Möglichkeit sehen, Privatfirmen anzuheuern, damit die dann die Arbeit von Angestellten im öffentlichen Dienst übernehmen und auf diese Weise ihren Freunden und Verwandten ein paar Jobs zuschustern können, geben die so leicht nicht auf.« Hunt las das Flugblatt. Die Sitzung war für fünf Uhr an diesem Nachmittag angesetzt, unmittelbar nachdem sie Dienstschluss hatten. »Ist 'n bisschen kurzfristig, oder?« »Ist ein Notfall«, sagte Edward. »Das Thema wurde gestern Abend bei der Verwaltungsratsitzung angesprochen. Es heißt, Steve hätte uns hängen lassen und denen gesagt, das County könne auf diese Weise Geld sparen - es würde die Arbeit in keiner Weise verschlechtern, wenn sie den Baumbeschnitt an Fremdfirmen übergeben.« »Dieser Dreckskerl!«, schimpfte Hunt. »Scheiße!«, fluchte Jorge. »Ich bin dabei«, versprach Hunt, und nach der Arbeit fuhr er zusammen mit Edward zum Cholla Community Center, wo die Versammlung stattfinden sollte. Jorge fuhr stattdessen nach Hause, wie immer in letzter Zeit. »Dann erzählt mir morgen mal, was nun passieren wird«, sagte er zum Abschied. Der Vorsitzende des Betriebsrates und der Teilzeit-Rechtsberater der Gewerkschaft standen im Eingang des großen Saales, als Hunt und Edward eintrafen. Weitere Angestellte trudelten ein und setzten sich in die Klappstühle: Büroarbeiter ebenso wie Außendienst-Angestellte. Den Männern und Frauen war die Anspannung deutlich anzumerken, und in allen Gesprächen, die bald darauf den Saal erfüllten, ging es um Haushaltskürzungen und die Sicherheit der Arbeitsplätze. In allen Abteilungen gab es Gerüchte über Stellen, die abgebaut werden sollten, vor allem aber ging es um die Jobs in der Abteilung Landschaftspflege. Endlich, um zwanzig nach fünf, eröffnete der Vorsitzende die Versammlung. Er redete nicht lange um den heißen Brei herum und versuchte auch nicht, die Lage schönzureden. Geradeheraus sagte er, dass die Gerüchte stimmten, weil es in diesem Bilanzjahr wegen verringerter Einnahmen und falscher Planungen ein Defizit von 3,4 Millionen Dollar gab und dass im County tatsächlich geplant wurde, den Haushalt auf Kosten der Angestellten auszugleichen. »Derzeit liegen zwei Vorschläge vor«, erklärte er. »Bei dem einen soll an den Sozialleistungen eingespart werden. Es wird davon geredet, die Versicherungen einzuschränken: Entweder sollen die Zuzahlungen erhöht und die Lebens-, Zahnfürsorge-, Augenarzt- und Krebsfürsorgeversicherungen vollständig aufgekündigt werden, oder aber sämtliche Versicherungsleistungen kommen nur noch dem Angestellten selbst zugute, nicht aber dessen Familienangehörigen.« Ablehnendes Gemurmel. »Der andere Vorschlag ist spezifischer. Dabei soll ein bestimmter Teil der Abteilung Landschaftspflege durch externe Arbeitskräfte übernommen werden. Um genau zu sein, geht es um den Baumbeschnitt.« Entmutigt musste Hunt feststellen, dass dieser Vorschlag deutlich weniger einmütig abgelehnt wurde. Stattdessen machten nur die Angestellten vom Baumbeschnitt ihrem Unmut Luft, während ein Großteil der anderen schwieg - anscheinend dankbar, dass sie auf diese Weise verschont und ihre Arbeitsplätze nicht gefährdet wurden. »Wir sind hier, um zu überlegen, ob wir einen Alternativplan vorlegen können. Einfach auf Gehaltserhöhungen zu verzichten, wird nicht reichen. Also müssen wir schauen, wo eingespart werden kann.« »Im Management!«, rief jemand aus den hinteren Reihen, und alle lachten. Die nächste Stunde verbrachten sie damit, Ideen zusammenzutragen. Der Vorsitzende schrieb in den Raum gerufene Vorschläge auf die Tafel; dann erklärte der Rechtsberater bei jedem einzelnen, warum er nicht durchführbar sei. Je länger es dauerte, umso deutlicher erkannte Hunt, dass man hier versuchte, die Diskussion in die Richtung zu lenken, die dem County am genehmsten war ... und dass sie wahrscheinlich schon längst eine Entscheidung gefällt hatten und jetzt nur noch pro forma so taten, als wäre genau das ein Ergebnis, das demokratisch von der Mehrheit beschlossen worden war. Es gefiel Hunt ganz und gar nicht, worauf das Ganze hinauslief, und ein kurzer Blick auf Edwards mürrische Miene verriet ihm, dass sein Freund genauso dachte. Am Ende dieser Stunde war offensichtlich, dass der Rechtsberater und der Vorsitzende der Ansicht waren, das Sinnvollste sei es, dem Verwaltungsrat zu gestatten, den Baumbeschnitt in Zukunft an Fremdfirmen zu vergeben. Es kostete keine allzu große Mühe, die anderen Angestellten von der Richtigkeit dieses Plans zu überzeugen. Einer der alten Hasen, der schon seit vielen Jahren als Chef des Warenlagers für das County arbeitete, ergriff das Wort. »Damit wir das mal ganz deutlich hören: Sie sind also dafür, dass Stellen abgebaut werden?« Der Vorsitzende hob die Hand. »Natürlich wollen wir nicht, dass Stellen abgebaut werden. Aber wenn wir einen Finger opfern müssen, um den Rest der Hand zu retten ... nun, das ist eine der schweren Entscheidungen, über die wir ernstlich werden nachdenken müssen.« »Das ist doch Schwachsinn!«, brüllte Edward, und alle drehten sich zu ihm um. Der Rechtsanwalt brachte ein schmales Lächeln zustande. »Entschuldigen Sie, Mister ...?« »Ich werde Ihnen meinen Namen nicht nennen, weil der Sie doch sowieso nicht interessiert! Sagen wir einfach nur, ich bin der Finger, den Sie zu opfern bereit sind!« Der Vorsitzende räusperte sich. »Um es so auszudrücken, ist es noch viel zu verfrüht ...« »Das glaube ich aber nicht, Sie rückgratlose Qualle! Es ist Ihr Job, unsere Interessen zu vertreten. Sie haben diesen Miet-Anwalt hier angeheuert, von unseren Beiträgen, damit wir sichergehen können, dass unsere Interessen auch gewahrt werden. Stattdessen kriechen Sie dem Management in den Hintern!« Zustimmendes Gemurmel der gesamten Versammlung. »Also, jetzt warten Sie aber mal ...!« »Nein, Sie werden jetzt mal warten! Seit zwölf Jahren mache ich für das County den Baumbeschnitt, und ich mache einen verdammt guten Job. Gleiches gilt für die anderen Männer aus meinem Trupp. Wir kennen die Parks hier, wir kennen die Bäume, und wir wissen verdammt genau, dass niemand das besser und billiger machen kann als wir. Das ist doch das reinste Politikum hier! Die Abteilungsleiter wollen den Eindruck erwecken, sie würden richtig was tun, wollen der Öffentlichkeit weismachen, dass sie schwer auf Draht sind, also wollen die uns entlassen und stattdessen Mietkräfte anheuern. Die werden das Geld der Steuerzahler dazu nutzen, irgendeine Privatfirma zu unterstützen. Und wahrscheinlich werden die ein Unternehmen beauftragen, das irgendeinem ihrer Vettern oder einem Schwager gehört, oder so was in der Art. Das mag auf den ersten Blick billiger aussehen, aber wenn gerade mal niemand hinschaut, wird diese Firma die Preise erhöhen, und dann werden die mehr zahlen müssen als jetzt für uns!« »Wir befinden uns mit dem County immer noch in Verhandlungen«, sagte der Vorsitzende. »Und wir wollen nicht, dass irgendwelche Stellen gestrichen werden. Das ist unser Ziel.« »Und wenn ich entlassen werde, dann will ich meine Gewerkschaftsbeiträge der letzten zwölf Jahre zurückerstattet bekommen, weil Sie dieses Geld unter Vorspiegelung falscher Tatsachen eingesackt haben, wenn Sie nicht um meinen Job kämpfen! Dann habe ich nämlich für eine Dienstleistung bezahlt, die ich nie erhalten habe!« Die anderen Angestellten aus dem Baumbeschnitt nickten und äußerten lautstark ihre Zustimmung. »Recht hat er!«, rief einer. Hunt erhob sich. Er war nicht so kämpferisch wie Edward, aber auch er war wütend. Es widerte ihn an, dass die Gewerkschaft, die doch eigentlich für sie hätte kämpfen sollen, sich passiv verhielt und offenbar nicht bereit war, sich für ihre Mitglieder einzusetzen. Sie war nur noch eine Herde verängstigter Schafe, vor denen Hunt kein bisschen Respekt hatte. Er wandte sich geradewegs an den Gewerkschaftsvorsitzenden. »Ich denke, das Problem ist, dass wir keine externen Vermittler haben. Wir haben ihn«, er deutete auf den Rechtsanwalt, »aber er ist nur ein Berater, und Sie nutzen ihn ausschließlich dafür, Ihre Rechtsfragen zu beantworten. Also läuft es darauf hinaus, dass die Angestellten ihren Vorgesetzten am Verhandlungstisch direkt gegenübersitzen, und die werden natürlich keine harten Verhandlungen führen, weil sie Angst vor Repressalien haben. Und weil die Angst haben, das Management anzugreifen, sitzen wir hier auf dem Trockenen. Edward hat recht. Diese Gewerkschaft erfüllt ihre Aufgabe nicht!« »Wir haben die Aufgabe«, widersprach der Vorsitzende, »das zu tun, was für alle Angestellten am Besten ist, und uns nicht ins eigene Fleisch zu schneiden.« Edward legte die Stirn in Falten. »Jetzt lass es aber mal gut sein mit diesen ganzen medizinischen Metaphern, du Schlappschwanz ...« Fast die ganze Versammlung brach in schallendes Gelächter aus, und dem Vorsitzenden schoss die Röte ins Gesicht. Chris Hewitt, ein weiterer Mitarbeiter der Baumbeschnitt-Abteilung, deutete zornig mit dem Zeigefinger auf den Vorsitzenden. »Von Ihnen wird erwartet, dass Sie für alle Angestellten kämpfen und nicht gleich beim ersten Anzeichen eines Problems einfach aufgeben!« »Und was würden Sie vorschlagen?«, fragte der Gewerkschaftsvorsitzende nach. »Sollen wir in Streik treten?« Hewitt nickte. »Falls das notwendig werden sollte.« »Ich trete doch nicht in Streik und gefährde meinen Job, nur für ein paar Baumbeschneider«, meldete sich ein Computerprogrammierer zu Wort. »Das kann ich mir nicht leisten. Tut mir leid, aber so ist es nun mal!« Hunt schaute zu dem Mann hinüber und war froh, dass er nicht in die Verwaltung gewechselt war. Vielleicht würde er jetzt seinen Job verlieren, aber er war stolz darauf, zu Edward und Chris und den anderen Baumbeschneidern zu gehören. Das waren gute Männer, ehrliche Männer, und er zweifelte nicht daran, dass die meisten von ihnen bereit gewesen wären, die eigenen Jobs zu gefährden, um ihren Kollegen zu helfen. »Deinen Job braucht sowieso niemand!«, schrie jetzt Jack Hardy, ein Kollege aus Hewitts Trupp. »Die würden jede Menge Geld sparen, wenn die eure Stellen an externe Kräfte vergeben würden, und nicht unsere.« Im Saal brach Chaos aus, und andere Angestellte der Wartungsabteilung - sichtlich beunruhigt vom Verlauf der Versammlung -, schlugen sich auf die Seite von Hewitt und Hardy und gegen die Technokraten aus der Verwaltung. Edward legte Hunt eine Hand auf die Schulter und deutete zum Ausgang. »Das ist jetzt wie die Do-Long-Brücke aus Apocalypse Now. Das hier hat niemand mehr im Griff. Verschwinden wir!« »Wir werden sehen, was wir tun können!«, versprach der Rechtsanwalt am anderen Ende des Saales. »Der Job jedes Einzelnen ist wichtig!« »Komm schon«, sagte Edward angewidert. »Wir gehen in die Kneipe und gießen uns einen hinter die Binde.« ELF 1. Beth hatte gerade die letzte reife Tomate gepflückt, als in der Küche der Wecker losschrillte. Sie trug die Tomaten ins Haus und stellte den Wecker ab. Beth neigte dazu, sich ganz in der Gartenarbeit zu verlieren, also musste sie dafür sorgen, dass das wahre Leben sie jedes Mal zurückholte, und so hatte sie es sich angewöhnt, den Wecker zu stellen, wenn sie zu einer bestimmten Zeit irgendetwas erledigen musste. An diesem Tag musste sie zum Zahnarzt. Auch wenn sie die ganze Zeit gewusst hatte, dass der Besuch unbedingt anstand, dass sie sich regelmäßig hätte untersuchen lassen und die Zähne reinigen müssen, hatte sie es so lange schleifen lassen, dass sie letztendlich Angst vor dem Besuch beim Zahnarzt bekommen hatte, weil sie befürchtete, sie könne Löcher haben oder eine Wurzelbehandlung brauchen oder irgendeine unschöne Behandlung à la Marathon-Mann über sich ergehen lassen müssen. Doch die Schmerzen im Zahnfleisch waren so schlimm geworden, dass es höllisch wehtat, wenn Beth in der linken Mundhälfte etwas kaute, und schließlich hatte Hunt sie überredet, sich doch untersuchen zu lassen. Einen Haus-Zahnarzt hatte Beth nicht, also hatte sie die Kundendienstnummer angerufen, die auf ihrer Versichertenkarte stand, und den Namen und die Telefonnummer eines mit dieser Versicherung zusammenarbeitenden Zahnarztes in Erfahrung gebracht. Das war vor fast drei Wochen gewesen. Sie hatte versucht, einen früheren Termin zu erhalten, hatte der Sprechstundenhilfe Ausmaß und Schwere ihrer Schmerzen geschildert, hatte darauf hingewiesen, dass es wirklich ein Notfall sei und dass sie dringend Hilfe benötige, doch die Frau hatte beharrlich erklärt, der Arzt sei völlig ausgebucht, und sie könne Beth unmöglich dazwischenschieben; ein Besuch sei frühestens Ende des Monats möglich. Beth wusch die Tomaten ab, legte sie zum Trocknen auf die Arbeitsplatte und machte sich daran, sich umzuziehen und die Zähne zu putzen. Seit sie diesen Termin vereinbart hatte, putzte sie sich fast wie besessen die Zähne - mindestens dreimal am Tag, manchmal sogar bis zu sechsmal -, als könne intensive Zahnpflege auf die letzte Minute Jahre der Achtlosigkeit wiedergutmachen und das Problem lösen. Also putzte Beth sich die Zähne, verwendete Zahnseide und gurgelte mit Listerin; dann ging sie ins Schlafzimmer und sah in ihrer Handtasche nach, ob sie ihre Versichertenkarte und genug Geld für die Zuzahlung eingesteckt hatte. Die Praxis des Zahnarztes befand sich nicht in einem Medi-Zentrum oder einem Bürokomplex, sondern in einem umgebauten Lehmziegelhaus. In der Gegend war eine ehemalige Wohnstraße zu einer Einkaufsstraße aus- und umgebaut worden, und aus vielen einstigen Wohnhäusern waren Geschäftshäuser geworden: Es gab einen Innenausstatter, einen Steuerberater, sogar ein Café. Die Fassade der Zahnarztpraxis sah immer noch aus wie die eines normalen Wohnhauses, doch das Innere war vollständig umgestaltet worden und hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit einer Wohnung. Es gab ein erstaunlich großes Wartezimmer, in dem ein Meerwasser-Aquarium voller Fische in schillernden Farben stand. Hinter der Glasscheibe eines Schiebefensters sprach die Sprechstundenhilfe gerade am Telefon mit einem offenbar hartnäckigen Patienten, der unbedingt einen Termin zu einem völlig unmöglichen Zeitpunkt haben wollte. Außer Beth saß niemand im Wartezimmer, doch hinter einer geschlossenen Tür, gleich neben dem Fenster zur Anmeldung, hörte Beth das unverkennbare, schrille Kreischen eines Bohrers, der sich tief in Zahnschmelz fraß. Beth ging zum Fenster und unterschrieb ihre Papiere; dann setzte sie sich auf eines der gelben Kunstledersofas, die entlang der Wand aufgestellt waren. Auf dem Tisch neben sich sah sie einen Stapel Hochglanzzeitschriften: Maxim, Details und FHM. Das war nicht gerade das, was man üblicherweise in einer Zahnarztpraxis vorfand, doch Beth nahm sich dennoch etwas zu lesen und überflog einen Artikel über Websites aus der Fetisch-Szene. »Mrs. Jackson?« Beth war immer noch nicht daran gewöhnt, jetzt mit Hunts Nachnamen angesprochen zu werden, und auch wenn sie die Stimme der Sprechstundenhilfe hörte, begriff sie nicht sofort, dass sie gemeint war. »Mrs. Jackson?«, wiederholte die Sprechstundenhilfe ein wenig lauter. Schnell legte Beth das Magazin zur Seite und erhob sich; das Ganze war ihr peinlich. Eine Arzthelferin hielt ihr die Tür auf; in der Hand hielt sie Beths Karteikarte. »Hier entlang, bitte«, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln. Beth folgte der jungen Frau, ging am Schreibtisch der Sprechstundenhilfe vorbei und einen kurzen Flur hinunter, der zu einem kleinen Behandlungszimmer führte. Dort zwängte sie sich in den Behandlungsstuhl und ließ sich eine Wachspapierserviette auf die Brust legen. Eine Metallkette sorgte dafür, dass das Papiertuch nicht herunterrutschen konnte. Die Arzthelferin - laut Namensschild hieß sie »Dora« - schwenkte ein Metalltablett über Beths Brust, auf dem zahlreiche, äußerst unangenehm aussehende Werkzeuge lagen. »Der Herr Doktor wird gleich bei Ihnen sein«, sagte Dora, ehe sie den Raum verließ. Beth wartete, und sie erinnerte sich nur zu genau daran, warum sie im letzten Jahrzehnt Zahnärzten weiträumig aus dem Weg gegangen war. Sie stellte sich vor, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn der Zahnarzt in ihren Zähnen stocherte, wobei ihr Speichel sich im hinteren Teil der Kehle ansammelte und sie zu ersticken drohte, während sie darauf wartete, dass er endlich abgesaugt wurde. O Gott, wie Beth Zahnärzte hasste. Dann wurde forsch an die offene Tür geklopft, und mit schnellen Schritten kam Dr. Blackburn herein; er roch nach Old Spice und Listerin. Statt eines Zahnarztes hätte er genauso gut ein Gameshow-Moderator aus den Sechzigerjahren sein können: Er hatte dieses künstliche, perfekte Lächeln, und jedes Haar seiner Frisur saß so widernatürlich perfekt wie bei Bob Eubanks oder Wink Martindale. Doch als er näher kam und sich auf den Hocker neben den Behandlungsstuhl setzte, sah Beth, dass er auf der linken Seite seines Scheitels eine Strähne hatte, die sich anscheinend nicht bändigen lassen wollte; sie fiel deutlich auf und wirkte völlig fehl am Platze. Während der Arzt mit Beth sprach und ihre bisherige Krankengeschichte durchging, musste sie immer wieder auf die Strähne starren. Irgendwie fühlte sie sich richtig davon gestört. Die Tolle passte so gar nicht zum restlichen Erscheinungsbild des Arztes und war so unpassend, dass Beth sich noch unwohler fühlte. Eine junge Frau kam ins Behandlungszimmer, offenbar die Assistentin Dr. Blackburnes. Auch bei ihr stimmte irgendetwas nicht. Sie trug die makellose Uniform einer Arzthelferin, doch ihre Augen waren viel zu dick geschminkt und ihre Lippen zu rot. Sie sah aus wie eine Pornodarstellerin - wie die »sündige Krankenschwester«, die sich vor einem Patienten die Klamotten vom Leib riss und sich dann auf dem Behandlungsstuhl durchvögeln ließ. Leise sprach Dr. Blackburn ein paar Worte mit seiner Assistentin; dann schaltete er die Schwenklampe über dem Stuhl ein und wandte sich wieder Beth zu. »Weit aufmachen«, sagte er. Beth tat wie geheißen, und mit einem Metall-Zahnstocher piekste und stupste er gegen die Zähne der linken oberen Zahnreihe, bis er eine Stelle gefunden hatte, bei der Beth heftig zusammenzuckte. »Tut das weh?«, fragte er. »Ah-hah«, würgte sie hervor. Der Arzt drehte die Lampe zurecht, legte den Zahnstocher beiseite, griff nach einem anderen, ebenso scharfkantigen Werkzeug und klemmte dann Beths Kiefer mit einem Gummikeil fest. Der Speichelabsauger wurde eingeschaltet und an ihrer Lippe befestigt, und der Arzt machte sich daran, systematisch ihre Mundhöhle zu überprüfen. Noch einmal murmelte er seiner Assistentin irgendetwas Unverständliches zu; dann begann er, mit den Fingern an jedem einzelnen von Beths Zähnen zu wackeln. Bei mehreren fühlte es sich an, als hätte er ein Gummiband oder eine Klammer daran befestigt. Dann fuhr er mit dem scharfkantigen Werkzeug schmerzhaft über ihren Zahnbogen. Irgendetwas stimmte hier nicht. »Was machen Sie da?«, versuchte Beth zu fragen, doch ihr Kiefer war immer noch festgekeilt, und der Absauger schlürfte nach wie vor ihren Speichel, und so klang es eher wie: »Aah aah-ee hii haa?« »Wir werden Ihre Zähne ersetzen müssen«, sagte der Zahnarzt. Was? Panik erfasste Beth. Sie versuchte zu protestieren, versuchte ihm zu erklären, dass sie auf keinen Fall bereit war, so etwas Radikales zu erlauben, doch wieder klangen ihre Worte völlig sinnlos. Der Zahnarzt jedoch schien sie bestens zu verstehen, und als sie versuchte, sich aufzusetzen, hielt er sie mit einem Arm zurück. »Es tut mir leid. Der Zahnverfall ist so extrem fortgeschritten, und sie haben so viele Löcher und derart viel Zahnschmelz verloren - von den absterbenden Zahnwurzeln und der Zahnfleischentzündung ganz zu schweigen -, dass ich fürchte, eine solch drastische Behandlung ist unumgänglich. Abgesehen davon sind mir die Hände gebunden. Es gibt neue Regeln und Forderungen der Versicherungen. Selbst wenn es in Ihrem Fall möglich wäre zu überkronen, ist mir das einfach nicht gestattet; das wird als kosmetisch eingestuft und wäre durch Ihre Versicherung nicht abgedeckt. Außerdem bin ich gehalten, jegliche Erkrankung energisch zu bekämpfen. Das gehört zu deren Programm der vorbeugenden Instandhaltung. Wenn ich Anzeichen für fortgeschrittenen Zahnverfall entdecke, muss ich alles tun, um das Problem umgehend zu lösen.« Die Assistentin - »Rene«, konnte Beth jetzt auf ihrem Namensschild lesen - reichte dem Zahnarzt eine stählerne Spritze, und sofort bugsierte er sie in Beths Mund; schmerzhaft presste er die Nadel gegen die Innenseite ihrer Wange. »Machen Sie sich keine Sorgen, es wird überhaupt nicht wehtun.« Vorbeugende Instandhaltung. Diese Formulierung schoss ihr plötzlich durch den Kopf. Genau das hatte Hunt von der Gesellschaft für das Haus eingefordert, bei der sie ihre Hauseigentümer-Versicherung hatten, um die Versicherungsgesellschaft dazu zu bringen, den Austausch des gesamten Daches zu zahlen. Während das Betäubungsmittel sich langsam in Beths Körper verteilte und sich nach und nach alle Muskeln entspannten und damit auch ihre Gedanken, kam sie plötzlich auf die Idee, das hier sei die Rache dafür: Sämtliche Versicherungsgesellschaften hatten sich zusammengetan, um sie und Hunt dafür zu bestrafen, dass sie sich beschwert und ihr Recht eingefordert hatten. Eine heimliche Absprache. War das nicht illegal? Schon jetzt begannen die Gedanken sich aufzulösen und zu zerfasern, Beths Verstand sprang von einem verrückten Gedanken zum nächsten: Die Versicherungen hatten es auf sie abgesehen ... der Verband der Zahnärzte ... die Kreditkartenanbieter ... die Autohersteller ... die Regierung ... Bevor Beth vollständig in der Narkose versank, hörte sie - darauf hätte sie schwören können -, wie der Zahnarzt ein sonderbares kleines Liedchen sang: »Möse zum Frühstück, Möse zum Lunch, Möse am Abend und nachts ein Snack.« »Ich liebe den Geschmack von Eiern am Morgen«, kommentierte die Zahnarzthelferin irgendwo in weiter Ferne. Als Beth wieder zu sich kam, saß sie im Wartezimmer, auf eines der Sofas gestützt. Ihr Schädel hämmerte. Sie öffnete die Augen und starrte mehrere Minuten lang wie betäubt auf das Aquarium. Aus dem Filter stiegen Luftblasen auf, stellte sie fest. Sie blubberten zwischen einem Ober- und einem Unterkiefer hervor, die auf dem blaugefärbten Kies lagen und grotesk auf- und abhüpften, als würden sie lachen. Plötzlich stand die Sprechstundenhilfe neben ihr und half ihr aufzustehen. »Kommen Sie, Mrs. Jackson. Sie müssen jetzt gehen.« Beth wusste, dass sie unter Drogen stand, und ein winziger Teil ihres Hirns dachte darüber nach, dass es unprofessionell, wahrscheinlich sogar gesetzwidrig war, sie unter solchen Umständen einfach auf die Straße zu setzen, doch Beth hatte weder die Willenskraft noch die Energie, sich auf ein Streitgespräch einzulassen, und so ließ sie sich artig hinausführen. Die Sprechstundenhilfe brachte Beth nicht einmal bis zu ihrem Wagen. Sie führte sie einfach nur auf die kleine Veranda, die unmittelbar vor der Praxis lag; dann ging sie wieder hinein und schloss die Eingangstür hinter sich. Mit unsicheren Schritten und noch immer pochendem Schädel ging Beth die Verandastufen hinunter und dann um das Haus herum zu dem kleinen Parkplatz. Ihr Mund war völlig ausgetrocknet, und immer wieder fuhr sie sich mit der Zungenspitze über Lippen und Zähne, doch die Zähne fühlten sich sonderbar an. Zum einen waren sie zu kalt, und dann schmeckten sie irgendwie anders ... und dieser Geschmack kam Beth fast bekannt vor. Sie brauchte alle Kraft, um sich zu konzentrieren, musste jede ihrer Bewegungen durchdenken, damit das Betäubungsmittel, das noch durch ihre Adern kreiste, sie nicht mehr völlig außer Gefecht setzte. Wie in Zeitlupe nahm Beth den Autoschlüssel aus ihrer Handtasche; dann schloss sie vorsichtig die Fahrertür auf, stieg ein, setzte sich in den Sitz, klappte die Sonnenblende herunter und öffnete den Mund, um im Schminkspiegel das Werk des Arztes zu begutachten. In ihrem Mund funkelte ein silbernes Gebiss wie aus Stahl. Beth lag auf dem Bett und weinte, als Hunt nach Hause kam. Sie hatte ihn von unterwegs aus dem Auto angerufen, hatte zwischen heftigen Schluchzern die ganze Geschichte hervorgestoßen, und er hatte ihr gesagt, sie solle bleiben, wo sie sei; er würde früher mit der Arbeit aufhören und sie abholen. Doch Beth wollte nicht einmal in der Nähe der Zahnarztpraxis warten, solche Angst hatte sie, und so hatte sie Hunt gesagt, sie werde nach Hause fahren. Wieder sprangen Edward und Jorge bei der Arbeit für Hunt ein, und er fuhr vom Westen der Stadt zur East Side von Tucson, so schnell der Mittagsverkehr es zuließ. Als er Beths Mund sah, war Hunt wie betäubt. Sie hatte es ihm am Telefon beschrieben, doch er hatte sich einfach nicht vorstellen können, wie verrückt und entsetzlich es aussah, und so war er auch nicht vorgewarnt, wie sehr das stählerne Gebiss ihr Gesicht entstellte. Beths Nase wirkte völlig schief, und ihre Wangen waren aufgedunsen. Sie sah regelrecht hässlich aus; hätte Hunt nicht gewusst, dass er Beth vor sich hatte, hätte er sie vielleicht nicht einmal erkannt. Zu allem Übel waren ihre Lippen grotesk angeschwollen, und immer wieder betupfte Beth sie mit einem Waschlappen, den sie mit Eiswürfeln gefüllt hatte, um die Blutung zu stillen. Beth musste ihm seine Gedanken angesehen haben, denn im gleichen Augenblick, da sie Hunts Miene sah, begann sie erneut zu schluchzen. Er eilte zu ihr, setzte sich neben sie und schloss sie in die Arme. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Wir kriegen das wieder hin. Ich weiß nicht, was für ein Teufel diesen Wahnsinnigen geritten hat, oder wie er glauben kann, damit durchzukommen.« »Ich habe mich nicht einmal einverstanden erklärt!«, rief Beth verzweifelt. »Natürlich nicht.« »Ich meine, mit der ganzen Behandlung. Ich würde doch niemals zulassen, dass mir jemand sämtliche Zähne zieht, ohne eine zweite Meinung einzuholen. Aber ich bin gar nicht dazu gekommen, es ihm zu sagen! Die haben mich einfach betäubt, haben mich in Vollnarkose versetzt, und als ich aufgewacht bin, habe ich so grässlich ausgesehen wie jetzt.« »Hast du starke Schmerzen?«, fragte er besorgt. Kurz schloss sie die Augen, dann holte sie tief Luft. »Sie sind unerträglich. Und die Betäubung hat noch nicht einmal ganz aufgehört. Wenn das erst geschieht ...« Sie führte den Satz nicht zu Ende. »Damit kommen die nicht durch!« Hunt hätte am liebsten mit der Faust gegen die Wand gehämmert, so wütend war er. Noch nie hatte er sich so hilflos gefühlt. Das alles ergab doch keinen Sinn! Überhaupt keinen! Es gab keinen Grund, Beth so etwas anzutun. Sie hatte keine Feinde, und niemand konnte etwas davon haben, ihr sämtliche Zähne zu ziehen und sie durch silberne Stummel zu ersetzen. War dieser Zahnarzt wahnsinnig? Es erschien Hunt durchaus möglich. »Wir gehen zu ihm«, entschied Hunt. Er ging zum Schrank und nahm seine Kamera und seinen Camcorder heraus. »Ich werde das alles aufzeichnen, und dann sehen wir diesen Dreckskerl vor Gericht wieder. Die sollen deine Zähne wieder herrichten! Die sollen vor uns auf die Knie fallen! Das hätte niemals passieren dürfen, und bei Gott, dafür werden die bezahlen!« Mit ihren geschwollenen Lippen brachte Beth ein schwaches Lächeln zustande. »Gehen wir.« Die Adresse und die Wegbeschreibung zum Zahnarzt lagen immer noch in Beths Wagen. Auf dem Kunstleder des Fahrersitzes war getrocknetes Blut zu erkennen, das Beth während der Heimfahrt aus dem Mund getropft sein musste, und Hunt wischte die Flecken mit Taschentüchern aus dem Handschuhfach ab, ehe er sich hinsetzte. »In dem Zustand hättest du niemals fahren dürfen«, sagte er, während er von der Auffahrt zurücksetzte. »Du hättest einen Unfall bauen können.« Beth nahm den Waschlappen von den Lippen. »Das wäre deren Schuld gewesen.« »Ja. Aber du wärst diejenige gewesen, die dabei verletzt worden wäre. Oder sogar umgekommen.« »Ich konnte da nicht bleiben. Ich konnte es einfach nicht!« Verständnisvoll nickte Hunt. Als sie ankamen, war die Zahnarztpraxis verschwunden. Sie waren fassungslos. Das konnte nicht sein! Es war nur wenige Stunden her, dass Beth hier gewesen war, und es war völlig unmöglich, dass sämtliche Möbel und die gesamte Einrichtung der Praxis in so kurzer Zeit aus dem Gebäude geschafft worden waren. Aber an den Fenstern waren keine Rollos mehr, und durch die staubigen Scheiben konnten sie beide erkennen, dass die Räume leer standen: Die Wände waren kahl, der Boden ohne Teppich. Das Haus war nur noch ein leerstehendes Gebäude, das darauf wartete, in Geschäftsräume umgewandelt zu werden wie die anderen Häuser in dieser Straße. Beide stiegen aus und gingen über den betonierten Bürgersteig zur Veranda hinauf. »Das war hier, ich schwör's!«, beharrte Beth. »Ich glaub dir ja.« »Aber wie kann das sein? Vor einer Stunde, höchsten zwei, war hier ein Wartezimmer mit Teppichboden und Sofas und einem Dreihundert-Liter-Aquarium. Da waren ein Schreibtisch für die Sprechstundenhilfe und mehrere Behandlungszimmer mit Zahnarztliegen und Waschbecken und Lampen und Schränken!« Es konnte nicht sein; das wussten sie beide. Später vermutete Hunt, in genau diesem Augenblick sei ihm klar geworden, dass er es hier mit sehr viel mehr zu tun hatte als nur einer Firma, die völlig außer Kontrolle geraten war - dass hier etwas nicht Greifbares, etwas Beängstigendes am Werk war, irgendetwas, das eher übernatürlich war als natürlich. Aber dieser Gedanke hatte sich zu dem Zeitpunkt noch nicht ausgeformt, und so beantwortete er Beths Frage mit einem kraftlosen: »Ich weiß es nicht.« Im Haus nebenan befand sich das Büro eines Steuerberaters, und obwohl es so aussah, als wäre geschlossen, und ein Schild an der Tür »Nur nach Absprache« besagte, klingelte Hunt und klopfte an. Er hoffte, jemanden zu finden, der ihm etwas mehr über diesen Zahnarzt verraten und ihm sagen konnte, wie lange diese Zahnarztpraxis schon hier war oder was damit geschehen sein konnte. Doch bei dem Steuerberater traf er niemanden an, und auch das Reisebüro auf der anderen Straßenseite war geschlossen. Ein Stückchen weiter die Straße hinunter war ein Getränkeshop. Der hatte geöffnet, doch die Angestellten dort wussten nichts von einer Zahnarztpraxis und hatten an diesem Tag dort auch nichts Außergewöhnliches gesehen. Beth und Hunt blieb nichts anderes übrig, als wieder nach Hause zu fahren. Beths Schädel hämmerte jetzt noch schlimmer als zuvor, und die Betäubung hatte mittlerweile so weit nachgelassen, dass Beth immer wieder krampfartige Schmerzen im Mundraum spürte, besonders dort, wo ihr die Zähne gezogen und die silbernen Stummel eingesetzt worden waren. In ihrer Handtasche hatte sie ein Fläschchen Tylenol, aber zwei Tabletten hatte sie bereits genommen, und das Paracetamol schien nicht zu helfen. Also hielten sie auf dem Heimweg kurz bei Beths Hausarzt, Dr. Panjee. Es war schon ziemlich spät, und sie hatten natürlich keinen Termin - und so, wie es in letzter Zeit lief, hätte es beide nicht überrascht, wenn der Arzt und seine Assistentinnen sie aufgefordert hätten, sich an die Notaufnahme im Krankenhaus zu wenden. Doch Beth sah so bemitleidenswert aus, dass sie nicht abgewiesen wurde, und die Sprechstundenhilfe schob sie dazwischen, ehe der nächste Patient eintraf. Entsetzt hörte Dr. Panjee sich an, was geschehen war, doch nach einer vorsichtigen Untersuchung musste er zugeben, dass der Zahnarzt, rein technisch gesehen, wirklich gute Arbeit geleistet hatte. Dr. Panjee trug ein lokal wirkendes Gerinnungsmittel auf Beths Zahnfleisch auf, um die Blutung zu stillen; dann verschrieb er Beth ein starkes Schmerzmittel, von dem er sagte, es werde den Schmerz deutlich lindern, ohne Müdigkeit hervorzurufen, wie viele andere Analgetika, sodass Beth nicht allzu sehr in ihrem Alltag behindert sei. Er riet ihr, sich das Medikament gleich am nächsten Morgen zu holen, und für den Abend und die Nacht gab er ihr mehrere Muster eines anderen Schmerzmittels mit, das noch ein wenig stärker war und Beth wahrscheinlich einen Großteil der Nacht durchschlafen ließe. »Gott sei Dank«, sagte Beth. »Das wird alles wieder«, versicherte Dr. Panjee ihr. »Klar. Abgesehen von meinen silbernen Zähnen.« Um kurz vor fünf waren sie wieder zu Hause. Nachdem Hunt dafür gesorgt hatte, dass Beth hinreichend bequem auf dem Sofa vor dem Fernseher lag, zog er seine Versichertenkarte hervor und ging zum Telefon. Ihr Versicherer, DentaPlus Plan, gehörte zum HealthPlus-Konzern, und die Zentrale dieser Gesellschaft lag an der Westküste. Das bedeutete, dass dort noch Geschäftszeiten waren. Hunt wählte die Kundendienst-Nummer, die auf der Rückseite der Karte aufgedruckt war. »Ich hasse es, mit diesen Versicherungsfritzen umgehen zu müssen«, sagte er zu Beth. »Wem geht das nicht so?« Sie hielt inne. »Mach sie fertig!« »Verlass dich drauf!« Nach einer untypisch kurzen Wartezeit wurde Hunt von einem echten Menschen aus Fleisch und Blut aus der endlosen Fragenschleife des automatisierten Telefonsystems gerettet. »Guten Tag, hier ist die DentaPlus. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?« »Hallo«, sagte Hunt nur knapp. »Mit wem spreche ich?« »Mein Name ist Tim«, erwiderte der junge Mann am anderen Ende der Leitung. »Hören Sie zu, Tim. Ich heiße Hunt Jackson. Meine Frau Beth hat vor drei Wochen genau diese Nummer gewählt, um sich den Namen und die Anschrift eines Zahnarztes in unserer Wohngegend heraussuchen zu lassen, der an unserem Zahnfürsorgesystem teilnimmt und Ihre Versicherung akzeptiert ...« »Würden Sie mir die Versicherungsgruppen-Nummer und die Mitgliedsnummer Ihrer Versichertenkarte nennen?« »Nein«, fauchte Hunt. »Ich werde Ihnen diese Informationen später geben. Erst werden Sie sich anhören, was hier passiert ist.« »Sir ...« »Hören Sie mir zu! Sie ist zu diesem Zahnarzt gegangen, einem Dr. Blackburn, und ich weiß selbst, dass es verrückt klingt, aber er hat ihr sämtliche Zähne gezogen und sie durch silberne Prothesen oder Kronen ersetzt, oder wie immer diese Dinger heißen. Mit falschen Zähnen eben, obwohl sie gar nicht zugestimmt hat, sich diese Zähne implantieren zu lassen. Und ihr Mund ist ganz angeschwollen und blutig. Mit anderen Worten: Sie wurde betäubt und verstümmelt. Und jetzt ist dieser Zahnarzt verschwunden! Ich möchte ein paar Dinge über diesen Kerl wissen, und ich möchte eine Entschädigung. Sie haben ihn empfohlen, also gehört er offensichtlich zu den Ärzten, die an Ihrem Zahnfürsorgesystem teilnehmen, und ich verlange, dass der Kerl da rausfliegt. Ich will, dass er strafrechtlich verfolgt wird und seine Lizenz verliert - oder was auch immer bei einem Zahnarzt passieren muss, damit er nicht mehr praktizieren darf!« Vom anderen Ende der Leitung war keinerlei Reaktion gekommen, keine Bestätigung, kein Verständnis, nicht einmal ein höfliches »Hm-hmm«. Nur Stille. Das gefiel Hunt ganz und gar nicht. Er wusste nicht einmal, ob Tim noch in der Leitung war, doch er redete einfach weiter. »Ich erwarte weiterhin, dass Sie ihn nicht für dieses Zerrbild einer Behandlung bezahlen, die meiner Frau angetan wurde, und ich erwarte, dass sie jemanden finden, der das wieder in Ordnung bringt. Es ist mir völlig egal, was Sie dafür tun müssen oder wie Sie das hinkriegen, aber ich verlange, dass meine Frau schleunigst wieder normale Zähne bekommt und dass dieser Metallmund verschwindet, den dieses Ungeheuer ihr verpasst hat.« »Das sind schwerwiegende Anschuldigungen. Ich brauche den Namen Ihrer Frau, die Gruppennummer und die Mitgliedsnummer, die auf ihrer Versichertenkarte steht.« »Der Name lautet Beth Jackson. J-A-C-K-S-O-N, die Gruppennummer ist 4435, und ihre Mitgliedsnummer ist A476B3588.« »Können Sie mir die Uhrzeit sagen, als Ihre Frau diesen Arzt aufgesucht hat?« Hunt hörte, wie die Stimme des Mannes plötzlich einen deutlich erkennbaren Südstaaten-Akzent annahm, und es lief ihm eiskalt den Rücken hinunter. »Ist schon gut«, sagte er. »Ich weiß.« Hunt hörte das Klappern einer Computer-Tastatur. »Halb Affenarsch, viertel vor Ho-den-sack.« Sofort legte Hunt auf, und eine völlig unerklärliche, heftige Furcht erfasste ihn. Alles, was bisher geschehen war, erschien ihm auf einmal viel weniger zufällig, sondern auf irgendeine düstere, rätselhafte Weise zusammenhängend. »Was ist denn?«, fragte Beth. »Was ist passiert?« Hunt Herz schlug immer noch heftig, doch sofort wählte er die Nummer erneut. Er rechnete damit, erst wieder längere Zeit durch das automatisierte Telefonsystem geschleust zu werden, um dann irgendwann wieder einen Mitarbeiter an der Leitung zu haben - einen Menschen, bei dem er logisch und tröstlicherweise seine Beschwerde vorbringen konnte. Doch gleich nach dem ersten Klingeln hob derselbe Mann wie eben wieder ab, und bevor Hunt auch nur ein einziges Wort herausbringen konnte, wurde er angeschrien. »Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen mich hier nicht anrufen! Hören Sie auf, mich zu belästigen!« »Ich ...«, setzte Hunt völlig verdutzt an. Der Mann lachte. »Schwachkopf«, sagte er. »Vollidiot.« »Geben Sie mir Ihren Abteilungsleiter.« »Nein.« »Was?« »Ich weiß, wie Sie aussehen, wenn Sie kacken«, fuhr der Mann gehässig fort. »In Ihrer Akte ist ein Foto, wie Sie sich gerade den Arsch abwischen.« Weißglühender Zorn vertrieb die letzten Reste der Furcht. »Ich möchte sofort Ihren Abteilungsleiter sprechen!«, verlangte Hunt. »Ich lasse mir nicht gefallen, dass ...« »Es tut mir leid, jetzt ist Feierabend.« Hunt hörte ein Klicken, dann das Freizeichen. Er versuchte erneut anzurufen, doch dreimal in Folge war die Leitung besetzt. Endlich hörte er es wieder klingeln; dann sagte eine aufgezeichnete Stimme: »Unsere Büros sind derzeit geschlossen. Bitte rufen Sie erneut an. Unsere Geschäftszeiten sind von acht bis siebzehn Uhr, pazifische Standardzeit.« Hunt legte auf und starrte einen Augenblick durchs Wohnzimmerfenster zum gegenüberliegenden Haus. Ein Foto von ihm, wie er sich den Hintern abwischte ... Es war verrückt, so etwas plötzlich zu erwähnen - es war schon bizarr, es auch nur zu denken. Hunt wusste, dass dieser Mann ihn bloß beleidigen, ihn auf die Palme bringen wollte, und er glaubte auch nicht, dass tatsächlich irgendetwas daran sei, aber ... Aus einem Impuls heraus griff er nach dem Branchenverzeichnis, schlug »H« auf und blätterte die hauchdünnen Seiten durch, bis er gefunden hatte, was er suchte. Beths Medikament begann bereits zu wirken. »Was ist denn los?«, fragte sie fast schon verschlafen. »Die haben geschlossen.« »Und was machen wir jetzt?« »Wir fahren zu den HealthPlus-Büros hier in Tucson und reden persönlich mit denen, von Angesicht zu Angesicht.« »Jetzt?« »Morgen«, erwiderte er. Beth lehnte sich auf dem Sofa zurück und schloss die Augen. »Gut«, sagte sie. »Heute bin ich dafür auch zu müde.« Die Büroräume der HealthPlus befanden sich nicht in einem Hochhaus in der Innenstadt, wie Hunt erwartet hatte, sondern in einem einstöckigen, pinkfarbenen Stuckgebäude zwischen einer Kunstgalerie und einer Wellness-Oase auf der Ina Road. Sie stellten den Wagen auf einen grün markierten Parkplatz genau vor dem Gebäude ab, der mit PARKZEIT 20 MINUTEN beschriftet war. »Ich rate denen, dass das hier nicht länger als zwanzig Minuten dauert«, sagte Hunt. »Wenn wir einen Strafzettel kriegen, zahlen die ihn. Ohne deren Inkompetenz wären wir ja überhaupt nicht hier!« Beth griff nach seiner Hand und versuchte zu lächeln. »Die Einstellung gefällt mir. Mach sie fertig, Tiger!« Das weitläufige Gebäude hatte mehrere Eingänge, und sie folgten einem Schild, auf dem ein Pfeil mit der Aufschrift VERWALTUNG auf einen der Gebäudeflügel wies. Hunt verlangte, jemanden zu sprechen, der hier das Sagen hatte - den Direktor, den Geschäftsführer, den Bezirksmanager, was immer sie zu bieten hatten -, doch die Sekretärin am Empfang speiste sie mit einem gewissen Ted Peary ab. Er stellte sich als der Mitarbeiter vor, der für die »Kundenverbindung« bei HealthPlus zuständig sei. Hunt fertigte Peary kurz und schmerzlos ab und wurde an Bill Chocek verwiesen, den Leiter der Kundendienstabteilung, ehe sie schließlich ins Büro von Kenley Cansdale, dem Vizepräsidenten, vorgelassen wurden. In gewisser Weise konnten sie von Glück reden, dass Beth immer noch verunstaltet aussah mit den silbernen Zähnen, den angeschwollenen Lippen und dem blutigen Zahnfleisch, denn die HealthPlus-Mitarbeiter fühlten sich bei ihrem Anblick sichtlich unwohl. Sie alle schoben den schwarzen Peter weiter, bis Hunt und Beth schließlich in einen Saal gelangten, wo sie auf eine Gruppe von Managern der obersten Ebene trafen, darunter Ryan Fielding, Direktor der Südwest-Regionalvertretung von HealthPlus. Hunt und Beth standen am Fußende eines langen Kirschholztisches und erklärten zum mittlerweile fünften Mal, was geschehen war, und betonten, dass der psychopathische Zahnarzt ihnen von einem Mitarbeiter der Versicherung empfohlen worden war und zum Netzwerk von DentaPlus gehörte. »Ich verlange«, schloss Hunt seine Ausführungen, »dass dieser Zahnarzt gefunden und zur Rechenschaft gezogen wird.« »Und ich verlange, dass meine Zähne wieder in Ordnung gebracht werden«, ergänzte Beth. »Nun, es entspricht nicht unserer Firmenpolitik, die fachliche Meinung unserer hochqualifizierten Ärzte und Zahnärzte im Nachhinein zu kritisieren«, erwiderte Fielding. Die anderen Männer am Tisch nickten. Beth schlug mit der Faust auf den Tisch. »Was?« »Wir vertrauen unseren Fachleuten in Bezug auf spezielle Behandlungsmethoden und Heilverfahren. Wir treffen keine medizinischen oder zahnmedizinischen Entscheidungen. Das überlassen wir unseren Ärzten und Zahnärzten.« »Sehen Sie sich doch mal meine Zähne an!«, rief Beth und brach in Tränen aus. »Es ist nicht unsere Schuld, wenn Sie mit dem Ergebnis Ihrer Zahnbehandlung nicht zufrieden sind.« »Mit dem Ergebnis nicht zufrieden?« Ungläubig schüttelte Hunt den Kopf. »Haben Sie keine Augen im Kopf?« »Ich bin ein Monster!«, schrie Beth sie an. Mr. Fielding räusperte sich. »Ich verstehe. Wir werden alles tun, um dieses bedauerliche Ergebnis eines Missverständnisses wieder richtigzustellen. Aber ich muss noch einmal betonen, dass wir keinen Fehler gemacht haben. Ich will damit in keiner Weise andeuten, Sie beide seien prozesssüchtige Menschen oder hätten irgendwelche Hintergedanken, aber unsere Zustimmung, eine neue Behandlung zu übernehmen - praktisch für die gleiche Behandlung zweimal zu bezahlen -, lässt keinerlei Rückschlüsse darauf zu, dass wir haftbar oder verantwortlich wären für Fehler, die Ihr Zahnarzt begangen oder nicht begangen hat.« Hunt griff nach Beths Hand. »Dann werden Sie die Behandlung bezahlen?« »Selbstverständlich.« »Was ist mit diesem Dr. Blackburn?« »Es wird eine Untersuchung geben, und wenn die Betreffenden zu dem Schluss kommen, er habe unethisch oder illegal gehandelt, so wie Sie es darstellen, wird er in angemessener Weise zur Rechenschaft gezogen.« »Zur Rechenschaft gezogen? Das ist ziemlich vage ausgedrückt.« »Ein Gremium aus Fachkollegen wird ein Disziplinarverfahren gegen ihn anstrengen. Wenn sein Vergehen schwerwiegend genug ist, wird er seine Lizenz verlieren, und sollte es gerechtfertigt sein, wird ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet. Ich kann doch sicherlich davon ausgehen, dass Sie das zufriedenstellen wird?« Natürlich nicht, aber was hatten sie erwartet? Was geschehen war, ließ sich nicht wieder ungeschehen machen, und das Beste, was Hunt und Beth jetzt noch erhoffen konnten, war eine angemessene Bereinigung ihres Problems. Es gab keine Möglichkeit für sie, sich würdevoll zurückzuziehen oder sich gar als Sieger zu fühlen. Wenn sie sich jetzt bedankten, würde dies deutlich machen, dass man ihnen einen Gefallen getan hatte und sie beide somit in gewisser Weise in der Schuld des Vorstandes waren. Zeigten sie jedoch keine Dankbarkeit, sondern akzeptierten einfach nur Fieldings Vorschlag, hatten sie keine Möglichkeit mehr, in der Zukunft gegebenenfalls rechtliche Schritte einzuleiten. Lehnten sie den Vorschlag des Direktors ab, würde die Versicherung die Behandlung von Beths Zähnen nicht übernehmen. Was immer sie auch taten - es war auf jeden Fall verkehrt. »Also gut«, sagte Hunt knapp und nahm Beths Hand, und gemeinsam verließen sie den Versammlungsraum und das Gebäude und gingen zu ihrem Wagen, der auf dem grün markierten Zwanzig-Minuten-Parkplatz stand. An der Windschutzscheibe flatterte ein Strafzettel. 2. Der Mann, der im Eingang zu Joels Büro stand, war weder sonderlich groß noch sehr stämmig, und seine Gesichtszüge waren so wenig einprägsam, wie man es von Karriere-Bürokraten kannte, doch die Tatsache, dass er so plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war, ließ Joel zusammenzucken. Doch er hatte sich rasch wieder gefangen, und nun warf er dem Fremden einen Blick zu, von dem er hoffte, er würde Autorität ausstrahlen. »Hallo. Kann ich Ihnen behilflich sein?« »Kann ich Ihnen behilflich sein?«, entgegnete der Mann und betrat unaufgefordert das Büro. »Ich hatte mich gefragt, ob Sie schon Zeit gefunden haben, sich die Informationen anzuschauen, die ich Ihnen bezüglich Ihrer Angestellten-Versicherung habe zukommen lassen.« War das ein Scherz? Es musste so sein, aber dieser Mann gehörte eindeutig nicht zu Joels Studenten. Er sah überhaupt nicht wie ein Student aus, sondern hatte eine professionelle Ausstrahlung, die Joel dazu brachte, ihn sehr ernst zu nehmen. »Ich dachte, das sei ein Scherz meiner Studenten«, erklärte er. Der Mann wirkte verletzt. »Sie dachten, Ihre Angestellten-Versicherung sei ein Scherz?« In verärgertem Unglauben schüttelte er den Kopf. »Wenn Sie sich die Mühe gemacht hätten, die Unterlagen durchzuschauen, dann hätten Sie erfahren, dass dieses neue und innovative Deckungskonzept entwickelt wurde, um berufliche Sicherheit in diesem äußerst instabilen Berufsfeld zu bieten - eine Sicherheit, auf die sich früher jeder Amerikaner verlassen konnte. Doch im Zuge unserer derzeitigen Konjunkturlage ist so etwas zunehmend rar geworden.« Joel konnte es immer noch kaum glauben, dass das Ganze kein Scherz war, sondern durchaus ernst gemeint, doch das sachliche Auftreten dieses Mannes drückte genau das aus. »Ich habe hier eine feste Anstellung«, ging Joel auf die Ausführungen des Vertreters ein. »Ich brauche keine derartige Versicherung.« »Vielleicht haben Sie noch andere Versicherungen, bei denen ich Ihnen behilflich sein könnte.« »Es tut mir leid«, gab Joel zurück. »Kommen Sie. Ich weiß, dass Sie mit Ihrer Autoversicherung nicht zufrieden sind. Sie sind doch bei der UAI, richtig?« Joel wurde misstrauisch. »Woher wissen Sie das?« »Ein guter Versicherungsvertreter kennt die Bedürfnisse seiner Kunden«, erklärte der Mann. »Nur so können wir effektiv genau die Versicherungsleistungen anbieten, die den jeweiligen, individuellen Bedürfnissen entsprechen. Wenn ich mir also erlauben darf, Ihnen einen Vorschlag zu unterbreiten ...« Hinter dem Versicherungsvertreter war ein kahlrasierter Student in dunkler, übermäßig weit geschnittener Kleidung aufgetaucht und drückte sich auf dem Gang vor dem Büro herum: Luis Monteros, ein widerspenstiges Bandenmitglied, das während Joels Dienstags- und Donnerstagskursen immer in der letzten Reihe saß und bei dem es nur eine Frage der Zeit war, bis er sich die erste Bewährungsstrafe einhandelte. Normalerweise war Luis so ziemlich der Letzte, auf dessen Erscheinen Joel während seiner Sprechstunden Wert legte. Doch im Augenblick war er für Joel der Retter, und so winkte er ihn herein, dankbar, einen Anlass gefunden zu haben, den Versicherungsvertreter hinauszuschicken. »Es tut mir leid«, wiederholte er, »aber ich muss jetzt mit einem meiner Studenten sprechen. Warum lassen Sie mir nicht Ihre Karte hier, und ich melde mich bei Ihnen?« Der Gesichtsausdruck des Mannes wirkte kalt und hart, und einen kurzen, verwirrenden Sekundenbruchteil hatte Joel regelrecht Angst vor ihm: Der Mann schien ihm auf eine völlig irrationale Weise feindselig gegenüberzustehen - und er wirkte auch durchaus in der Lage, Joel diese Feindseligkeit körperlich spüren zu lassen. Dann war der Moment verflogen, und mit dem gekünstelten Lächeln eines erfahrenen Vertreters zog der Mann eine Karte hervor und reichte sie ihm. QUALITY INSURANCE stand auf der Karte. Außerdem war eine Telefonnummer angegeben, doch das war auch schon alles. Joel wollte den Mann gerade nach seinem Namen fragen, als Luis sich ins Büro drängte. Der Vertreter schlüpfte hinaus auf den Gang. Plötzlich erschien es Joel wichtig zu erfahren, wer dieser Mann war. »Nach wem soll ich fragen, wenn ich anrufe?«, rief er ihm hinterher. Der Vertreter lächelte und winkte ihm zu. Und dann war er fort. 3. Beth weigerte sich, einen Blick in den Spiegel zu werfen, während sie sich das Haar frisierte. Sie bürstete es instinktiv, rein mechanisch, und tat alles, was sie konnte, um nicht ihren Mund anschauen zu müssen. Für kurze Zeit - vor allem, wenn sie mit Hunt oder ihren Freunden zusammen war - vergaß sie hin und wieder, dass sie Zähne aus Metall hatte. Aber solche Ruhepausen waren immer nur kurz. Jede Abweichung von der Routine ihres Alltagslebens, selbst eine Kleinigkeit wie ein Abstecher zum Supermarkt, wurde sofort zu einem entsetzlichen Desaster. Sie kam sich vor wie Quasimodo, ein Ungeheuer unter den Menschen, ein Objekt des Tuschelns und des Spottes, und sie spürte nur zu deutlich, wie sie angestarrt wurde - und wie man ihr aus dem Weg ging. Die Schwellung ihrer Lippen war zurückgegangen, und die Schmerzen im Zahnfleisch waren mittlerweile nur noch ein unangenehmes Pochen, doch laut Dr. Mirza, ihrer neuen Zahnärztin, würde es noch mindestens einen oder zwei Monate dauern, bis der Heilungsprozess weit genug fortgeschritten sein würde, um die silbernen Zähne zu ziehen und durch Emaille-Prothesen zu ersetzen. Es stellte sich heraus, dass Hunt und Beth für die anstehende Operation eine ganze Menge aus eigener Tasche würden bezahlen müssen. Die Versicherung war lediglich bereit, eine Behandlung zu bezahlen, die ebenso teuer oder weniger kostspielig war wie die vorangegangene. Als hätte er genau das erwartet, hatte Dr. Blackburn für das Ziehen und die erste Prothese einen lächerlich geringen Betrag veranschlagt, und Dr. Mirzas Kostenvoranschlag konnte diesem Preis nicht einmal ansatzweise gleichkommen. Hunt und sie stritten sich deswegen immer noch mit DentaPlus, doch sie wussten beide, dass das Ergebnis selbstverständlich längst feststand, und sie hatten sich bereits damit abgefunden, den Restbetrag selbst zu zahlen. Sobald sie sämtliche Rechtsmittel eingelegt hatten, die ihnen zur Verfügung standen, wollten sie vor Gericht gehen. Wenn schon nichts anderes, mochte ein Prozess die Versicherung wenigstens dazu bewegen, sich auf einen Vergleich einzulassen und den fälligen Restbetrag zu übernehmen, um nicht das Risiko einzugehen, eine schlechte Presse zu bekommen. Beth hatte sich die Haare fertig gekämmt und legte nun etwas Lippenstift auf. Dafür musste sie im Spiegel ihren Mund anschauen, und als sie eine Farbe auswählte, die ihre Lippen tatsächlich weniger auffällig wirken ließ und diese dann auftrug, tat sie es so schnell wie möglich. Dann griff sie rasch nach ihrer Geldbörse, verließ das Schlafzimmer, rief Courtney zum Abschied zu, verschloss die Haustür und ging zu ihrem Wagen, um zur Arbeit zu fahren. Es war noch früh am Morgen. Die meisten Nachbarn waren noch in ihren Häusern und bereiteten sich auf die Arbeit vor oder waren bereits aufgebrochen und jetzt unterwegs. Ed Brett, ihr Nachbar zur Linken, spritzte mit dem Gartenschlauch gerade seinen Lexus ab, während sein jüngerer Sohn auf dem Bürgersteig saß und Kieselsteine auf die Fahrbahn warf. Mit den meisten Nachbarn kam Beth ziemlich gut klar. Die Familie, die rechts von ihnen wohnte, war dort schon eingezogen, während die restlichen Parzellen erst noch vollständig erschlossen wurden, und sie hatten Beth mit einer Party in der Nachbarschaft willkommen geheißen, kaum dass sie eingezogen war, damit sie auch die anderen Leute in ihrer Straße kennen lernen konnte. Echte »Freunde« waren sie nicht, aber sie waren freundlich, und Beth half aus, wenn die Leute in Urlaub waren. Umgekehrt gossen die Nachbarn Beths Blumen und achteten ganz allgemein auf das Haus, wenn Beth einmal nicht da war. Die beiden alten Molokaner-Schwestern, die gleich gegenüber wohnten, blieben öfters stehen, um ein bisschen mit Beth zu plaudern, wenn diese gerade Unkraut jätete oder die Pflanzen im Vorgarten schnitt, und wenigstens an jedem zweiten Wochenende besuchte Beth die beiden Schwestern auf eine Tasse Tee. Der junge Mann, der in dem Haus neben ihnen wohnte - ein Mechaniker, der einen Großteil seiner Freizeit damit verbrachte, in seiner Garage an einem Motorrad zu schrauben -, war immer nett zu ihr, auch wenn sie einander nie richtig kennen gelernt hatten. Aber die Nachbarn zur Linken, die Bretts, hatte Beth nie sonderlich gemocht. Vor etwa einem Jahr waren sie eingezogen; sie hatten das Haus Tom und Jan Kraal abgekauft, die Beths engste Freunde in der Gegend gewesen waren und die nach Tarzana in Kalifornien hatten ziehen müssen, weil Toms Firma ihn dorthin versetzt hatte. Zuerst hatte Beth versucht, eine gewisse Nachbarschaftlichkeit zu den Bretts aufzubauen. Jeder in der Straße hatte das versucht. Doch Sally Brett war eine geplagte Hausfrau, die nur selten ihr Heim - das eher ihr Gefängnis war -, verließ, und ihr Mann Ed war ein unhöflicher, streitlustiger Flegel, der es schon bald geschafft hatte, es sich mit den meisten Leuten aus der Nachbarschaft zu verderben. Und ihre beiden Söhne waren verzogene Bälger, die sonderbare Ansichten hatten, was ihnen in der Welt alles zustünde. Verärgert stellte Beth fest, dass der Junge die Kieselsteine genau dorthin warf, wohin sie mit ihrem Wagen würde zurücksetzen müssen, doch sie sagte nichts. Also schloss sie das Auto auf und öffnete die Tür. »Hey!«, rief der Junge ihr hinterher. »Was ist denn mit Ihren Zähnen?« Er lachte, und sein Vater fiel ein. Plötzlich wurde Beth von einer ungeheuren Wut gepackt. Sie schlug ihre Wagentür zu und ging zu dem Jungen hinüber, der immer noch auf dem Bürgersteig saß. »Das war nicht sehr nett von dir«, sagte sie. Ed Brett ließ den Gartenschlauch fallen und kam zu ihr hinüber. »So reden Sie nicht mit meinem Jungen!« »Er war unhöflich.« »Er war ehrlich. So sind Kinder nun mal.« Dabei hätte Beth es bewenden lassen können, doch sie konnte sich nicht mehr zurückhalten. »Irgendjemand muss ihm ja mal Manieren beibringen«, fuhr sie fort. »Zuhause lernt er sie auf jeden Fall nicht.« »Was ist denn nun eigentlich mit Ihren Zähnen?« Mit gespielter Verwirrung starrte Ed Brett auf ihre Zähne. Beth schloss den Mund und wandte sich ab, ging mit schnellen Schritten zu ihrem Wagen, hielt mit Mühe die Tränen zurück, die ihr in den Augen brannten, und versuchte, das Gelächter von Ed Brett und seinem verzogenen Balg zu ignorieren. Als sie am Abend Hunt davon erzählte, wurde der sehr wütend. Er wollte auf der Stelle hinübergehen und Brett dazu bringen, sich zu entschuldigen. Doch die Nachbarn zu verärgern würde auch nichts einfacher machen, und so überzeugte Beth ihn davon, die Sache einfach zu vergessen und die Dinge laufen zu lassen. »Ich bin nur übersensibel«, sagte sie. »Ich sollte mir so etwas gar nicht erst zu Herzen nehmen. Das liegt nur an diesen ... Zähnen.« »Ich würde dich auch dann lieben, wenn deine Zähne grün oder braun oder rot-weiß-blau wären.« »Ich weiß«, sagte sie und küsste ihn. »Deswegen behalte ich dich ja auch.« ZWÖLF 1. Am Samstag schliefen sie lange aus, dankbar, ein bisschen mehr Schlaf zu bekommen. Hunt erwachte als Erster, streckte die Hand aus und streichelte Beth sanft zwischen den Beinen, doch sie schob mürrisch seine Hand fort. »Später«, murmelte sie nur. Also griff Hunt nach der Fernbedienung, schaltete den Fernseher ein und ging dann auf einen Sender, der Cartoons brachte. Auf Nickelodeon lief SpongeBob, und eine Zeitlang schaute Hunt sich die Sendung an, ehe er in die Küche ging, um Courtney zu füttern und zum Frühstück einen Bagel in den Toaster zu schieben. Während er die Zeitung las, stand auch Beth auf. Sie goss sich ein Glas Saft ein, und weil ihre Zähne immer noch schmerzten, kochte sie sich Weizenmehlbrei. Nach dem Frühstück wollten sie eigentlich zum Gartencenter fahren und einen neuen Rechen und ein paar Hängepflanzen für die Veranda hinter dem Haus kaufen. Hunt duschte und rasierte sich; dann kämmte er sich schnell und schlüpfte in eine alte Jeans und ein T-Shirt. Beth streifte die Kleidung über, die sie am Wochenende bei der Gartenarbeit immer trug. Sie öffneten die Tür ... ... und der Versicherungsvertreter stand auf der Veranda. »Schön, dass ich Sie antreffe«, sagte er und lächelte breit. »Ihre Versicherungspolicen sind eingetroffen. Jetzt ist der große Tag wirklich da! Darf ich hereinkommen?« Er wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern drängte sich an ihnen vorbei ins Wohnzimmer. Sie folgten ihm. Er wirkte größer als beim letzten Mal, und noch irgendetwas anderes hatte sich an ihm verändert, doch was genau es war, hätte Hunt nicht beschreiben können. Der Vertreter trat zwischen das Sofa und den Couchtisch und legte seinen Aktenkoffer ab. Er schaute Beth an und runzelte übertrieben die Stirn. »Was in aller Welt ist mit Ihnen passiert, Mrs. Jackson? Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber das ist ja die reinste Katastrophe!« Peinlich berührt, presste Beth die Hand auf den Mund, und das Blut schoss ihr ins Gesicht. »Jetzt hören Sie mal ...!«, sagte Hunt verärgert. »Das Problem wäre nicht aufgetreten«, entgegnete der Vertreter, »hätten Sie unsere Zahnfürsorge-Zusatzversicherung abgeschlossen, wie ich es Ihnen geraten hatte - und die Sache ließe sich morgen schon bereinigen, wenn Sie sich für eine unserer zahlreichen ausgezeichneten Zahnfürsorge-Pläne entscheiden würden. Wir arbeiten nur mit den besten Zahnärzten und Kieferchirurgen zusammen. Tatsächlich lassen wir die sogar bei uns vorsprechen. Normalerweise obliegt es den Ärzten und Zahnärzten zu entscheiden, ob sie die Versicherung bestimmter Versicherungsträger akzeptieren oder nicht. Aber bei uns ist es so, dass wir entscheiden. Wir sind diejenigen, die zulassen, ob unsere Kunden von bestimmten Ärzten behandelt werden. Deshalb bieten wir die besten Ärzte und die hellsten Köpfe auf dem gesamten Gebiet der Medizin und Zahnmedizin.« Er warf Hunt und Beth ein gewinnendes Lächeln zu. »Aber dazu kommen wir später. Machen Sie sich keine Sorgen. Erst sollten wir die brandneuen, frisch erstellten Policen begutachten, nicht wahr?« Er öffnete seinen Aktenkoffer, zog zwei elegant gedruckte Heftchen hervor und legte sie geradezu liebevoll auf den Couchtisch. »Ich würde das gerne mit Ihnen zusammen durchgehen, wenn ich darf. Sie haben vielleicht noch die eine oder andere Frage zum Leistungsumfang, die ich Ihnen nur zu gerne beantworten werde.« Er deutete auf das Sofa. »Setzen Sie sich, setzen Sie sich!« Willfährig kamen sie der Aufforderung nach. Der Vertreter reichte jedem von ihnen ein Heftchen, elegant gebunden, mit einem olivgrünen Umschlag. »Das sind zwei Ausfertigungen Ihrer neuen Immobilienversicherung. Ich möchte Sie bitten, Seite eins aufzuschlagen und zu überprüfen, ob Ihre Namen richtig geschrieben wurden, dann gehen wir zu Seite zwei über und schauen uns die allgemeinen Geschäftsbedingungen der Police an, damit klar wird, was das für Sie im Einzelnen bedeutet.« Neugierig öffnete Hunt das Heftchen und schaute auf die Kopfzeile der Seite, suchte nach dem Namen der ausstellenden Versicherung. The Insurance Group. War das alles? Eine Versicherung, die sich nur »die Versicherungsgruppe« nannte? Hunt blätterte die Seiten durch, überflog das Dokument auf der Suche nach einem weiteren Namen oder einer detaillierteren Beschreibung, doch er fand nichts. Ihm wäre wohler gewesen, hätte er den Namen der Versicherung gekannt, für die der Vertreter arbeitete; dann hätte Hunt die neuen Policen mit einer bestimmten Firmenphilosophie verbinden können, sodass er sich sicherer gefühlt hätte, doch dieser Name - Insurance Group - war so nichtssagend, dass es Hunt beinahe schon misstrauisch machte. »Sie arbeiten für die Insurance Group?«, fragte er nach. »Ja, allerdings.« Der Vertreter lächelte ihn an. »Und ich könnte mir keine Gesellschaft vorstellen, für die ich lieber tätig wäre. Wenn wir jetzt zu Seite zwei, Absatz eins übergehen könnten ...« Er brauchte fast fünfzehn Minuten, um ihnen den Inhalt dieser Seite zu beschreiben. Schon nach den ersten fünfzig Sekunden wurde Hunts Blick leicht glasig, doch der Vertreter schilderte dermaßen hingerissen die verschiedenen Versicherungsleistungen, die sie bei verschiedenen Szenarios erhalten würden, und sprach dabei so schnell und mitreißend, dass weder Hunt noch Beth ein einziges Wort dazwischen hätten einflechten können. Hunt blätterte zur letzten Seite des Heftchens. Noch fünfunddreißig weitere Seiten. Ganz zu schweigen von dem anderen Policen-Heftchen, das noch auf dem Couchtisch lag. Hunt beschloss, energisch zu werden. »Wir haben es heute ein bisschen eilig«, sagte er. »Warum lassen Sie uns die Policen nicht einfach hier? Wir schauen sie genau durch, und falls wir noch irgendwelche Fragen haben, rufen wir Sie an.« Der Vertreter wirkte enttäuscht. Er genoss es sichtlich, ihnen sämtliche noch so kleinen Details minutiös zu beschreiben. Doch er erholte sich schnell, sammelte die Policen ein und reichte sie ihnen. »Ich verstehe«, sagte er. »Manchmal, gerade bei solchen Dingen, zieht man es vor, sich in der Ruhe und Privatsphäre des eigenen Heims damit auseinanderzusetzen. Das ist nur zu verständlich. Also gut, dann wollen wir doch mal schauen, wie wir Ihre anderen Probleme lösen können.« Wie zuvor zog er ein eng bedrucktes Formular und ein Schmierpapier hervor. Dann murmelte er etwas Unverständliches vor sich hin, kritzelte etwas aufs Papier, hob den Kopf und blickte Hunt und Beth strahlend an. »Sehr schön. Wir können Ihnen ein umfassendes Zahnfürsorge-Arzt-Komplettpaket anbieten - wir nennen es Denta-Med -, und das zu einem Bruchteil der Beiträge, die selbst unser günstigster Konkurrent verlangt!« »Das hört sich großartig an, aber selbst, wenn wir wechseln wollten, können wir es nicht«, gab Hunt zu bedenken. »Ich erhalte die Kranken- und Zahnfürsorgeversicherung durch meinen Arbeitgeber. Für meine Frau gilt das Gleiche. Und bei uns beiden ist ein Wechsel frühestens zum Herbst möglich. Wir kommen aus unseren Versicherungen nicht raus, bis ...« »Warten Sie mal!«, sagte der Vertreter und klang ehrlich schockiert. »Sie haben Ihre Policen noch nicht einmal konsolidiert? In dem Augenblick, da Sie geheiratet haben, hätte der Ehepartner mit der besseren Versorgung den anderen Partner sofort als Familienangehörigen mitversichern lassen sollen, und der hätte dann sämtliche Leistungen seines Arbeitgebers auf einen nachträglichen Vergütungsplan umschreiben können.« Der Versicherungsvertreter durchwühlte seinen Aktenkoffer und zog ein Bündel Papiere und mehrere Stifte hervor. »Lassen Sie mich das kurz mit Ihnen durchgehen.« »Es tut mir leid«, sagte Hunt. »Wir sind nicht interessiert.« Beth legte ihm die Hand auf den Arm. »Es kann ja nicht schaden, es sich anzuhören.« »Aber wir sind durch unsere Arbeitgeber versichert ...« »Und das wird auch so bleiben«, unterbrach der Vertreter ihn. »Genau das will ich Ihnen ja zeigen. Für nur wenige Pennies mehr im Monat können Sie die bestmögliche Versicherung haben. Und Sie müssen auch nicht bis zum nächsten Wechseltermin warten. Das Ganze läuft folgendermaßen: Wir übernehmen ihrer beider bestehenden Versicherungspolicen und sammeln die Beiträge ein, die Sie und Ihre Arbeitgeber zahlen. Dann werden wir Ihnen jeden Monat eine bescheidene Rechnung für den Differenzbetrag schicken, und - voilà! - schon sind Sie im besten Programm, das für Geld zu haben ist. Die Deregulierung ermöglicht es uns, eine breitere Angebotspalette parat zu halten und auch kreative Methoden der Anwerbung einzusetzen. Für den Verbraucher ist das ein wahrer Segen. Männer und Frauen wie Sie, die bisher in starren Plänen eingezwängt waren, die sich im Schadensfall womöglich als unbefriedigend erwiesen hätten, können jetzt die beste Versicherungsabdeckung des Countys erhalten - so wie es seit fünfundzwanzig Jahren durch unabhängige Tester von Dienstleistungen und Waren dokumentiert wird.« »Hören Sie«, sagte Hunt mit fester Stimme. »Wir suchen keine neue Versicherung. Sie können mit der energischen Verkaufstechnik aufhören.« »Du hast ja auch keine silbernen Zähne«, merkte Beth an. Dann nickte sie dem Vertreter zu. »Fahren Sie fort.« Aus seinem Aktenkoffer zog er zwei kleine Heftchen hervor und reichte jedem von ihnen eines. »Dies hier ist das Komplettpaket, von dem ich gesprochen habe. Wenn Sie bitte Seite eins aufschlagen wollen ...« Es dauerte fast eine Stunde, sämtliche Leistungen der Denta-Med-Versicherung aufzuzählen, und als der Vertreter fertig war, musste Hunt zugeben, dass es tatsächlich nach einer sehr viel besseren Versicherungsleistung klang als das, was das County oder die Thompson Industries boten. Hinzu kam, dass sie wirklich Geld sparen würden - falls es stimmte, was der Vertreter erzählte. Auch wenn sie einen Teil der Beiträge aus eigener Tasche würden zahlen müssen, würde Beth am Ende des Monats deutlich mehr auf ihrem Gehaltsscheck vorfinden, weil sie bei Hunt mitversichert wäre und der Arbeitnehmerbeitrag zu den Versicherungsleistungen ihr nicht mehr abgezogen würde. »Das gefällt mir«, sagte sie. Hunt seufzte. »Ja. Klingt gut.« »Ausgezeichnet. Ich habe zufälligerweise die Anträge gerade dabei. Wenn Sie also hier unterzeichnen und paraphieren würden, dann können wir das Ganze ins Rollen bringen.« Den Stift schon in der Hand, stockte Hunt. »Und wenn wir es uns anders überlegen? Wenn wir wieder aussteigen wollen?« »Hm«, sagte der Vertreter. »Nun, in dem Falle würden Sie bis zur üblichen Wechselfrist warten müssen, die Ihre Arbeitgeber vorgesehen haben.« »Das heißt, wir spielen hier alles oder nichts.« »Nein, überhaupt nicht. Die Zufriedenheit unserer Kunden ...« »Und die hervorragende Bewertung Ihrer Versicherung durch Verbraucherorganisationen. Ich weiß, ich weiß.« Hunt schaute Beth an, sah die Entschlossenheit in ihrem Blick, atmete tief durch und unterschrieb den Antrag. Was machte es schon? Er war ja sowieso kaum krank. Wahrscheinlich würde er die Versicherung vor der Wechselfrist gar nicht in Anspruch nehmen müssen. Beth würde das Versuchskaninchen spielen - und sie war ja auch diejenige, die es ausprobieren wollte. Beide unterschrieben und datierten ihre vier Seiten; dann tauschten sie die Unterlagen und kümmerten sich um die jeweils andere Ausfertigung. Der Vertreter nahm ihnen die Formulare ab, legte sie in seinen Aktenkoffer und schloss ihn; dann stellte er die Tasche neben das Sofa. »Ich danke Ihnen. Hier ist meine Karte. Wie schon gesagt - falls ich irgendetwas für Sie tun kann, oder wenn Sie Fragen haben, scheuen Sie sich nicht, mich anzurufen.« Es war die gleiche Karte, die er ihnen schon einmal gegeben hatte: QUALITY INSURANCE. Die Telefonnummer. Kein Name. »Wenn wir anrufen«, stellte Hunt die Frage, »mit wem sollen wir uns dann verbinden lassen?« »Mit mir natürlich.« »Und wie heißen Sie?« Er lächelte. »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin immer derjenige, der ans Telefon geht.« Er erhob sich, schüttelte ihnen beiden die Hand ... nicht ganz so ledrig ... und ging zur Tür. »Haben Sie nicht etwas vergessen?« Beth deutete auf den Aktenkoffer. Er lächelte reumütig. »Manchmal glaube ich, ich könnte sogar meinen Kopf vergessen, wenn der nicht festgeschraubt wäre. Letzte Woche habe ich den Antrag auf eine Risikolebensversicherung vergessen und musste wieder in mein Büro zurück, um ihn zu holen.« »Geistesabwesenheit ist bei einem Versicherungsvertreter immer ein gutes Zeichen«, sagte Hunt. »Das ist sehr Vertrauen erweckend.« Der Vertreter warf Hunt einen giftigen Blick zu, der überhaupt nicht zu seinem freundlichen, enthusiastischen Auftreten passte, das er stets an den Tag legte. Für einen Moment war Hunt irritiert. Auch Beth schien erstaunt. Doch der feindselige Gesichtsausdruck des Mannes war so schnell verschwunden, wie er gekommen war. Sofort hatte der Vertreter wieder die altbekannte fröhliche Miene aufgesetzt. Hunt musste an ein Ungeheuer denken, das sich eine Menschenmaske über die wahre, entsetzliche Fratze zog. Wenigstens einen Augenblick, überlegte er, haben wir ihn ohne Maske gesehen. »Ich hoffe, Sie haben Freude an Ihren neue Policen«, sagte der Vertreter und griff nach seinem Aktenkoffer. »Schauen Sie alles durch, beschäftigen Sie sich ganz nach Belieben damit, und lassen Sie mich wissen, wenn ich sonst noch etwas für Sie tun kann.« Er drehte sich um, verharrt dann aber noch einmal. »Habe ich erwähnt, dass wir jetzt auch Arbeitsplatzversicherungen anbieten?« Keiner von ihnen antwortete. »Das ist nicht wie eine Arbeitslosenversicherung - sie garantiert Ihnen kein Einkommen, wenn Sie vorübergehend ohne Job sind. Sie garantiert vielmehr, dass Sie gar nicht erst arbeitslos werden, dass Ihre Stelle sicher bleibt, dass Sie nicht etwa beispielsweise ihren Arbeitsplatz im Zuge von Einsparungsmaßnahmen oder Privatisierungsmaßnahmen verlieren.« Er lächelte Hunt an. »Oder dass Sie wegen Fremdfaktoren den Spaß an Ihrer Arbeit verlieren.« Er lächelte Beth an. »Dank dieser Versicherungsleistung wird Ihnen eine feste Stellung an einem Arbeitsplatz garantiert, den sie auch mögen. Und was will man mehr?« Bevor die beiden etwas erwidern konnten, trat der Vertreter durch die Tür. »Ich lasse Ihnen ein wenig Zeit, das einmal zu besprechen. Ich muss zu weiteren Kunden, mit denen ich Termine habe, aber ich komme heute Nachmittag wieder.« »Nein«, beharrte Hunt. »Wir werden darüber reden und Sie anrufen, wenn wir uns dafür entscheiden«, versprach Beth. Er winkte ab. »Gar kein Problem, das mache ich gerne. Sie liegen sowieso auf meinem Rückweg. Ich komme dann irgendwann nach eins vorbei.« »Vielleicht werden wir nicht zu Hause sein«, warnte Beth ihn. »Das ist okay. Ich warte gerne.« »Wir haben zu tun«, sagte Hunt mit fester Stimme. »Heute ist kein guter Tag.« Endlich schien er zu verstehen. »Dann ein anderes Mal.« Er winkte ihnen zu und ging den Betonweg zum Bürgersteig hinab. In dem Augenblick fuhr ein Pickup vorbei, deswegen konnte Hunt sich nicht ganz sicher sein, aber er glaubte den Versicherungsvertreter fröhlich pfeifen zu hören. 2. »Arbeitsplatzversicherung«, sagte Jorge. »Hast du jemals von so etwas gehört?« Sie waren im abgelegenen Teil eines abgelegenen Parks, in dem sie nur sehr selten zu tun hatten, und räumten gerade einen abgestorbenen Grünholzbaum und vier Mesquitebäume fort, die ein Hochwasser während eines Wolkenbruchs vor ein paar Wochen entwurzelt hatte. Mit einer Schaufel mühte sich Jorge, einen unnachgiebigen Ast aus dem wieder fest gewordenen Schlamm zu befreien. Edward und Hunt schleppten derweil die Holzblöcke beiseite, mit denen der Wanderweg markiert war, damit sie schwereres Gerät herbeiholen konnten. »Was hast du dir denn da aufschwatzen lassen?«, fragte Edward. »Als Nächstes wirst du uns noch erzählen, dass du abnehmen willst, indem du die Pillen einschmeißt, die du bei 'ner Infomercial-Sendung gekauft hast.« »Ich weiß«, sagte Jorge. »Inzwischen glaube ich, dass wir diese Gesundheitsfürsorge-Zusatzversicherung bei jemand anderem hätten abschließen sollen. Jemand, der so was wie eine Arbeitsplatzversicherung anbietet, kann doch nicht ganz sauber sein.« »Kündigen kann man ja immer noch.« Hunt war sehr schweigsam, und sie beide schauten zu ihm hinüber. »He, Meister«, sagte Jorge. »Passt gar nicht zu dir, dass du so still bist. Du musst doch auch 'ne Meinung dazu haben.« »Mir hat man auch so eine Arbeitsplatzversicherung angeboten.« »Ohne Scheiß?« Jorge war erstaunt - und zugleich auch wieder nicht. Hunts ungewöhnliches Verhalten passte genau dazu, wie er selbst sich fühlte, und er begriff, dass das Unbehagen seines Freundes genau so deutlich war wie sein eigenes. »Was habt ihr denn für einen Versicherungsvertreter?« Hunt schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich meine, ich weiß nicht, wie er heißt. Die Gesellschaft heißt nur The Insurance Group.« »Ist der ... einfach so aufgetaucht? Einfach so von der Straße zu euch gekommen, hat sich praktisch selbst in euer Haus gebeten und ist geblieben, bis ihr irgendwas abgeschlossen habt?« Aus irgendeinem Grund fuhr Jorge ein kalter Schauer über den Rücken, und er war äußerst verwirrt. »Er hat sich nicht selbst eingeladen«, sagte Hunt, jetzt noch leiser. »Wir haben ihn hereingebeten.« Irgendetwas daran, wie er es schilderte, kam den beiden anderen sonderbar vor. »Irgendein Typ von der Straße? Was ist denn bloß mit euch beiden los?«, fragte Edward. »Meine Fresse! Das ist doch das erste Gebot des Verbraucherschutzes! Niemals etwas bei einem Klinkenputzer abschließen.« »Wir haben die Arbeitsplatzversicherung ja nicht abgeschlossen«, erklärte Hunt. »Aber andere Versicherungen, nicht wahr? Glaubt es mir, es ist nie gut, so einen Treppenterrier zu unterstützen.« »Und das ist was anderes, als Dinge im Internet zu kaufen, ja?«, gab Jorge zurück. Der breitschultrige Mann zuckte mit den Schultern. »Macht doch, was ihr wollt, ist ja schließlich euer Geld. Aber kommt nachher nicht heulend angekrochen, wenn ihr so richtig Ärger kriegt.« Weder Hunt noch Jorge wussten etwas darauf zu erwidern. Jorge war sich natürlich nicht sicher, was gerade in Hunt vor sich ging, aber er selbst war der Ansicht, dass Edward vollkommen recht hatte. »Er war hier«, sagte Ynez als Erstes, als Jorge nach Hause kam. Sie war aufgeregt, aber Jorge wusste nicht, ob sie wütend oder verängstigt war - oder beides. »Er ist in der Mittagszeit gekommen.« »Wer denn?«, fragte Jorge nach. »Dieser Versicherungsvertreter.« Langsam wurde es sonderbar. »Was wollte er denn?« »Er hat gesagt, wir würden weitere Versicherungen abschließen müssen, weil wir ... falls irgendwelche Komplikationen auftreten und wir nicht genug Geld hätten, um die Geburt und all die zusätzlichen Kosten zu zahlen.« »Und was hast du ihm gesagt?« »Ich habe ihm gesagt, ich würde mit dir darüber reden. Er hat mir dieses Flugblatt in die Hand gedrückt.« Es war das Foto auf dem Titelblatt, das sofort seine Aufmerksamkeit erregte, nicht etwa die marktschreierischen Worte, die darunter standen. Ein Neugeborenes mit einer triefenden Öffnung im Brustkorb und fledermausartigen Flügeln anstelle der Arme. Das könnte auch Ihnen passieren!, verkündete der dazugehörige Text. Angewidert hob Jorge den Kopf. Ynez brach in Tränen aus. »Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Er hat da gesessen und mich gezwungen, das zu lesen, und er wollte einfach nicht gehen. Er hat gesagt, ich würde vielleicht ein paar Fragen haben, und er wolle zur Verfügung stehen, um diese Fragen zu beantworten.« Sie schlang den Arm um Jorge und hielt sich an ihm fest, schluchzte in seine Schulter hinein. In Jorges Innerem tobte weißglühende Wut. Er schlug das Flugblatt auf und sah das Foto eines verschrumpelten, purpurroten Säuglings mit sonderbar aufgeblähtem Schädel. Ynez ließ ihn los und wischte sich über die Augen. »Ich glaube, wir sollten so eine Versicherung abschließen«, sagte sie. »Zum Teufel damit! Ich werde sofort unsere Zusatzversicherung kündigen!« Sie umklammerte seinen Arm. »Nein! Das kannst du nicht tun!« »Wir gehen zu einem anderen Anbieter. Aber ich werde diesen Einschüchterungsversuchen nicht nachgeben! Wie Edward heute schon gesagt hat: Warum sollten wir bei diesem Kerl irgendetwas abschließen? Wir wissen doch überhaupt nichts über ihn!« »Dann bezahle ich das von meinem eigenen Geld!« »Begreifst du denn nicht, was hier passiert? Du machst doch genau das, was dieser Kerl will.« Jorge wedelte mit dem Flugblatt. »Du gehst genau darauf ein.« »Alles wäre abgedeckt«, flehte sie ihn an. »Egal was passiert, wir würden die beste Pflege bekommen.« Ynez hielt ihn fest und schaute ihm tief in die Augen. »Es geht hier um unseren Sohn! Wir müssen doch daran denken, was für ihn das Beste wäre, nicht für uns!« Sie hatte recht, doch Jorge war sich nicht sicher, ob es tatsächlich das Beste für ihr Kind war, bei diesem unheimlichen Kerl eine weitere Versicherung abzuschließen. Dennoch verstand er, was seiner Frau solche Sorgen machte, und er sagte ihr, er werde die Versicherung aufrechterhalten, bis er eine Alternative gefunden hätte. »Aber hör nicht wieder auf diesen Vertreter«, fügte er hinzu. »Wenn der Kerl noch einmal auftaucht, lass dich von ihm zu nichts beschwatzen. Lass dir von dem keine neue Versicherung aufdrücken!« »Mach dir keine Sorgen«, sagte Ynez, und er hörte die Angst in ihrer Stimme. »Wenn der Vertreter wiederkommt, mache ich nicht mal die Tür auf.« 3. »Hallo!« Hunt brauchte einen Augenblick, um die Stimme am Telefon zu erkennen, und reagierte augenblicklich gereizt. Es war der Versicherungsvertreter. »Wie geht es Ihnen heute, Mr. Jackson? Ich rufe nur an, um Sie über eine neue Versicherungsleistung auf dem Laufenden zu halten, die wir unseren besten und treuesten Kunden nur für kurze Zeit anbieten. Genau genommen ist das ein Zusatz zu unserer Personenschadensversicherung Deluxe, sodass Sie natürlich erst einmal eine Personenschadensversicherung abschließen müssen, wenn Sie diesen Zusatz haben wollen, aber ich garantiere Ihnen, dass es Ihr Schaden nicht sein soll.« Hunt seufzte. »Also gut, ich gebe nach. Worum geht es?« »Eine Rechtsversicherung.« »Also würde Sie einen Rechtsanwalt bezahlen für den Fall, dass ich verklagt werde?« Der Vertreter lachte. »Prozesskosten und andere Aspekte des Rechtsschutzes sind bereits bei den jeweiligen anderen Versicherungen mit eingeschlossen, also Autoversicherung oder Immobilienversicherung und so weiter. Nein, diese Police garantiert Ihnen, dass Sie nicht fälschlich einer Straftat verdächtigt und nicht festgenommen werden, falls ...« »Was zum Teufel ist das denn?« »Das versuche ich Ihnen gerade zu erklären, Mr. Jackson.« »Lassen wir's doch gleich«, gab Hunt zurück. »Ich weiß ja nicht, was für eine Versicherung etwas derart Lächerliches anbietet, aber ...« »Die Insurance Group ist eine Interessengemeinschaft zahlreicher gut etablierter und angesehener Versicherungsträger.« »... aber ich kann Ihnen versichern, dass weder meine Frau noch ich selbst für einen derartigen Mist auch nur einen einzigen Cent verschwenden würde.« »Was ist denn?«, fragte Beth und steckte den Kopf aus der Küche. Hunt legte die Hand über die Muschel. »Der Versicherungsvertreter«, sagte er angewidert. »Ich glaube wirklich, Sie sollten das mit Ihrer Frau Gemahlin besprechen«, beharrte der Vertreter. »Tut mir leid. Kein Interesse.« »Ich könnte vorbeikommen und ...« »Nein«, sagte Hunt. »Und bitte rufen Sie nicht wieder an.« Eine lange Pause folgte. »Also gut. Wie ich schon sagte, ich würde Ihnen raten, dieses großzügige, zeitlich befristete Angebot anzunehmen, aber die Entscheidung liegt natürlich letztendlich bei Ihnen.« »Genauso ist es.« »Darf ich lediglich noch darauf hinweisen, dass Sie die Notwendigkeit einer derartigen Versicherung auf Ihr eigenes Risiko ignorieren? Lassen Sie mich Ihnen versichern, dass es nicht Polizisten oder Feuerwehrleute sein werden, die Ihr Leben wieder in die rechten Bahnen zurücklenken, wann immer sich eine Tragödie ereignet, wann immer das Leben aufgrund natürlicher oder von Menschen herbeigeführter Katastrophen aus den Bahnen gerät. Es sind die Leute von den Versicherungen, die Ihnen dann zur Seite stehen werden.« »Danke für diese Lektion in Staatsbürgerkunde«, sagte Hunt, und ehe der Vertreter noch ein einziges Wort herausbringen konnte, legte er auf. »Was wollte er denn?«, fragte Beth und trocknete sich die Hände an einem Spülhandtuch ab. »Er wollte mir eine Rechtsversicherung anbieten, die garantieren sollte, dass wir nicht für Straftaten verhaftet und eingesperrt werden, die wir nicht begangen haben.« »Du machst Witze.« »Nein, tue ich nicht.« Beth starrte ihn an. Ihr fehlten die Worte, und Hunt wusste genau, wie sie sich fühlte. Das Ganze hatte etwas entschieden Unwirkliches, Irreales. Nein, nicht irreal. Surreal. Es war, als wären sie plötzlich in die Twilight Zone geschleudert worden, in der die Regeln der Normalität nicht mehr galten. »Ist das eine richtige, eine normale Versicherungsgesellschaft?«, fragte Beth. »Das habe ich mich auch schon gefragt. Ich denke, es ist an der Zeit, den Verbraucherschutz einzuschalten und ein paar Erkundigungen über die Insurance Group einzuholen.« DREIZEHN 1. Die nächsten Tage waren für Hunt und Beth gleichermaßen anstrengend, und am Mittwochabend beschlossen sie, früh ins Bett zu gehen und ein wenig dringend benötigten Schlaf nachzuholen. Hunt döste als Erster ein. Beth blieb noch ein Weilchen wach und las ein paar Horror-Geschichten von Barry Welch, doch es war noch keine zehn Uhr, als beide fest eingeschlafen waren. Sie wurden geweckt, als die Polizei gegen ihre Haustür hämmerte. Die Polizisten hatten nicht geklingelt, nur angeklopft, und als Hunt später dazu kam, darüber nachzudenken, fand er es äußerst merkwürdig. Sollte es allerdings das Ziel der Polizei gewesen sein, sie beide einzuschüchtern, hatte diese Taktik sehr wohl Erfolg. Das ständige Hämmern von Fäusten auf das Holz und die Rufe »Aufmachen! Polizei!« reichten aus, um Beth und Hunt gleichermaßen zu verschrecken; hastig streiften sie Bademäntel und Hosen über und gingen zur Tür. »Und wenn das gar keine Polizisten sind?«, flüsterte Beth, als sie der Tür näher kamen. »Ich habe das mal in den Nachrichten gesehen. Es waren Einbrecher, die sich da als Polizisten ausgegeben hatten, um in ein Haus zu kommen. Und dann haben sie die Familie vergewaltigt und umgebracht.« Hunt spähte durch den Türspion. »Sehen aus wie Polizisten.« »Machen Sie auf, oder wir müssen die Tür aufbrechen!« Hunt machte sich daran, den Riegel zurückzuschieben. »Was tust du da?« »Die werden die Tür einschlagen und sowieso reinkommen. Und wenn es wirklich Polizisten sind, sollten wir uns kooperativ zeigen.« »Und wenn nicht?« Hunt schloss die Tür auf. In dem Augenblick, da er sie nur einen Spalt geöffnet hatte, pressten zwei Polizisten ihn gegen die Wand, rissen ihm die Arme auf den Rücken und legten ihm Handschellen an. Ein Schlag in die Rippen und ein Tritt zwischen die Beine ließen ihn nach Luft schnappen. Dann wurde eine sehr derbe Leibesvisitation vorgenommen. Schreiend trat Beth ein paar Schritte zurück. Hunt wusste nicht, ob es Angst war oder der Versuch, die Nachbarn zu alarmieren, dass Beths Stimme so schrill klang. Er vermeinte zu hören, dass sie irgendetwas sagte und nicht nur wortlos schrie, doch der Schmerz in Hoden und Rippen machte es ihm fast unmöglich, sich zu konzentrieren. Hunt wurde herumgewirbelt, sodass er die Polizisten jetzt anschauen konnte. Er sah, dass sie zu zweit waren: ein ungestümer junger Mann mit fleischigem, dümmlich wirkendem Gesicht und sein älterer Kollege, der zwar abgestumpft war von jahrelangem Dienst, der es aber immer noch faustdick hinter den Ohren zu haben schien, fast wie ein alter, müder Lee Van Cleef. Beide wirkten, als wollten sie Hunt am liebsten zu Brei schlagen. Hunt versuchte, Luft in die Lunge zu saugen. »Was wird mir vorgeworfen?« Der jüngere der beiden presste seine Stirn fest gegen die von Hunt. »Du wirst wegen sexueller Belästigung von Kindern festgenommen, wegen Geschlechtsverkehr mit Minderjährigen, wegen Beihilfe zur Jugendkriminalität und wegen jeder anderen Straftat, die dem Staatsanwalt noch so einfällt, du widerliches Stück Scheiße!« »Hank«, warnte der ältere Officer seinen jüngeren Kollegen. »Ja, ja, ich weiß.« »Wir wollen doch nicht, dass der Typ uns wegen eines Verfahrensfehlers durch die Lappen geht.« »Was immer es ist, ich war es nicht!«, sagte Hunt. »Das ist ein Irrtum! Sie haben den Falschen erwischt!« »Sag kein Wort!«, wies Beth ihn an. »Warte, bis ein Anwalt hier ist.« Sie wandte sich an den jüngeren der beiden Polizisten. »Und das mit dem ›Stück Scheiße‹ habe ich gehört, Sie Stück Scheiße! Wenn das Ganze hier ausgestanden ist, werden Sie dafür bezahlen, bis Sie grün und blau sind! Wir werden Sie persönlich verklagen, Ihre Dienststelle und die Stadt, und Sie werden im Park die Klohäuschen schrubben können, während Ihnen der Mindestlohn unterm Hintern weggepfändet wird, Sie inkompetentes, blödes Arschloch!« »Na, das ist ja mal 'ne Klassebraut, die du da hast«, sagte der Polizist zu Hunt. Wäre Hunt ein zäherer Bursche gewesen, wäre er cooler gewesen, hätte er etwas geantwortet wie: »Sie hat dich am Wickel, du Drecksack.« Aber Hunt war verängstigt und verwirrt, die Handschellen taten höllisch weh, und er wollte diese Trottel nicht noch mehr gegen sich aufbringen. Offensichtlich lag hier ein gewaltiger Irrtum vor, und je schneller sie aufs Polizeirevier kamen, desto schneller würde er die Lage jemandem erklären können, der etwas zu sagen hatte - und umso schneller wäre das Ganze erledigt. »Wie heißen Sie?«, fragte Beth. »Wie lautet Ihre Dienstnummer? Wer ist Ihr Vorgesetzter? Ich will diese Informationen haben, ehe Sie das Haus verlassen.« »Ihr Mann ist ein Kinderschänder, und Sie sind sauer auf uns? Was für eine Frau sind Sie eigentlich?« »Er ist kein Kinderschänder! Ihr Blödmänner habt einen Riesenfehler gemacht! Und ich will Ihnen sagen, was für eine Frau ich bin: Ich bin die Frau, die nicht eher ruhen wird, bis solche Schlägertypen wie Sie aus dem Polizeidienst entfernt werden!« Hank war offensichtlich bereit, es auf einen echten Streit ankommen zu lassen, sich richtig mit Beth anzulegen, doch der ältere Officer legte ihm beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. »Komm, wir müssen ihn mitnehmen.« »Und warum mussten Sie mitten in der Nacht kommen? Sie mussten 'ne Szene machen, ja? Eine richtige Show abziehen! Warum haben Sie ihn nicht am Nachmittag festgenommen? Diese falschen Beschuldigungen werden Ihnen ja nicht erst seit ein paar Minuten vorliegen, oder? Warum haben Sie bis jetzt gewartet?« Beths Furchtlosigkeit und ihr gerechter Zorn stärkten auch Hunts Selbstvertrauen wieder ein wenig, vertrieben etwas von der Einschüchterung und Willfährigkeit, die ihn zuerst erfasst hatten. Er trug nichts als eine Jeans und einen Bademantel, der offen stand, und nun hob er das Kinn und blickte dem älteren Polizisten fest in die Augen. »Ich will mir ein Hemd anziehen«, sagte er. »Ich werde nicht in dieser Aufmachung aufs Revier gehen.« »Oh doch, das wirst du«, widersprach Hank. Der ältere Polizist nickte. »Wir haben reichlich orangefarbene Overalls, die Ihnen passen.« Er drehte Hunt herum und schob ihn zur Tür. »Kommen Sie schon, machen Sie hin!« »Ich komme mit«, versprach Beth. »Ich fahre mit dem Wagen nach.« Mehr als alles andere auf der Welt wollte Hunt, dass Beth mit ihm käme. Er wollte einen Zeugen für diesen verrückten Albtraum - auch für den Fall, dass sie ihm noch etwas anderes vorwarfen als Kindesmissbrauch. Doch er wusste, dass die beiden Kerle Beth nicht weiter als bis zur Lobby der Polizeiwache vorlassen würden. Sie würde nicht bei ihm sein können, wenn man seine Fingerabdrücke nahm und die Fotos schoss. Sie würde die ganze Zeit auf einer Bank sitzen, wütend und frustriert, und würde nicht das Geringste für ihn tun können. Hunt schüttelte den Kopf. »Such einen Anwalt«, sagte er und blickte sie über die Schulter hinweg an. »Such irgendwen, der mich da rausholt.« Jetzt weinte Beth, und Hunt sah, dass der jüngere Polizist grinste. Er hätte dem Dreckskerl am liebsten die Zähne eingetreten, nur um dieses dämliche Grinsen aus seinem Gesicht zu vertreiben. Doch irgendwie gelang es Beth, eine unglaubliche innere Reserve anzuzapfen, und so riss sie sich zusammen. »Ich werde jemand finden. Und ich kriege auch raus, wie man eine Kaution stellt.« Dann warf sie dem jüngeren Polizisten einen finsteren Blick zu. »Und Hank Dingsbums? Dienstnummer Sieben-Sieben-Drei? Ich werde dem Anwalt alles über Sie erzählen. Und dann sehen wir uns vor Gericht wieder!« Die Polizisten schoben Hunt hinaus und drückten seinen Kopf herunter, als sie ihn auf die Rückbank ihres Streifenwagens verfrachteten. Die Warnlichter auf dem Dach des Wagen blinkten - rot, blau, rot, blau, rot, blau - und schienen die ganze Straße zu erhellen. Durch die Fensterscheibe des Streifenwagens sah Hunt die Gesichter der Nachbarn, die ihn zwischen den Vorhängen in ihren Wohnzimmern hindurch anstarrten. Großartig. In der ersten Nacht war Hunt völlig verängstigt, so voller Furcht, dass er sich nicht einmal gestattete, vor Erschöpfung einzuschlafen. Er hatte genug Bücher gelesen und genug Filme gesehen, um zu wissen, wie Kinderschänder im Gefängnis behandelt wurden. Und auch wenn er genau genommen noch gar nicht im Gefängnis saß, sondern in der Arrestzelle des County, wurde er doch zusammen mit den anderen Insassen in eine große Gemeinschaftszelle geworfen, und dann lag es an ihm alleine, sich zu verteidigen. Die Arrestzelle des County. Hunt arbeitete für das County, und er glaubte nicht, dass es eine Möglichkeit gab, diese Sache hier vor seinen Kollegen geheim zu halten ... oder vor seinen Vorgesetzten. Selbst in einer so großen und weitverzweigten Organisation wie der Bezirksverwaltung machten Neuigkeiten und Gerüchte schnell die Runde, und so würde es jeder herausfinden. Auch Steve würde davon erfahren. Wahrscheinlich würde Hunt seinen Job verlieren, und dann wäre er arbeitslos und nicht mehr zu vermitteln. Nein. Er musste mit dem Betriebsrat reden, musste herausfinden, wie es um seine Rechte bestellt war. Er war dieses Vergehens nur beschuldigt worden, nicht aber verurteilt. Und er war unschuldig! Ganz ehrlich unschuldig. Dafür konnten die ihn nicht feuern. Und wenn sie es doch versuchten, würde Hunt sie verklagen, dass ihnen Hören und Sehen verging. Aber vielleicht war das hier ein weiterer Sargnagel für den Arbeitstrupp: der Tropfen, der das Fass schließlich zum Überlaufen brachte und den Herren auf der Chefetage eine Möglichkeit bot, den Baumbeschnitt an Fremdfirmen zu vergeben. Und es würde keinerlei Möglichkeit geben, das zu beweisen. Hunt mochte ja in der Lage sein, eine betriebliche Entlassung anzufechten, die aufgrund falscher Anschuldigungen erfolgt war, aber gegen eine Entlassung aufgrund von Sparmaßnahmen konnte er nicht vorgehen. Hunt hatte beinahe damit gerechnet, dass eine Wache auftauchte, seinen Namen aufrief und ihm verkündete, er könne nach Hause gehen, doch offensichtlich hatte Beth es nicht geschafft, um diese Uhrzeit einen Anwalt aufzutreiben. Und ebenso wenig war es ihr gelungen, die Polizisten davon zu überzeugen, dass das Ganze ein entsetzlicher Irrtum war. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit hatte Hunt versucht, die Polizisten zur Vernunft zu bringen, doch die Burschen, die ihn abgeführt hatten, hielten ihn für einen Verbrecher und ignorierten alles, was er sagte. Den Beamten, die später seine Fingerabdrücke nahmen und die Fotos für den Erkennungsdienst machten, war das alles egal. Und die Wache, die ihn zur Gemeinschaftszelle führte, durfte sich vermutlich von jedem Insassen genau die gleiche Geschichte anhören. Am schlimmsten war, dass Hunt nicht mit Beth reden konnte. Er wusste ja überhaupt nichts! Genauso gut war es möglich, dass sie auf der Suche nach einem gewerblichen Kautionssteller aus einem fahrenden Auto heraus erschossen worden war, oder sie war bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, als sie nach Hause fuhr ... oder sie war auf dem Weg zu ihrem Auto in eine dunkle Seitengasse gezerrt und vergewaltigt worden. Hunt wusste, dass sein Verstand dazu neigte, sich solch extreme Szenarien auszumalen, doch die Situation, in der er sich momentan befand, war extrem, und daraus hatte er gelernt, dass alles, wirklich alles, möglich war. Noch ernüchternder war die Tatsache, dass er noch nicht einmal genau wusste, welches Verbrechen er überhaupt begangen haben sollte. Er wusste nur, dass man ihm sexuellen Missbrauch von Kindern vorwarf, dass er angeblich Sex mit einem kleinen Mädchen gehabt hatte - doch mit wem und wo und wann, das wusste er nicht. Die Polizei ging nicht weiter darauf ein. Hunt würde warten müssen, bis sein Anwalt eintraf, was - hoffentlich - am Morgen geschehen würde. Irgendwie gelang es Hunt, die Nacht unbeschadet zu überstehen. Alle anderen ignorierten ihn und ließen ihn in Ruhe, und während er sich unter seinen Zellengenossen umschaute, fragte er sich, ob Verbrecher sich untereinander erkennten, ob sie eine Art sechsten Sinn hatten, der sie spüren ließ, wenn sich ein Unschuldiger unter ihnen befand und wer dieser Unschuldige war. Wem wollte er hier eigentlich etwas vormachen? Die anderen Knackis hatten ihn bloß noch nicht zu Klump geschlagen, weil sie nicht wussten, weswegen er hier war. So einfach war das. Am nächsten Morgen kurz nach zehn kam tatsächlich der Anwalt. Sein Name war Raymond Jennings, und er sah aus wie eine etwas weniger wichtigtuerische Ausgabe von Francis Lee Bailey. Hunt wusste nicht, wie Beth den Mann gefunden oder warum sie gerade ihn ausgewählt hatte. Hatte sie Erkundigungen eingezogen, oder war Jennings ihr von jemandem empfohlen worden? Oder hatte sie einfach nur die erstbeste Nummer in den Gelben Seiten angerufen? Doch Jennings machte einen guten Eindruck, er wirkte kompetent und vertrauenswürdig, und Hunt zog es vor, einfach davon auszugehen, dass dieser Anwalt zu den besten gehörte, die in ganz Tucson aufzutreiben waren - und dass er mit Hilfe dieses Anwalts keine Schwierigkeiten haben würde, aus diesem Schlamassel herauszukommen. Hunts gesamte Erfahrung mit dem Strafrechtssystem beschränkte sich auf Fernseh- und Kinofilme, und er hatte damit gerechnet, seinem Anwalt entweder in einem großen, cafeteriaartigen Raum zu begegnen, in dem zahlreiche Insassen mit ihren Angehörigen und ihrem Rechtsbeistand sprachen, oder in einer engen, geschlossenen Kabine, sodass sie nur über einen Telefonhörer miteinander würden reden und einander nur durch Panzerglas würden anschauen können. Die Wirklichkeit jedoch sah so aus, dass sie sich in einem Raum trafen, der nicht viel anders wirkte als ein Konferenzzimmer: In der Mitte des Raumes standen ein schwerer Tisch und vier Sessel; vor einer Tafel, die fast die gesamte Breite der Wand ausfüllte, waren ein Fernseher und ein Videorekorder aufgestellt. Jennings saß bereits am Kopfende des Tisches, als eine Wache Hunt hereinführte und ihm die Handschellen löste; vor dem Anwalt lag ein ganzer Stapel Papiere. Er erhob sich, als Hunt eintrat, und streckte ihm die Hand entgegen. »Mein Name ist Raymond Jennings. Ich bin Ihr Rechtsanwalt.« »Gott sei Dank.« Hunt schüttelte die Hand, die ihm entgegengestreckt wurde; dann ließ er sich in einen Sessel dem Anwalt gegenüber fallen. »Was wirft man mir eigentlich vor?«, fragte er dann. »Die haben mir keinerlei Einzelheiten gesagt. Und weil ich völlig unschuldig bin, habe ich noch nicht mal eine Vermutung, was ich vielleicht getan habe, das als Verbrechen ausgelegt werden könnte. Als Einziges fällt mir ein, dass man mich mit jemandem verwechselt und aufgrund eines Versehens den Falschen festgenommen hat.« Jennings zog einen Polizeibericht aus dem Stapel Dokumente und Formulare hervor, der vor ihm auf dem Tisch lag. »Das mutmaßliche Opfer ist ein neunjähriges Mädchen namens Kate Gifford ...« Kate? Lillys Freundin? Hunt fühlte sich, als hätte ihm jemand brutal in den Magen geboxt. »Großer Gott«, stieß er nur hervor. Dann sank er vornüber und ließ die Arme auf die Tischplatte fallen. So etwas hatte er nun wirklich nicht erwartet. Das gehörte noch nicht einmal zu den immer unwahrscheinlicheren Szenarien, die Hunt sich gegen Ende dieser langen Nacht in der Zelle ausgemalt hatte. »Die Eltern des Mädchens behaupten, dass es während eines längeren, nicht genauer spezifizierten Zeitraums zu unsittlichen Kontakten mit dem Kind gekommen sei und dass Sie gestern Morgen auf einer Decke hinter einem Strauch im Webster Park mit diesem Mädchen Oralverkehr gehabt hätten.« Ihre Eltern. Auf Joels Silvesterparty hatte er Greg und Lana Gifford kennen gelernt. Beide arbeiteten bei Automated Interface, und sie waren nicht nur nette Leute, sondern hatten auch einen ähnlichen beruflichen Hintergrund wie er selbst. Hunt hatte früher zwar als IT-Experte gearbeitet, während die Giffords Programmierer waren, aber sie hatten dennoch viele Gemeinsamkeiten, und Hunt hatte es als sehr anregend empfunden, sich wieder mal mit Leuten zu unterhalten, die etwas von moderner Technik verstanden, auch auf einem ganz anderen Tätigkeitsfeld. Hunt mochte die Giffords, und er hatte gehofft, sie beizeiten wiederzusehen. Ihre Eltern behaupten. Das bedeutete, dass Greg und Lana ihn angezeigt hatten. Am liebsten hätte Hunt auf der Stelle mit Greg gesprochen, von Mann zu Mann, und dieses Missverständnis aus der Welt geschafft - wie immer es nun eigentlich aussehen mochte. Dieses Missverständnis, das zu dieser völlig falschen und ungeheuerlichen Schlussfolgerung geführt hatte. Hunt hätte niemals etwas derart Abscheuliches getan; er hatte niemals, nicht in seinen perversesten sexuellen Phantasien, etwas so Widerliches auch nur in Erwägung gezogen. Irgendjemand hatte die Giffords belogen. Es war ein Scherz, der schrecklich danebengegangen war - oder ein ausgewachsenes Komplott eines ihm völlig unbekannten Feindes, der sein Leben zerstören wollte. Irgendwie hatte man ihm etwas anhängen wollen, und nun musste Hunt beweisen, dass nichts dergleichen jemals geschehen war. »Das ist eine Lüge«, sagte er zornig. »Das Ganze ist eine einzige große Lüge. Ich war tatsächlich gestern Morgen im Webster Park - so weit stimmt es -, aber ich habe da gearbeitet. Ich habe dort Bäume beschnitten, und ich habe zwei Zeugen, die bestätigen können, dass etwas Derartiges niemals geschehen ist. Wir drei haben zusammengearbeitet, und wir waren nie außer Sichtweite voneinander. Um die Mittagszeit sind wir wieder gefahren. Wer etwas anderes behauptet, lügt! Außerdem ist der Park fünfzehn Meilen von dem Haus entfernt, in dem Kate wohnt. Wie soll sie denn da hingekommen sein?« »Also kennen Sie das Mädchen?« »Sie ist die beste Freundin der Tochter meines besten Freundes.« Aufgebracht fuhr Hunt sich durch die Haare. »Ich weiß nicht, was hier gespielt wird. Nichts davon ergibt einen Sinn!« »Nun, wenn Sie zwei Zeugen haben, die für den gesamten Morgen Aussagen über Ihren Aufenthaltsort machen können - und ich meine den gesamten Zeitraum, ohne dass auch nur eine einzige Sekunde fehlt -, wäre das schon sehr hilfreich. Aber gegen Sie werden schwere Anschuldigungen erhoben, und ich muss sagen, dass die Fakten im Augenblick sehr gegen Sie sprechen.« »Wie ist das möglich? Es gibt doch keinerlei Beweise. Die kann es gar nicht geben! Was immer die haben, ist vollständig aus der Luft gegriffen.« »Die haben die Aussage des Mädchens. Auf Band. Ich habe es mir gerade eben angesehen, und es ist ziemlich erdrückend.« »Kate sagt, so etwas sei passiert?« Hunt war wie betäubt. »Sie sagt, ich hätte so etwas getan?« Jennings nickte. »Ja. Darauf stützt sich die Anklage.« Hunt fragte sich, warum dieses Mädchen derartige Lügen erzählen sollte und was es dazu bringen könnte, etwas so völlig Verrücktes zu erfinden. Hunt war davon ausgegangen, dass die Anschuldigung von jemand anderem stammte und dass Kate sein Haupt-Alibi sein würde, indem sie aussagte, dass nichts dergleichen geschehen sei - und damit wäre die Welt wieder in Ordnung gewesen. Doch offensichtlich hatte das Mädchen ihn belastet. Vielleicht hatte Kate ihren Eltern diese Lügengeschichte aufgetischt, und diese waren dann sofort zur Polizei gegangen. Aber warum? »Darf ich dieses Band sehen?«, fragte Hunt. »Selbstverständlich.« Jennings stand auf und zog eine Videokassette aus ihrer Hülle. »Aber es sieht wirklich nicht gut für Sie aus.« Der Anwalt ging zur gegenüberliegenden Wand des Raumes, schaltete den Fernseher ein und schob die Kassette in den Videorekorder. Die Aufnahmen waren fast schwarzweiß, so ausgeblichen wirkten die Farben, doch das Bild war sehr klar, der Ton deutlich, und in der unteren rechten Ecke des Bildes war das gestrige Datum zu lesen. Kate saß an einem niedrigen, blauen Plastiktisch in einem gut ausgeleuchteten Raum. Vor ihr lagen ein großer Schreibblock und mehrere Stifte, doch sie rührte nichts davon an. Auf der anderen Seite des niedrigen Tisches, in einen ebenso kleinen Stuhl gezwängt, saß eine Erwachsene in einem knielangen Rock. Im Bild war nur die untere Hälfte dieser Frau zu erkennen. Die Kamera blieb die ganze Zeit auf Kate gerichtet. Das Mädchen wirkte sehr ernst - traumatisiert, würde Beth vermutlich sagen -, und plötzlich hatte Hunt ein sehr mieses Gefühl bei der ganzen Sache. Es gab keine einleitenden Worte, keine Erläuterungen. Die beiden unterhielten sich ganz ungezwungen, streiften immer wieder Themen, die sie zweifellos schon vor Beginn dieser Aufnahme angesprochen hatten. Anscheinend sah Hunt hier den Mittelteil eines viel längeren Gesprächs, und das Band war an diese Stelle vorgespult worden, weil hier die wichtigen Informationen zu finden waren. Hunt begriff, dass die Frau und das Mädchen über ein Basketball-Spiel sprachen, bei dem Joel und er zusammen mit Lilly und Kate gespielt hatten. Geschickt wechselte die Frau das Thema. »Und was war das andere Spiel, das Mr. Jackson gerne mit dir gespielt hat?« »Das ich mit ihm spielen musste.« »Das du mit ihm spielen musstest.« Kate zuckte mit den Schultern. »Du hast es mir doch schon einmal erzählt.« »Er hat mich Lolly spielen lassen«, erklärte Kate. »Was ist denn Lolly?« Unruhig rutschte sie hin und her. »Ich weiß nicht.« »Du kannst es mir ruhig erzählen, Kate.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir können nur dann dafür sorgen, dass es aufhört, wenn du ehrlich bist und uns die Wahrheit sagst.« Sie richtete den Blick auf ihre Hände, die sie vor Unruhe nicht still halten konnte. »Er zieht seine Hose runter und sagt mir, ich soll so tun, als wäre sein Ding ein Lolly, und dass ich daran lutsche.« »Das ist eine Lüge«, brüllte Hunt. »Das ist nie passiert!« Er stieß einen Stuhl um, stampfte blindlings durch den Raum, schlug mit der Faust gegen die Wand. Er wusste jetzt, was es bedeutete, wenn es hieß, jemand hätte sich die Haare ausraufen mögen. Die Welt war verrückt geworden! Hunt fühlte sich schrecklich hilflos, verzweifelt und gedemütigt. »... was Weißes rausgekommen«, sagte Kate gerade auf dem Band. »Machen Sie das aus!«, herrschte Hunt den Rechtsanwalt an. Der Anwalt schaltete den Fernseher aus und ließ die Videokassette auswerfen. »Jetzt sehen Sie, womit wir es hier zu tun haben.« »Ich war noch nie mit dem Kind allein! Nicht ein einziges Mal!« »Ich glaube Ihnen.« Hunt holte tief Luft. »Kate ist ein gutes Kind. Ich weiß nicht, wer sie dazu gebracht hat, solche Lügen zu erzählen, oder wie man sie dazu gebracht hat, aber es ist nicht wahr!« Hunt setzte sich wieder. »Aber sie glaubt offenbar, dass es stimmt«, fuhr er dann leise fort. »Das sehe sogar ich. Die müssen Kate einer Art Gehirnwäsche unterzogen haben, und jetzt glaubt sie, das alles wäre wirklich passiert.« »Ja.« Der Anwalt tätschelte Hunts Schulter. »Wenn Sie das verstehen, können wir weitermachen. Unser Problem liegt vor allem darin, wie die Sache für Außenstehende aussieht. Wir müssen uns über eine Strategie unterhalten. Also, ich werde jetzt eine Aussage von Ihnen aufnehmen, in der Sie jedem einzelnen Anklagepunkt deutlich widersprechen. Dann werde ich mit Ihren Zeugen reden und komme wieder zu Ihnen. Ich werde mir alles anschauen, was der Staatsanwaltschaft vorliegt, und alles, was uns vorliegt, und wir werden uns eine Strategie zurechtlegen. Ich hoffe, das Ganze muss gar nicht erst vor Gericht. Für heute Nachmittag ist eine Kautionsanhörung angesetzt, und ich glaube, ich werde die Kaution durchbekommen. Sobald wir diese Hürde genommen haben, werde ich mich mit dem Staatsanwalt zusammensetzen, und dann tauschen wir erst einmal Meinungen aus. Mit diesem Staatsanwalt hatte ich schon zu tun. Er ist ein anständiger Kerl. Wenn es wahr ist, was Sie sagen, und Ihre Alibis sich als wasserdicht erweisen, wird es uns vielleicht gelingen, dafür zu sorgen, dass die Klage abgewiesen wird.« »Und wenn das nicht klappt?« Jennings zog einen tragbaren Kassettenrekorder und einen großformatigen Schreibblock mit gelben Seiten hervor. »Darum kümmern wir uns, falls es erforderlich wird.« Die nächste Dreiviertelstunde verbrachten sie damit, Hunts Sicht der Dinge aufzunehmen, seine Erinnerungen an alle Namen und Daten und seine Zurückweisung sämtlicher Vorwürfe. Endlich schaltete der Anwalt den Kassettenrekorder ab, verstaute seine Stifte wieder und schlug die Blätter auf dem Block auf die erste Seite zurück. »Ich denke, wir haben jetzt genug, um damit weitermachen zu können.« Er räumte den Tisch ab und verstaute seine Papiere. »Es ist schon fast Mittagszeit, also sollte ich mich jetzt an die Arbeit machen, wenn ich vor dieser Kautionsanhörung noch irgendetwas schaffen will. Gehen Sie in Gedanken noch einmal alles durch, und achten Sie darauf, ob Sie irgendwelche Widersprüche in den gegen Sie vorgebrachten Anschuldigungen finden, irgendetwas Wichtiges, das Sie mir vielleicht zu erzählen vergessen haben. Manchmal fallen einem Details ein, wenn man sie gerade braucht, und manchmal verscheucht der Druck, unter dem man in so einer Situation steht, sie ganz einfach.« Jennings schloss seine Aktentasche. Dann streckte er Hunt die Hand entgegen. »Es hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen, Mr. Jackson. Wir werden in den nächsten Tagen viel zusammenarbeiten müssen, vielleicht sogar die nächsten Wochen, also seien Sie bitte so freundlich, und sagen Sie Ray zu mir. Ich werde mindestens zweimal am Tag nach Ihnen schauen und habe bereits einen Besuchsplan ausgehandelt. Ihre Frau wird zu Ihnen kommen, sobald ich hier weg bin, und sie wird auch heute Abend noch einmal herkommen. Ich werde zu Ihrer Kautionsanhörung erscheinen, und wahrscheinlich später noch einmal, sollte sich etwas ergeben. Falls Sie nichts von mir hören - bloß keine Panik. Ich habe Sie nicht vergessen. Ich werde mich immer noch mit Ihrem Fall beschäftigen. Gefängniszellen können mit dem menschlichen Verstand sonderbare Dinge anstellen, also denken Sie immer daran: Auch wenn Sie vielleicht einmal nichts von mir hören und nicht jedes Detail erfahren - es nimmt alles seinen Gang.« Nachdem der Anwalt gegangen war, wurde Hunt von einer Wache in die Arrestzelle zurückgeführt. Dort angekommen, fühlte er sich deutlich besser. Er wusste, es gehörte zum Job eines Anwalts, seinen Mandanten Mut zu machen und ihr Selbstbewusstsein zu stärken, aber Jennings' Optimismus wirkte aufrichtig, seine Einschätzung der Lage realistisch. Nachdem Hunt mit ihm gesprochen hatte, war er überzeugt, dass der Anwalt intelligent und sehr kompetent war. Er hatte es geschafft, Hunt wieder aufzubauen, also bestand Hoffnung, dass er den Rest seiner Arbeit genauso gut machte. Die Kautionsanhörung verlief nicht zu Hunts Gunsten. Wegen der Schwere der gegen ihn erhobenen Vorwürfe und der Tatsache, dass Hunt nicht sonderlich verwurzelt in dieser Gemeinde war, weigerte die Richterin sich, auch nur eines der Argumente zu berücksichtigen, die Jennings anführte. Sie behauptete, bei Hunt bestünde erhöhte Fluchtgefahr, und sie setzte nicht bloß eine immens hohe Kautionssumme fest, sondern weigerte sich kategorisch, ihn überhaupt auf Kaution auf freien Fuß zu lassen. Vielleicht zeigten sich hier ja seine eigenen Vorurteile, doch Hunt hatte das Gefühl, dass es anders gelaufen wäre, hätte er einen Richter vor sich gehabt und keine Richterin. Er war sich ziemlich sicher, dass er in den Augen der Richterin schuldig war, ein räuberischer Pädophiler, und er betete zu Gott, dass er einen anderen Richter bekäme, wenn er angeklagt wurde. Falls er angeklagt wurde. Wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern. Wie konnte das sein? Ihm ging eine Zeile aus dem Albert-Brooks-Film Kopfüber in Amerika durch den Kopf: »Wir sind in der Hölle. Wann sind wir in die Hölle gekommen?« Kurz darauf wurde Hunt aus der Arrestzelle in eine eigene Gefängniszelle verlegt. Eine Wache schloss die Tür mit dem vergitterten Fenster auf, befestigte ein Ende von Hunts Handschellen am eigenen Handgelenk und führte ihn dann, den Schlagstock in der Hand, in einen Besucherraum, der genauso aussah wie aus einem Film: Es gab tatsächlich die lang gezogene Panzerglasscheibe, vor der kleine Kabinen abgeteilt waren, in denen einzelne Insassen sich mit ihren Anwälten oder ihren Liebsten unterhalten konnten. Hunt wurde die gesamte Länge des Raumes hinuntergeführt, an besetzten und leer stehenden Kabinen vorbei, bis zu einer kleinen Kabine am Ende des Raumes. »Sie haben Besuch«, verkündete der Wachmann. Hunt setzte sich. Es war der Versicherungsvertreter. Er wartete in der Kabine auf der anderen Seite des Panzerglases, griff nun nach dem Telefonhörer und bedeutete Hunt mit einer Geste, es ihm gleichzutun. Der Mann sah anders aus als vorher, nicht mehr ganz so unscheinbar. Vielleicht lag es an der kalten, grellen Beleuchtung, vielleicht auch nur am Umfeld, doch er wirkte harscher als bisher, energischer; er war weniger der schmeichlerische Vertreter, mehr der knallharte Geschäftsmann. Seine Gesichtszüge wirkten kantiger, und Hunt fand, dass sein Hut ... Fedora? Hamburg? Homburg? ... weniger albern wirkte, besser zu seiner ganzen Gestalt passte. Außerdem trug er etwas, das wie ein Trenchcoat aussah, obwohl der Tag recht sonnig und warm war. Zweifellos versuchte der Mann einem Image zu entsprechen, irgendetwas, was er für sehr eindrucksvoll hielt - doch Hunt vermutete auch, dass es einen weniger freundlichen Grund für diese Kleiderwahl gab. Und wieder ertappte Hunt sich bei dem Gedanken, der Versicherungsvertreter habe irgendetwas Altertümliches an sich, als gehöre er in eine andere Zeit. Eine Sekunde lang blieb Hunt stehen und schaute die Reihe der Insassen und ihrer Besucher hinunter. Er sah Ehefrauen, Söhne, Eltern, Rechtsanwälte, aber keine Versicherungsvertreter. Natürlich nicht. Warum sollte ein Versicherungsvertreter jemanden im Gefängnis besuchen? Hunt setzte sich und schaute den Mann auf der anderen Seite der Glasscheibe an. Wider besseres Wissen griff er nach dem Telefonhörer. »Wie geht es Ihnen heute, Mr. Jackson?« »Was glauben Sie? Ich sitze im Knast. Ich werde eines Verbrechens beschuldigt, das ich nicht begangen habe.« In gespieltem Mitleid schüttelte der Vertreter den Kopf. »Mr. Jackson, Mr. Jackson. Ich neige nicht dazu, etwas wie ›Ich habe es Ihnen ja gleich gesagt‹ zu äußern, aber ich möchte auf Folgendes hinweisen: Wenn Sie sich für unser Angebot der Personenschadensversicherung Deluxe mit zusätzlicher Rechtsversicherung entschieden hätten, wäre Ihnen dieser Zwischenfall hier wohl erspart geblieben.« »Sind Sie deswegen hier?« »Genau deswegen.« Der Vertreter lächelte Hunt in einer Art und Weise an, die wohl mitfühlend sein sollte, was sie aber eindeutig nicht war - und plötzlich begriff Hunt, dass es sich hier nicht um einen Höflichkeitsbesuch handelte. Ihm wurde eine Botschaft überbracht. Dieser Vertreter steckte hinter den schrecklichen Anschuldigungen! Oder seine Versicherungsgesellschaft. Sie hatten das hier getan, um ihn zu erpressen und dazu zu bringen, diese Versicherungen abzuschließen. Sie hatten ihre Muskeln ein wenig spielen lassen, um ihm zu zeigen, dass es besser für ihn war, brav mitzuspielen. Welchen anderen Grund könnte es geben? Wenn der Vertreter überhaupt nichts mit der Sache zu tun hatte, konnte er ja gar nicht wissen, dass Hunt hier war. Aber wie hatten sie das angestellt? Wie funktionierte die Logistik? Konnten sie die Giffords bestochen haben zu lügen? Kate konnten sie gewiss nicht bestechen oder einschüchtern. Nach allem, was Hunt über dieses Mädchen wusste, war sie geradezu verletzend offen und völlig unbestechlich. Außerdem hatte er die Videokassette gesehen. Kate glaubte wirklich, dass er diese Dinge getan hatte. Also: Wie hatten sie die ganze Familie davon überzeugt, Hunt habe Kate zum Oralverkehr gezwungen? Es gab keine vernünftige Erklärung, keine Begründung, die auch nur ansatzweise logisch gewesen wäre. Der Vertreter lächelte immer noch, und dieser Anblick ließ Hunt das Blut in den Adern gefrieren. Was immer hier geschah - es war viel zu groß für ihn. Hunt dachte an das Gästezimmer, an die Geräusche, an die Gestalten, die Beth und er im Spiegel gesehen hatten. Es gab eine ganze Welt, von der Hunt bisher - Gott sei Dank - nicht das Geringste gewusst hatte. Eine Welt der Schatten, des Dämonischen, des abgrundtief Bösen. Und auch wenn Hunt bisher nicht an diesen abergläubischen Mumpitz geglaubt hatte - jetzt tat er es, und es erschreckte ihn zu Tode. Doch Hunt weigerte sich, diese Angst zu zeigen, weigerte sich, diesem Versicherungsvertreter, der ihm hier gegenübersaß, diesen Triumph zu gönnen. Mit steinerner Miene saß Hunt dort, den Telefonhörer in der Hand, und rührte sich nicht. Als der Vertreter nichts mehr sagte, tat er so, als wollte er den Hörer zurückhängen. »Warten Sie!«, rief der Vertreter. Hunt war dankbar, in der blechernen Stimme des Mannes einen Funken Verzweiflung zu hören. Er drückte sich den Hörer ans Ohr. »Ich bin hier, um Ihnen eine zweite Chance zu bieten«, sagte der Vertreter, und mit einem Mal war er wieder schmeichlerisch und aufdringlich. »Wollen Sie, dass ich jetzt doch noch diese Versicherung unterschreibe?«, fragte Hunt. »Ich bedaure, aber für eine Rechtsversicherung sind Sie nicht mehr antragsberechtigt. Nein, ich bin hier, um Ihnen einen Schutz vor einer Verurteilung zu verkaufen. Auch dafür werden Sie eine Personenschadensversicherung abschließen müssen. Und dann - für nominelle Zusatzkosten, die zu Ihrem Basis-Beitrag hinzukommen - werden Sie eine Zusatzversicherung erhalten, die Sie vor nachteiligen Gerichtsurteilen schützt.« »Was genau bedeutet das?« »Ich glaube, das erklärt sich in Ihrer Situation von selbst.« »Heißt das, ich werde nicht verurteilt?« »Ganz genau. So weit geht diese Versicherungsleistung. Sie wurden wegen dieser Straftat angeklagt, aber die Anklage wird fallen gelassen, oder Sie werden für unschuldig befunden - abhängig davon, für welche Versicherungsleistung Sie sich entscheiden.« »Das ist unmöglich.« »Nein, ist es nicht. Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, sind wir ein angesehenes Unternehmen mit ausgezeichnetem Ruf. Unsere Policen, von denen einige deutlich und präzise auf ein äußerst spezielles Deckungskonzept ausgerichtet sind, bieten unseren Kunden immer genau die Leistungen, die darin auch formuliert sind.« Er starrte Hunt an, und gegen seinen Willen spürte Hunt, wie Hoffnung in ihm aufkeimte. »Hoffnung« war eine äußerst gefährliche Emotion, die Menschen nur zu oft zu törichtem Handeln verführte und in Gefahr brachte - sie sogar dazu brachte, ihr Leben zu riskieren und ihre Ehefrauen zu verlieren und sich von Reichtümern zu trennen, die sie niemals wiedererlangen konnten. Hunt wusste, dass ihn das alles hier ganz persönlich betraf und ihm viel zu nahe ging, sodass er schlichtweg außerstande war, seine Lage objektiv zu beurteilen, doch er versuchte das Angebot zu analysieren und fand keine Nachteile. War das eine Art faustischer Pakt? Wurde er hier dazu gebracht, seine Seele zu verhökern, wenn er diese Versicherung abschloss? Er glaubte es nicht, doch er würde jede Police sorgfältig durchlesen, ehe er irgendetwas unterschrieb. »Wie viel würde das denn zusätzlich kosten?«, fragte er. Der Vertreter griff unter die Tischplatte und zog einen Taschenrechner und eine Versicherungsstatistik-Tabelle aus seinem Aktenkoffer, der offensichtlich vor ihm auf dem Fußboden stand. »Zwanzig Dollar im Monat für die Personenschadensversicherung, dazu zehn Dollar zusätzlich, um gegen eine Verurteilung geschützt zu sein. Insgesamt wären das dann dreihundertsechzig Dollar im Jahr, die Sie für Ihren Seelenfrieden würden zahlen müssen.« Er vollführte eine ausladende Handbewegung, die den gesamten Besucherraum einschloss, doch die Geste schien auch das ganze Gebäude zu umfassen. »Und Sie werden das Innere dieses Ortes niemals wiedersehen.« »Und es ist ab sofort wirksam?« »Unmittelbar nach der Unterzeichnung.« Der Vertreter hielt inne. »Natürlich müssen Sie sich qualifizieren.« Es gab also doch einen Haken. »Was genau bedeutet das?« Er zuckte mit den Schultern. »Sie beantworten ein paar Fragen.« »Das ist alles?« »Das ist alles.« Angestrengt dachte Hunt nach, versuchte das Angebot von allen möglichen Seiten zu betrachten. Er hatte keine Ahnung, wie man die Wirkungskraft des Unergründlichen einstufte oder den Wert eines Versprechens einzuschätzen hatte, das nach sämtlichen konventionellen Bewertungsmaßstäben unmöglich einzuhalten war. Was würde sein Anwalt dazu sagen? Er wünschte, Jennings wäre jetzt hier. Diese »Zusatzversicherung« war zwar keine direkte Rechtsfrage - eigentlich war das alles hier total verrückt und abseitig -, doch Hunt vertraute darauf, dass der Anwalt sich um seine Interessen kümmerte, und er hätte gerne die unparteiische Meinung eines erfahrenen Außenstehenden gehört. Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte der Vertreter leise: »Ich brauche Ihre Entscheidung jetzt. Das ist ein einmaliges Angebot. Nehmen Sie 's, oder lassen Sie 's. Ich habe keine Zeit, lange zu warten.« Hunt wünschte sich, Beth wäre hier. »Mr. Jackson?« »Ich nehm's.« Sofort war der Vertreter wieder ganz sachlich. Er zog einen Kugelschreiber aus der Brusttasche und drückte die Mine heraus. »Also gut. Ich muss Ihnen erst noch ein paar Fragen stellen, einige wichtige Informationen, die wir benötigen, damit wir entscheiden können, ob Sie für diese Leistung anspruchsberechtigt sind. Können wir anfangen?« Hunt nickte. »Frage eins: Wie groß ist die Möse Ihrer Frau?« Hunt starrte ihn an. Das musste ein schlechter Scherz sein. Doch der Vertreter ließ es sich nicht anmerken, falls das hier etwas anderes als eine rein sachliche Frage sein sollte. Zorn brandete in Hunt auf. »Was zum Teufel hat das denn mit meinem Problem zu tun?« »Wir stellen die Fragen, Mr. Jackson. Und Sie werden sie beantworten.« »Derartige Fragen werde ich nicht beantworten.« »Doch, werden Sie.« »Nächste Frage.« »Sie haben die erste noch nicht beantwortet. Wie groß ist die Möse Ihrer Frau?« »Nächste Frage!« »Kommen Sie schon. Ist es eng da unten, oder müssen Sie aufpassen, da nicht reinzustürzen?« Der Vertreter kicherte. Hunt knallte den Hörer auf die Gabel. Durch die Glasscheibe sah er, wie der Versicherungsvertreter mit übertrieben alberner Miene das stecknadelgroße Loch betrachtete, das er mit Daumen und Zeigefinger geformt hatte - und dann diese Öffnung immer größer machte, bis er beide Hände brauchte und seinen Kopf halb hindurchstreckte. Er grinste. Hunt spuckte gegen die Scheibe, stieß seinen Stuhl um und ging davon. 2. Joel stand auf der Veranda hinter dem Haus und schaute über die Dächer der Nachbarschaft hinweg zu den fast pyramidenförmigen Bergspitzen der Rincon Mountains; ihre braunen Abhänge glühten im Licht der untergehenden Sonne orange wie ein Höllenschlund. Kaum, dass das Tageslicht verblasst war, fiel die Temperatur rapide, doch Joel machte keine Anstalten, ins Haus zu gehen. Im Haus war Lilly, und wenn er jetzt hineinging, würde er mit seiner Tochter ein Gespräch führen müssen, das er nicht führen wollte. Es war besser, hier draußen zu bleiben, bis Stacy ihn rief. Das war feige, das wusste Joel selbst, aber er konnte nichts dagegen tun. Er blickte zum Abendhimmel hinauf. Noch hatte die Nacht den Tag nicht ganz abgelöst, doch Mond und Venus standen schon am Himmel und leuchteten kalt und klar, obwohl die Sonne noch nicht ganz untergegangen war. Joel erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem er gelernt hatte, dass dieser helle »Stern« in Wirklichkeit die Venus war. Er war zehn Jahre alt gewesen. Die ganze Familie hatte einen Camping-Ausflug zum Mount Lemmon gemacht, und zu diesem Ausflug hatten sie auch Hunt mitgenommen. Nach dem Abendessen, als die Sonne schon untergegangen war, hatten ihre Eltern sich ins Zelt zurückgezogen, doch Hunt und er, Joel, waren noch draußen geblieben und hatten sich auf zwei Felsbrocken gehockt. Hunt hatte eine Karte des Nachthimmels aus der Tasche gezogen, die er extra mitgenommen hatte. Dann schaltete er seine Taschenlampe ein, richtete kurz den Lichtkegel auf die runde Scheibe aus dünnem Plastik und knipste die Lampe wieder aus. Die Karte leuchtete im Dunkeln, und Hunt drehte die Scheibe so lange, bis er die Positionen der einzelnen Himmelskörper zuordnen konnte. Dann deutete er auf den leuchtenden Stern, der im Westen aufstieg. »Das ist die Venus«, sagte er. »Das ist der Polarstern«, widersprach Joel. Das hatte sein Vater ihm erklärt. »Der steht doch gar nicht über dem Nordpol«, erwiderte Hunt. »Und schau doch auf die Karte. Siehst du? Genau da - und da steht die Venus.« Joel schaute hin. »Du hast recht«, gab er zu. Er war entsetzt, dass sein Freund etwas wusste, was sein Vater nicht gewusst hatte. »Die Venus ist normalerweise der erste Stern, der am Himmel auftaucht«, fuhr Hunt sachlich fort. »Obwohl sie gar kein Stern ist, sondern ein Planet.« Nun erinnerte Joel sich an diese Nacht. Er fragte sich, ob Hunts Zelle ein Fenster hatte und ob sein Freund wohl auch den Nachthimmel sehen konnte. Joel schloss die Augen, so schlimm war der Verspannungs-Kopfschmerz, der schon den ganzen Tag seinen Schädel marterte. Es war völlig unmöglich, dass Hunt ein Kinderschänder war. Das wusste Joel so sicher wie seine eigene Telefonnummer. Verdammt, seit Hunt Beth kennen gelernt hatte, schien sogar sein Interesse daran, anderen schönen Frauen hinterherzuschauen, völlig eingeschlafen zu sein. Joel würde vor Gericht aussagen, dass er Hunt niemals, keine Sekunde lang, mit Kate oder Lilly alleine angetroffen hatte, wenn er bei ihm gewesen war. Hinter sich hörte er ein Klicken und ein zischendes Geräusch, als die gläserne Schiebetür geöffnet wurde. Er drehte sich um. »Sie ist aus ihrem Zimmer gekommen«, sagte Stacy. »Ich glaube, wir sollten mit ihr reden.« Joel nickte und folgte seiner Frau ins Haus. Lilly hatte sich aufs Sofa fallen lassen und zappte von einem Sender zum nächsten. Stacy setzte sich neben sie und nahm ihr vorsichtig die Fernbedienung aus der Hand. »Wir müssen reden«, sagte sie. Lilly schüttelte den Kopf. »Will ich nicht.« »Ich weiß, Schätzchen, aber es ist wichtig. Wir müssen herausfinden, was wirklich passiert ist.« »Ich weiß es nicht!« Auch Joel setzte sich nun und schaute seine Tochter geradewegs an. »Du bist ihre beste Freundin. Hat sie dir jemals etwas davon erzählt?« Lilly war anzumerken, dass sie sich sehr unwohl fühlte. »Schätzchen?«, hakte Stacy nach. Mit unglücklicher Miene sagte Lilly: »Ja.« »Ja was?«, fragte Joel vorsichtig nach. »Sie hat dir davon erzählt?« »Sie hat gesagt, es wäre Mr. Jackson, aber ich wusste, dass das nicht sein kann, weil sie einmal angerufen und mir davon erzählt hat, gleich nachdem es passiert war, und da war Mr. Jackson hier bei euch.« Der ganze Satz brach aus Lilly heraus wie ein Sturzbach. Dann schwieg sie, und ihr Gesicht war knallrot, so peinlich war ihr das Ganze. Unterstützend legte Stacy ihr die Hand auf die Schulter. »Hat Kate dir sonst noch was erzählt? Hast du irgendwas gesehen, als ihr beide bei ihr zu Hause wart, oder im Park?« »Einmal habe ich einen Mann gesehen«, gab sie zu. »Im Park. Wir waren mit dem Rad da, und Kate hat ihn auch gesehen und ist stehen geblieben und hat sich ganz schnell umgedreht. Ich dachte, sie kennt ihn vielleicht ... es war, als hätte sie den Mann schon mal irgendwo gesehen, aber als ich sie danach gefragt hab, hat sie nicht darüber reden wollen.« Joels Puls raste. »Wie hat der Mann ausgesehen?« »Ich hab sein Gesicht nicht gesehen. Er hat an einem Baum gestanden, und es war schon ganz dunkel. Ich konnte nur sehen, dass er groß war und so einen altmodischen Hut aufhatte.« »Groß?«, fragte Joel, und allein schon das Wort beunruhigte ihn. »Ja. Wie ein Football-Spieler ... na ja, vielleicht nicht ganz so groß. Und er ging irgendwie krumm.« »Warum hast du uns nichts davon erzählt, als das passiert ist?« Unglücklich zuckte Lilly mit den Schultern. »Hast du gedacht, wir würden dich dann nicht mehr in den Park fahren lassen?« Lilly nickte. Joel stand auf. »Das müssen wir der Polizei erzählen.« Stacy legte ihm die Hand auf den Arm und zog ihn wieder zu sich aufs Sofa. »Das beweist gar nichts. Es hilft Hunt vielleicht, aber es beweist doch überhaupt nicht, dass er in Wirklichkeit gar nichts getan hat.« Lilly schaute ihre Mutter an. »Hat Onkel Hunt so was ... wirklich gemacht?« »Nein, Schätzchen. Wir glauben nicht, dass er so etwas getan hat.« »Ich auch nicht«, sagte Lilly mit fester Stimme. »Aber«, fügte sie dann leise hinzu, »Kate glaubt das.« 3. Das Haus wirkte leer, jetzt, wo Hunt fort ... im Gefängnis ... war. Stacy hatte angerufen, um ihr zu sagen, wie leid ihr alles tat, und das hatte Beth ein wenig aufgeheitert. Aber sie hatte keine ihrer anderen Freunde angerufen, weil sie nicht wusste, was sie hätte sagen sollen. Hallo, ich bin ziemlich niedergeschlagen, weil mein Mann wegen Kindesmissbrauchs festgenommen worden ist? Noch nie im Leben hatte Beth sich so einsam gefühlt, und als sie ihre Mutter in Las Vegas angerufen hatte - einfach nur, um sich noch bei jemandem ausweinen zu können -, bekam sie bloß ein scharfzüngiges »Wie gut kennst du ihn denn nun wirklich?« zu hören. »Gut genug, um zu wissen, dass er das nicht getan hat«, antwortete Beth, bevor sie auflegte - und das stimmte auch. Der einzige Trost an diesem entsetzlichen, höllischen Tag bestand darin, dass sie von Hunts Unschuld absolut überzeugt war. Sie verspürte nicht den Hauch eines Zweifels. Und ebenso sicher war sie sich, dass dieser Versicherungsvertreter irgendetwas mit diesen erlogenen Anschuldigungen zu tun hatte. So verrückt es für einen Außenstehenden auch klingen mochte: Sie beide zweifelten nicht einen Augenblick daran, dass man ihnen hier nur einen Denkzettel verpassen wollte, dass sie dafür bestraft wurden, eine Versicherung nicht abgeschlossen zu haben, die sie nicht wollten und an deren Wirksamkeit sie nicht geglaubt hatten. Das war ihr eigentliches Vergehen. Sie hatten nicht geglaubt. Deshalb mussten sie nun diese Tortur durchstehen; deshalb wurden sie drangsaliert. Warum hatte sie nicht von Anfang an auf Hunt gehört? Warum hatte sie diesen Vertreter überhaupt ins Haus gelassen? Warum hatte sie darauf bestanden, unbedingt eine Versicherung bei ihm abzuschließen? Beth kuschelte sich auf dem Sofa an Courtney. Die Katze schnurrte und drückte Beth die feuchte Schnauze gegen die Hand. Ob nun aus Verlegenheit oder aus dem Bedürfnis heraus, seine Familie nicht mit derartigen Problemen zu belasten, hatte Hunt Beth ausdrücklich verboten, seine Eltern anzurufen. Und auch, wenn Beth es ihnen unbedingt erzählen wollte und genau wusste, dass die beiden sofort gekommen wären, um für ihren Sohn da zu sein - und wahrscheinlich jede Menge dringend benötigte Erfahrung in dieses Gefecht hätten einbringen können -, achtete Beth seine Wünsche und unterließ es, sie zu informieren, auch wenn sie wusste, dass es falsch war. Und so war sie jetzt ganz alleine im Haus. Nur sie und Courtney. Und das Gästezimmer. Das Gästezimmer hatte in den letzten beiden Nächten eine geradezu mystische Bedeutung erhalten. Beth machte es nicht direkt für das verantwortlich, was hier geschah, doch es war ein Symbol für alles, was passieren konnte - ein Symbol dieses widernatürlichen, paranormalen Reiches, das den Versicherungsvertreter und alles umfasste, was er mitgebracht hatte. Weil es in diesem Zimmer spukte. Das hatte Beth nie aus den Augen verloren. Tag und Nacht war sie sich dessen bewusst, besonders in den letzten beiden Nächten, die sie alleine im Haus verbracht hatte. Einen Großteil der Zeit hatte sie in der Küche verbracht, so weit vom Gästezimmer entfernt wie nur möglich; und wenn sie abends zu Bett ging, ließ sie im Bad das Licht brennen, den Fernseher im Wohnzimmer laufen und die Tür zum Gästezimmer geschlossen und verriegelt. Auch jetzt hielt Beth sich nur deshalb im Wohnzimmer auf, weil Courtney dort war, und sie war so nervös, dass sie immer wieder zum Flur hinüberschaute und sich wünschte, sie hätte dort das Licht eingeschaltet, ehe die Sonne untergegangen war. Das Telefon klingelte, und sie zuckte heftig zusammen. Mit zitternder Hand griff sie nach dem Hörer und wollte schon »Hallo« sagen, als sie am anderen Ende der Leitung etwas hörte, und das war keine Stimme. Es war noch nicht einmal menschlich. Es war ein leises Pfeifen, wie ein fast leerer Teekessel. Beth stand auf und ließ den Hörer fallen, zog sich langsam vom Telefon zurück. Aus dem Gästezimmer rief jemand an. Aber im Gästezimmer gab es kein Telefon. Aus dem hin- und herbaumelnden Hörer und vom anderen Ende des Flures - in Stereo - hörte sie, wie der pfeifende Laut sich langsam zu immer schrilleren Tonhöhen aufschwang. Vor dem geistigen Auge sah Beth das Gesicht, das sie aus dem Spiegel kannte: das Gesicht eines stämmigen Mannes mit schlechter Haltung, der einen altmodischen Hut mit breiter Krempe trug. Beth zweifelte nicht daran, dass sie genau diese Gestalt im Spiegel sehen würde, wenn sie sich jetzt ein Herz fasste und ins Gästezimmer spähte. Die Gestalt würde hinter ihr im Türrahmen stehen, so wie immer. Die Gestalt lebte in ihrem Haus. Wen sollte Beth anrufen? Was konnte sie tun? Plötzlich hörte sie ein Klopfen an der Haustür, und dieses Mal zuckte sie nicht nur zusammen, sie schrie auf. »Ich bin es nur«, verkündete die Stimme von der anderen Seite der Tür. »Ihr Versicherungsvertreter! Darf ich hereinkommen und mit Ihnen sprechen?« Wie groß ist die Möse Ihrer Frau? Sie dachte über das nach, was Hunt ihr erzählt hatte, und ihre Furcht steigerte sich noch. »Nein! Gehen Sie weg!« »Ich dachte, das wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, um über Ihren Bedarf an weiteren Versicherungen zu sprechen.« Ein guter Zeitpunkt? Beth ignorierte ihn, antwortete nicht, hoffte, er würde einfach verschwinden. Sie spürte, wie die Gänsehaut sie überlief. Der Versicherungsvertreter erschien ihr im Augenblick so erschreckend wie die Geräusche im Haus und dieses Etwas im Gästezimmer. Wenn der Vertreter dafür gesorgt hatte, dass mit Hunt dieses abgekartete Spiel gespielt und er festgenommen wurde, wofür konnte er dann noch alles sorgen? Was mochte er noch geplant haben? »Ich dachte mir, Sie hätten vielleicht Interesse an der Arbeitsplatzversicherung, über die wir schon gesprochen haben.« Beth erinnerte sich, was der Vertreter gesagt hatte, als er ihnen die Police hatte verkaufen wollen - dass sie dank dieser »Arbeitsplatzversicherung« weder ihren Job verlieren würden noch den Spaß an ihrer Arbeit »aufgrund von Fremdfaktoren«. Er hatte sie angelächelt, als er diesen letzten Punkt angesprochen hatte - und an dieses Lächeln erinnerte Beth sich jetzt wieder deutlich, und sie spürte, wie sich ihr dabei die Härchen im Nacken aufstellten. »Kann ich hereinkommen?« Wieder gab Beth keine Antwort. »Sie sind beschäftigt«, rief der Vertreter durch die geschlossene Tür. »Das verstehe ich. Ich komme später noch einmal, wenn Ihr Mann wieder da ist. Er kommt bald zurück, und dann können wir Ihre Optionen durchgehen.« Er kommt bald zurück? Wusste der Vertreter irgendetwas, das sie nicht wusste? Unvernünftigerweise, irrationalerweise, spürte Beth Hoffnung in sich aufkeimen. »Ich komme nächste Woche wieder!« Sie spähte durch den Türspion und sah, wie der Vertreter sich von den Treppenstufen entfernte und dann grüßend mit einem Finger an seine Hutkrempe tippte - als wüsste er ganz genau, dass sie ihn beobachtete. Dann drehte er sich um und ging munter die Auffahrt hinunter, zwischen den beiden Ocatillas hindurch, die als Eingangstor zum Vorgarten dienten, bog nach rechts auf den Bürgersteig ab und verschwand um die nächste Ecke des Häuserblocks. Erst als er außer Sichtweite war, begriff Beth, dass aus dem Gästezimmer immer noch das Pfeifen zu hören war. Beth, die sich den Wecker gestellt hatte, wachte früh auf. Nach einer Stunde, in der unablässig das sonderbare, leise Pfeifen zu hören gewesen war, hatte das Gästezimmer sich anscheinend beruhigt. Beth hatte den Telefonhörer wieder auf die Gabel gelegt, und es hatte nicht erneut geklingelt. Doch die Geräusche aus dem Zimmer waren bis nach zehn Uhr zu vernehmen gewesen. Erst als sie endlich verklungen waren und auch nach fünfundvierzig Minuten nicht wieder eingesetzt hatten, brachte Beth den Mut auf, ins Bett zu gehen. Sie wagte es nicht, einen Blick ins Gästezimmer zu werfen, doch sie stellte erleichtert fest, dass die Tür immer noch geschlossen war. Und so schloss sie auch die Tür zum Schlafzimmer, schloss ab und schlief die ganze Nacht bei eingeschaltetem Licht. Am nächsten Morgen ging sie in die Küche, setzte Kaffee auf, gab Courtney seine Frühstücks-Friskies und schob einen Bagel in den Toaster. Den gestrigen Tag hatte sie sich freigenommen, um Hunt zu besuchen und ihm einen Anwalt zu besorgen, und auch für diesen Tag hätte sie gerne Urlaub eingereicht. Aber es waren nur noch wenige Urlaubstage übrig, und sie hatte das Gefühl, als würde sie die später noch brauchen, wenn der Prozess begonnen hatte. Außerdem hätte sie an diesem Tag sowieso nichts tun können, das Hunt geholfen hätte, und da ihre Besuchszeit auf eine halbe Stunde beschränkt war - siebzehn Uhr dreißig -, war es wohl besser, wenn sie zur Arbeit ging. Vielleicht lenkte die Arbeit sie ja ab. Und sie würde den Tag bestimmt schneller hinter sich bringen können, als wenn sie alleine war, unruhig im Haus auf und ab lief, sich immer wieder alles durch den Kopf gehen ließ und sich dadurch selbst an den Rand des Wahnsinns trieb. Beth fragte sich, ob über diese Sache etwas in den Nachrichten gebracht worden war. Die Medien waren schließlich versessen darauf, sich auf jeden Fall von Kindesmissbrauch zu stürzen. Beth wusste, dass Hunt unschuldig war, dass sämtliche Anschuldigungen jeglicher Grundlage entbehrten ... doch sie wusste auch, wie schlecht es für Hunt in der Presse aussehen würde, und sie betete, dass nirgends etwas auftauchte, was dazu führte, dass die Geschworenen voreingenommen gegenüber Hunt sein würden. Beth stieß ein kurzes, schnaubendes Lachen aus, ein plötzlicher Ausbruch von Frustration, der sogar sie selbst schockierte. Galgenhumor. Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie ihren Freunden und Kollegen erklärte, dass die Vorwürfe gegen Hunt bloß die üble Intrige eines boshaften Versicherungsvertreters seien. Wie glaubhaft klang das denn bitte? Ein Versicherungsvertreter mit übernatürlichen Kräften hatte ihnen eine Kranken- und eine Zahnfürsorgeversicherung verkauft und ihnen dann eine Rechtsversicherung angeboten, und als sie diese abgelehnt hatten, hatte er sie bestraft, indem er auf wundersame Weise Lillys Freundin dazu gebracht hatte, fest davon überzeugt zu sein, Hunt habe sie zu Oralverkehr gezwungen?! Als Beth dies alles durch den Kopf ging, erkannt sie mit schrecklicher Deutlichkeit, wie lächerlich das alles klang - obwohl sie genau wusste, dass es die Wahrheit war. Beth frühstückte, zog sich an, schminkte sich und trug den Lippenstift auf. Als sie sich dann im Badezimmerspiegel betrachtete, bemerkte sie, dass sie sich unglaublicherweise schon an ihre silbernen Zähne gewöhnt hatte. Sie gefielen ihr nicht, und sie wäre überglücklich gewesen, hätte sie wieder ihr normales Lächeln und perlweiße Zähne gehabt, doch sie war deswegen nicht mehr so gehemmt wie bisher: Es graute ihr nicht mehr so sehr davor, zur Arbeit zu gehen oder auf die Straße, weil ihre Zähne wie der Wunschtraum eines jeden Rap-Stars aussahen. Im Augenblick gab es wichtigere Dinge, um die sie sich Sorgen machen konnte. Der gläserne Wolkenkratzer, in dem sich die Geschäftsräume von Thompson Industries befanden, das höchste Gebäude von Tucson, wirkte bedrohlich, als Beth darauf zufuhr. Dann steuerte sie die darunter liegende Tiefgarage an und stellte ihren Wagen auf dem Parkplatz ab, der für die Angestellten reserviert war. Mehrere Minuten lang blieb sie im Wagen sitzen, atmete tief durch und mobilisierte ihren Mut, auszusteigen und in ihr Büro zu gehen. Durch die Windschutzscheibe sah sie, dass sich Amy aus der Buchhaltung und Gary Barnes unterhielten und fröhlich lachten, als sie an den parkenden Wagen vorbei zum Aufzug gingen. Beth wischte sich die schweißnassen Hände am Rock ab und wartete, bis die Fahrstuhltüren sich geschlossen hatten, ehe sie ausstieg. Innerlich bereitete sie sich auf mögliche Konfrontationen vor. Sie sagte sich immer wieder, dass jegliche Feindseligkeit ihrer Kollegen nicht gegen sie persönlich gerichtet war, sondern eine weitere Folge der widerlichen Intrigen des Versicherungsvertreters. Endlich betrat sie den Aufzug, drückte den Knopf für das zwölfte Stockwerk und wartete, starrte auf die Zahlen, die nacheinander aufleuchteten. Mit einem Ping! öffnete sich die Fahrstuhltür, und Beth trat in das Chaos ihrer Arbeitsstätte in der Public-Relations-Abteilung. Alle wussten es. Beth hätte nicht sagen können, woher sie es wussten, doch es war offensichtlich, und Beth fühlte sich wie eine Aussätzige, als sich die Menschenmassen vor ihr teilten, als alle Gespräche verstummten, sobald Beth vorbeiging. Sie ging weiter, bewegte sich durchs Labyrinth der durch halbhohe Wände abgeteilten Arbeitsplätze, am Kopierraum und am Fotolabor vorbei. Sie versuchte stur nach vorn zu blicken, sich auf den Weg zu konzentrieren, der vor ihr lag, und nicht auf die feindseligen Blicke zu achten, die ihr zugeworfen wurden, nicht zu spüren, wie ihre Kollegen sie im Vorbeigehen anstarrten, nicht die verletzenden Worte zu hören, die hinter ihrem Rücken geflüstert wurden. Beth erreichte ihr Büro. Schloss die Tür. Drehte den Schlüssel im Schloss. Und brach in Tränen aus. 4. Dumpf und grau zog der Morgen vor dem hohen, schmalen Fenster des Bezirksgefängnisses auf. Beim Frühstück im Speisesaal drängte sich ein kleiner, fetter Mann, der aussah wie ein Buchhalter, an mehreren Insassen vorbei und setzte sich neben Hunt auf die Bank. Hunt zwang sich gerade dazu, die viel zu flüssigen Eier und den kalten Toast herunterzuwürgen, und blickte auf, als der Mann sein Tablett auf den Tisch stellte. »Haben Sie eine Versicherung abgeschlossen?« Erstaunt riss Hunt die Augen auf. »Ich war zwei Fenster weiter und hab mit meiner Frau gesprochen. Ich hab gesehen, dass dieser Versicherungsvertreter dich besucht hat.« In dem warmen, stickigen Raum voller stinkender Männerleiber war Hunt plötzlich eiskalt. Der fette Mann beugte sich zu ihn hinüber. »Ich heiße Del. Ich bin hier wegen ...« Er schüttelte den Kopf. »Zu viele Sachen, um alle aufzuzählen.« Hunt räusperte sich. »Woher hast du gewusst, dass der Mann Versicherungsvertreter ist?« »Was meinst du wohl, wie ich hier reingekommen bin?« Es war genau die Antwort, die Hunt tatsächlich erwartet hatte; dennoch fuhr es ihm eiskalt durch Mark und Bein. »Ich heiße Hunt«, entgegnete er. »Man wirft mir vor, ich hätte ...« Er stockte, blickte sich um. Er wusste nicht, ob die anderen Insassen wussten, warum er hier war, und Hunt wollte es sie auf keinen Fall erfahren lassen. Dass sie es nicht wussten, war der wohl einzige Grund, warum seine Zähne noch nicht über den Boden des Duschraums verteilt waren. »Sagen wir einfach, dass auch bei mir dieser Kerl der Grund dafür ist, dass ich hier bin.« Del nickte enthusiastisch. »Ich hab's gewusst! Was ist passiert? Hast du deine Beiträge nicht bezahlt?« »Nein«, antwortete Hunt. »Ich habe keine Rechtsversicherung abgeschlossen.« »Rechtsversicherung? Die hat er mir gar nicht angeboten. Was sollte die denn bringen?« »Sie sollte dafür sorgen, dass ich hier nicht reinkomme.« Del stieß ein Schnauben aus. »Typisch.« Schnell trank er einen Schluck kalten Kaffee. »Und was hat er dir angeboten, als er dich hier besucht hat? Und hast du 's genommen?« »Eine Verurteilungsversicherung«, erklärte Hunt. »Und die werde ich auch nehmen.« Er zögerte. »Falls er sie mir noch mal anbietet.« »Du hast ihn abblitzen lassen?« »Er hat meine Frau beleidigt. Na ja, eigentlich nicht richtig beleidigt, aber er hat gesagt, ich müsse erst beweisen, dass ich anspruchsberechtigt sei, und dann hat er mir diese ungeheuerlichen Fragen gestellt.« Del nickte. »So macht der das immer. Aber lass dich davon nicht unterkriegen. Der will dich nur testen.« Hunt atmete tief ein. »Hätte ich die Versicherung abschließen sollen?« »Wenn die dich hier rausholt? Aber klar doch, verdammt!« »Und warum bist du dann hier?« »Ich habe meine Beiträge nicht bezahlt. Die waren immer weiter angewachsen, und ich hatte meinen Job verloren, und ... ich wollte ja bezahlen, aber ich war zu spät dran, und dann ... dann ist einfach alles auseinandergefallen. Es wurde immer schlimmer. Dann wurde ich festgenommen ... und ich hatte keine Versicherung, die mich hätte schützen können. Als ich den Kerl dann gestern hier gesehen habe, wie er mit dir geredet hat, da hab ich mir gedacht, er würde vielleicht auch noch mit mir sprechen wollen. Mir vielleicht irgendeine neue Versicherung anbieten, die mich hier wieder rausholt. Hat er aber nicht. Der hat mir gar nichts angeboten.« Mürrisch knabberte der fette Mann an seinem Toast. »Vielleicht will der mir ja nur 'nen Denkzettel verpassen. Deswegen sag ich ja auch: Nimm, was man dir anbietet! Der hat dir echt 'ne Chance geboten, Kumpel. Lass dir die nicht entgehen!« Nachdenklich nickte Hunt. »Sag mal«, fragte er dann, »hat dieser Vertreter dir jemals seinen Namen genannt?« Del schüttelte den Kopf. »Nein. Das hat mich auch gewundert.« Einen Augenblick lang schwieg er. »Weißt du, Namen verleihen Macht. In gewissen Kulturen reicht es schon aus, den Namen eines Mannes auszusprechen, um über ihn zu herrschen. Wie in diesem Märchen ... wie heißt es noch? Goldlöckchen? Rumpelstilzchen? Das mit dem bösen Zwerg, der den Erstgeborenen der Königin kriegt, wenn sie nicht seinen Namen errät?« Er stockte. »Ich sag das nur, weil du genauso gut wie ich weißt, dass der Typ kein normaler Versicherungsvertreter ist. Da steckt viel, viel mehr dahinter.« »Ich weiß.« »Na ja, ich glaube, dass er seinen Namen mit Absicht nicht verrät. Bevor ich festgenommen wurde, hab ich mir sogar gedacht, wenn ich irgendwie seinen Name rausfinden könnte, dann könnte ich ... was weiß ich, ihn erpressen oder es sonst wie zu meinem Vorteil nutzen. Aber du hast recht. Das bedeutet irgendwas. Der hat seinen Namen keinem genannt.« Eine Wache kam vorbei, ein hagerer Mann mit Frettchengesicht und einem bleistiftdünnen Schnurrbart im Stile von Prince - und es war deutlich zu spüren, dass diese Wache sich fast immer sofort persönlich angegriffen fühlte. »Daley? Dein Anwalt ist da.« Der fette Mann kletterte über die Rückenlehne der Bank. »Bin in Berufung«, erklärte er. »Ich hoffe, ich hab irgendwas, damit das Verfahren wiederaufgenommen werden kann.« Er winkte Hunt zu, als die Wache ihn aus dem Speisesaal führte. »Wir sehen uns beim Mittagessen.« Doch Del erschien nicht zum Mittagessen. Irgendwann am späten Vormittag gellte ein schriller, altmodischer Alarm durch die ganze Anlage, und plötzlich waren überall Wachen, die aus Leibeskräften immer wieder »In die Zellen! In die Zellen!« brüllten. Hunt wusste nicht, was es zu bedeuten hatte, doch nachdem alles vorbei war, hörte er, wie sich zwei Insassen einer anderen Zelle über einen Kampf unterhielten, eine brutale Schlägerei, die irgendetwas mit einem vorangegangenen rassistischen Zwischenfall zu tun hatte. Einer der Schläger war in die Krankenstation gebracht worden - entweder im Koma oder tot. Als Del dann nicht im Speisesaal auftauchte, wusste Hunt, um wen es hier gegangen sein musste. Es hätte ihn nicht überraschen sollen - und eigentlich tat es das auch nicht. Hunt war entsetzt, zutiefst verängstigt, aber nicht überrascht. Er versuchte sich einzureden, dass es mit ihm selbst überhaupt nichts zu tun hatte und dass Del gar nicht dafür bestraft worden war, aus dem Nähkästchen geplaudert zu haben, sondern dass es um irgendeine alte Sache zwischen Del und dem Versicherungsvertreter gegangen war ... doch so sehr er es auch versuchte, Hunt konnte einfach nicht daran glauben. Später kam er auf den Gedanken, dass der Versicherungsvertreter Del vielleicht gezielt zu ihm geschickt hatte - dass Del in Wirklichkeit gar kein Insasse des Bezirksgefängnisses war, sondern dass man ihn eingeschleust hatte um mit Hunt zu reden und ihn dazu zu bringen, diese Versicherung abzuschließen. Die Vorstellung war völlig verrückt - aber auch nicht verrückter als viele andere Dinge, die in letzter Zeit passiert waren. Bloß weil man paranoid ist, ging es Hunt durch den Kopf, heißt das noch lange nicht, dass die nicht wirklich hinter einem her sind ... Hunt lag auf seiner Pritsche und starrte an die Decke, als er Schritte hörte und dann das laute Klappern eines Schlagstocks gegen die Gitterstäbe seiner Zelle. »Du hast Besuch.« An diesem Nachmittag sollte Jennings vorbeikommen, doch eigentlich hoffte Hunt, dass es der Versicherungsvertreter sein würde. Hunt hatte eine lange Nacht und einen ebenso langen Tag damit verbracht, über die neue Versicherungsleistung nachzudenken, die ihm angeboten worden war, und er hatte beschlossen, diese »Verurteilungsversicherung« abzuschließen - schon bevor er Del Daley kennen gelernt hatte. Am hinteren Ende des Besucherzimmers saß tatsächlich der Versicherungsvertreter auf der anderen Seite der Panzerglasscheibe. Er griff nach dem Telefonhörer und bedeutete Hunt mit einer Handbewegung, es ihm gleichzutun. Hunt setzte sich, griff nach dem Hörer und legte ihn sich ans Ohr. »Wie geht es Ihnen heute, Mr. Jackson?« Die Stimme des Vertreters klang jovial und herzlich. Ganz anders, als Hunt erwartet hatte. »Gut«, antwortete Hunt langsam. »Wenn ich es richtig verstehe, sind Sie daran interessiert, auf unser Angebot zusätzlicher Versicherungsleistungen einzugehen.« Hunt nickte und fühlte sich dabei auf unbestimmte Art und Weise schuldig, als würde er einer illegalen oder unmoralischen Tat zustimmen. »Es freut mich, dass Sie doch noch zur Besinnung gekommen sind. Natürlich müssen Sie sich immer noch als anspruchsberechtigt erweisen, und ich muss Ihnen immer noch ein paar Fragen stellen. Wäre Ihnen das recht?« »Ja«, erwiderte er knapp. »Fein, fein. Ich werde versuchen, es so schnell und schmerzlos wie möglich durchzuziehen. Also, Frage Nummer eins ...« »Klein genug, um eng zu sein, aber groß genug, um mich aufzunehmen. Beantwortet das Ihre Frage?« »Sind Sie gut ausgestattet? Haben Sie reichlich Fleisch auf dem Knochen?« Der Vertreter lachte leise. »Entschuldigung. Bleiben wir bei den Fragen. Also, auf die erste Frage, ›Wurden Sie jemals für eine Straftat verurteilt?‹, haben Sie geantwortet, die Vagina Ihrer Frau sei ›klein genug, um eng zu sein, aber groß genug, um mich aufzunehmen‹. Habe ich das richtig verstanden?« »Was soll das? Was zum Teufel geht hier vor? Beim letzten Mal haben Sie mich gefragt ...« »Ich bitte um Verzeihung. Das war mein Fehler. Ich hatte das falsche Formular. Können wir dann jetzt weitermachen?« »Meine Fresse!« »Mr. Jackson ...« »Gut.« »Also dann, Frage Nummer zwei: Schätzt Ihre Frau den Analverkehr?« Der Vertreter lachte und hob abwehrend die Hände. »War nur 'n Scherz, war nur 'n Scherz. Tut mir leid, ich konnte einfach nicht widerstehen.« »Herrgott noch mal!« »Ich könnte Ihnen auch einfach das Antragsformular geben, und Sie füllen es selbst aus. Ist Ihnen da drinnen der Besitz eines Stiftes gestattet?« Hunt atmete tief durch, versuchte sich zu beruhigen. So macht der das immer. Der will dich nur testen. »Nein«, sagte Hunt. »Ich werde die Fragen beantworten. Lesen Sie einfach vor. Ich will das hier so schnell wie möglich hinter mich bringen.« »Das ist eine vernünftige Einstellung. Okay, wurden Sie jemals für eine Straftat verurteilt?« »Nein.« »Wurden Sie bisher jemals festgenommen?« »Nein.« »Haben Sie jemals eine Straftat begangen, bei der Sie weder erwischt noch dafür bestraft wurden?« »Trunkenheit am Steuer vielleicht, während der College-Zeit. Und Sachbeschädigung in meiner Kindheit, würde ich sagen.« Der Vertreter griff nach dem Formular und schob es in seinen Aktenkoffer. »Wir sind fertig.« Hunt konnte es nicht glauben. »Das war alles? Das sind die einzigen Fragen?« »Ja.« »Und wann erfahre ich, ob ich anspruchsberechtigt bin?« »Jetzt gleich.« Es folgte eine lange Pause. »Und?«, hakte Hunt nach. »Sie sind anspruchsberechtigt. Also, möchten Sie eine Personenschadensversicherung mit der Zusatzleistung des Schutzes vor einer Verurteilung abschließen?« »Ja, beides.« »Also gut. Ich werde den Antrag für Sie ausfüllen, auch wenn ich natürlich immer noch Ihre Unterschrift benötigen werde. Ich werde einen Wachmann bitten, Ihnen die Unterlagen zur Unterzeichnung vorzulegen, sobald wir fertig sind.« Er holte neue Papiere aus seinem Aktenkoffer. Unter dem weißen Deckblatt konnte Hunt leuchtend rosafarbene und gelbe Blätter erkennen. »Name ... Adresse ... Beruf«, murmelte er. Dann begann er rasch zu schreiben. »Grund der Festnahme ... Art der Anklagepunkte ...« Der Vertreter ging detailliert die einzelnen Punkte der Police durch. Die Vertragsbestimmungen und Klauseln waren so eindeutig formuliert, dass es eigentlich keinen Grund gab, jeden Punkt durchzugehen, doch der Vertreter genoss es sichtlich, sämtliche Details der einzelnen Versicherungsleistungen zu schildern, und er kostete es aus, jede Vertragsbedingung und jede einzelne Eventualität der Police zu erläutern - sowohl für die Personenschadensversicherung als auch für die zusätzliche Verurteilungsversicherung, die jeweils mit einem einzelnen Satz akkurat und prägnant hätten abgehandelt werden können. Schließlich erhob er sich, ging zu einem Wachmann und sprach kurz auf ihn ein. Der Wachmann öffnete die Sicherheitstür und reichte das Formular an seinen Kollegen auf Hunts Seite der Glaswand weiter, und der Kollege legte es Hunt vor. Sorgfältig las Hunt beide Anträge durch, um sich zu vergewissern, dass nicht auf wundersame Weise neue Zeilen hinzugekommen waren, seit er das Formular durch die Glasscheibe betrachtet hatte - was ja nicht unmöglich gewesen wäre. Dann unterschrieb er. Anschließend reichte er das Formular wieder dem Wachmann, der die Tür öffnete und es seinem Kollegen gab, und der brachte es schließlich wieder zum Versicherungsvertreter, der ihm das Schreiben beinahe gierig aus den Händen riss. Der Vertreter verstaute das Formular in seinem Aktenkoffer, erhob sich und verneigte sich kurz vor Hunt. »Sie werden es nicht bereuen.« Doch als Hunt das kalte Lächeln sah, das sich mit einem Mal auf dem plötzlich viel härter wirkenden Gesicht ausbreitete, bereute er es schon jetzt. Knapp zwei Stunden später traf er mit Jennings zusammen - in dem Raum, den er geistig nur noch »den Anwalts-Mandanten-Raum« nannte. Der Rechtsanwalt wirkte sehr ernst, und sein Gesicht war aschfahl, als Hunt eintrat. Reglos saß er in seinem Stuhl. Sofort wusste Hunt, dass irgendetwas nicht stimmte. Dieses Mal lagen keine Papiere auf dem Tisch, kein Kassettenrekorder, keine Aktentasche. Hunt setzte sich Jennings gegenüber und rückte seinen Stuhl zurecht. Das Herz hämmerte ihm in der Brust. »Hallo, Ray«, begann er. »Was gibt es Neues?« Einen Augenblick lang schwieg der Rechtsanwalt, und das alleine war schon ungewöhnlich. Jedes Mal, wenn Hunt mit ihm zu tun gehabt hatte, hatte Jennings sofort eine Antwort parat gehabt, war jederzeit auf alles genauestens vorbereitet gewesen, und er war Hunt mit einem Selbstvertrauen entgegengetreten, das regelrecht ansteckend gewesen war. Nun jedoch wirkte der Anwalt zweifelnd und unsicher, was Hunt als äußerst beunruhigend betrachtete. »Ich muss Sie etwas fragen ...«, setzte Jennings an. »Legen Sie los.« »Ich brauche eine ehrliche Antwort.« »Selbstverständlich.« Hunt krampfte sich der Magen zusammen. »Bitte denken Sie daran, dass alles, was hier gesagt wird, unter dem besonderen Schutz eines Gespräches des Mandanten mit seinem Anwalt steht. Es besteht also keinerlei Veranlassung für Sie zu lügen. Haben Sie ...?« Er stockte. »Wie drücke ich das möglichst taktvoll aus? Haben Sie Kontakte zum organisierten Verbrechen?« Hunt starrte ihn ungläubig an. »Was?« »Ich muss das wissen. Stehen Sie in irgendeiner Form mit denen ... in Verbindung?« »Natürlich nicht!« Sein Anwalt seufzte und schob seinen Stuhl ein Stück vom Tisch zurück. »Dann gibt es wahrscheinlich auf dem ganzen Planeten niemanden, der so viel Glück hat wie Sie.« »Wovon reden Sie überhaupt? Was soll das?« »Kate Gifford ist heute Morgen bei einem Autounfall vor ihrer Schule ums Leben gekommen.« Hunt schwindelte es vor Augen, als hätte man ihm mit einem Ruck den Boden unter den Füßen weggezogen. Ein Wort hallte immer wieder durch seinen Kopf: Verurteilungsversicherung, Verurteilungsversicherung, Verurteilungsversicherung ... »Wie ist es passiert?«, fragte er mit tonloser Stimme. »War Lilly dabei? Ist sie verletzt?« »Nein, sie hat damit überhaupt nichts zu tun. Kate wurde mit einer anderen Klassenkameradin zusammen zur Schule gefahren. Sie saß auf dem Rücksitz, und als der Wagen vor der Schule hielt, ist sie zur Straßenseite hin ausgestiegen. Ein Pickup kam vorbei - für einen ausgewiesenen Schulweg viel zu schnell. Der Fahrer hat sie erst im letzten Moment gesehen und konnte nicht rechtzeitig bremsen oder ausweichen. Er hat sie erwischt und die Wagentür abgerissen.« »O Gott!« Verurteilungsversicherung. »Ja.« »Ist sie ...?« »Sie war auf der Stelle tot. Und die Videokassette, auf der sie die sexuellen Kontakte schildert, die sie angeblich mit Ihnen gehabt hat, ist leider verschwunden. Ich sollte wohl besser sagen: sämtliche Kopien dieser Kassette sind verschwunden. Die aus der Asservatenkammer der Polizei, die aus dem Büro der Psychiater, die von der Staatsanwaltschaft ... und meine eigene.« Jennings blickte Hunt über den Rand seiner Brille hinweg an. »Sie verstehen vielleicht, warum ich mich ein wenig wundere.« »Ich weiß nicht, wie das passiert sein kann«, log Hunt, »aber ich habe nichts damit zu tun.« Selbst für seine eigenen Ohren klang es unglaubwürdig, und er war sicher, dass der Anwalt an seinen Worten mehr denn je zweifelte. Vor seinem geistigen Auge sah er wieder, wie das unheimliche Lächeln auf das Gesicht des Versicherungsvertreters kroch. Sie werden es nicht bereuen. Es war seine Schuld. Er hatte sie getötet. Hätte er nicht diese Verurteilungsversicherung abgeschlossen, hätte er sich nicht bereit erklärt, die Versicherung dafür zu bezahlen, ihm den Arsch zu retten, dann würde die kleine Kate jetzt noch leben. Aber wenn sie keine Lügen über ihn erzählt hätte ... Nein. Auf diesen Gedanken wollte Hunt sich erst gar nicht einlassen. Er wusste nicht wie, aber irgendwie hatten die es geschafft, Kate dazu zu bringen, gegen ihn auszusagen; sie hatten das Mädchen einer Gehirnwäsche unterzogen und sogar dazu gebracht, die eigenen Lügen selbst zu glauben. Und das alles nur, um ihn davon zu überzeugen, diese Versicherung abzuschließen. Und das hatte er getan. Jetzt war sie tot. Aber was hatte er erwartet? Wie sonst hätte dafür gesorgt werden können, dass die Anklage fallen gelassen wird? Hatte er wirklich geglaubt, die Versicherung würde den Staatsanwalt und die Polizei bestechen, damit die Klage abgewiesen wurde? Für jämmerliche dreißig Dollar im Monat? Das wären untragbare Kosten gewesen, und die Gefahr, dass der Versuch scheiterte, war viel zu groß. Nein, sie hatten sich die einfachste und billigste Lösung ausgesucht. Sie hatten das Mädchen umgebracht. Und alle Bänder gestohlen. Hunt dachte daran, wie sie auf Joels Hof mit Kate und Lilly Basketball gespielt hatten, erinnerte sich an Kates ansteckendes Kichern. Seine Gefühle waren in hellem Aufruhr, und in seinem Innern herrschte ein Chaos aus Entsetzen und Trauer, Zorn und Erleichterung. »Selbstredend«, fuhr Jennings fort, »werden sämtliche Anklagepunkte gegen Sie wegen Mangels an Beweisen fallen gelassen.« »Was bedeutet das? Kann ich dann gehen?« »Sobald die Papiere hier eintreffen und bearbeitet sind, sind Sie ein freier Mann.« »Und das war's?« »Rein theoretisch könnte die Staatsanwaltschaft den Fall wieder aufnehmen, wenn zusätzliche Beweise ans Tageslicht kämen, aber das ist äußerst unwahrscheinlich. Deshalb würde ich sagen ... ja, ich würde sagen, das war's.« Jegliche engere Bindung, die sie zueinander aufgebaut hatten, war fort. Jennings konnte es nicht beweisen, aber tief im Herzen glaubte er, Hunt sei für Kates Tod verantwortlich. Hunt wusste, dass er verantwortlich war - aber aus ganz anderen Gründen, als sein Rechtsanwalt sich jemals hätte ausmalen können. So beendeten sie unpersönlich und förmlich ihre Zusammenarbeit. Zwei Stunden später, als Hunt dank der eifrigen Bemühungen seines Anwalts offiziell entlassen wurde, setzten die beiden sich ein letztes Mal zusammen, um noch ein paar Kleinigkeiten zu regeln. Dann wurde Hunt freigelassen. Beth saß auf einer Bank im Warteraum neben den Familienangehörigen anderer Insassen. Sie sprang auf und rannte auf Hunt zu, als er durch die Tür kam. Hunt schloss sie in die Arme, und sie drückte ihr Gesicht an seinen Hals. Er wusste nicht, ob sie weinte, weil sie so erleichtert war, dass er entlassen wurde und diese höllische Tortur endlich beendet war, oder wegen der Dinge, die geschehen waren - wegen dieses kleinen Mädchens, das jetzt tot war. Vielleicht war es von beidem etwas. Hunt wollte nicht eine Sekunde länger in dem Gebäude bleiben als nötig, und als Beths Schluchzen verebbte, schob er sie zur Tür hinaus, an die herrliche frische Luft der Freiheit. Sobald sie zu Hause waren, schliefen sie miteinander - es gab doch nichts, was die guten alten Hormone so sehr auf Touren brachte, wie die Gefahr einer dauerhaften Trennung -, und es war rau und schmutzig, genau so, wie Hunt es liebte, der beste Sex, den er seit langer Zeit bekommen hatte. Danach lagen sie nebeneinander im Bett und unterhielten sich, und Hunt erzählte Beth von seinem Frühstücksgespräch mit Del und seinem letzten Zusammentreffen mit dem Versicherungsvertreter, in dem Besucherraum, und wie er zugestimmt hatte, eine Personenschadensversicherung mit dem Zusatz einer Verurteilungsversicherung abzuschließen. Er erzählte Beth auch von Kate, obwohl sie es bereits von Jennings erfahren hatte. »Vielleicht hat das ja wirklich nichts miteinander zu tun«, sagte sie hoffnungsvoll. »Ich meine, wir haben doch noch keinen Cent Beiträge bezahlt.« »Jennings hat gesagt, die Versicherung sei unmittelbar nach der Unterzeichnung gültig.« Hunt schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe das Mädchen umgebracht. Ich habe ihr Todesurteil unterschrieben, als ich diesen Antrag unterschrieb.« Beth brach in Tränen aus. Und hielt Hunt ganz, ganz fest. Nach dem Abendessen ging es im Gästezimmer wieder los. Um seine Freilassung zu feiern, waren sie ausgegangen, ins Terra Cotta, hatten exotische, erlesene Vorspeisen bestellt, hatten den herrlichen Sonnenuntergang durch die großen Fenster genossen, die vom Boden bis zur Decke reichten. Als sie wieder nach Hause kamen, war es bereits dunkel. Sie hörten die Geräusche aus dem Gästezimmer schon, kaum dass sie im Flur waren. Ein Klopfen und Tappen, wie Holz auf Holz. Das trockene Zischen eines Windstoßes, den es nicht gab. Hunt war entschlossen, dieses Mal mutig zu sein. Nach allem, was er durchgemacht hatte, erschienen ihm ein paar sonderbare Laute aus einem leeren Zimmer längst nicht mehr so Furcht erregend. Doch als er sich dem Gästezimmer näherte, sah er plötzlich, wie die Zimmertür sich langsam öffnete; zugleich nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung in den Schatten wahr: Irgendetwas schwebte über dem ungemachten Bett. Augenblicklich kehrte die Furcht mit brutaler Gewalt zurück. Er sah, dass Beth, die neben ihm stand, den Atem anhielt. »Heute Nacht gehen wir in ein Hotel«, entschied Hunt. »Das muss ich mir nicht antun. Nicht heute Nacht.« Beth nickte, zu verängstigt, um sprechen zu können, während die Tür am Ende des Flures sich von alleine wieder schloss. VIERZEHN 1. Montagmorgen. Steve saß hinter einem fleckigen, ramponierten Schreibtisch im Büro gleich neben dem Hof der Abteilung Landschaftspflege und verzog mürrisch das Gesicht. »Wenn es nach mir gegangen wäre, wärst du nicht wieder zurückgekommen«, sagte er. »Ich hätte dich am gleichen Tag rausgeschmissen, an dem du in den Knast gewandert bist. Und glaub mir - wenn du für irgendeine private Firma arbeiten würdest, wäre genau das geschehen.« Seine Stimme bebte vor Abscheu. »Aber wir sind hier nun mal ein staatlicher Verein. Und das bedeutet, dass jeder Loser auf diesem beschissenen Planeten sich am Trog sattfressen kann. Zumindest so lange, bis die Bosse eure Arbeitsplätze an Fremdfirmen vergeben.« »Wenn du es so schlimm findest, warum arbeitest du dann eigentlich hier?«, fragte Hunt. »Ich will hier keine markigen Sprüche hören! Ich muss dir vielleicht deinen alten Job zurückgeben, aber ich brauche mir nicht auch noch deine Aufsässigkeit gefallen zu lassen!« Der Chef der Abteilung Landschaftspflege warf Hunt einen finsteren Blick zu, worauf diese respektvoll schwieg. »Wie ich schon sagte, wird dir das Gehalt für die vier Tage abgezogen, die du nicht gearbeitet hast. Für diese Tage hast du deine Karte nicht abstempeln lassen können - wenn du also deinen Zeitplan in die Finger kriegst, dann trag die Fehltage ein, bevor du unterschreibst.« Hunt hatte recht gehabt. Dass er festgenommen worden war, hatte sich unter sämtlichen Angestellten der Bezirksverwaltung wie ein Lauffeuer verbreitet. Einer von ihnen war ein Kinderschänder! Glücklicherweise glaubte das keiner von denen, die Hunt persönlich kannte: Niemand aus der Baumbeschnitt-Abteilung hatte diesen Vorwürfen Glauben geschenkt. Doch außerhalb dieses kleinen Kreises nahm der Glaube an Hunts Unschuld rapide ab, und zweifellos glaubte jeder bei den anderen Abteilungen der Landschaftspflege - wie auch die Mitarbeiter in den anderen Fachbereichen - fest an die alte Regel: »Wo Rauch ist, da ist auch Feuer.« Folglich war Hunt schuldig. Und zu den Leuten, die ihn für schuldig hielten, gehörte auch Steve. »Rein persönlich«, sagte der Abteilungsleiter, »widerst du mich an. Ich will dein Gesicht hier morgens nicht mehr sehen, und ich will auch nicht, dass du mich ansprichst. Wenn ich dir irgendetwas zu sagen habe, bekommst du es schriftlich.« Edward steckte den Kopf durch die offene Tür. »Hey, Steve! Wie läuft's mit dem Haus?« Vom Hof waren spöttisches Glucksen und laute Lacher zu vernehmen. »Wenn es nach mir ginge, würden eure Arbeitsplätze extern vergeben! Und ich werde jeden Tag aufs Neue lachen, wenn ich mir die Berichte der Firmen ansehe, die eure Jobs übernommen haben, ihr nutzlosen Clowns!« »Wenn wir fliegen, dann fliegst du auch, Steve!«, rief Chris Hewitt. »Niemand braucht einen Chef der Abteilung Landschaftspflege, wenn es keine Abteilung Landschaftspflege mehr gibt!« Steve wandte sich wieder Hunt zu. »Mir reicht es schon, wenn die Baumbeschneider verschwinden. Und jetzt mach, dass du rauskommst und an die Arbeit gehst!« Die Trupps machten sich abfahrbereit. Edward und Jorge hatten den Mulcher an ihren Laster gehängt und standen nun da, ans Fahrerhaus gelehnt, tranken Kaffee und warteten. »Können wir los, Jungs?«, fragte Hunt und ging über den asphaltierten Hof zu ihnen. Edward grinste. »Du bist wieder da?« »Ich bin wieder da, Baby!« Edward lachte, und Jorge gab ihm einen Klaps auf den Rücken. »Nichts wie weg hier, Kumpel!« Auf dem Weg hinaus nach Tanque Verde, wo sie die nächste Woche arbeiten sollten, war Hunt sehr schweigsam. Er saß vorne neben Edward, doch es war Jorge, der von der Rückbank aus das Gespräch in Gang hielt und Hunt immer weiter nach Details ausfragte, während sie sich langsam ihren Weg durch den morgendlichen Stop-and-Go-Verkehr bahnten. Schließlich lieferte Hunt ihnen eine verkürzte Zusammenfassung der Geschehnisse - sogar eine leicht entschärfte Version der Wahrheit -, doch Jorge war immer noch nicht zufrieden, und Hunt wusste genau, was Sache war: Sein Freund spürte, dass er noch etwas verbarg. Sie erreichten das Stück Land, auf dem sie die kommende Woche arbeiten sollten. Edward fuhr an den Randstreifen und stellte den Wagen neben einem verbrannten Grünholzbaum ab. Die drei stiegen aus. Hunt schüttete den Rest seines kalten Kaffees auf den Boden und warf den leeren Becher einfach in den Laster. Während er den Mulcher von der Anhängerkupplung löste, schaute Edward zu ihm hinüber. »Du kannst es uns ruhig erzählen, wenn du willst«, sagte er. »Egal was du sagst, keiner von uns wird es weitererzählen.« Hunt war sich immer noch nicht sicher, dass selbst seine Freunde die wilde Geschichte glauben würden, doch er sah die Mienen von Edward und Jorge und beschloss, ins kalte Wasser zu springen. Er erzählte ihnen alles. Vom ersten Angebot einer Zusatzversicherung, die ihn vor einer Festnahme schützen sollte, bis zu Kates Tod und dem Verschwinden sämtlicher Videokassetten, auf denen sich ihre Aussage befunden hatte. »Das ist ein bisschen schwer zu glauben«, gab Edward zu, als Hunt fertig war. »Dein Versicherungsvertreter als Schutzengel?« »Engel trifft es nun gar nicht. Vielleicht ist Teufel das passende Wort.« »Bestimmt sogar«, erklärte Jorge etwas zu laut und zu nachdrücklich. Hunt und Edward drehten sich zu ihm um. »Der Vertreter hat uns bedrängt, eine zusätzliche Krankenversicherung abzuschließen, bevor das Baby zur Welt kommt. Er hat Ynez ein Flugblatt mit Bildern missgestalteter Kinder gegeben.« Hunt spürte, wie sich auf seinen Unterarmen Gänsehaut ausbreitete. »Wartet mal!« Edward legte die Stirn in Falten. »Ist das der gleiche Kerl? Der Klinkenputzer?« »Ja«, bestätigten Hunt und Jorge wie aus einem Munde. Edward schüttelte den Kopf. »Oh Mann! Ich wusste, dass ihr euch mit dem nicht hättet einlassen sollen.« »Dann glaubst du uns?«, fragte Hunt. »Zumindest bezweifle ich nicht, was ihr erzählt.« Er wandte sich Jorge zu. »Hast du dieses Flugblatt aufgehoben? Für so was könnte der Typ in den Knast wandern. Wegen Belästigung oder Erpressung. Ihr könntet den Schrieb ans Justizministerium weiterleiten. Der Staat untersucht zweifelhafte Versicherungspraktiken.« »Die untersuchen Versicherungsbetrug«, gab Hunt zurück. »Das ist aber kein Betrug. Das ist echt.« »Was wisst ihr über die Versicherung, für die der Kerl arbeitet?« »Die Insurance Group? Nicht viel. Angeblich ist es eine Interessensgemeinschaft verschiedener Versicherungsträger, alle sehr alt und sehr angesehen. Ich hab den Eindruck, als hätten die schon zahlreiche Preise für die Qualität ihrer Leistungen und für die Kundenzufriedenheit erhalten.« »Ihr habt nicht mal was über die in Erfahrung gebracht? Ihr habt noch nicht einmal rausgekriegt, wer die eigentlich sind?« »Das wollte ich ja«, gab Hunt zurück. »Aber dann ist mir etwas dazwischengekommen.« »Ich weiß noch nicht mal, wie die heißen«, gestand Jorge. »Auf der Karte, die der Typ mir gegeben hat, stand nur ›Quality Insurance‹.« »Ich werde mal sehen, was ich heute Abend rauskriegen kann«, versprach Hunt. »Mir fällt da gerade was ein«, sagte Jorge. »Meinst du, das könnte mit deinen anderen Versicherungsproblemen zusammenhängen? Mit dem Haus, das du gemietet hast, und deinem Auto und so? Meinst du, da könnte es einen Zusammenhang geben?« Darüber hatte Hunt noch gar nicht nachgedacht. Er war so brutal und unvermittelt in diese neue Welt geschleudert worden, dass er kaum Zeit gefunden hatte, zu Atem zu kommen - geschweige denn zu analysieren, ob es vielleicht einen Zusammenhang zwischen den bizarren Policen dieses Versicherungsvertreters und allem anderen gab, was vorher geschehen war. Aber jetzt, wo er darüber nachdachte ... Halb Affenarsch, viertel vor Ho-den-sack. Ja. Sie konnten definitiv zusammenhängen. »Wahrscheinlich«, sagte er. Edward nickte. »Wenn Jorge recht hat, hat man dich vielleicht mit diesen Schwierigkeiten mürbe gemacht, damit du bei diesem Klinkenputzer irgendwelche Policen unterschreibst.« So hatte Hunt das Ganze noch gar nicht gesehen, aber es ergab verdammt viel Sinn. Das Funkgerät des Lasters knackte, als Steve versuchte, Verbindung mit ihnen aufzunehmen und sich den Stand der Dinge melden zu lassen. Niemand machte sich die Mühe, ihm zu antworten, und sie ignorierten auch die gebrüllte Aufforderung des Abteilungsleiters, sich endlich zu melden. Stattdessen hob Edward die Deichsel des Anhängers an und machte sich daran, die Maschine über den unkrautüberwucherten Weg zu dem verbrannten Grünholzbaum zu schieben. »Wir sollten loslegen. Wir haben heute viel zu tun. Wir können ja während des Schneidens weiterreden.« Jorge griff nach den Werkzeugen, die auf der Ladefläche des Trucks lagen. »Und was willst du jetzt tun?«, fragte Jorge. »Willst du diese Zusatz-Krankenversicherung abschließen?« Hunt seufzte schwer. »Hab ich 'ne andere Wahl?« Nach Feierabend wählte Hunt sich ins Internet ein, um festzustellen, was er über die Insurance Group herausfinden konnte. Die Gesellschaft hatte keine eigene Homepage - das alleine war schon verdächtig -, doch die Suche, die er dann einleitete, ergab ungefähr 25.000 Treffer für »Insurance Group«. Bedauerlicherweise erwiesen sich die einzelnen Einträge, wie es bei Internet-Recherchen nur allzu oft der Fall war, als kaum oder gar nicht zum eigentlichen Suchobjekt gehörig. Er fand Anzeigen für Firmen, die in ihrem Titel die Worte »Insurance Group« führten - wie »The Hartford Insurance Group« oder »The Insurance Group of Maine« -, und Informationen sowie Artikel über praktisch jede andere Versicherung, die es gab. Er stieß auch auf die Homepage von »The Group«, eine Pornoseite für Swinger. Beth brachte ihm das Abendessen an seinen Schreibtisch, und Hunt machte weiter. Als er schließlich nach Mitternacht seine Suche beendete - er hatte gerade mal ein paar Hundert Einträge überprüft -, hatte er keinen einzigen Hinweis auf die Insurance Group gefunden. Wie konnte so etwas möglich sein? Doch Hunt war Hardware-Experte, kein Software-Spezialist, und er war schon versucht, einen seiner alten Bekannten aus Kalifornien anzurufen, einen Programmierer bei Boeing, um ihn zu fragen, wie man eine Suche so weit einschränken konnte, dass nur die Artikel aufgelistet wurden, in denen explizit »The Insurance Group« erwähnt wurde, ohne weitere Modifikatoren oder Qualifikatoren. Doch es war schon zu spät, um jetzt noch jemanden damit zu belästigen. Außerdem ahnte Hunt schon jetzt, dass auch dieser Versuch vergeblich sein würde, also ließ er es bleiben. »The Insurance Group« ließ sich im Internet nicht finden. Und auch nicht im Telefonbuch. Man konnte sie nur über ihren Versicherungsvertreter erreichen. Hunt wusste nicht, woher er so sicher war, dass es stimmte. Aber er wusste es. Und das machte ihm Angst. 2. Als Steve von der Arbeit nach Hause kam, war er müde und wütend. Als er den Wagen auf die Auffahrt lenkte, begrüßten ihn die Überreste seines Hobbyraums, was ihn noch wütender machte. Er hatte bereits vor längerer Zeit die Trümmer weggeräumt und sich sogar schon daran gemacht, den Raum neu aufzubauen - soweit seine schwindenden Finanzen es ihm ermöglichten -, doch er war immer noch mehr als sechs Monate weiter zurück als damals, ehe das Gewitter ... und die Männer mit den Hüten ... sein Werk zerstört hatten. Er war jetzt mehr denn je überzeugt, dass dieser fanatische Versicherungsvertreter hinter der Zerstörung seines Anbaus steckte. Der Mann hatte es mit der alten Masche der energischen Verkaufstechnik versucht, um ihn dazu zu bringen, eine neue Immobilienversicherung abzuschließen, und als das nicht funktionierte, hatte dieser Psychopath ein paar Schlägertypen angeheuert, die mutwillig zerstört hatten, was Steve mit eigener Hände Arbeit aufzubauen so lange gebraucht hatte. Doch es gab nichts Geheimnisvolles an den Typen, die auf seinen Grund und Boden vorgedrungen waren. Sie waren bloß Handlanger des Vertreters gewesen und hatten die Dreckarbeit gemacht, für die man sie angeheuert hatte. Steve konnte sie nicht einmal dafür hassen. Aber den Versicherungsvertreter hasste er. Und sollte er diesen Mistkerl jemals wiedersehen, würde er ihm die Seele aus dem Leib prügeln. Oder vielleicht sogar noch ein bisschen mehr, falls sich eine Gelegenheit dazu bot. Doch der Versicherungsvertreter schien verschwunden zu sein. Nachdem der Anbau zerstört war, erfolgten keine weiteren Versuche mehr, die Steve dazu bewegen sollten, eine Immobilienversicherung abzuschließen. Keinerlei Anrufe, keine Reklamezettel, keine Überraschungsbesuche. Der Versicherungsvertreter war wie vom Erdboden verschluckt. Ein Glück für ihn. Im Haus war Nina gerade im Badezimmer und saß auf dem Klo. Sie hatte Steve eine Nachricht auf der Tafel über der Küchenzeile hinterlassen: Versicherungsvertreter anrufen. Steve stürmte den Flur hinunter und hämmerte gegen die Badezimmertür. »Was soll das heißen, Versicherungsvertreter anrufen?« »Er hat am Mittag angerufen!«, rief Nina. »Er möchte, dass du ihn zurückrufst!« »Wie denn? Hat er eine Nummer hinterlassen?« »Schau dir die Post an! Liegt auf deinem Schreibtisch!« Steve ging wieder den Flur hinunter und verschwand in seinem Arbeitszimmer. Auf dem Schreibtisch lagen aufgestapelt Postkarten und Briefe. Der Stapel war fast einen Meter hoch. Seine Wut verebbte und wurde von einem anderen Gefühl verdrängt: Angst. Der Versicherungsvertreter war wieder da. Steve ging zum Schreibtisch und riss einen Briefumschlag nach dem anderen auf. Alle Umschläge enthielten die gleiche Broschüre über eine Immobilienversicherung. Alle Postkarten zeigten das gleiche Foto einer lächelnden Familie, die vor einem zweistöckigen Haus im Kolonialstil stand, und auf der Rückseite war eine Nachricht aufgedruckt - so gesetzt, als wäre sie handgeschrieben: Rufen Sie an, um mehr zu erfahren! Quality Insurance 520-555-7734. Plötzlich wollte Steve gar keine Gelegenheit mehr haben, den Vertreter zu verprügeln. Er wollte einfach nur, dass dieser Mann verschwand und ihn nie wieder belästigte. Doch er griff nach dem Telefonhörer und wählte die Nummer. »Hallo, Mr. Nash!« Der Vertreter war am Apparat, bevor es auch nur geklingelt hatte, und die Begeisterung, die in seiner Stimme lag, hatte etwas Unheimliches. »Sie haben meine Nachricht erhalten!« »Ja«, sagte Steve. »Dann hör mir mal genau zu, Arschgesicht.« Die Stimme klang auf einmal drei Oktaven tiefer. »Ich werde jetzt zu dir rüberkommen, und dann lege ich dir ein paar Versicherungspolicen vor, und du wirst jede einzelne unterschreiben. Hast du verstanden, du blöder Hund?« Steves Mund war plötzlich staubtrocken. »Hast du mich verstanden, du Drecksack?« Steve nahm all seinen Mut zusammen. »Wenn Sie hierherkommen, puste ich Ihnen den Schädel weg!« Seine Stimme klang schriller, als er beabsichtigt hatte. Der Vertreter lachte leise. »Das bedeutet wohl, dass Sie keine Versicherung abschließen wollen.« »Nicht bei Ihnen.« Der Telefonhörer in Steves Hand zitterte. »Viel Glück.« Die Leitung war tot. Am anderen Ende des Flures wurde die Badezimmertür geöffnet, und in der Stille des Hauses hörte Steve das letzte Zischen der Toilettenspülung. Steves Hand umklammerte immer noch den Telefonhörer, als Nina den Kopf durch die Tür steckte. »Was wollte er denn?«, fragte sie, und ihre Stimme klang beiläufig und unschuldig, ganz anders als ihr übliches, unerträgliches Gewinsel, sodass Steve sofort dachte, sie wisse ganz genau, worum es ginge - wahrscheinlich hatte sie sogar selber damit zu tun. Am liebsten hätte er ihr den Telefonhörer über den Schädel gezogen; stattdessen knallte er ihn auf die Gabel. »Mach Abendessen!«, herrschte er sie an. »Und lass mich in Ruhe, verdammt!« 3. »Aber es hat doch funktioniert!« Ynez ging vor dem Küchentisch auf und ab. »Hunt ist aus dem Knast, und der ganze Albtraum ist vorbei!« »Der ist doch kein Flaschengeist«, gab Jorge zurück. »Er kann dir nicht jeden Wunsch erfüllen.« »Nein, aber vielleicht können wir eine Versicherung abschließen, die ... ich weiß auch nicht ... die garantiert, dass unser Kind gesund zur Welt kommt.« »Ich will den Kerl nicht anrufen«, wiederholte Jorge. »Wenn er zu uns kommt, na gut. Aber er soll selbst den ersten Schritt machen.« »Er ist doch schon zu uns gekommen! Und du hast ihn abblitzen lassen!« Ynez ging vor ihm auf die Knie. »Ich möchte nicht, dass unserem Jungen etwas passiert!« »Hast du mir nicht zugehört? Wir würden einen Handel mit dem Teufel abschließen, und dabei können wir nichts gewinnen! Was wir auch tun, wir sind diejenigen, die dabei verlieren werden. Wenn der Mann jetzt zu uns käme und uns bedrohen würde, okay, dann würde ich vielleicht nachgeben, allein schon wegen des Babys. Aber es wäre irrsinnig, jetzt nach dem Mann zu suchen!« »Er war doch schon hier. Die Drohung hat er doch auch schon ausgesprochen. Und die müssen wir loswerden.« Es klopfte an der Tür. Jorge seufzte und ging hinüber. Hinter ihm goss Ynez sich ein Glas Wasser ein. Der Mann, der vor ihm auf der Veranda stand, war nicht sofort zu erkennen. Er war hochgewachsen und kräftig, mit scharf geschnittenen Gesichtszügen und vollem schwarzen Haar. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte Jorge - und dann begriff er, wer vor ihm stand. Der Versicherungsvertreter. Der Mann nickte lächelnd. »Ja, das können Sie, Mr. Marquez. Und ich denke, ich kann auch Ihnen helfen. Darf ich hereinkommen?« Jorge wollte ihn nicht im Haus haben - nicht dort, wo seine Frau und sein ungeborenes Kind sich aufhielten. Dann wurde ihm klar, dass er bereits genickt hatte und zur Seite getreten war. Der Vertreter huschte an ihm vorbei, und Jorge erschauerte. Ein kalter Luftzug folgte diesem Mann. Wenn es um etwas anderes gegangen wäre, um jemand anderen als seine Frau und seinen Sohn, hätte Jorge den Vertreter auf der Stelle aufgefordert, das Haus zu verlassen. Ynez trank immer noch Wasser, als sie ins Wohnzimmer kam. »Hallo«, sagte sie. »Schön, Sie wiederzusehen, Mrs. Marquez. Ich habe es Ihnen wahrscheinlich schon beim letzten Mal gesagt, aber ich kann es gerne wiederholen: Sie haben ein sehr schönes Haus.« »Danke«, entgegnete Ynez. Sie lächelte, doch Jorge hörte an ihrem Tonfall, dass auch sie vorsichtig blieb. Gott sei Dank. Den Versicherungsvertreter persönlich zu sehen, schien Ynez' unkritisches Bedürfnis nach weiteren Versicherungen ein wenig gedämpft zu haben. Der Vertreter setzte sich aufs Sofa, lockerte seine Krawatte und öffnete den Aktenkoffer. Automatisch setzten sie sich ihm gegenüber - und Jorge wurde klar, dass sie jetzt schon verloren hatten. Denn egal, was für eine Police er ihnen vorlegen würde und wie viel sie kostete, sie würden diese Versicherung abschließen. Sie konnten es sich nicht leisten, darauf zu verzichten. Das wusste Jorge schon jetzt. »Ich habe mir erlaubt, ein Komplettpaket zusammenzustellen, das sämtliche Bedürfnisse Ihrer bald vollständigen Familie abdeckt, die Kranken- und die Zahnfürsorgeversicherung ebenso wie die Lebensversicherung.« Er reichte ihnen einen dicken Stapel Papiere, der von drei Klammern zusammengehalten wurde. »Wenn Sie sich Seite eins anschauen wollen ...« Die Art und Weise, wie der Vertreter auf jedes einzelne Detail einging, war schrecklich anstrengend. Soweit Jorge es beurteilen konnte, war die Police vernünftig abgefasst, und er achtete besonders auf den Abschnitt mit den zusätzlichen Leistungen der Krankenversicherung, die sich auf »Schwierigkeiten bei der Geburt« und »zusätzliche Krankenhausaufenthalte« bezogen. Jorge erkannte dankbar, dass das Angebot deutlich flexibler und umfangreicher war als die bisherige Versicherung, die ihm das County bot. »Jetzt benötige ich nur noch die Unterschriften von Ihnen beiden für diesen Leistungskatalog«, sagte der Vertreter, schob ihnen die Antragsformulare entgegen und reichte ihnen einen Stift. »Und ab wann wird das wirksam?«, fragte Jorge nach. »Mit Unterzeichnung.« Jorge blickte zu Ynez hinüber. Sie war so voller Skepsis, dass man es in ihrem Blick erkennen konnte. Wäre er ein gottesfürchtiger Mann gewesen, hätte Jorge jetzt ein Stoßgebet ausgesandt. Er unterzeichnete auf den Seiten drei und sechs. Ynez tat es ihm gleich. Der Vertreter nahm ihnen die Anträge aus den Händen. »Jetzt gibt es nur noch eine Kleinigkeit, um die wir uns kümmern müssen. Die Untersuchung.« Jorges Herz schaltete in einen höheren Gang. »Die Untersuchung?«, wiederholte Ynez. »Ja. Es ist üblich, dass Neuunterzeichner einer medizinischen Untersuchung unterzogen werden, um sicherzugehen, dass es keine Vorerkrankungen gibt, für die dann entsprechende Leistungen gemäß den Vertragsbedingungen ausgeschlossen würden. Normalerweise gehört eine Blutentnahme dazu, aber wir haben die Aufzeichnungen Ihrer Ärzte und auch Kopien Ihrer Krankenakten, also wird eine Blutentnahme in diesem Fall nicht erforderlich sein.« »Dann ...«, setzte Jorge an. »Ich muss nur den Schritt Ihrer Frau untersuchen.« Was? Wie betäubt kniff Jorge die Augen zusammen. Er konnte nicht glauben, was er da gehört hatte. Nein, das stimmte nicht. Er glaubte es - voll und ganz sogar. Er wandte sich zu Ynez um, die entgeistert den Kopf schüttelte. Der Vertreter ging um den Tisch herum und kauerte sich auf den Teppich. »Wenn Sie dann bitte Ihre Hose herunterziehen und die Beine spreizen würden, damit ich Ihre Möse sehen kann ...?« Jorge sprang auf, hätte beinahe seinen Stuhl umgestoßen. »Nein!«, rief er. Der Versicherungsvertreter richtete sich auf. Als er jetzt sprach, klang seine Stimme kalt und hart. »Dann ist Ihre Police null und nichtig.« »Ich mach's«, sagte Ynez schnell, und mit zittrigen Händen kämpfte sie mit dem Knopf und dem Reißverschluss ihrer Hose. Tränen strömten ihr über die Wangen. »Nein!«, sagte Jorge zu ihr. »Es geht um unseren Sohn!« Unter Schwierigkeiten hob sie ihr Hinterteil von der Sitzfläche ihres Stuhles, schob Hose und Höschen herunter und streifte beides ganz ab. Dann spreizte sie die Beine, als der Versicherungsvertreter sich vor ihr hinkauerte. »Das ist aber wirklich eine schöne Muschi, die Sie da haben, Mrs. Marquez.« Er grinste Jorge an. »Sie haben wirklich Glück.« Ynez hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und schluchzte. »Dann wollen wir mal hoffen, dass die Geburt dieses Wunder der Natur nicht ruiniert, was?« Jorge hätte den Kerl umbringen mögen. Er wollte zuschlagen, wollte ihm die Zähne aus seiner grinsenden Visage treten, bis der Mund des Mannes nur noch ein blutiges, klaffendes Loch war. Den Vertreter stand auf, richtete seine Krawatte wieder und schloss seinen Aktenkoffer. »Sieht gut aus«, sagte er dann. »Betrachten Sie sich als versichert.« Ynez schluchzte immer noch, die Beine fest zusammengepresst, vornübergebeugt, um ihren nackten Unterleib so wenig wie möglich zu entblößen. Jorge stand zwischen ihr und dem Vertreter und versuchte, den Blick auf sie zu versperren, obwohl es natürlich nichts mehr gab, was der Versicherungsvertreter nicht schon gesehen hätte. Der Mann lächelte Jorge an. »Hatte ich erwähnt, dass weitere Versicherungsleistungen - natürlich gegen beträchtliche zusätzliche Kosten - erforderlich werden könnten?« Jorge konnte seine Wut kaum noch im Zaum halten. »Nein, haben Sie nicht«, sagte er mit krampfhaft erstickter Stimme. »Abhängig von den Umständen kann es erforderlich werden, dass wir von Ihnen eine zusätzliche Verbindlichkeit einfordern, um sicherzustellen, dass Sie genau die Art der Versicherungsleistung erhalten, die Ihre individuellen Bedürfnisse erfordern. Genaue Informationen, diesen Vertragszusatz betreffend, werden Sie in Ihrer Police finden, sobald Sie diese erhalten. Falls Sie noch irgendwelche Fragen haben sollten, scheuen Sie sich nicht, mich anzurufen.« Hinter ihm heulte Ynez auf, ein Schrei des Zorns und der Demütigung. »Machen Sie sich keine Umstände«, sagte der Vertreter. »Ich finde schon alleine hinaus.« 4. Am Mittwoch war Beth kurz davor, ihren Job zu kündigen. Hätte sie Stacy nicht gehabt, hätte sie es wahrscheinlich getan. Stacy schien jetzt die Einzige bei Thompson Industries zu sein, die sie noch mochte und mit der sie sich ungezwungen unterhalten konnte. Bedauerlicherweise war Stacy an diesem Tag nicht da, sodass Beth ganz alleine war, und selbst der beiläufige Kontakt mit allen anderen im Büro war inzwischen äußerst unangenehm geworden. Die Feindseligkeit der Kollegen schien sich verzehnfacht zu haben, nachdem Hunt aus dem Gefängnis entlassen worden war, als wären alle einmütig der Ansicht, Hunt wäre seiner gerechten Strafe entronnen. Jedenfalls war die Einstellung der Kollegen Beth gegenüber jetzt unverhohlen feindselig. Beth fragte sich, ob es besser gewesen wäre, hätte sie die Arbeitsplatzversicherung abgeschlossen, sodass sie nicht »aufgrund von Fremdfaktoren« den »Spaß an der Arbeit« verloren hätte. Natürlich wäre es ihr viel leichter gefallen, ins Büro zu gehen, hätte sie mehr als nur eine Freundin oder Verbündete im ganzen Gebäude gehabt - viel leichter als vor zwei Tagen, nachdem sie in einer der Toilettenkabinen an der Wand die Schmiererei Beth treibt's mit jedem! entdeckt hatte. Doch die Vorstellung, dem Vertreter und seiner Versicherung auch nur noch einen weiteren Cent zu zahlen, verärgerte sie zutiefst. Vor allem nach dem, was Ynez hatte erdulden müssen. Das Telefon klingelte in dem Augenblick, als Beth sich ihr Mittagessen holen wollte, um es in ihrem Büro zu essen. Da hatte sie wenigstens ihre Ruhe und brauchte nicht das feindselige Schweigen oder die offen zur Schau gestellte Ablehnung ihrer Kollegen in der Kantine zu ertragen. Der Anruf lag auf Leitung drei, der Amtsleitung, und Beth griff nach dem Hörer. Sie hoffte inständig, es sei nicht Hunt, der ihr mitteilen wollte, dass irgendetwas Schlimmes passiert sei. »Hallo«, sagte eine professionell klingende Stimme am anderen Ende der Leitung. »Könnte ich mit Beth Jackson sprechen?« Innerlich atmete Beth erleichtert auf. Gott sei Dank war es nicht Hunt mit irgendeiner schlechten Nachricht. »Am Apparat«, antwortete sie dann. »Hier spricht Rebecca, aus der Praxis von Dr. Moy. Wir hätten heute Nachmittag um zwei Uhr einen Termin frei, und den würde ich Ihnen gerne anbieten.« Dr. Moy? Beth legte die Stirn in Falten. Wer war Dr. Moy? »Entschuldigung«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wer Sie sind ...« »Ich bin Rebecca. Aus der Praxis von Dr. Moy.« »Ich kenne keinen Dr. Moy.« Das schien der Frau extrem leidzutun. »Oh, bitte entschuldigen Sie. Ich bin davon ausgegangen, dass Ihre Versicherung Sie bereits informiert hat. Dr. Moy ist Ihr Kieferchirurg. Er wird Ihre Zähne ersetzen.« »Mein Kieferchirurg ist Dr. Mirza«, gab Beth zurück. »Sie wurden Dr. Moy zugewiesen«, sagte die Frau. »Ich glaube nicht, dass Dr. Mirza noch zum Plan gehört.« Plan? Was für ein Plan? Die Aussage hatte etwas Bedrohliches, und Beth betete stumm, dass sie zu viel in diesen Satz hineininterpretierte und dass es einfach nur bedeutete, Dr. Mirza nehme nicht an dem speziellen Versicherungsprogramm teil. Plötzlich musste sie an Dr. Blackburn denken. Möse zum Frühstück, Möse zum Lunch, Möse am Abend und nachts ein Snack. Sie beschloss nachzuhaken. »Dr. Mirza gehört nicht zu welchem Plan?«, fragte sie. »Oh, tut mir leid. Ich meinte Ihren neuen Versicherungsplan. Sie haben kürzlich Ihren Versicherungsträger gewechselt, deshalb wurden Sie Dr. Moy zugewiesen. Wie sieht es bei Ihnen mit zwei Uhr aus?« Jemand ging an der Tür zu ihrem Büro vorbei, und Beth hob den Kopf, um zu sehen, wer es war. Ruben aus der Buchhaltung streckte ihr hämisch den Mittelfinger entgegen. Schnell schwenkte Beth den Sessel herum, sodass sie die Wand anschaute. Viel mehr Unfreundlichkeiten von den Kollegen konnte sie nicht ertragen. »Heute Nachmittag?«, fragte sie. »Das ist gut, das ist prima. Geben Sie mir nur bitte eine Beschreibung, wie man dorthin kommt ...« Dr. Moys Praxis befand sich nicht in einer erweiterten Wohnstraße oder einem umgebauten Privathaus, sondern in einem brandneuen Ärzte/Zahnärzte-Komplex gleich westlich der Universität. Auf dem Hof vor dem Gebäude herrschte Gedränge, und als Beth das Wartezimmer des Kieferchirurgen betrat, saßen dort bereits drei weitere Patienten. Zwei von ihnen hielten sich die Wange, als hätten sie beträchtliche Schmerzen. Die Praxis hatte so wenig Ähnlichkeit mit der von Dr. Blackburn, wie es nur irgend möglich war, und doch ... Und doch konnte Beth sich nicht entspannen. Vielleicht war das alles hier nur Fassade, Teil eines groß angelegten Betrugs, um sie zu täuschen und hierherzulocken. Genau wie die Einstellung ihrer Kollegen, sowohl die ihrer Freunde wie die ihrer Feinde. Alles erschien Beth jetzt verdächtig, alles schien ihr manipuliert, und sie hatte das Gefühl, dass auch diese Praxis hier zu dem Plan gehörte, sie immer mehr zu verunsichern. Doch in Dr. Moys Praxis schien es tatsächlich wie bei einem normalen Zahnarzt zuzugehen, so wie Beth es aus ihrer Kindheit in Erinnerung hatte. Sie füllte ein Formular für neue Patienten aus und reichte der Sprechstundenhilfe ihren Führerschein, von dem sofort eine Kopie angefertigt wurde. Eine Versichertenkarte hatte Beth nicht, doch die Sprechstundenhilfe sagte ihr, sie brauche sich deswegen keine Sorgen zu machen; die Versicherungsgesellschaft habe angerufen, um für Beth diesen Termin und auch die Finanzierung zu arrangieren. Wahrscheinlich würde Beth die Karte in den nächsten Tagen per Post erhalten. In Dr. Moys Praxis ging es nicht ganz so wild zu wie in Emergency Room, aber es herrschte geschäftiges Treiben. Als Beth in ein Behandlungszimmer geführt wurde, sah sie, dass sämtliche anderen Behandlungsräume der Praxis derzeit belegt waren. Dr. Moy selbst war ein älterer Asiate mit sehr ruhigem und beruhigendem Auftreten. Geduldig untersuchte er ihren Mund, betrachtete genauestens die Röntgenaufnahmen, die eine Assistentin erst vor wenigen Minuten angefertigt hatte, und erklärte Beth dann ausführlich, was er nun tun werde. Es war ein langer und komplizierter Eingriff, und es wäre sehr viel weniger schmerzhaft, erklärte er, wenn sie sich immer nur einen Quadranten nach dem anderen vornähmen. Aber wenn sie es wünschte, würde er alles auf einmal erledigen. Beth sagte ihm, sie würde gern alles auf einmal behandelt haben; sie habe schon viel zu lange mit den silbernen Zähnen leben müssen. Daraufhin erklärte Dr. Moy, unter diesen Umständen müsse er sie unter Vollnarkose setzen, und Beth müsse eine zusätzliche Einverständniserklärung unterzeichnen. Zehn Minuten später hatte sie das Formular ausgefüllt und unterschrieben. Man hatte Hunt angerufen und ihn gebeten, seine Frau in zwei Stunden bei der Praxis des Kieferchirurgen abzuholen, weil sie nicht in der Lage sein würde, selbst ein Fahrzeug zu lenken. Schließlich war Beth vorbereitet, und dann betäubte Dr. Moy sie. In den letzten Sekunden, ehe sie das Bewusstsein verlor, glaubte Beth zu hören, wie der Kieferchirurg leise das Wort »Möse« aussprach. Irgendwann erwachte sie wieder und war völlig erschöpft. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das Bewusstsein verloren hatte; alles war nur noch ein verschwommenes Einerlei. Beth wusste nur, dass sie immer noch im gleichen Behandlungssessel des Zahnarztes saß und dass jetzt alles vorbei war. Sie war in dem kleinen Raum allein, und die Tür hinter ihr war geschlossen. Langsam setzte sie sich auf, tastete auf dem Tablett vor sich nach einem Spiegel, damit sie sich anschauen konnte, wie sie jetzt aussah. Doch sie fand lediglich einen winzigen Vergrößerungsspiegel mit langem Griff, fast wie eine Zahnbürste - die Sorte Spiegel, die ein Zahnarzt verwendete, um auch die hintere Seite der Zähne betrachten zu können. Beth griff danach, hielt ihn mehrere Handbreit weit vor ihr Gesicht und lächelte. Ihre Lippen waren angeschwollen und blutig, und ihr Schädel hämmerte wie verrückt. Aber ihre Zähne waren wieder weiß. 5. »Ich hatte gestern Abend auch Besuch«, sagte Edward. Sie beschnitten gerade die Bäume entlang eines schmalen Reitpfades, der quer durch brachliegendes Land führte. »Euer Versicherungsvertreter. Der Dreckskerl hat versucht, mir eine ›Zusatzversicherung für die Unversehrtheit körperlich Arbeitenden anzudrehen. Als ob es so etwas überhaupt gäbe.« Hunt und Jorge blickten einander schweigend an. »Du weißt, was das bedeutet«, sagte Jorge dann leise. Er winkte ab. »Jetzt komm mir nicht mit so 'ner Scheiße!« »Diese Versicherungen funktionieren«, gab Hunt zu bedenken. »Ich bin doch der leibhaftige Beweis dafür.« Erneut winkte Edward nur ab, doch in Wirklichkeit fühlte er sich viel weniger sicher, als er sich anmerken ließ. Der Besuch des Versicherungsvertreters hatte ihn innerlich regelrecht erschüttert. Seine Freunde hatten recht. Irgendetwas an diesem Mann war wirklich zutiefst sonderbar, und das lag nicht nur an seiner Klinkenputzer-Routine, die er anscheinend in Stepford gelernt hatte. Unter der Fassade seines eher harmlosen Äußeren - so dicht, dass man es fast erkennen konnte - schlummerte irgendetwas Düsteres, Bedrohliches. Edward war kein religiöser Mensch und neigte wirklich nicht dazu, Begriffe wie »böse« oder »dämonisch« zu verwenden - aber das genau waren die Adjektive, die ihm sofort durch den Kopf gingen, wenn er an den Versicherungsvertreter dachte. Und er hatte all seinen Mut gebraucht, um diesen Dreckskerl aus dem Haus zu werfen. Selbst jetzt noch wusste er nicht genau, ob er das Richtige getan hatte. Vielleicht wussten Jorge und Hunt ja doch, wovon sie redeten. Es mochte katastrophale Folgen haben, diese Versicherung nicht abgeschlossen zu haben. »Es passieren wirklich Dinge, wenn du keine Versicherung abschließt«, erinnerte Jorge ihn noch einmal. »Zufall«, gab Edward zurück, obwohl er sich da längst nicht mehr sicher war. Er konnte es am Gesichtsausdruck seiner Freunde erkennen, dass sie ihm gerne glauben würden, dass sie sich regelrecht danach sehnten, er möge recht haben - und er konnte jetzt nicht ihre Hoffnung zerstören, indem er seine eigenen Zweifel eingestand. »Wir sind hier fast fertig«, verkündete er. »Geht ihr beide schon mal zum Südquadranten. In zehn Minuten bin ich auch da.« »Ist schon okay«, erwiderte Hunt. »Wir machen erst hier alles fertig.« »Ist doch reine Zeitverschwendung! Ich räume hier weg, und ihr bringt die Ausrüstung in den Südquadranten und fangt schon mal an. Vielleicht sind wir dann hier schon vor der Mittagspause fertig.« Zögerlich nickten sie, weil sie wussten, dass ihr Kollege recht hatte. Edward legte seine Säge beiseite und griff nach einem Schneidwerkzeug mit langen Griffen. Dann stieg er die Leiter hinauf, um die letzten herunterhängenden Äste von zwei dicht nebeneinanderstehenden Bäume abzutrennen, während Jorge und Hunt den Rest des Werkzeugs auf den kleinen Karren luden und den Reitpfad entlang zum Südquadranten fuhren. »Sei vorsichtig«, sagte Hunt noch, ehe sie gingen. »Das klappt schon«, versicherte Edward ihnen. »Macht euch endlich vom Acker!« Doch in dem Augenblick, da sie aufbrachen, tat es Edward auch schon leid, seinen Freunden vorgeschlagen zu haben, die Gruppe zu trennen. Ein Gespräch über ein unerfreuliches Thema war ein geringer Preis für die Sicherheit, die zwei Helfer boten. Sicherheit ... Darüber wollte Edward gar nicht erst nachdenken, und so konzentrierte er sich ganz auf die Arbeit, die vor ihm lag, und riss drei dünne Äste ab, die er mit dem Elektrowerkzeug nicht hatte erreichen können, ehe er von der Leiter stieg, die Äste zur anderen Seite des Pfades trug und dann zwei weitere Äste eines anderen Baumes abtrennte. Zu seiner Rechten hörte er ein Rascheln. Das Geräusch von Schuhen auf welkem Laub. Edward drehte sich um, glaubte hinter einem Strauch eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Ein kalter Schauer durchlief ihn, als würde ihm ein Eiswürfel übers Rückgrat gleiten. »Jorge!«, rief er versuchsweise. »Hunt!« Doch die beiden waren längst außer Hörweite. Aus dem Augenwinkel sah Edward eine weitere Bewegung - eine dunkle Gestalt, die sich zu seiner Linken hinter eine Platane kauerte. Edward war kein Mann, der sich leicht ängstigen ließ. Er hatte schon mehr Kneipenschlägereien hinter sich, als er aufzählen konnte - auch gegen drei Gegner auf einmal -, und er hatte niemals auch nur gezögert. Bei Operation Desert Storm hatte er zu den Bodentruppen gehört, und während mehr als nur ein paar seiner Kameraden sich vor Angst in die Hose gemacht hatten, war Edward furchtlos vorangestürmt. Doch irgendetwas an diesen fast unhörbaren Geräuschen und den verstohlenen Bewegungen jagte ihm Angst ein. Hier drohten Gefahren, die nicht greifbar waren und gegen die er nicht kämpfen konnte. Zusatzversicherung für die Unversehrtheit körperlich Arbeitender. Doch ob Humbug oder nicht: Edward erkannte, dass er jetzt sehr viel sicherer gewesen wäre, wäre er durch eine Zusatzversicherung gegen Arbeitsunfälle geschützt gewesen. Doch eine Versicherung zahlte nur die Arztrechnungen und andere Kosten, die bei einem Unfall entstanden. Unfälle verhindern konnte sie nicht. Oder doch? Hatte der Versicherungsvertreter nicht genau das angedeutet? Edward blickte sich um, lauschte, doch er sah keine weiteren Gestalten, hörte keine weiteren Geräusche. Das nennt man überreagieren, beruhigte er sich. Der Besuch letzten Abend und das ganze Gerede seiner Kollegen hatte ihn verschreckt und überängstlich gemacht. Dennoch ... in letzter Zeit waren genügend sonderbare Dinge geschehen, dass er seinen Freunden nicht einfach sagen konnte, sie würden Unsinn reden. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, sagte sich Edward und machte sich daran, von der Leiter zu steigen. Und dann sah er sie. Neben jedem Baum stand einer, soweit Edward es entlang des Reitpfades erkennen konnte. Stämmige Männer in langen Mänteln, die altmodische Hüte mit breiten Krempen trugen. Es war ein sonniger Tag, und doch schienen sie alle im Schatten zu stehen. Edward stieg die Leiter hinunter, so schnell er nur konnte, und sprang den letzten Meter sogar. Die Männer rührten sich nicht, als hätten sie alle dort Stellung bezogen. Ihre Gesichter waren kaum mehr als dunkle Flecken ... als würde Edward sie durch eine viel zu dunkle Sonnenbrille betrachten oder durch einen dieser Polarisationsfilter, die man dazu benutzte, sich gefahrlos eine Sonnenfinsternis anzuschauen. Doch Edward war viel zu stolz, als dass er sich jetzt in ein Weichei verwandelt hätte und davongelaufen wäre. Es bestand ja immer noch die Möglichkeit, dass diese Männer ganz normale Leute waren und dass es für das Ganze hier eine völlig harmlose Erklärung gab. Doch Edward sammelte sein Schneidwerkzeug und seine Scheren viel schneller ein, als er es normalerweise getan hätte, und legte alles hastig auf die Ladefläche des Trucks, der immer noch auf der angrenzenden Lichtung geparkt war. Edward war dankbar, dass Hunt und Jorge den kleinen Karren genommen hatten. Der Truck hatte einen viel stärkeren Motor und eine viel bessere Beschleunigung. Er eilte zurück, um die Leiter zu holen ... ... und die Männer umzingelten ihn. Edward wusste gar nicht, wie ihm geschah. Wie hatten die Fremden ihn so schnell erreichen können? Doch plötzlich standen zehn stämmige Männer im Kreis um ihn herum und kamen näher. Ihre Gesichter waren nach wie vor nicht zu sehen; sie lagen immer noch im Schatten, obwohl es hier gar keinen Schatten gab. Edward hatte panische Angst. Der Kreis wurde enger. Instinktiv wich er bis zur Leiter zurück, und ohne nachzudenken drehte er sich um und stieg hinauf. Vielleicht kam er bis zu einem größeren Ast und konnte dort warten, bis irgendjemand vorbeikam oder bis Jorge und Hunt zurückkehrten. Vielleicht konnten dieses Männer ... ... ja nicht klettern. Vielleicht konnte er über ihre Köpfe hinwegspringen und sich auf diese Weise in Sicherheit bringen. Edward hatte sich noch keinen Plan zurechtgelegt; er hatte nur das unbestimmte Gefühl, den Männern vielleicht entkommen zu können, wenn er einfach nur weiterkletterte. Er erreichte die oberste Sprosse der Leiter, packte einen Ast und blickte hinunter. Die Männer umstanden jetzt die Leiter. Plötzlich waren es nur noch fünf. Wo waren die anderen? Edward hörte ein Geräusch, blickte nach oben und sah, dass sie zwischen den Ästen und Zweigen standen, mitten in den Bäumen. Einer von ihnen lachte. Ein schrilles, irres Kichern. Und in dem Sekundenbruchteil, da die Äste auf ihn herabstürzten, glaubte Edward in einem der dunklen Gesichter das Aufblitzen strahlend weißer Zähne gesehen zu haben. FÜNFZEHN 1. Am Samstag kam die Post ziemlich früh. Hunt war wieder im Internet, versuchte mehr über ihre verschiedenen Versicherungspolicen herauszufinden; er suchte jetzt nicht nur nach dem eigentlichen Namen der Versicherungsgesellschaft, sondern nach den Bezeichnungen der einzelnen Policen selbst, verglich sie mit dem Text, den er von vergleichbaren Angeboten, von Versicherungsgesellschaften aus dem Internet, vorliegen hatte. Er hörte das Klappern der Briefkastenklappe, erwartete aber nichts Wichtiges; also wartete er, bis Beth ihn zum Mittagessen rief, ehe er die Haustür öffnete und die Post aus dem Kasten holte. Es waren so viele Postkarten und Briefumschläge, dass sie nicht alle in den Briefkasten passten, und so hatte ihr Briefträger den Rest in drei säuberlichen Stapeln neben die Haustür gestellt. Was war das denn? Hunt griff nach einer Postkarte, die einen Obdachlosen zeigte, der neben einem toten Hund im Rinnstein saß. Auf der Rückseite war eine computer-handschriftliche Bemerkung, die Hunt riet, seinen Versicherungsvertreter anzurufen. Seinen Versicherungsvertreter. Hastig sammelte Hunt die ganze Post ein, brachte sie ins Haus und ließ sie auf den Couchtisch fallen. Dann griff er nach einem Briefumschlag und öffnete ihn - und noch bevor er das tat, stellte er fest, dass der Umschlag keinen Absender trug. Und natürlich befand sich ein Flugblatt darin, das für eine Arbeitsplatzversicherung warb und deren Vorzüge pries. Hunt machte sich daran, die anderen Umschläge zu öffnen, und rechnete mit einer ganzen Reihe verschiedener Policen, die ihnen angeboten wurden, doch zu seiner Überraschung waren alle Postkarten und Briefe identisch: insgesamt dreißig Werbungen für die Arbeitsplatzversicherung aus dem Angebot der Insurance Group. Nichts davon warb für irgendeine andere Versicherung, die Beth und Hunt noch nicht abgeschlossen hatten. Hunt dachte an Edward, der jetzt im Krankenhaus lag, weil er keine Zusatzversicherung für körperlich Arbeitende abgeschlossen hatte. Nur seine Leibesfülle und sein guter Allgemeinzustand hatten Hunts Freund und Kollegen davor bewahrt, ernsthaftere Verletzungen davonzutragen oder gar ums Leben zu kommen. Aber auch so würde Edward mehrere Tage im Krankenhaus verbringen müssen; danach musste er noch mindestens drei Wochen im Bett bleiben und sich anschließend einem ganzen Rattenschwanz an Physiotherapiestunden unterziehen, bevor er wieder auf die Beine kam und arbeiten konnte. Der Versicherungsvertreter - daran zweifelte Hunt keine Sekunde - hatte ursprünglich etwas sehr viel Übleres im Schilde geführt. Beth kam aus der Küche. »Ich habe gesagt, wir können jetzt essen ...«, setzte sie an. Dann sah sie die Post, die sich auf dem kleinen Couchtisch stapelte, und bemerkte Hunts Gesichtsausdruck. »O Gott«, stieß sie hervor. Hunt nickte und reichte ihr wortlos eines der Flugblätter. Ein weiteres nahm er sich selbst, und schweigend lasen beide den Text durch. Schließlich ließ Hunt sein Flugblatt sinken. »Wir müssen diese Zusatzversicherung abschließen«, sagte er, »sonst sind wir unsere Jobs los. Und dann sind wir beide arbeitslos.« »Es ist mir völlig egal, ob ich meinen Job verliere oder nicht«, sagte Beth stur. »Ich finde schon was Neues.« »Vielleicht aber auch nicht.« »Das werde ich dann ja sehen.« »Einer von uns muss doch einen Job behalten«, beharrte Hunt. Der Grund dafür war der gleiche wie bei allen anderen Ehepaaren in Amerika: die Versicherungen. Nur mussten Hunt und Beth in ihrem speziellen Fall ihre monatlichen Beiträge bezahlen, weil sie sonst krank und obdachlos würden und im Gefängnis landeten - paradoxerweise ihnen würde alles das passieren, wovor ihre Versicherungen sie schützten. Beth verstand, ohne dass er es hätte aussprechen müssen. »Dann lieber du«, sagte sie. »Du magst deinen Job wenigstens noch.« Frustriert fuhr sie sich durchs Haar. »Ich habe sowieso schon daran gedacht aufzuhören. Das wird mir alles zu viel.« »Du könntest kündigen«, sagte Hunt freudlos. Sie drehte sich zu ihm um. »Das ist ja das Heimtückische daran. Hast du dieses Flugblatt durchgelesen? Die Arbeitsplatzversicherung garantiert, dass man keinesfalls den Spaß an seiner Arbeit verliert, dass man nicht durch die Firmenpolitik oder durch irgendwelche persönlichen Umstände beeinträchtigt wird und dass man in einem Job glücklich wird, den man richtig gerne macht. Das richtet sich genau an mich. Und ich weiß immer noch nicht, ob das als Anreiz oder als Drohung aufzufassen ist. Weißt du, warum? Weil es sich für mich wirklich gut anhört. Und das erschreckt mich fast zu Tode.« »Ich werde diese Versicherung nur für mich abschließen«, erklärte Hunt. »Wir werden ja sehen, was passiert. Und ich werde warten, bis dieser Kerl mich dazu drängt. Ich werde mich nicht freiwillig melden. Wenn wir zu viele Versicherungen abschließen, verschulden wir uns noch.« Aber gab es überhaupt eine Möglichkeit, das zu verhindern? Del Daley hatte es versucht, und dafür war er ins Gefängnis gekommen. Und dann war er umgebracht worden. Aber war Del wirklich das, was er zu sein schien? War das überhaupt irgendjemand? Vielleicht wäre es das Beste, einfach zu gehen. Die Siebensachen zu packen und im Schutz der Nacht zu verschwinden. Aus einer Laune heraus war Hunt nach Tucson gekommen, und genau so konnte er auch wieder gehen. Beth und er konnten ihr Zeug zusammenpacken und einfach aufbrechen. Niemanden darüber informieren, keine Nachrichten hinterlassen, einfach unter anderen Namen in einen anderen Staat ziehen. Sie konnten Jobs in einem Hotel in Colorado annehmen oder auf einer Farm in Nebraska, oder sie konnten irgendwo in Pennsylvania als Verkäufer anfangen. Aber sie hätten immer noch die gleichen Fingerabdrücke, die gleichen Gesichter. Man konnte sie nachverfolgen. Hunt erinnerte sich daran, wie dieser Versicherungsvertreter zum ersten Mal ins Haus gekommen war und seine ersten Überschlagsrechnungen angestellt hatte. Er hatte vor sich hin gemurmelt, während er die Formulare durchgegangen war, doch Hunt hatte gehört, was er gemurmelt hatte, und er wusste ihre Geburtsdaten und Geburtsorte, kannte ihre bisherigen Beziehungspartner, wusste einfach alles über sie. Hunt hatte das Gefühl, sie beide könnten sich genauso gut drastischen Gesichtsoperationen unterziehen und sich falsche Pässe besorgen, könnten sich mit Säure jeden Tag aufs Neue ihre Fingerkuppen verätzen und in die Wildnis von Kanada ziehen - der Versicherungsvertreter würde immer noch vor ihrer Tür erscheinen und ihnen eine Termitenversicherung für ihre Blockhütte anbieten. Nein, das war kein Problem, vor dem sie einfach würden fortlaufen können. Schweigend aßen sie, hörten das Gebrüll der verzogenen Bälger der Bretts von nebenan, und doch waren beide ganz in Gedanken versunken. »Was meinst du wohl, in was für einem Haus der wohnt?«, fragte sich Beth laut. »Meinst du, der hat Frau und Kinder? Setzt der sich abends aufs Sofa und schaut Alle lieben Raymond?« Hunt erkannte, dass er sich das unmöglich vorstellen konnte. Er fragte sich, wie der Versicherungsvertreter in einer ganz normalen Situation wirken mochte, versuchte sich vorzustellen, dass dieser Mann einen ganz normalen Tagesablauf hatte wie all die anderen Menschen in der Alltagswelt, doch es gelang ihm einfach nicht. Wenn er sich das Haus vorstellte, in dem dieser Mann wohnte, sah er vor dem geistigen Auge ein heruntergekommenes Herrenhaus - die Art von Gebäude, bei dem man sofort an Spuk und Poltergeister denkt. Wenn Hunt sich die Inneneinrichtung vorstellte, sah er eine Umgebung, in der sich Ebenezer Scrooge wohlgefühlt hätte: ein stockfinsteres Haus, in dem nur eine einzige, nackte Glühbirne über einem alten Holztisch brannte, auf der ganze Stapel von Versicherungspolicen lagen. »Ich sollte ihm hinterhergehen, wenn wir ihn das nächste Mal sehen«, schlug Hunt vor. »Mal sehen, wohin er geht. Ob nun nach Hause oder in sein Büro, auf jeden Fall würde ich dann wenigstens etwas über ihn erfahren.« »Aber wenn er dich sieht? Wenn er dich erwischt?«, warf Beth besorgt ein. »Der Gedanke gefällt mir gar nicht.« Die Wahrheit war, dass der Gedanke auch Hunt nicht gefiel. Und er konnte sich nur zu leicht vorstellen, dass sein Foto dann plötzlich zwischen den Akten all der anderen als vermisst gemeldeten Personen auftauchte - entführt und für alle Zeiten in den Kellerräumen eines labyrinthartigen Versicherungsgebäudes eingesperrt, gefesselt und gefoltert und schließlich zurückgelassen, weil man ihn für tot hielt. Oder, was noch wahrscheinlicher war: Hunt hätte plötzlich einen Unfall, der praktischerweise nicht durch seine zahlreichen Policen abgedeckt wäre. »Vielleicht verschwindet der Kerl, wenn wir gar nicht reagieren«, schlug Beth vor. »Vielleicht nimmt er sich dann jemand anderen vor und lässt uns in Ruhe.« So würde es nicht kommen, und das wussten beide. Aber sie konnten ja immer noch hoffen. Nach dem Essen fuhren sie zuerst zum Gartencenter, dann zu Barnes & Noble, wo Beth in aller Ruhe die Kochbuchabteilung durchstöberte, während Hunt sich mit CDs beschäftigte und in ein paar Alben hineinhörte. Als sie zurückkehrten, wartete der Vertreter schon auf sie. Geduldig stand er auf der Veranda und lächelte, als sie den Wagen auf die Auffahrt lenkten. Beth sah genau so verängstigt aus, wie Hunt sich fühlte, doch er nestelte an seinem Sicherheitsgurt und blickte daran herunter. »Steig noch nicht aus! Lass ihn warten! Mal sehen, wie lange er dieses Lächeln aufrechterhalten kann.« Lange, wie sich herausstellte. Beth gab vor, irgendetwas in ihrer Handtasche zu suchen, Hunt drehte sich um und tat lange Zeit so, als suche er etwas auf der Rückbank, bevor er das Handschuhfach öffnete und dessen Inhalt durchwühlte. Und immer noch lächelte der Mann, ließ sich keinerlei Ungeduld anmerken. Bald fiel ihnen nichts mehr ein, womit sie sich hätten beschäftigen können, statt aus dem Wagen zu steigen. Und so öffneten sie, langsam und zögerlich, die Türen. Hunt ging zum Kofferraum und öffnete ihn. Verborgen durch die Kofferraumhaube, ließen sie sich sehr viel Zeit beim Ausräumen ihrer Einkäufe. Und der Vertreter lächelte immer noch. »Haben Sie über die Arbeitsplatzversicherung nachgedacht?«, fragte er, als Beth und Hunt schließlich gemächlich die Auffahrt heraufgeschlendert kamen. »Den Job zu verlieren, kann für ein Ehepaar hart sein, sehr hart. Unseren Erhebungen zufolge belastet etwas Derartiges eine Beziehung sogar mehr als Untreue.« Weder Beth noch Hunt antwortete ihm. »So etwas macht schönen Wochenenden, an denen man bummeln geht oder sich entspannt, ein schnelles und schmerzliches Ende. Wenn man arbeitslos ist, verbringt man das Wochenende nämlich damit, die Kleinanzeigen durchzugehen, und man bleibt zu Hause, um nicht Geld für Benzin und andere Luxusgüter auszugeben.« Leise lachte der Versicherungsvertreter. »Nein, in diese Lage möchte ich wirklich nicht geraten. Immer schön Geld in der Tasche und erwerbstätig. Nur so kann man das Leben genießen, was?« Hunt ließ einen Sack Blumenerde vor das Beet fallen, trat auf die Veranda, stellte sich unmittelbar neben den Versicherungsvertreter und schaute ihm fest in die Augen. Sie waren beide gleich groß, wie Hunt jetzt zum ersten Mal feststellte; es war beinahe so, als würde man in den Zerrspiegel in einem Lachkabinett schauen und ein groteskes Abbild seiner selbst sehen. Die beiden Männer hatten eigentlich keine Ähnlichkeit und waren nur annähernd gleich groß, und doch schien es irgendeine nicht näher zu bezeichnende, unterschwellige Ähnlichkeit zu geben, sodass Hunt sich sehr unwohl in seiner Haut fühlte. »Ich weiß, dass wir das bereits angesprochen hatten, aber ich hielt es für an der Zeit, eine Entscheidung zu fällen.« Der Vertreter grinste. »Darf ich Sie beide also für eine Arbeitsplatzversicherung vormerken?« Er stand praktisch schon auf den Zehenspitzen. »Nein ...«, setzte Beth an. »Wir hätten gerne noch mehr Informationen, ehe wir uns endgültig entscheiden«, unterbrach Hunt sie. »Haben Sie eine Ausfertigung der Police dabei, die wir uns einmal anschauen könnten?« Einen Augenblick lang schien der Vertreter aus dem Konzept gebracht. »Ich habe keine Police dabei«, gab er zu. »Nur ein Antragsformular.« Jetzt hab ich dich! Hunt versuchte den Augenblick genüsslich in die Länge zu ziehen. »Na ja, vielleicht könnten Sie eine mitbringen, wenn Sie das nächste Mal vorbeischauen, sodass wir Gelegenheit haben, mal einen Blick hineinzuwerfen, und dann können wir uns ja darüber unterhalten.« Offensichtlich war dem Versicherungsvertreter so etwas bisher noch nie untergekommen. Wenn das Spiel schon so lange lief, hätten die Kunden so niedergeschlagen sein müssen, dass sie brav das Geld für jede neue Versicherungsleistung abdrückten, die man ihnen anbot! »Ich kann Ihnen sämtliche Fragen zu den Details der Policen gleich hier beantworten«, sagte der Vertreter. »Ich weiß alles, was man darüber wissen kann.« »Wir hätten es lieber schriftlich«, meldete sich jetzt Beth zu Wort, die genau verstanden hatte, worum es hier ging. »Sie wissen ja, wie das ist.« Die Miene des Vertreters verfinsterte sich. »Ja, ich weiß, wie es ist, wenn Leute plötzlich nicht mehr die Hypotheken für ihr Haus bezahlen können, weil sie entlassen wurden. Ich weiß, wie es ist, wenn Autos und Möbel gepfändet werden, weil kein Geld mehr hereinkommt und die Rechnungen nicht bezahlt werden können.« Er beugte sich ein wenig vor. »Manchmal passiert so etwas einfach.« Er schnippte mit den Fingern. »Die Laune eines Geschäftsführers oder eines unmittelbaren Vorgesetzten kann einer vielversprechenden Karriere ein abruptes Ende bereiten. Das habe ich schon oft erlebt, und ich möchte nicht, dass es auch Ihnen so ergeht.« »Dann vielleicht das Antragsformular«, setzte Hunt nach. »Ist eine Beschreibung der zugehörigen Versicherung dabei, und was genau die umfasst?« »Eine detaillierte Beschreibung«, ergänzte Beth. »Ich kann Ihnen erzählen, was sie umfasst. Sie bietet einen garantierten Arbeitsplatz. Ihren derzeitigen Job mit Ihrem derzeitigen Gehalt zu den derzeit gültigen Bedingungen. Sie werden nicht heruntergestuft, entlassen oder von der Arbeit freigestellt, und ihre Stelle wird nicht gekürzt, gestrichen oder an externe Arbeitskräfte vergeben.« »Es besteht aber auch nicht mehr die Möglichkeit eines beruflichen Aufstiegs?«, fragte Beth nach. »Ich säße für immer auf der gleichen Stelle fest?« »Sie können jederzeit aufsteigen, aber Sie werden niemals absteigen. Garantiert.« Jetzt war er wieder ganz der Alte, und mit schmeichlerischer, gut einstudierter Kundenverbindlichkeit ging er detailliert auf die einzelnen Vertragsbedingungen und Klauseln der Versicherungsleistungen ein, wurde immer selbstsicherer und enthusiastischer, je länger er sprach, bis seine Augen funkelten und ein glückliches Lächeln auf seinen Lippen lag. »Ich würde diese Chance sofort ergreifen, wenn ich Sie wäre«, verriet er ihnen. »Im Vertrauen gesagt - diese Versicherung wird nur für eine begrenzte Zeit angeboten. Wie es bei derart speziellen Deckungskonzepten häufig der Fall ist, bieten wir diese Police nur einigen wenigen Kunden an. Sobald die Zielvorgabe der Abschlüsse erreicht ist, wird das Angebot beendet, und die betreffende Versicherungsleistung wird nicht mehr angeboten. »Also ...«, er blickte von Hunt zu Beth und wieder zurück, »ich brauche Ihre Entscheidung jetzt.« Hunt hatte keine Wahl, hatte keine weiteren Hinhaltetaktiken mehr parat, und so sagte er, auch wenn er es zutiefst verabscheute: »Ich nehme sie.« »Und Mrs. Jackson ebenfalls, nehme ich doch wohl an?« Hunt wusste nicht, ob Beth sich immer noch an ihren ursprünglichen Plan halten wollte - nach diesem effektiven und einschüchternden Sermon, den sie gerade über sich hatten ergehen lassen müssen. Doch Beth schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht«, sagte sie kühl. Der Versicherungsvertreter schien sie nicht gehört zu haben. »Zwei Arbeitsplatzversicherungen für je zehn Dollar im Monat ...« »Eine Police«, erklärte sie lauter. »Ich werde für mich keine abschließen. Mein Job ist sicher.« Jetzt schlich sich ein Hauch von Verzweiflung in das Lächeln des Vertreters. »Wie ich Ihnen schon zu erklären versucht habe, kann sich so etwas jederzeit ändern.« »Das Risiko gehe ich ein«, gab Beth zurück, und in dem Augenblick war Hunt so stolz auf sie, dass er hätte platzen können. Es war nur ein kleiner Sieg, aber immerhin ein Sieg, und er wurde dadurch noch viel süßer, dass sie dafür keinerlei Kompromisse hatten eingehen müssen. Er hatte nachgeben müssen, Beth aber nicht - und so lächerlich und schwülstig es klingen mochte, Hunt hatte das Gefühl, als hätten sie gerade einen boshaften, komplizierten und sorgsam ausgetüftelten Plan durchkreuzt. »Das werden Sie bedauern«, sagte der Vertreter. Sein Tonfall war nonchalant, doch die tödliche Ernsthaftigkeit seiner Stimme war nicht zu überhören. »Das glaube ich nicht. Übrigens ...«, fragte Beth, »wie heißen Sie eigentlich? Das steht nicht auf Ihrer Karte.« »He, du! Jackson!« Sie wurden von einem lauten Ruf aus dem Vorgarten des Nachbarn unterbrochen, und ihre Aufmerksamkeit galt mit einem Mal nicht mehr dem Versicherungsvertreter. Hunt blickte an Beth vorbei und starrte auf die Gestalt, die ihn mit rauer Stimme rief. Streitlustig stapfte Ed Brett durch den Vorgarten seines Grundstücks auf sie zu. Die Hände hatte er zu Fäusten geballt, und seine Miene verriet blanken Hass. An der Grenze seines Grundstücks blieb er stehen. »Perversling!«, schrie er und zeigte auf Hunt. »Ich will, dass du aus dieser Gegend verschwindest!« »O Gott«, murmelte Hunt. Das hatte Brett gehört. »Wage es ja nicht, den Namen des Herrn zu missbrauchen!« Er stapfte weiter, einfach in Beths Vorgarten hinein, bis er die Auffahrt erreicht hatte. Dort blieb er stehen und hämmerte mit der Faust auf die Motorhaube des Saab. Zornig kam Hunt von der Veranda. »Runter von unserem Grundstück!«, rief er. »Hunt!«, warnte Beth ihn. »Was willst du denn dagegen machen, hä? Du bist doch nicht einmal Manns genug, mit einer richtigen Frau klarzukommen, deswegen musst du kleine Kinder befummeln! Und du glaubst, du kannst es mit mir aufnehmen? Das will ich doch mal sehen, Jackson!« Oh Scheiße. War ja klar. Die Vorwürfe des Kindesmissbrauchs. Irgendwie hatte Brett davon erfahren. Hastig blickte Hunt die Straße auf und ab. Wie viele andere wussten noch davon? Wie viele von denen glaubten es? »Und was willst du als Nächstes tun, hä? Willst du meine Jungen vernaschen? Ich will, dass du aus dieser Gegend verschwindest, Jackson. Du und deine Schlampe! Wir brauchen keine Perverslinge, die Tür an Tür mit uns wohnen.« Hunt ging weiter auf ihn zu. Er war noch nie ein Mann gewesen, der sich gerne auf Körperkraft verließ, und seit der Grundschule hatte er sich mit niemandem mehr geprügelt, aber jetzt war er bereit, diesem Blödmann eine Tracht Prügel zu verpassen. »Ich habe nichts Unrechtes getan. Ich habe noch nie, noch nie ein Kind unsittlich berührt. Und wenn du noch einmal so über meine Frau sprichst, prügle ich dir die Scheiße aus dem Leib!« Hunt sah, dass hinter Ed Brett dessen Frau durch den Vorgarten gehuscht kam. Aus dem Wohnzimmer heraus feuerten Bretts Bälger ihren Vater an. »Mach ihn kalt!«, schrie einer der beiden. Hunt spürte, wie ihn etwas am Arm berührte, und hielt inne. Beth zupfte an seinem Ärmel. »Lass es gut sein«, sagte sie. »Das sind doch Volltrottel. Wen interessiert schon, was die denken?« Bretts Gesicht war purpurrot. »Wen nennst du einen Volltrottel?« »Ja!«, schrie seine Frau und stellte sich neben ihn. »Wir vergewaltigen keine Kinder!« »Niemand ...«, setzte Hunt an, als Brett ihm plötzlich einen Stoß vor die Brust versetzte, sodass Hunt fast zu Boden gestürzt wäre. Sofort hatte er sich wieder gefangen, bereit, diesem Neandertaler ordentlich eine zu verpassen, doch Beth hielt ihn zurück. »Nein!«, rief sie. »Hör auf! Lass dich nicht reizen!« »Brauchst du das kleine Frauchen, das dich beschützt, du Weichei?« Beth wandte sich zu ihrem Nachbarn um. »Er ist viel mehr Mann, als du jemals sein wirst, du widerlicher Fettkloß!« Sally Brett rannte auf sie zu. »Nimm das zurück, du Schlampe!« Und schon waren die Frauen zugange. Sally Brett kämpfte wild wie ein Tier, fuchtelte mit den Armen, biss und trat um sich. Doch Beth war flinker und stärker, und sie duckte sich und schnellte zurück, wich aus und schlug zu. »Ich kratz dir die Augen aus!«, kreischte Sally Brett. Ihre Ehemänner rissen sie auseinander, Beth immer noch in Kampfposition. Sally Brett wehrte sich jetzt wie eine Straßenkatze gegen ihren Mann. »Niemand will euch hier in der Nachbarschaft haben«, sagte Ed Brett, als die beiden sich wieder auf ihr eigenes Grundstück zurückgezogen hatten. »Macht euch vom Acker!« »Leck mich!«, rief Hunt und ging mit Beth zurück auf ihre Veranda. »Unterzeichnen Sie hier«, sagte der Vertreter und hielt ihm einen Stift und ein Klemmbrett hin. Wütend setzte Hunt seine Unterschrift auf das Papier, ohne es auch nur zu lesen. »Übrigens gibt es einen Nachtrag zu Ihrer Immobilienversicherung, den wir die ›Gute-Nachbarschafts-Police‹ nennen«, sagte der Vertreter freundlich. »Ich weiß nicht, ob Sie das schon gelesen hatten. Aber ich werde dafür sorgen, dass dieser Zusatz in Kraft tritt.« Er lächelte sie an. »Einen schönen Tag noch.« Mit fröhlichem Pfeifen schlenderte der Versicherungsvertreter über den Rasen zum Bürgersteig. 2. Steve saß auf dem Firstbalken seines Anbaus und befestigte gerade den letzten Sparren. Die Sonne war fast schon untergegangen, und es war eigentlich schon zu dunkel für diese Arbeit, doch Steve war so gut wie fertig und wollte nichts unerledigt lassen, ehe er ins Bett ging. Er rutschte ein wenig weiter nach vorne und stemmte sich dann mit aller Kraft gegen den Schraubenschlüssel, um die nächste Schraube festzuziehen. Irgendetwas unter ihm bewegte sich. Beinahe hätte Steve den Schlüssel fallen lassen. Seit dem letzten Telefonat mit dem Versicherungsvertreter hatte er so etwas erwartet. Hast du mich verstanden, du Drecksack? Doch auch wenn Steve glaubte, auf alles vorbereitet gewesen zu sein, wusste er jetzt doch, dass dem nicht so war, und die Furcht, die in ihm aufstieg, war tausendmal größer als während dieses Telefonats mit dem Versicherungsvertreter. Doch diese Angst war auch mit Zorn vermischt, und es war der Zorn, den er jetzt zu schüren versuchte; er konzentrierte sich darauf und versuchte ihn immer weiter anzuheizen. Steve setzte sich auf, sah sich schnell im Hof um. Aus diesem Blickwinkel konnte er ebenso in seinen Anbau hineinschauen wie drei Seiten seines Hauses einsehen. Ein Mann mit Hut stand neben der verbliebenen Baumhälfte, und ein weiterer drückte sich in der Nähe des mit einer Plane abgedeckten Holzstapels herum. Was immer sich dort durch den Anbau selbst bewegt hatte, jetzt war es verschwunden, doch im matten, diffusen Licht der fast völlig erloschenen Sonne sah er eine Urinpfütze auf dem Sperrholzboden, und das reichte aus, um Steves Zorn überquellen zu lassen. »Jetzt reicht's, ihr Dreckskerle!«, schrie er, stand auf und hob seinen Schraubenschlüssel. »Kommt schon!« Das Firststück unter Steves Füßen brach. Er stürzte, und es war pures Glück, dass er sich so eben noch an der Kante des Daches festhalten konnte. Sein Unterleib krachte mit Wucht gegen die verputzte Wand, und Steve schrie auf vor Schmerz, doch er hielt sich weiter fest. Klappernd fiel sein Schraubenschlüssel auf den Sperrholzboden. Als Steve hinunterblickte, sah er, dass einer der Männer genau unter ihm stand - in der Hand einen Schraubenzieher. Aus den Schatten trat eine weitere Gestalt, die jetzt einen schweren Holzbalken schwang. Sie wollten ihn umbringen! Steve hatte keinen Zweifel. Diese Kerle arbeiteten für die Versicherungsgesellschaft, und sie waren geschickt worden, ihn dafür zu bestrafen, dass er bei ihrer Firma keine Police abgeschlossen hatte. Steve lachte rau und scharf. Wer würde ihm so etwas glauben? Plötzlich wurde die Tür zum Haus geöffnet. Ein immer größeres Dreieck aus fluoreszierendem Licht breitete sich über den Sperrholzboden aus, ließ die Urinpfütze schimmern, strahlte die Männer an. Nur dass sie gar nicht angestrahlt wurden: Sie blieben im Schatten, ihre Gesichter unsichtbar. Nina stand im Eingang. Sie sah die dunklen Männer mit ihren primitiven Waffen, machte aber keine Anstalten, etwas zu unternehmen. Sie lief nicht davon, rief nicht um Hilfe, rannte nicht zum Telefon. Stattdessen schaute sie zu ihm hinauf, die Miene unergründlich, und stand regungslos da. Ach, so lief das also! Es hätte ihn nicht überraschen sollen. Steves Griff wurde immer schwächer, und plötzlich stand rechts von ihm noch ein Mann, der einen Hammer in den Händen hielt. Steves ganzer Körper schmerzte höllisch. Er versuchte dennoch, sich mit den Beinen an irgendetwas festzuklammern, hoffte darauf, die Kraft, die ihm noch verblieben war, nutzen zu können, sich wieder aufs Dach hochzuziehen. Die können mich ja nicht einfach so umbringen!, schoss es ihm durch den Kopf. Die müssen schon dafür sorgen, dass es wie ein Unfall aussieht ... Seine Finger krampften sich um die Dachkante, und Steve versuchte sich hochzuwuchten, die Füße gegen die Mauer zu stemmen und die Beine als Hebel einzusetzen ... doch er hatte einfach nicht genug Kraft. »Nina!«, stieß er hervor und verabscheute sich selbst dafür, so schwach zu sein. Unter sich hörte er die Tür zuschlagen. Plötzlich war es im Anbau stockdunkel, und aus dem Innern des Hauses vernahm er hastige Schritte. Natürlich! Nina holte Hilfe! Gerade eben war sie vor Angst und Entsetzen wie betäubt gewesen und nicht imstande, irgendetwas zu tun. Jetzt aber rief sie die Polizei! Mit frischer Kraft versuchte Steve erneut, sich hochzustemmen. Er spannte sämtliche Muskeln an, legte den Kopf in den Nacken, schaute zum Dach hinauf ... Eine stämmige Gestalt mit einem dunklen Hut starrte ihn über die Kante hinweg an. Und zum ersten und letzten Mal sah er das Gesicht des Mannes. Und das Lächeln. 3. Schon auf dem Weg zur Arbeit wusste Hunt, dass irgendetwas passieren würde. Er war fünf Minuten zu spät, doch bisher hatte noch kein Arbeitstrupp den Hof der Abteilung Landschaftspflege verlassen. Die Männer hatten sich noch nicht einmal in den üblichen Trupps gruppiert; Hunt sah nur eine einzige, wimmelnde Menschentraube aus Landschaftspflegern, die sich über die gesamte Fläche zwischen dem Lagerhaus, der Garage und dem Hoftor verteilten. »Was ist denn?«, fragte er Jack Hardy, den er als Ersten traf. »Steve«, sagte Hardy knapp. »Ist gestern Abend vom Dach gefallen und hat sich das Genick gebrochen. Chuck versucht gerade herauszufinden, ob er noch lebt. Bisher weiß das niemand.« Arbeitsplatzversicherung. Das konnte nicht sein. Doch Hunt wusste, dass es sehr wohl sein konnte, und beklommen blickte er sich um, plötzlich von einem unerträglichen Schuldgefühl geplagt, gepaart mit Entsetzen. Er steckte bis zum Hals in der ganzen Sache. Wie das Kind aus den Gruselgeschichten, das mit einem Ouija-Brett spielt und das Tor für die Heerscharen der Hölle öffnete, hatte Hunt sich mit etwas eingelassen, das er nicht verstand, und statt sich nach und nach aus seinen Schwierigkeiten zu befreien, musste er feststellen, dass er sich tiefer und tiefer darin verstrickte. Er war für den Tod von Kate Gifford verantwortlich, und jetzt vielleicht auch für Steves »Unfall«. In der Menschenmenge suchte Hunt nach Jorge und sah, dass dieser auf der anderen Seite des Hofes neben der Zapfsäule gerade mit Mike Flory sprach. Hunt wollte dringend mit Jorge sprechen - aber nicht, solange Mike dabei war. Und so nickte er ihm nur zu und sagte: »Hallo.« Die drei unterhielten sich noch ein wenig, während sie auf Chucks neuesten Bericht warteten. Die einhellige Meinung war, Steve sei zwar ein Blödmann, aber so etwas habe er nun doch nicht verdient. »Vielleicht überlebt er ja und kommt wieder auf die Beine. Aber er wird auf jeden Fall vorzeitig in Ruhestand gehen müssen, und dann kriegen wir einen neuen Abteilungsleiter, der sich vielleicht sogar wirklich für uns einsetzt«, sagte Mike hoffnungsvoll. Jorge jedoch sagte gar nichts. Er wirkte unruhig und schien sich nicht wohl in seiner Haut zu fühlen, blickte sich immer wieder im Hof um, als suche er jemanden. Und jedes Mal, wenn Steves Name fiel, verfiel er in völlig untypisches Schweigen. Unter dem Vorwand, Kaffee holen zu wollen, nahm Hunt ihn beiseite. Neben einem der Lastwagen blieben sie stehen, sodass man ihr Gespräch nicht belauschen konnte. »Du hast eine Arbeitsplatzversicherung abgeschlossen, nicht wahr?« Jorge nickte, merklich erleichtert, endlich darüber sprechen zu können. »Ja!« »Ich auch.« »Und deswegen ...« Hunt unterbrach ihn. »Ja. Ich glaub schon.« Chuck Osterwald kam aus dem Verwaltungsbüro der Abteilung Landschaftspflege und hob die Hände, um die Menge zum Schweigen zu bringen. »Keine guten Nachrichten! Steve liegt im Koma!«, verkündete er. »Die wissen noch nicht, ob er durchkommen wird. Er hat einen Riss in der Milz, und eine Rippe hat die Lunge durchbohrt. Hinzu kommen innere Blutungen und ein schweres Schädeltrauma. Er ist schon operiert, aber selbst wenn er überleben sollte, wissen die Ärzte nicht, wie lange es dauert, bis er aus dem Koma erwacht - falls überhaupt. Len Rojas wird als kommissarischer Abteilungsleiter einspringen. Er hat aus der Stadt angerufen. Alle sollen in die Hufe kommen und sich an die Arbeit machen. Der Zeitplan für diese Woche bleibt unverändert. Was nächste Woche passiert, wird Len dann noch entscheiden. Los geht's!« Die Arbeiter verteilten sich auf ihre Trupps und gingen zu ihren Einsatzfahrzeugen. Jorge dachte einen Augenblick lang nach. »Steve war nicht der Einzige, der unsere Arbeitsplätze gefährdet hat«, sagte er leise. »Ich weiß.« »Andere wollten unsere Jobs an die Arbeiter von Fremdfirmen vergeben.« »Ich weiß.« »Aber der Aufsichtsrat ...« Hunt blickte ihn an. »Ich weiß.« Die Orgie war die Hauptmeldung in den Abendnachrichten. Details wurden nicht bekannt, aber selbst der allgemeine Überblick war schon pikant genug, dass Reporter vor dem normalerweise ruhigen und architektonisch völlig uninteressanten Gebäude der Bezirksverwaltung Stellung bezogen hatten und atemlos von dem »Skandal, der diese Regierungseinrichtung bis in ihre Grundfesten erschütterte« berichteten. Die Meldung wurde um fünf Uhr gebracht, um sechs Uhr in den landesweiten Nachrichten und dann noch einmal um zehn Uhr. Anscheinend hatte ein Praktikant von der University of Arizona in der letzten Nacht noch lange gearbeitet, um die Mitarbeiter des Büros, dem er zugeordnet war, mit seiner Sorgfalt und seinem Pflichtbewusstsein zu beeindrucken, und hatte die Tür zum Konferenzzimmer geöffnet - den Raum, in den man sich zurückzog, um ungestört diskutieren zu können. Dort hatte er die fünf Mitglieder des Aufsichtsrats vorgefunden, dazu noch zwei bisher nicht identifizierte Abteilungsleiter, die sich in einer »Orgie« ergingen, wie NBC und CBS es bezeichneten. ABC nannte es den »Sexclub nach Dienstschluss«, während Fox von »glühend heißen Sexkapaden« sprach. Der Praktikant war geradewegs zum Leiter der Verwaltung gegangen, und dann zu seinen Eltern. Sämtliche Aufsichtsratsmitglieder hatten sofort Rücktrittsgesuche eingereicht, und noch vor Ende des Monats sollte eine außerordentliche Wahl stattfinden, um die Nachfolge zu bestimmen. Auch die in die »Orgie« verwickelten Abteilungsleiter waren zurückgetreten. Hunt hatte das dumpfe Gefühl, dass diese beiden nicht identifizierten Herren sich für die Vergabe des Baumbeschnitts an Fremdfirmen eingesetzt hatten. Jorge rief an, als Hunt und Beth gerade aßen, um ihnen die Einzelheiten zu berichten, die er von einem Freund aus der Verwaltung gehört hatte. Helen Butler, die einzige Frau im Aufsichtsrat, hatte auf dem Konferenztisch gelegen, als der Praktikant hereinspaziert war; alle drei ihrer Körperöffnungen waren gerade im Einsatz. Lee Spenser, ein ruppiger Ex-Marine, kauerte auf Händen und Knien auf dem Boden und ließ es sich von hinten besorgen, wobei Reynold Lopez ihm nur zu gerne diesen Gefallen tat. Und die beiden Abteilungsleiter waren tatsächlich diejenigen, die sich am stärksten für die externe Vergabe der Landschaftspflege im Allgemeinen und des Baumbeschnitts im Besonderen eingesetzt hatten. Einer der beiden beschäftigte gerade Helen Butlers Mund, während der andere alleine in einer Ecke saß und sich selbst einen Klistierschlauch einführte. Hunt merkte, dass Jorge eine gewisse Freude daran hatte, dass diese Herren, die ihm so gerne den Job wegrationalisiert hätten, auf diese Weise ihre gerechte Strafe erhalten hatten. Hinzu kamen aber auch Entsetzen und Furcht - das Begreifen, dass das, was hier geschah, nicht nur alle Naturgesetze und Wahrscheinlichkeiten außer Kraft setzte, sondern auch sämtliche moralischen Grundwerte. »Was passiert als Nächstes?«, fragte Jorge dann. »Oder war es das jetzt?« »Hoffen wir 's«, sagte Hunt. »Hoffen wir 's.« SECHZEHN 1. »Jorge!« Aufs Kissen gestützt, das er gegen das Kopfende gelegt hatte, war Jorge fast eingeschlafen, doch jetzt war er hellwach, sprang aus dem Bett und lief zum Bad, kaum dass er die Panik in der Stimme seiner Frau erkannt hatte. Ynez hatte eigentlich duschen wollen; stattdessen saß sie nun nackt auf der Toilette, die Haut noch trocken, das Gesicht verzerrt. Zwischen ihren gespreizten Beinen hindurch konnte er Blut im Wasser erkennen. »Ogottogott«, sagte er dermaßen angespannt, dass die Worte zu einem einzigen verschmolzen. Mit einem Mal bekam er kaum noch Luft. »Irgendwas stimmt nicht!« Ynez begann zu weinen. »Wir werden das Kind verlieren.« »Nein, werden wir nicht! Bleib da!« Jorge lief ins Schlafzimmer zurück und durchwühlte den ungeordnet auf der Kommode abgelegten Tascheninhalt, bis er seine Brieftasche und die Versichertenkarte gefunden hatte. Dann griff er nach dem Telefon auf dem Nachttisch und wählte mit zitternden Fingern die Nummer, die für Notfälle auf die Rückseite der Karte aufgedruckt war. Dankenswerterweise musste er sich nicht erst noch mit einem automatisierten Annahmesystem herumschlagen, sondern war sofort mit einem atmenden, lebenden Menschen verbunden. »Meine Frau blutet!«, schrie er ins Telefon. »Sie ist schwanger, und sie blutet! Was soll ich tun?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang ruhig und gelassen. Es war die Stimme einer älteren Frau, die Derartiges schon erlebt hatte - und noch viel, viel Schlimmeres -, was in gewisser Weise beruhigend war. »Beruhigen Sie sich, Sir. Sagen Sie mir erst einmal, was passiert ist.« Jorge konnte sich nicht beruhigen, konnte es nicht einmal versuchen, sondern sprudelte hervor, dass das Kind eigentlich erst in fünf Wochen erwartet wurde und Ynez plötzlich Blutungen hatte. »Hat sie auch Krämpfe?«, fragte die Frau. »Das weiß ich nicht!« Noch nie hatte Jorge sich so hilflos gefühlt. »Fahren Sie sofort ins Krankenhaus«, wies die Frau ihn an. »Nehmen Sie Ihre Versichertenkarte mit, und gehen Sie gleich in die Entbindungsstation.« »Werden wir das Kind verlieren?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen, Sir. Aber in der Entbindungsstation wird man wissen, was zu tun ist. So etwas ist dort alltäglich.« Doch er wollte mehr als das hören, mehr als ein »Das ist ganz normal, so was passiert immer wieder, alles wird gut«, doch offensichtlich würde er das nicht bekommen, und Jorge hatte nicht die Zeit, jetzt erst dämliche Fragen zu beantworten. Also legte er auf und rannte zurück ins Badezimmer. Ynez war schon fast angezogen. Jorge streifte hastig eine Jeans und ein T-Shirt über und griff nach seiner Brieftasche und den Schlüsseln. »Die haben gesagt, wir sollen sofort ins Krankenhaus fahren.« »Was ist mit dem Baby? Was sagen sie dazu?« Jorge beschloss, es nicht schönzufärben. »Die Frau, mit der ich gesprochen habe, hat gesagt, sie weiß es nicht. Sie sagte nur, wir sollten sofort zur Entbindungsstation fahren.« »O Gott!« Ynez schluchzte wieder. »Warum muss das uns passieren?« Weil wir weitere Versicherungen brauchen, dachte Jorge verrückterweise, wagte es aber nicht, den Gedanken auszusprechen. Die Fahrt kam ihnen endlos vor. Ein Dutzend Mal und mehr hatten sie die Strecke geübt, hatten jede mögliche Route ausprobiert, bis sie die kürzeste gefunden hatten, doch dieses Mal sprang auf dem Weg zum Krankenhaus fast jede Ampel auf Rot. Ynez, die auf dem Beifahrersitz saß, stöhnte und schluchzte abwechselnd, und Jorge fragte sie immer wieder, ob sie Schmerzen hätte oder ob es schlimmer würde. Doch seine Frau schrie nur: »Nein! Fahr weiter!« Es war spät, und Jorge wusste nicht, ob der Haupteingang des Krankenhauses noch geöffnet sein würde, also fuhr er zum Eingang der Notaufnahme und stellte den Wagen auf einem der Zwanzig-Minuten-Parkplätze gleich neben der Tür ab. Ynez hatte eine extra saugfähige Binde in ihren Slip gelegt, doch schon jetzt war sie völlig durchgeweicht, und als Ynez ausstieg, konnte Jorge nur zu deutlich einen dunklen Fleck in ihrem Schritt erkennen. Er versuchte, nicht in Panik zu verfallen, hielt Ynez am Arm und eilte mit ihr durch die Tür. Der kleine Warteraum war fast leer. In einer Ecke, unter einem an der Wand befestigten Fernseher, saß, in einen schäbigen braunen Mantel gehüllt, ein verdreckter Mann, der anscheinend völlig betrunken war. In der gegenüberliegenden Ecke, so weit weg wie nur möglich, saß ein besorgtes junges Pärchen neben seinem blassen, lethargischen Sohn. Jorge führte Ynez geradewegs zum Fenster der Annahme. Hinter der dicken Glasscheibe saß eine übergewichtige Krankenschwester vor einem Computer und tippte. Als die beiden näher kamen, blickte sie auf. Auf ihrem Namensschild stand »F. Hamlin«. Die Schwester fragte: »Kann ich Ihnen helfen?« »Meine Frau ist schwanger, und sie blutet!«, platzte Jorge heraus. Ynez umklammerte seinen Arm fester, als würde sie jeden Augenblick umfallen. »Das Baby soll erst in fünf Wochen kommen.« Eine Metallschublade unter der dicken Glasscheibe wurde herausgeschoben wie bei einem Bankschalter. »Darf ich Ihre Versichertenkarte sehen?« »Meine Frau blutet! Sie braucht einen Arzt! Jetzt!« Doch noch während Jorge sich beschwerte, zückte er seine Brieftasche, griff nach der Versichertenkarte und ließ sie in die Schublade fallen. Die Schublade wurde eingezogen. Auf der anderen Seite der Glasscheibe griff die Krankenschwester danach, schaute sie sich an, gab ein paar Zahlen in den Computer ein und schaute die beiden dann an. »Es tut mir leid«, sagte sie knapp. Die Schublade kam wieder heraus, darin lag die Versichertenkarte. »Im Desert Regional können wir Sie nicht aufnehmen.« »Was?« Ynez begann wieder zu schluchzen und hielt sich den Unterleib. »Das kann doch nicht sein!« »Wir sind bei diesem Krankenhaus vorangemeldet!«, schrie Jorge die Krankenschwester an. »Genau hierhin sollten wir kommen!« »Es tut mir leid, aber Ihr Versicherungsträger hat gewechselt.« »Was zum Teufel soll das heißen?« »Das soll heißen, dass Sie zum Waltzer Community Hospital müssen. Wir können Sie hier nicht aufnehmen.« »Wir haben hier in den letzten zwei Monaten die Lamaze-Kurse mitgemacht! Wir haben uns doch erst letzte Woche die Entbindungsstation angesehen!« »Ihre Krankenversicherung wird von Desert Regional nicht mehr akzeptiert. Wenn Sie einem Versorgungsmodell mit freier Krankenhauswahl angehören würden, dann ...« »Das ... also ...« Jorge war nicht mehr imstande, einen ganzen Satz zusammenzubringen. »Das hier ist die Notaufnahme. Sie müssen uns reinlassen! Wir haben eine Notfallversicherung. Das steht alles auf der Karte.« »Wir können nicht ...« Jorge zog Ynez ein Stück weit von der Glasscheibe zurück und deutete auf den immer größeren Fleck auf ihrer Jeans, sodass die Schwester ihn sehen konnte. »Sie blutet!« »Wir können sie hier nicht aufnehmen.« Jorge musste an die Muttergottes denken, die Jesus in einem Stall hatte zur Welt bringen müssen. So lebten also die anderen, die Unterprivilegierten. Die Unversicherten. Ynez weinte jetzt hemmungslos, und Jorge war so wütend und frustriert, dass er selbst kurz davor stand, in Tränen auszubrechen. Am liebsten hätte er einen der Stühle aus dem Warteraum genommen, hätte die verdammte Glasscheibe eingeschlagen und das Miststück erwürgt. Er zitterte am ganzen Leib, so heftig waren die Emotionen, die in seinem Innern tobten, doch als er den Mund wieder öffnete, brachte er nur ein einziges, flehentliches Wort heraus: »Bitte ...« Die Krankenschwester wurde zugänglicher, und zum ersten Mal konnte Jorge sehen, dass sie ein Mensch aus Fleisch und Blut war, der hier lediglich seine Aufgabe verrichtete. »Ich rufe einen Krankenwagen«, sagte sie zu Jorge. Sie sprach sehr leise, und Jorge hatte den Eindruck, als täte die Schwester gerade etwas, das sie eigentlich nicht hätte tun dürfen. »Die werden Sie zum Waltzer-Krankenhaus fahren.« Sofort tat ihm leid, was ihm eben noch durch den Kopf gegangen war. Es war ja nicht die Schuld dieser Frau. Sie machte auch nur ihre Arbeit, tat nur das, was man ihr auftrug. Sie war nur ein kleines Rädchen in der Maschine. Es war die Maschine selbst, die hier die Schuld hatte. Das System. »Danke«, sagte er nur. Neben ihm begann Ynez zu wimmern. »Gehen Sie durch den Ausgang und dann nach rechts. Der Krankenwagen wird jeden Moment hier sein.« Jorge nickte. »Das wird schon wieder«, sagte die Krankenschwester zu Ynez. »Mit Ihrem Baby wird alles gut.« Jorge wusste nicht, ob sie aus Erfahrung sprach, ob sie überhaupt Ahnung davon hatte oder ob sie das nur sagte, damit sie beide sich besser fühlten - und zumindest Jorge fühlte sich jetzt tatsächlich etwas besser. Er führte Ynez zur Tür. Einen Augenblick später kam auch schon der Krankenwagen um die Ecke des Gebäudes gefahren. Zwei Sanitäter öffneten die Hecktür. »Möchten Sie eine Trage?«, fragte der ältere der beiden. Ynez schüttelte den Kopf. »Da hinten sind auch Bänke. Schnallen Sie sich an, und halten Sie sich fest. Wir bringen Sie zum Waltzer-Krankenhaus.« »Sind Sie Rettungssanitäter?«, fragte Jorge. »Meine Frau blutet. Können Sie kurz nachsehen, ob ... ob alles in Ordnung ist?« »Tut mir leid, Sir.« Die Hecktür wurde wieder geschlossen, und sie waren allein, als die beiden Sanitäter zur Fahrerkabine des Krankenwagens eilten. Die Warnleuchten und die Sirene wurden eingeschaltet, und dann jagten sie auch schon los. Durch das Heckfenster sah Jorge seinen Wagen, der immer noch auf dem Zwanzig-Minuten-Parkplatz stand, und fragte sich, ob er sich wohl einen Strafzettel einfangen würde. Oder wie sie wieder zurückkommen sollten. Kleinigkeiten, sagte er sich dann. Das konnten sie sich später immer noch überlegen. Jetzt war erst einmal wichtig, dass sie so schnell wie möglich zu diesem Krankenhaus kamen und dafür sorgten, dass das Kind gesund und ohne Komplikationen zur Welt kam. Der Krankenwagen jagte durch die Straßen der Stadt, überfuhr mindestens zwei rote Ampeln, und in bemerkenswert kurzer Zeit erreichten sie ihr Ziel. Jorge hatte keine Ahnung, wo dieses Krankenhaus lag - der Blick durch die Heckscheibe des Rettungswagens verwirrte ihn nur -, doch als die Sanitäter die Hecktüren öffneten, stellte er dankbar fest, dass sie genau vor dem Eingang der Notaufnahme standen und bereits ein Pfleger mit einem Rollstuhl angelaufen kam, um Ynez hineinzubringen. Gemeinsam mit dem Pfleger half Jorge ihr in der Rollstuhl, und zu dritt eilten sie durch die seufzenden Schiebetüren des Krankenhauses, geradewegs in die Notaufnahme. Entweder hatte die Krankenschwester von der Aufnahme des Desert Regional Hospital bereits hier angerufen, oder einer der Sanitäter aus dem Rettungswagen hatte Ynez über Funk angekündigt und die Lage geschildert, denn als der Pfleger den Rollstuhl in die Notaufnahme schob, öffneten sich schon die Türen eines weiteren Ganges. Als Jorge sich erkundigte, wohin sie denn nun gebracht würden, erklärte der Pfleger, Ynez käme in die Entbindungsstation. Ynez stieß einen schrillen Schrei aus. »Was ist?« Jorge war verängstigter, als er es sich jemals hätte vorstellen können. »Ich glaube, das war eine Wehe!« »Das ist gut«, sagte der Pfleger. »Das bedeutet, dass alles so läuft, wie es sollte.« Ynez begann mit Lamaze-Atemübungen, während sie zügig weiterliefen. Mit einem Mal überlief es Jorge eiskalt. Er mochte dieses Krankenhaus nicht. Die Flure wirkten zu finster, und obwohl es mitten in der Nacht war, erschien das Gebäude viel leerer, als er erwartet hätte. Sie kamen an mehreren Zimmern vorbei, die tatsächlich völlig leer zu sein schienen - nicht einmal ein Bett stand darin -, und in fast allen Räumen, in denen medizinische Geräte zu sehen waren, fehlten die Patienten. Die Entbindungsstation war in einem Halbkreis eingerichtet, wobei das Schwesternpult die Nabe bildete, während die einzelnen Räume wie Speichen davon abgingen. Hinter der halbrunden Theke standen drei Krankenschwestern: eine hagere Schwarze, die Daten von einer Reihe elektronischer Displays aufschrieb, und zwei übergewichtige weiße Frauen, die sich mit gedämpfter Stimme unterhielten. Der Pfleger stellte den Rollstuhl vor der Theke ab, klopfte zweimal auf die Arbeitsfläche der Theke und lief dann winkend weiter den Gang hinunter. »Sie gehört ganz Ihnen, die Damen!« Erneut stieß Ynez einen spitzen Schrei aus und keuchte vor Schmerz. Eine der übergewichtigen Frauen kam zu ihr. »Machen Sie sich keine Sorgen, es wird alles gut. Wir haben für Sie schon ein Zimmer vorbereitet, Schätzchen.« Geschickt half sie Ynez dabei, aus dem Rollstuhl aufzustehen, führte sie in einen der leeren Räume und legte im Vorbeigehen den Lichtschalter um. »Was ist das denn hier für ein Krankenhaus?«, fragte Jorge, während er sich umschaute. Der Raum war wie ein Kleinkinder-Schlafzimmer eingerichtet, in leuchtenden Farben. An die Wände waren Clowns gemalt ... nur dass diese Clowns hasserfüllt und bösartig wirkten. Gekrümmte, buschige Brauen verliehen den tiefliegenden Augen, die auf das Bett starrten, in dem Ynez ihr Kind zur Welt bringen sollte, etwas Boshaftes. Gemalte Münder grinsten verzerrt. »Alle unsere Entbindungsräume sind wie Säuglingsstationen eingerichtet. Wir wollen, dass sich sowohl die Mutter als auch das Kind sofort hier wohlfühlen, und wir versuchen, es zu einem Zuhause für sie zu machen, so gut wir können.« Wohlfühlen? Zuhause? Diese Begriffe waren wirklich das Letzte, was Jorge durch den Kopf ging, als er sich umschaute. Aber vielleicht nahm er alles ja irgendwie verzerrt wahr. Vielleicht bildete er sich das alles nur ein. Aber nein. Er sah ja den Gesichtsausdruck seiner Frau ... und er wusste, dass sie das alles genau so wahrnahm wie er selbst. Nun blickte Jorge zu dem fetten Clown neben der Badezimmertür hinüber, einem weißgesichtigen Dämon, der zwischen übergroßen Zähnen eine gespaltene Zunge herausstreckte. Jorge lief es eiskalt über den Rücken. Sie waren hier, weil sie nicht genügend Zusatzversicherungen abgeschlossen hatten. Hatte der Vertreter nicht genau das gesagt? Dass zusätzliche Versicherungsleistungen erforderlich werden könnten - gegen beträchtliche zusätzliche Kosten? Die Krankenschwester half Ynez aus ihrer Kleidung, wischte mit einem feuchten Schwamm das Blut fort, legte ihr ein Krankenhaus-Nachthemd an und half ihr dabei, sich in das Bett zu legen. Sie untersuchte sie flüchtig und verkündete dann, Ynez' Muttermund habe sich bereits um drei Zentimeter geweitet, und das Baby werde in dieser Nacht zur Welt kommen. Ynez umklammerte den Arm der Schwester. »Aber was ist mit dem vielen Blut?« »Das ist gar nicht so ungewöhnlich, wie es Ihnen vielleicht erscheint. Der Doktor wird aber gleich hier sein, und er wird Sie ausgiebig untersuchen. Dann wissen wir mehr.« Die Schwester verließ das Zimmer. Jorge und Ynez waren allein. Wie überall im Krankenhaus war auch hier das Licht gedämpft. Jorge wusste, dass man in allen Krankenhäusern so verfuhr, um wenigstens das Gefühl von »Nacht« zu erzeugen, weil die Patienten sich dann wohler fühlten, doch es machte ihn unruhig und sorgte dafür, dass er sich noch unbehaglicher fühlte. »Mir gefällt das nicht«, sagte Ynez mit schwacher Stimme. »Das ... das fühlt sich irgendwie nicht richtig an.« »Hast du Schmerzen?« »Nein. Ich meine das ganze Krankenhaus hier ... wie sie sich hier verhalten ... einfach alles. Niemanden scheint es zu interessieren, dass ich blute. Ich hätte schon in der Notaufnahme von einem Arzt untersucht werden müssen, nicht einfach nur hierhingelegt ...« Mitten im Satz brach sie ab, verzog vor Schmerzen das Gesicht. »Verdammt!«, stieß Jorge aus. »Wo sind denn die Geräte, die dich überwachen sollten? Ich hole die Schwester ...« Die massige Gestalt der Schwester füllte plötzlich den Türrahmen aus. »Der Doktor ist jetzt für Sie da«, verkündete sie und trat einen Schritt zur Seite. Und den Raum betrat ein hochgewachsener Mann in einem schwarzen Arztkittel, der die Maske einer wahnsinnigen, lachenden Putte vor dem Gesicht trug. Ynez begann zu schreien. »Was geht hier vor?«, wollte Jorge wissen. »Was zum Teufel soll das?« »Halt die Fresse!«, herrschte ihn der Arzt unter der Maske an. Seine Stimme war hoch und schrill. Das ist die Stimme von einem dieser Clowns, dachte Jorge, und die bloße Vorstellung jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Er packte Ynez am Arm und half ihr, sich aufzusetzen. »Komm, wir verschwinden hier. Wir gehen in ein anderes Krankenhaus.« »Sie werden nirgendwo hingehen!«, widersprach der Doktor. Irgendwie, während Jorge nicht aufgepasst hatte, waren zwei stämmige Pfleger ins Zimmer gekommen, doch sie trugen weder die Kleidung von Pflegern noch Arztkittel, sondern lange Mäntel und altmodische Hüte mit breiter Krempe. Der Schädel mit der Maske nickte, und die beiden packten Jorges Arme und hielten ihn fest. »Loslassen!«, rief er. »Stellt ihn ruhig«, sagte der Arzt mit seiner irren Stimme. »Er ist hysterisch.« Mit einem Ruck wurde Jorges Ärmel hochgeschoben. Er spürte die Feuchtigkeit von Alkohol auf der Haut ... und dann den Schmerz einer Nadel im Unterarm. Die drei Krankenschwestern kamen wieder ins Zimmer, und die Hagere machte sich daran, eine Reihe bedrohlich aussehender medizinischer Instrumente auf ein Metalltablett am Fußende des Bettes zu legen. Ynez schrie und wollte fliehen, versuchte instinktiv, ihr noch ungeborenes Baby zu schützen. Die beiden übergewichtigen Schwestern packten sie und schnallten sie am Bett fest, während der maskierte Arzt Ynez' Beine spreizte und in Bügeln befestigte. Jorge wollte ihr helfen, wollte sie retten, wollte sie beide aus diesem Krankenhaus des Wahnsinns befreien, diesem grotesken Lachkabinett, doch seine Muskeln waren erschlafft. Hätten die Pfleger ihn nicht festgehalten, er wäre zusammengesunken. Er konnte nicht einmal den Mund bewegen. Aber er konnte sehen. Oh ja, er konnte sehen. Und Stunden später, lange nachdem man ihn auf einem Stuhl abgelegt hatte, der vor dem Bett stand, nachdem Ynez vor Schmerzen das Bewusstsein verloren hatte und nicht mehr schreien konnte, während die Krankenschwestern das Blut fortwischten und die Instrumente wegräumten, kam der Arzt mit einem Bündel auf dem Arm ins Zimmer. Wie betäubt starrte Jorge den blutverschmierten schwarzen Kittel an; dann schaute er zu der Maske mit dem lachenden Puttenmund auf. Der Arzt streckte ihm das Bündel entgegen und zeigte Jorge das Baby, das schrie und trat und mit den Ärmchen wedelte. Blut strömte aus einer klaffenden Wunde zwischen den Beinen, wo dem Kind der Penis abgetrennt worden war. »Es ist ein Mädchen«, sagte der Arzt. 2. Nach der Geburt seines Kindes war Jorge nicht mehr der Alte. Er redete nicht viel über das Kind, und wenn er es doch einmal tat, schwang in seiner Stimme eine ruhelose Trauer mit. Auch Zorn, aber den drückte er nicht aus. Aus Jorge, dem sorglosen, unbeschwerten Spaßvogel, war ein düsterer und gequälter Mann geworden, der nur selten redete, es sei denn, man sprach ihn unmittelbar an - und manchmal schwieg er sogar dann. Es war die größte Schlagzeile in der Zeitung gewesen, und sämtliche lokalen Fernsehsender hatten mehrere Tage lang darüber berichtet. Polizei und Sonderermittler sprachen mit jedem, der mit Jorge und Ynez in Kontakt gekommen sein könnte, verhörten Männer und Frauen aus allen Arbeitsschichten, doch nirgends fand sich eine Spur von »F. Hamlin« - der Krankenschwester, die am Empfang gesessen hatte - noch von den beiden Sanitätern, die Ynez und Jorge zu dem anderen Krankenhaus gefahren hatten. Das Waltzer Community Hospital schien gar nicht zu existieren. Die Behörden fanden keine Aufzeichnungen darüber, und unter den Ärzten gab es niemanden, der von diesem Krankenhaus jemals gehört hatte. Nach und nach veränderte sich deutlich der Tonfall der zahllosen Artikel und Fernsehmeldungen: Aus Empörung wurde zynischer Unglaube - und letztendlich war Jorges Glaubwürdigkeit völlig ruiniert. Gerüchte machten die Runde, es sei nur eine Frage der Zeit, bis Jorge und Ynez wegen der Verstümmelung ihres Neugeborenen und zahlreicher anderer Straftaten vor Gericht gestellt würden. Hunt und Edward glaubten ihren Freunden selbstverständlich. Ebenso Beth, Joel und Stacy. Die meisten anderen Kollegen aus dem Baumbeschnitt waren ebenfalls auf Jorges Seite. Nur Len - der vielleicht ein bisschen zu viel Wert darauf legte, nicht nur Steves Posten, sondern auch dessen Rolle zu übernehmen - ließ sich kein Mitleid anmerken. Eine Woche, nachdem Jorge wieder mit der Arbeit angefangen hatte, erschien er am Morgen nicht im Hof der Landschaftspflegeabteilung. Hunt, der gerade seinen Morgenkaffee trank, wurde über Lautsprecher ausgerufen und zu Len ins Büro bestellt. Jorge sei aus gesundheitlichen Gründen beurlaubt, erklärte Len, und Hunt werde einem anderen Trupp zugeteilt. Bis auf Weiteres werde er mit Mike Flory zusammenarbeiten. Nachdem Edward nun arbeitsunfähig war und Jorge aus gesundheitlichen Gründen beurlaubt, fehlte es an Arbeitskräften, also musste Hunt mit Mikes Drei-Mann-Trupp zusammen zwei Trupps zu zwei Mann bilden. Jorge - aus gesundheitlichen Gründen beurlaubt. Hatte Jorge dafür eine Zusatzversicherung abgeschlossen? Hunt versuchte, seinen Freund anzurufen, doch Jorge schien den Hörer neben die Gabel gelegt zu haben. Als Hunt zum Haus der Marquez fuhr, öffnete ihm dort niemand die Tür. »Lass ihnen einfach ein bisschen Ruhe«, sagte Beth ihm. »Gib ihnen Zeit.« »Ja«, pflichtete Hunt ihr bei. Doch er dachte an Edward, der jetzt im Bett lag, zur Untätigkeit verdammt, und an Jorge, der »aus gesundheitlichen Gründen beurlaubt« war. Zwei sind schon mal erledigt, dachte Hunt. Bleibt noch einer. 3. »Ich warte immer noch darauf, dass das Nächste kommt«, sagte Hunt. »Ich kann mir nicht helfen, aber ich hab das Gefühl, als hätten wir noch richtig Glück gehabt - trotz allem, was bisher passiert ist. Wir sind fast ungeschoren davongekommen.« Joel wusste genau, wie sein Freund sich fühlte. Sie saßen auf der Veranda hinter dem Haus. Die Frauen waren in der Küche, Lilly spielte in ihrem Zimmer ein Videogame, und alle Fenster waren geschlossen, damit Hunt und Joel ein wenig Privatsphäre hatten und sich ungestörter und offener unterhalten konnten, als es ihnen im Innern des Hauses möglich gewesen wäre. »Wir haben Lilly noch gar nichts von dem Baby erzählt«, sagte Joel. Hunt nickte. »Das braucht das Mädchen wirklich nicht zu hören.« »Aber tun wir das Richtige, wenn wir sie vor allem abschirmen, was rings um sie passiert?« Joel seufzte. »Du hast wirklich Glück, dass du dir um so was keine Gedanken machen musst.« Hunt ließ den Blick in die Runde schweifen, vergewisserte sich, dass niemand zu ihnen kam, und fragte mit gesenkter Stimme: »Ist der Vertreter wieder zu euch gekommen? Habt ihr ihn gesehen?« »Gott sei Dank nicht. Er ist nie zu uns nach Hause gekommen, nur zu mir ins Büro. Einmal.« »Vielleicht hat er dich vergessen«, meinte Hunt. »Oder er hat dich einfach übersehen, und vielleicht passiert dir dann nichts.« Das hoffte Joel sehr. Er hatte den gleichen Gedankengang gehabt - auch wenn es sich sonderbar anhörte, wenn er laut ausgesprochen wurde. Nun drehte er sich zur Seite und schaute zu Lillys geschlossenem Fenster hinauf. Sie war diejenige, um die er sich wirklich Sorgen machte. Sie ging regelmäßig zu einem Therapeuten für Trauerarbeit, damit sie Kates Tod besser verwinden konnte. Der Therapeut hatte ihnen bestätigt, dass Lilly sich sehr gut mache; doch zu Hause, bei ihren Eltern, tat das Mädchen immer noch so, als wäre nichts geschehen und alles wäre in bester Ordnung. Sogar im Beisein Hunts verhielt Lilly sich ganz normal - was erfreulich war, denn Joel war überzeugt, dass Hunt nichts mit dem Verbrechen zu tun hatte, das ihm vorgeworfen wurde, und offensichtlich war Lilly derselben Meinung. Das Küchenfenster wurde aufgeschoben. »Essen ist fertig!«, rief Stacy. »Kommt rein und wascht euch die Hände!« Joel winkte. »Okay.« Hunt grinste schief, als sie zum Haus gingen. »Wenn ich eine Versicherungspolice kaufen könnte, um deine Familie zu beschützen und dich aus dem Ganzen herauszuhalten, würde ich es sofort tun.« »Sag so was nicht«, sagte Joel und erschauerte. »Nicht einmal im Scherz.« SIEBZEHN 1. Sirenengeheul weckte ihn mitten in der Nacht. Das Heulen und der Geruch nach Rauch. Hunt schob die Vorhänge zur Seite, schaute aus dem Fenster und sah, wie Flammen aus dem Dach der Bretts nebenan loderten. Er hatte damit gerechnet, dass so etwas irgendwann passieren würde. Er hatte förmlich darauf gewartet. Er hatte gehofft, dass es nicht geschehen würde, aber er hatte es gewusst, dass es so kommen musste. Seit Steve ins Koma gefallen war und der Aufsichtsrat zurücktreten musste, hatte Hunt gewusst, dass die »Gute-Nachbarschafts-Police«, die zu seiner Immobilienversicherung gehörte, die Bretts ruinieren würde. Nein, das stimmte nicht. Nicht seit den Sachen mit Steve und dem Aufsichtsrat. Hunt hatte es in dem Augenblick gewusst, als der Vertreter versprochen hatte, dafür zu sorgen, dass dieser Zusatz in Kraft trat. Warum hatte er dann nichts gesagt? Ein Teil von Hunt wollte Brett auf jeden Fall bestraft wissen, aber das war nur ein winziger Teil von ihm, tief in seinem Innern. Eigentlich hatte Hunt nicht gewollt, dass jemandem etwas wirklich Schlimmes widerfuhr. Nicht diesem Volltrottel Steve, nicht diesem Arschloch Ed Brett. Doch irgendetwas hatte Hunt dazu gebracht, dennoch den Mund zu halten, diese Versicherung zu behalten - ein bohrendes Gefühl in seinem Hinterkopf, das Bedürfnis, so sicher zu sein wie nur irgend möglich, sich zu schützen, indem man sich auf jegliches Unheil gründlich vorbereitete. Es war wie bei den Leuten, die sich tätowieren ließen. Die fingen auch immer nur mit einem einzigen Motiv an, doch schon bald ließen manche sich jeden Quadratzentimeter ihres Körpers tätowieren. Sie konnten einfach nicht anders. In letzter Zeit hatte Hunt sich sogar dabei ertappt, dass er sich unwillentlich immer neue Versicherungsformen ausdachte, die er vielleicht gerne gehabt hätte: eine Barbecue-Versicherung, sodass das Fleisch, wenn er Steaks oder Hähnchen grillte, niemals verbrannte, oder eine Schlaf-Versicherung, damit er nachts gut würde durchschlafen können und jeden Morgen frisch und ausgeruht war, oder eine Foto-Versicherung, die garantierte, dass er immer schöne Schnappschüsse machte. Beth hatte sich in die gleiche Richtung Gedanken gemacht, doch ihre Ideen waren längst nicht so friedfertig. »Ich habe mich schon länger was gefragt«, hatte sie erst gestern plötzlich gesagt - und schon an ihrem Tonfall hatte Hunt gemerkt, dass er eigentlich gar nicht hören wollte, was sie zu sagen hatte. »Was denn?«, fragte er nach. »Betty Grable hat ihre Beine auf eine Million Dollar versichern lassen. Ich glaube, Mary Hart ebenfalls. Und hat Jennifer Lopez sich nicht sogar den Hintern versichern lassen?« Hunt sah schon, wohin dieser Gedankengang führte. Versicherungsabdeckung für einzelne Körperteile. »Ich glaube nicht, dass wir uns Gedanken darüber machen müssen«, sagte er. »Wir haben keine berühmten Körperteile.« Doch innerlich machte er sich Sorgen. Beth lehnte sich zu ihm hinüber, die Stimme immer noch gesenkt, fast nur noch ein Flüstern. »Und was, wenn der zu uns kommt? Was, wenn der uns anbietet, meine Brüste zu versichern?« »Hör auf.« »Du weißt, was dann passieren wird. Ich werde Brustkrebs kriegen. Oder ich werde in einen Unfall verwickelt, und dann ...« »Beth.« Sie packte seine Schultern, und er sah in ihren Augen, dass sie kurz vor einem hysterischen Anfall stand. »Was, wenn er meine Scheide versichern will? Oder deinen Schwanz?« »Meine Fresse!« Er riss sich von ihr los. »Komm wieder zu dir! Wir dürfen jetzt nicht durchdrehen. Wir dürfen nicht zulassen, dass er unser ganzes Leben beherrscht. Wir haben genug echte Probleme, über die wir uns sorgen können, da müssen wir uns nicht noch irgendwelche verrückten neuen Schwierigkeiten ausdenken.« »Ich denke mir keine verrückten neuen Schwierigkeiten aus«, gab Beth zurück. »Ich mache mir nur meine Gedanken. Ich plane voraus, damit wir vorbereitet sind.« Jetzt, wo er so aus dem Fenster starrte, dachte Hunt, dass Beth vielleicht nicht einmal ganz unrecht gehabt hatte. Vielleicht mussten sie tatsächlich versuchen, unkonventionell zu denken, wollten sie sich wirklich auf das vorbereiten, was wohl als Nächstes kam. Während Hunt noch hinüberschaute, hielt vor ihrem Haus ein Feuerwehrwagen. Zwei Feuerwehrleute rannten auf das Haus der Bretts zu, in den Händen einen dicken Schlauch, der mit dem Löschfahrzeug verbunden war; zwei weitere Männer griffen nach einem zweiten Schlauch und schlossen ihn am nächsten Hydranten an. Ein zweiter Feuerwehrwagen stellte sich unmittelbar dahinter. Schräg davor, mitten auf der Straße, hielt ein Rettungsfahrzeug. War von den Bretts jemand verletzt? Hunt hoffte es nicht, auch wenn es verlogen von ihm gewesen wäre, zu behaupten, es täte ihm leid, dass sie ihr Hab und Gut verloren hatten. Es war Hunt vollkommen egal, ob Ed Brett sein Haus und sein Auto verlor - und alles, was er sonst noch besitzen mochte. Dennoch wollte Hunt natürlich nicht, dass jemand verletzt wurde, oder gar ums Leben kam. Wie hat der Brand wohl angefangen?, fragte er sich. Mit falsch verlegten Stromkabeln? Mit einem Kurzschluss in irgendeinem Haushaltsgerät? Hatte Ed Brett im Bett vielleicht geraucht? Hunt war sicher, dass es einen vernünftigen Grund dafür gab, einen erkennbaren und nachvollziehbaren Grund. Gleichzeitig kannte Hunt den wahren Grund für diese Feuersbrunst - und darauf würde kein Polizist kommen, in einer Million Jahre nicht. Die »Gute-Nachbarschafts-Police«. Über sein Kopfkissen hinweg schaute er Beth an, die ebenso wie er schweigend die Szenerie auf der anderen Seite des Schlafzimmerfensters betrachtete. Sie erwiderte seinen Blick. Keiner von ihnen sagte ein Wort. 2. Ich schlitz dir die Kehle auf, du miese alte Schlampe! Beth las den Brief, dann zerriss sie ihn und warf ihn fort. Sie war wütend und verängstigt zugleich. Schon seit einigen Wochen erhielten sie Drohbriefe, auch wenn sie Hunt bis jetzt noch nichts davon gesagt hatte, dass sie derartige Briefe mittlerweile auch auf der Arbeit erhielt. Und die waren noch erschreckender, noch bösartiger. In einem dieser Schreiben hatte man ihr angedroht, sie mit einer Gurke zu vergewaltigen und sie diese Gurke dann essen zu lassen, »damit du mal zu schmecken kriegst, wie es ist, vergewaltigt zu werden«. In einem anderen Brief hatte man ihr versprochen, sie auszuweiden und ihre Eingeweide den Schweinen zum Fraß vorwerfen. Sie dachte an den Brief, den sie gerade eben zerrissen hatte. Er war per Post gekommen, natürlich ohne Absender; er war nicht über die Hauspost zugestellt worden. Dass das Wort »Schlampe« falsch geschrieben war, erschien Beth allerdings sonderbar, und auch wenn sie keine Profilerin war, sondern nur im Fernsehen solche Fälle verfolgte, glaubte sie, dass dieser Fehler ein bewusster Versuch des Briefeschreibers war, sie zu der Vermutung zu verleiten, den Drohbrief habe jemand abgefasst, der weniger gebildet sei. Und das bedeutete, dass es wahrscheinlich einer ihrer Kollegen hier war. All den Briefen lag die Annahme zugrunde, Beth würde Kindesmissbrauch gutheißen und ihm Vorschub leisten, weil sie zu ihrem Ehemann stand. Die Schreiben, die sie zu Hause erreichten, richteten sich fast alle gegen Hunt: In der Mehrzahl waren es Morddrohungen, teilweise mit ziemlich bildhaften Beschreibungen von Folterungen und sexuellen Verstümmelungen. Weder Hunt noch Beth hatten eine Vorstellung, warum diese Briefe jetzt plötzlich eintrafen, doch sie waren sich ziemlich sicher, dass radikale Kinderschutzgruppen sie zum Ziel einer Brief- und E-Mail-Kampagne erkoren hatten. Es würde sie nicht überraschen, wenn sie herausfänden, dass der Versicherungsvertreter oder seine Gesellschaft dahintersteckten. Vielleicht würde man ihnen ja bald eine Postversicherung anbieten ... Und eine E-Mail-Versicherung. Es war erstaunlich, wie rasch ihre Wahrnehmung der Welt sich geändert hatte, wie schnell Hunt und sie sich daran gewöhnt hatten, dass es darin Platz gab für eine allmächtige Versicherungsgesellschaft. Derzeit gab es nur wenig in ihrem Leben, das nicht irgendwie mit Versicherungen zu tun hatte. Edward hatte Hunt gegenüber die Theorie geäußert, ihre derzeitige Technik, immer schneller seltsame und eigentlich ungewollte Versicherungen abzuschließen, hinge mit ihren bisherigen Versicherungsproblemen zusammen. Eine derartige Schlussfolgerung war unvermeidlich, ließ aber eine noch viel ausgedehntere Verschwörung vermuten: nicht nur eine Tretmühle, in die sie aus Versehen hineingeraten waren, sondern eine alles durchdringende Verschwörergruppe von Versicherungen, die sie aufs Korn genommen hatte und versuchte, sie zu rekrutieren. Hunt und Beth hatten die möglichen Implikationen immer wieder durchgekaut - und immer wieder waren sie genau dort geendet, wo sie angefangen hatten: in einem Zustand des Trübsinns und der Hoffnungslosigkeit und unfähig, sich eine Möglichkeit zu überlegen, sich aus dieser Falle zu befreien. Fünf Briefe ohne Absender, mit absichtlich nichtssagenden Druckbuchstaben beschriftet, lagen im Briefkasten, als Beth nach Hause kam. Nur Augenblicke später erreichte auch Hunts Wagen die Auffahrt, und gemeinsam schauten sie die E-Mails durch. Fünfundfünfzig Mails, alle mit so hübschen Betreffzeilen wie »Verrecke!« und »Kinderschänder schmoren in der Hölle«. Hunt löschte die Mails ungeöffnet. Am nächsten Tag wurde Beth gefeuert. Sie hatte damit gerechnet, den Job zu verlieren, seit sie die Arbeitsplatzversicherung abgelehnt hatte, doch das Timing überraschte sie nun doch. An einem Donnerstag? Hätte man sie gefragt - Beth hätte vermutet, es werde an einem Montag oder einem Freitag geschehen. Und auch die Art und Weise der Kündigung war überraschend. Beth betrat ihr Büro und musste feststellen, dass ihr gesamter Privatbesitz aus den Regalen und dem Schreibtisch genommen und in Kisten verpackt worden war, die jetzt fein säuberlich auf ihrem Schreibtisch aufgestapelt waren. Neben den Kisten lag ein versiegelter Briefumschlag, auf den ihr Name aufgedruckt war; darin fand sie ein Kündigungsschreiben und ihren letzten Gehaltsscheck. Das Kündigungsschreiben war von Earl Peters unterschrieben, dem Personalchef von Thompson Industries. Beth beschloss, ihn in seinem Büro aufzusuchen und zu zwingen, ihr die Kündigung geradewegs und persönlich ins Gesicht zu sagen, statt diesen feigen Ausweg zu wählen. Zu verlieren hatte Beth ja nichts. Sie hatte keine Arbeitsplatzversicherung abgeschlossen, also bezweifelte sie, dass irgendeine andere Firma oder irgendein anderes Institut sie einstellen würde, vor allem mit dem schlechten Empfehlungsschreiben, das sie - das wusste Beth genau - von Thompson Industries erhalten würde, trotz jahrelanger Verdienste und ausgezeichneter Arbeit. Ob Beth sich jetzt leise verzog oder mit Glanz und Gloria das Haus verließ: Sie würde sowieso nie wieder einen Job finden, bis sie diese Versicherungsgesellschaft besiegt und dieser ganze Wahnsinn endlich ein Ende hatte. Bis sie diese Versicherungsgesellschaft besiegt hatte? Ja. Beth wusste nicht wie, sie wusste nicht wann, aber ihr wurde klar, dass ihr unausgesprochenes Ziel die Zerstörung dieser Versicherung war. Das war das Ende, das Beth sich vorstellte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie dabei vorgehen sollte - sie war schließlich keine schneidige Heldin in einem Roman -, doch genau das würde letztendlich geschehen, davon war Beth überzeugt. Wenn die Zeit kam und sich eine Gelegenheit bot, würden Hunt und sie handeln, ohne zu zögern. Erneut betrachtete sie das Kündigungsschreiben, sah die hastig dahingeschmierte Unterschrift von Earl J. Peters und sagte sich, dass das jetzt ein guter Zeitpunkt war, ein wenig an ihren Kampftechniken zu feilen. Den Brief in der Hand, verließ sie mit festen Schritten entschlossen ihr Büro. Offensichtlich war die Nachricht bereits allgemein bekannt. Auf dem Flur begegneten ihr kaum unterdrücktes Hohnlächeln und belustigtes Geflüster. Sie hörte, wie irgendein Mann das Wort »Hexe« aussprach; dann hörte sie: »Hure!« Kurz bevor sie den Fahrstuhl erreicht hatte, kam Stacy auf sie zugelaufen. In Tränen aufgelöst, schloss sie Beth in die Arme. »Wie können die das tun? Ich weiß überhaupt nicht, wie ich ohne dich weitermachen soll!« Beth spürte plötzlich, dass auch ihr die Tränen in die Augen zu steigen drohten. Sie löste sich aus der Umarmung ihrer Freundin, wollte nicht weinen, musste ihre Anspannung, ihre Wut aufrechterhalten. »Ich ruf dich nachher an«, sagte sie. »Wir reden heute Abend drüber.« »Aber ...« »Ich kann jetzt nicht.« Beth strich sich vorsichtig mit einem Fingernagel über das Auge. »Ich kann es einfach nicht.« Stacy nickte. Sie verstand. »Wohin gehst du?« »Zum Fettsack rauf.« Ihre Freundin nickte und versuchte, trotz ihrer Tränen ein Lächeln zustande zu bringen. »Mach ihn fertig.« Das tue ich, schwor sich Beth. Das tue ich. Schwungvoll machte Edward seine Übungen. Er lächelte, unterhielt sich und tat sein Bestes, die hübsche kleine Physiotherapeutin zu beeindrucken, die das Krankenhaus zu ihm geschickt hatte. Doch kaum hatte sie ihm wieder ins Bett geholfen, ihm die Spritze verpasst und das Haus verlassen, sank er elendiglich und besiegt auf dem Kissen in sich zusammen. »Erschießt mich doch einfach«, sagte er laut. Er lag auf dem Bett, zu müde, um auch nur den Fernseher anzumachen. Er konnte die unerträglichen Schmerzen seiner zahlreichen Verletzungen spüren, und die ihm verbliebenen Muskeln waren völlig überanstrengt und wund. Einige Sekunden lang schloss Edward die Augen und hoffte, einschlafen zu können, doch es ging ihm zu schlecht, um auch nur zu dösen, und so schlug er die Augen wieder auf. Mit einem tiefen Seufzen spürte er den stechenden Schmerz im Brustkorb. Das würde ein verdammt langer Nachmittag werden. Ungefähr zum millionsten Mal blickte er sich in seinem umfunktionierten Wohnzimmer um. Er war diesen Raum leid, er war seine Möbel leid, er war seine ganze Einrichtung leid! Sobald er wieder auf den Beinen war, würde er das ganze verdammte Haus von Kopf bis Fuß renovieren. Die Dinge sind nicht, was sie zu sein scheinen. Er schloss die Augen wieder. Nein, nicht das jetzt. Die Dinge sind nicht, was sie zu sein scheinen. Dieser Gedanke war ihm in den letzten Wochen immer wieder durch den Kopf gegangen ... und jedes Mal schien er an Gültigkeit zu gewinnen. Die Dinge sind nicht, was sie zu sein scheinen. Edward wusste, dass dieser Gedanke verrückt war, paranoid, und doch wurde er das Gefühl nicht los, etwas an seinem Haus sei anders als früher. Irgendetwas stimmte einfach nicht. Er erinnerte sich daran, einmal eine Geschichte gelesen zu haben, in der mitten in der Nacht sämtliche Besitztümer einer Familie gegen vollkommen identische Gegenstände ausgetauscht worden waren - und genau so fühlte es sich an. Nur ... Nur dass es nicht ganz stimmte. Das hier waren seine Besitztümer, das wusste er, nur kam es ihm so vor, als wären sie irgendwie ... verdorben. Ja. Genau das war es. Natürlich hatte Edward keinen sechsten Sinn, konnte keine Flecken sehen oder riechen oder fühlen, die diese Hut tragenden Schreckgespenster auf seinen Möbeln hinterlassen hätten - auf seiner ganzen Einrichtung. Doch das Filmplakat zu Teufelskerle auf heißen Feuerstühlen an der Wand erschien ihm jetzt regelrecht bösartig, und Edward war überzeugt, dass die Schubladen in seiner Kommode mehr enthielten als nur Kleidung. Er dachte an die Männer, die er im Baum und rings um die Leiter gesehen hatte. Die Zähne. Er erinnerte sich an die Zähne. Edward war dankbar, als Hunt und Joel ihn besuchen kamen. »Wie kommt es eigentlich, dass man in letzter Zeit immer wieder das Wort ›Pferderosshaar‹ hören muss?«, fragte er, als die beiden die Haustür aufschlossen und hereinkamen. »Die bewerben im Fernsehen Bürsten mit echtem ›Pferderosshaar‹! Es gibt Pferdehaar und Rosshaar, aber von Pferderössern habe ich noch nie gehört. Wie kommt man auf so einen Schwachsinn? Meinen die Werbefritzen, das würde besser klingen?« Hunt lachte, während er den Haustürschlüssel wieder unter die Fußmatte schob. »Ich sehe, du nutzt deine Zeit zum Philosophieren.« »Ich kann mir ja nicht den ganzen Tag bloß Daily Soaps ansehen.« Joel ging in die Küche und holte ihnen allen Bier. Eines davon warf er Edward zu. »Wie läuft's mit den Übungen?« Er zuckte mit den Schultern. Oder versuchte es zumindest. »Geht so.« »Irgendwelche Fortschritte?« »Diese ausgesucht hübsche Maus, die sie mir für die Physiotherapie vorbeischicken, behauptet Ja. Aber um ehrlich zu sein, ich merke keine.« »Was meinst du, wie lange es noch dauert, bis du dich wieder alleine bewegen kannst?«, fragte Hunt nach. »Viel zu lange«, seufzte Edward. »Viel zu lange.« Sie sprachen über alles Mögliche. Hunt fasste die neuesten Gerüchte zusammen, die beim Landschaftspflegeamt kursierten, und Edward erzählte, am vorangegangenen Abend habe Jorge noch bei ihm vorbeigeschaut. »Ich hab ihn auch gesehen«, sagte Hunt. »Ist kurz bei uns vorbeigekommen und hat gesagt, dass er nächste Woche wieder zur Arbeit kommt. Gott sei Dank. Ich glaube nicht, dass es gut für ihn ist, den ganzen Tag mit Ynez und dem Baby nur zu Hause zu sitzen und immer nur zu grübeln. Seien wir doch mal ehrlich: Es muss schon hart genug sein, so etwas durchmachen zu müssen, und dann kommen noch all das Gerede und die ganzen Verdächtigungen dazu, und zu guter Letzt droht sogar noch eine ganze Klageflut.« Edward senkte die Stimme. »Habt ihr ... das Baby schon gesehen?« »Nein.« Hunt schüttelte den Kopf. »Ich schätze, er wird ihn ... sie uns zeigen, wenn die beiden so weit sind.« Er zuckte mit den Schultern. »Oder vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht.« »Wir wussten nicht mal, wie wir reagieren sollten«, gab Joel zu. »Sollte man ihm gratulieren oder sein Mitleid ausdrücken? Stacy ist dann auf die Idee gekommen, Hunt ein Paket Windeln für die beiden mitzugeben.« Hunt und Joel blieben noch eine Stunde und versprachen, beim nächsten Mal ihre Frauen mitzubringen. »Bist du ansonsten ordentlich ausgestattet?«, fragte Hunt. »Soll ich mal einkaufen fahren oder so was?« »Heute nicht. In ein paar Tagen vielleicht.« »Na gut. Wir sehen uns später.« »Bis später«, verabschiedete sich auch Joel. Hunt wollte gerade aufbrechen, blieb dann aber stehen. Eine lange Pause folgte. Er schaute Edward an. »War er hier?« Edward wusste genau, von wem sein Freund redete. »Nein«, antwortete er. »Irgendwelche Angebote übers Telefon? Irgendwelche Flugblätter im Briefkasten?« »Noch nicht ... klopf auf Holz!« Hunt nickte, wollte gerade noch etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders und warf Edward ein fast normales Lächeln zu. »Bis später dann.« »Wir sehen uns. Und danke, dass ihr vorbeigekommen seid. Euch beiden.« Edward lauschte, wie sie die Haustür abschlossen, hörte ihre Schritte auf dem Betonboden, das Klappen von Hunts Autotüren, den Motor des Saab und leise Musik aus dem Autoradio. Dann waren seine Freunde fort. Er war ganz allein. Die Dinge sind nicht, was sie zu sein scheinen. Nicht schon wieder. Edward griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Und versuchte, nicht zu seinem Teufelskerle auf heißen Feuerstühlen-Poster zu blicken. ACHTZEHN 1. Es war Sonntagmorgen. Hunt mähte den Rasen, während Beth ihre Rosen beschnitt und im Blumenbeet Unkraut jätete. Jenseits des Rasens standen immer noch die ausgebrannten Überreste des Brett-Hauses, umgeben von roten Bändern, die den Zutritt verwehrten, weil das Haus einsturzgefährdet sei. Beth riss einen langen Streifen Hundszahngras aus dem Boden und warf ihn auf den kleinen Berg Unkraut neben sich. Und der Vertreter trat aus ihrem Haus. Beth hatte rein zufällig in diese Richtung geschaut und sah nun, wie die Haustür sich öffnete und der Versicherungsvertreter auf die Veranda trat, in der Hand seinen Aktenkoffer. Beth stieß einen kurzen Schrei aus, sprang auf und lief instinktiv auf Hunt zu. Das konnte nicht sein! Sie hatten den ganzen Morgen im Haus verbracht, hatten lange geschlafen, ausgiebig gefrühstückt, hatten die Sonntagszeitung gelesen und waren dann, vor nicht einmal zehn Minuten, in den Garten gegangen, um sich dort an die Arbeit zu machen. Es war völlig unmöglich, dass der Mann in der Zwischenzeit in ihr Haus gekommen war. Peinlich berührt, erinnerte Beth sich daran, dass sie und Hunt nach dem Aufwachen miteinander geschlafen hatten, und es war ein für sie untypisch wilder Sex gewesen, bei dem Beth von Hunt lautstark gewisse Perversionen gefordert hatte, von denen sie wirklich nicht wollte, dass jemand davon hörte. Hatte der Vertreter sich die ganze Zeit in ihrem Haus aufgehalten? Hatte er sich irgendwann am Vortag ins Haus geschlichen und die Nacht über irgendwo versteckt - in einem Schrank vielleicht, oder unbemerkt in einer Ecke im Gästezimmer? Die einzige andere Möglichkeit war, dass er innerhalb der letzten Minuten über den Zaun zum Hinterhof gesprungen und dann durch die Küchentür ins Haus gekommen war, während sie beide im Vorgarten beschäftigt gewesen waren. Oder er war einfach nur in ihrem Haus erschienen und dann herausgekommen. Hunt, den ihre panische Reaktion zweifellos alarmiert hatte, schaute vom Rasenmähen auf und sah den Versicherungsvertreter auf der Veranda. Sofort schaltete Hunt den Rasenmäher ab - und dann standen die beiden regungslos auf dem Rasen, während der Vertreter die drei Treppenstufen der Veranda hinunterschritt und fröhlich auf sie zuschlenderte. »Guten Morgen!«, rief er gut gelaunt. »Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe! Das wollte ich nicht!« »Was haben Sie in unserem Haus gemacht?«, fragte Hunt. Der Vertreter machte eine abwehrende Handbewegung. »Ach, machen Sie sich keine Sorgen. Das war nur eine kleine Routineinspektion.« Er trug einen sonderbaren, viktorianisch anmutenden Anzug mit plissierter Hose und einer zugeknöpften Weste, über der die Kette einer Taschenuhr hing. Doch an ihm wirkte dieser sonderbare Aufzug völlig normal. »Was soll das heißen, Inspektion?« Beth fand langsam ihre Fassung wieder. »Das nennt man ja wohl eher widerrechtliches Betreten von Privateigentum.« »Ich muss Sie enttäuschen«, korrigierte der Vertreter sie. »Wenn Sie sich die Police Ihrer Immobilienversicherung einmal genau anschauen - Artikel Fünf, Absatz Zwei, Unterabschnitt A -, werden Sie feststellen, dass Sie jedem Vertreter der Insurance Group gestatten, zu jedem beliebigen Zeitpunkt unangemeldete Inspektionen vorzunehmen, damit besagte Vertreter sich mit eigenen Augen davon überzeugen können, dass Sie sich an die Abmachungen halten, die Sie unterzeichnet haben, und Ihr Haus nicht auf irgendeine Art und Weise so verändern, dass die Police sich auf zusätzliche Ergänzungen auswirken würde, die nicht ausdrücklich zum Zeitpunkt der Unterzeichnung bekannt oder benannt gewesen wären.« Er grinste. »Und ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass Sie diesen Test glänzend bestanden haben.« Hunt tat so, als müsse er etwas an der Drosselklappe des Rasenmähers überprüfen. »Was genau wollen Sie?«, fragte er. »Wir haben heute Morgen ziemlich viel zu tun.« Der Vertreter kicherte lüstern. »Das habe ich schon gehört.« Er war wirklich im Haus gewesen! Beth spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. »Verschwinden Sie!«, sagte sie zornig. »Das werde ich. Aber erst, nachdem ich Ihnen eine Versicherung angeboten habe, die Ihnen durchaus das Leben retten könnte. Ich spreche natürlich von einer Versicherung gegen körperliche Schäden.« Er hatte seinen Aktenkoffer nicht geöffnet, doch plötzlich tauchten zwei Broschüren in seiner bis eben noch leeren rechten Hand auf. »Bitte sehr!« Zögerlich griffen sie nach den Informationsblättern, die er ihnen reichte. »Ich mache mir Sorgen um Sie«, sagte der Vertreter. »Ich mache mir Sorgen um Ihre Sicherheit. Vor allem angesichts der Wahnsinnigen, die Ihnen diese Drohbriefe schicken.« Sie machten sich nicht die Mühe, den Vertreter zu fragen, woher er davon wusste. »Wir haben eine Police für die körperliche Unversehrtheit für Risikopersonen, die genau auf Sie zugeschnitten ist, wie mir scheint. Sie bewahrt Sie vor körperlichen Schäden.« »Was bedeutet das?«, fragte Hunt. Beth kannte die Antwort: Es bedeutete, dass jeder, der ihnen zu schaden versuchte, selbst Schaden nehmen würde. Oder starb. Es war, als könne der Vertreter ihre Gedanken lesen. »Sie können doch unmöglich moralische Bedenken wegen eines Schutzes vor körperlichen Schäden haben.« Er war sichtlich verblüfft. »Das ist eine Sache der Notwehr! Jeder hat das Recht, sich zu schützen.« Er beugte sich vor. »Einige dieser Leute würden Sie umbringen, falls sie die Gelegenheit dazu bekämen. Das sind Eiferer, Fanatiker! Die entsetzlichen Bestrafungen, die sie Ihnen in den Briefen androhen, würden sie nur zu gerne in die Tat umsetzen, ohne mit der Wimper zu zucken.« Beth sah den Ausdruck in den Augen des Vertreters und wusste, dass er nicht bloß wollte, dass sie diese Versicherung abschlossen. Er brauchte diesen Abschluss. Hunt räusperte sich. »Ich ... ich weiß nicht so recht, ob eine derartige Police wirklich das Richtige für uns wäre.« »Die Police wird speziell für Personen in Ihrer doch recht einzigartigen Lage angeboten. Für Sie beide ist sie absolut perfekt. Und wenn ich das hinzufügen darf: Es wird zweifellos verhindern, dass Ihrer Familie etwas extrem Unschönes widerfährt.« Wieder erkannte Beth am Klang seiner Stimme, wie dringend er diesen Abschluss benötigte. Was würde geschehen, wenn sie diese Versicherung nicht abschlössen? Was würde mit dem Vertreter passieren? Würde er entlassen, zurückgestuft, versetzt? Egal was - alles davon wäre gut. »Sie können es sich nicht leisten, dieses einmalige Angebot auszuschlagen. Ihr Leben ist in Gefahr.« »Nein!« Beth schrie es fast und griff nach Hunts Hand. »Keine weiteren Versicherungen. Wir haben genug.« »Sie werden sterben«, sagte der Vertreter, und es war keine Warnung, sondern ein Versprechen. Sein Gesichtsausdruck war finster. Er hat sich verändert, stellte Beth mit einem Mal fest. Sein ganzes Äußeres. Bisher war er ein durchschnittlich aussehender Mann mittlerer Größe gewesen. Jetzt war er stämmiger und wirkte größer, und seine Gesichtszüge waren schärfer geschnitten, härter, grausamer. Auch wenn er immer noch charmant sein konnte, falls es erforderlich war, und sein Lächeln immer noch schmeichlerisch wirkte, schien es doch so, als würde der Vertreter andere Menschen mittlerweile lieber einschüchtern, als sie zu beschwatzen. Der Gedanke war sonderbar, fast albern, doch Beth fragte sich, ob all die Versicherungen, die sie schon bei ihm abgeschlossen hatten, ihn vielleicht in irgendeiner Art und Weise gestärkt hatten. Vielleicht war genau das seine Provision. Vielleicht erhielt er für jede Police, die er verkaufte, von seiner Gesellschaft kein Geld, sondern Kraft und Energie - und diese entzog er den bedauernswerten Männern und Frauen, die von den zunehmenden Forderungen, die mit jeder weiteren Versicherungspolice auf sie zukamen, immer mehr erdrückt wurden. Und die finanziellen Forderungen nahmen immens zu. Beth hatte abgeschätzt - es war wirklich nur eine Schätzung, weil sie noch nicht einmal für alle Policen die Rechnungen erhalten hatten -, dass sie fast fünfhundert Dollar im Monat nur für ihre neuen Versicherungen hinblättern mussten. Das waren sechstausend Dollar im Jahr! Und es wurde immer mehr. »Vielleicht verstehen Sie die Konditionen dieser Police nicht.« Der Vertreter sprach langsam und bedächtig. Bedrohlich, dachte Beth. »Gestatten Sie mir, es Ihnen zu erklären.« Und dort, mitten auf dem Rasen, ging er auf die Details der Versicherung gegen körperliche Schäden ein, zitierte stolz ganze Absätze aus dem Gedächtnis, schien sich zunehmend wohlzufühlen, je länger er sprach, genoss offensichtlich die Gelegenheit, eine seiner schönen Versicherungen anzupreisen. »Und das Beste ist«, schloss er, »die Beiträge sind festgeschrieben. Garantiert. Es wird keine Beitragserhöhungen geben.« Es musste einen Haken geben, doch Beth fiel keiner ein. Sie war zu abgelenkt, zu durcheinander, um sich konzentrieren zu können. Immer noch war sie wütend darüber, dass der Vertreter ihre Privatsphäre missachtet hatte und in ihr Haus eingedrungen war. Das war sicher einer seiner Tricks: Er tauchte zu völlig unpassenden Zeiten auf oder erwischte die Leute in einem unachtsamen Moment, und dann stellte er ihnen ein Ultimatum, sodass sie gar nicht die Zeit hatten, die Konsequenzen und die möglichen Fallstricke der jeweiligen Police zu durchdenken. Erst später wurden ihnen die Auswirkungen ihrer neuen Versicherung klar - und dann war es viel zu spät, noch irgendetwas daran zu ändern. »Lassen Sie mich raten«, sagte Hunt in scharfem Ton. »Das ist ein einmaliges Angebot, und wir müssen uns jetzt sofort entscheiden, ob wir die Versicherung nehmen oder nicht.« »Nein«, erwiderte der Vertreter. »Wenn Sie Zeit brauchen, darüber nachzudenken, dann tun Sie 's.« Auch Hunt schien nach einem Haken zu suchen. »Wir müssen uns nicht sofort entscheiden?« »Ich brauche eine Antwort bis heute Abend«, sagte der Vertreter. »Deshalb könnte ich jetzt gehen und später wiederkommen. Heute Abend, wenn Sie es wünschen. Wir könnten ja einen Termin vereinbaren.« Vor ihrem geistigen Auge sah Beth, wie der Versicherungsvertreter zum vereinbarten Zeitpunkt aus ihrer Dusche kam. Oder ihre abgeschlossene Haustür öffnete und hereinspazierte. Oder aus dem Schrank in ihrem Schlafzimmer trat. Nein, sie wollte den Kerl an diesem Abend nicht sehen, erkannte Beth. Sie wollte ihn an diesem Tag nicht mehr sehen. Wenn sie das hier wirklich durchziehen wollten, konnten sie es genauso gut jetzt gleich hinter sich bringen. »Können Sie uns einen Augenblick Zeit lassen?«, fragte sie. »Aber natürlich!«, erwiderte der Vertreter überschwänglich. »Ich gehe ein bisschen spazieren und schaue mir das Haus Ihrer Nachbarn an.« Er schüttelte den Kopf. »Tss, tss«, sagte er, und Beth war sich nicht sicher, ob sie jemals im Leben jemanden tatsächlich »Tss, Tss« hatte sagen hören. »Zu schade, dass die nicht versichert waren, was? Hätte denen jede Menge Ärger ersparen können.« Er lachte leise. Hunt griff nach Beths Hand, und gemeinsam gingen sie zur anderen Seite des Gartens hinüber. »Was denkst du?«, fragte er leise. »Ich weiß nicht genug, um schon eine Meinung zu haben«, sagte sie mit ebenso gedämpfter Stimme. »Warum denken wir nicht darüber nach und lassen ihn später wiederkommen?« »Er war in unserem Haus«, erinnerte Beth ihn. »Ich will nicht, dass er später wiederkommt.« Sie warf einen Blick über Hunts Schulter und sah, wie der Vertreter sich die Ruinen des Brett-Hauses anschaute, wobei er leicht auf den Fußballen vor und zurück wippte. »Außerdem, seien wir doch mal ehrlich. Haben wir je eine Versicherung abgelehnt, die er uns angeboten hat? Haben wir überhaupt eine Wahl? Es wird genau das passieren, was er sagt, wenn wir uns nicht schützen, das weißt du doch.« »Aber wir sollten es wenigstens überfliegen.« Beide schlugen die Broschüren auf, doch abgesehen von dem Hochglanztitelbild, auf das mit goldener Schrift »Versicherung gegen körperliche Schäden« gedruckt war, enthielten sie nur wenig Informationen. Drei kurze Absätze auf der Innenseite besagten genau das, was der Vertreter ihnen bereits erzählt hatte - nicht mehr, nicht weniger. Hunt seufzte. »Wenn wir sie nicht nehmen, werden wir verletzt oder verwundet - oder wir werden sterben.« Beth nickte zögernd. »Sollen wir sie einfach nehmen?« Sie hörte die Niedergeschlagenheit in Hunts Stimme. »Die Beiträge sind festgeschrieben und garantiert. Wenigstens werden wir uns darum keine Sorgen mehr machen müssen.« »Wir haben uns auch vorher keine Sorgen darum gemacht«, sagte Beth. »Nicht, bis er es angesprochen hat. Das ist doch seine Masche! Er spricht Dinge an, um uns zu beunruhigen, und dann bietet er uns eine Versicherung an, um uns genau in dieser Hinsicht wieder zu beruhigen.« Sie starrte auf den Mann. »Ich hasse ihn«, zischte sie. »Ich wünschte, er würde sterben.« Hunt lächelte schief. »Gibt es dafür keine Versicherung?« »Gäbe es eine, würde ich sie sofort abschließen.« Zusammen gingen sie über den Rasen zum Versicherungsvertreter. »Ich würde die Versicherung nehmen, wenn ich Sie wäre«, riet der Vertreter ihnen, und wieder dachte Beth darüber nach, wie viel kräftiger er wirkte, wie viel größer, seit sie ihn das erste Mal gesehen hatten. Wie würde er wohl aussehen, wenn sie alle nur möglichen Versicherungen bei ihm abgeschlossen hatten? Beth wollte es gar nicht wissen. Aber was, wenn sie sich weigerten, weitere Versicherungen abzuschließen? Wenn sie alle ihre Policen kündigen würden? Würde er dann verschwinden? Sie würden es niemals erfahren, weil sie dann sterben würden, von einem ihrer unsichtbaren Feinde ermordet. Und der Vertreter würde sich einfach jemand anderen suchen - ein anderes Pärchen, eine andere Familie. Und dann würde er denen immer aufdringlicher seine immer persönlicheren Versicherungen verkaufen. Der Vertreter hatte recht. Sie hatten keine andere Wahl. Sie mussten unterschreiben. »Wir nehmen sie«, bestätigte Hunt. Sichtlich zufrieden nickte der Vertreter. »Sie haben die richtige Entscheidung getroffen«, erklärte er ihnen. »Die einzig mögliche Entscheidung, um ehrlich zu sein. Langfristig werden Sie froh sein, diese Versicherung abgeschlossen zu haben, das garantiere ich Ihnen.« Doch Beth bezweifelte stark, dass es so kommen würde. Die drei gingen zur Veranda hinauf, wo der Vertreter seinen Aktenkoffer abgestellt hatte. Beth ließ Hunts Arm los. Mutlos griff Hunt nach dem Klemmbrett, nahm den Stift, den der Vertreter ihm reichte, und unterzeichnete. Beth folgte seinem Beispiel. In diesem Augenblick kam Joel vorgefahren und stellte den Wagen vor dem Haus auf der Straße ab. Beth blickte vom Klemmbrett auf und versuchte, durch die getönten Scheiben des Wagens zu blicken. Sie hoffte inständig, dass Joel nicht Stacy und Lilly mitgebracht hatte. Sie stieß innerlich einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie erkannte, dass Joel tatsächlich allein war. Lilly sollte den Kerl auf keinen Fall zu sehen bekommen; dieses Monstrum hätte es fertiggebracht, mit dem Mädchen zu sprechen. »Hi!« Joel war aus dem Wagen gestiegen und kam jetzt auf die Veranda zu. Er brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was vor sich ging. Als er den Vertreter erkannte, verschwand sein Lächeln, und seine Schritte wurden langsamer. Beth fühlte sich schmutzig; es war ihr peinlich, als hätte man sie bei etwas Beschämendem ertappt. Sie gab dem Vertreter das Klemmbrett zurück. Er nahm es ihr aus der Hand und winkte Joel zu, begrüßte ihn herzlich. »Hallo!«, rief er. »Schön, Sie wiederzusehen, Mr. McCain!« Missmutig verzog Joel das Gesicht, als er die Veranda erreicht hatte. »Was wollen Sie denn hier?«, fragte er herablassend. »Ich verkaufe Ihren guten Freunden eine unserer wertvollen Versicherungen gegen körperliche Schäden - eine der alles abdeckenden Policen für einen ausgedehnten Bereich von Zwischenfällen und Tätigkeiten. Sie sollten auch mal darüber nachdenken, ob Sie für Ihre Familie nicht eine solche Police abschließen wollen, Mr. McCain. Dann schläft es sich nachts besser.« Joels Gesicht wurde sichtlich bleicher. »Bedauerlicherweise muss ich weiter und habe keine Zeit mehr, jetzt mit Ihnen darüber zu sprechen.« Der Vertreter verstaute das Klemmbrett und die Papiere und griff nach seinem Aktenkoffer. »Ich habe heute einen anstrengenden Tag. Ich muss noch meine Lebensversicherungsquote schaffen und werde noch mit fünfzig, sechzig Familien sprechen, ehe dieser Tag um ist.« Er lächelte. »Drücken Sie mir die Daumen.« Die drei schauten ihm schweigend hinterher, als er zum Bürgersteig hinüberging, dann nach rechts abbog und unbeschwert die Straße hinunterspazierte. 2. Hunt erwachte mit einem Gefühl des Unwohlseins. Heute war ein Feiertag, und er musste nicht zur Arbeit, also hätte er eigentlich froh und zufrieden sein können, doch der Himmel war grau, eine geschlossene Wolkendecke lag drückend über der Stadt und presste sich wie eine Bleischicht auf die Welt darunter. Das alles passte zu Hunts Befinden. Vielleicht lag es an den Nachwirkungen eines Traumes, an den er sich nicht mehr erinnern konnte. Oder eine Art sechster Sinn verriet ihm, dass irgendetwas nicht stimmte ... Der Platz neben ihm im Bett war leer und kalt. Beth war schon aufgestanden. Es war ungewöhnlich für sie, ihn nicht zu wecken, und er fragte sich, warum sie ihn hatte weiterschlafen lassen. Noch sonderbarer war, dass im ganzen Haus nichts zu hören war: kein Radio, kein Fernsehen. Auch die Stereoanlage war nicht eingeschaltet, Hunt hörte nicht einmal die Bewegungsgeräusche, die ihm von Beths Frühstücksritual in der Küche nur zu vertraut waren. In Hunt stieg Entsetzen auf. Er schwang sich aus dem Bett, streifte sich eine Hose über und ging in die Küche, in der Beth am Tisch saß und auf die Titelseite der Zeitung starrte. Sie hatte keinen Kaffee gemacht und das Frühstück nicht vorbereitet. Als Hunt hereinkam, schaute sie ihn mit kalkweißem Gesicht an. Ihre Hände zitterten, als sie ihm die Zeitung hinhielt. Die Schlagzeile schrie Hunt entgegen: SCHLIMMSTE NACHT IN DER GESCHICHTE VON TUCSON! 45 TOTE! Hunt wusste genau, warum Beth ihn nicht geweckt hatte, und er wusste jetzt auch, dass dieses undeutliche Gefühl des Entsetzens voll und ganz berechtigt war. Wie betäubt nahm er ihr die Zeitung aus der Hand. Fünfundvierzig Tote in einer Nacht? Muss noch meine Lebensversicherungsquote schaffen. Hunt zweifelte keinen Augenblick daran, dass diese Todesfälle unmittelbar mit dem Besuchsmarathon des Versicherungsvertreters zusammenhingen, bei dem er fünfzig oder sechzig Familien aufsuchen wollte. Doch Hunt war geradezu erschlagen, als ihm bewusst wurde, welche Macht diese Versicherungsgesellschaft wirklich besaß. Fünfundvierzig Menschen in einer einzigen Nacht umzubringen, war nicht bloß ein beeindruckend schwieriges Unterfangen und eine logistische Meisterleistung: Es war schlichtweg unmöglich. Zum ersten Mal verstand Hunt ganz und gar, wie mächtig, fast allwissend ihr Gegner wirklich war. Beeindruckend schwieriges Unterfangen? Logistische Meisterleistung? Er schämte sich, so kalt und nüchtern zu denken, doch die Größenordnung dessen, was hier geschehen sein musste, war so gewaltig, dass Hunt gar nicht anders konnte, als es derart sachlich und leidenschaftslos zu betrachten. Er konnte seine Gedanken nicht auf ein einziges Individuum fokussieren, das ihm vertraut genug gewesen wäre, um echtes Mitgefühl und echte Trauer bei ihm hervorzurufen. Wenn eine Tragödie solche Ausmaße annahm, wurde sie unpersönlich. Dann blieben nur noch Zahlen und Statistiken, keine Namen und Gesichter mehr. Hunt setzte sich zu Beth an den Tisch und las den Zeitungsbericht: In der letzten Nacht, die ein Polizeisprecher als »gewalttätigste in der Geschichte von Tucson« bezeichnet hat, sind fünfunddreißig Männer und zehn Frauen bei anscheinend nicht miteinander in Verbindung stehenden Morden ums Leben gekommen. »So etwas haben wir noch nie erlebt«, erklärte Brad Neth, Polizeichef von Tucson, und fügte hinzu, seine Männer seien durch diese außergewöhnliche hohe Anzahl von Gewaltverbrechen innerhalb von nur acht Stunden bis zum Letzten ausgelastet. Mord mit anschließendem Selbstmord der Täter und häusliche Gewalt sind für die meisten Todesfälle der vergangenen Nacht verantwortlich, wobei drei Frauen und fünfzehn Männer durch ihre Lebensgefährten erstochen, erschossen oder erwürgt wurden. Vier Männer starben durch Selbstmord. Achtzehn Todesfälle sind auf Bandenkriminalität zurückzuführen. Bei sechs Angriffen aus fahrenden Autos kamen im Old-Pueblo-District elf Menschen ums Leben. Bei der Auseinandersetzung zweier rivalisierender Banden, an der polizeilichen Schätzungen zufolge fünfzig bis sechzig Personen beteiligt waren, starben sieben Menschen. Fünf Personen wurden allem Anschein nach Opfer willkürlicher Gewalttaten. Auch wenn konkrete Zahlen bisher nicht vorliegen, ist die Anzahl der Todesopfer Sergeant Wilson zufolge weit höher als in einer durchschnittlichen Nacht in New York, Los Angeles oder Chicago. Die Notaufnahmen der Krankenhäuser von Tucson waren hoffnungslos überlastet. Auf Seite achtundzwanzig ging der Artikel weiter, und Hunt blätterte, um zu Ende zu lesen, doch dann fiel sein Blick auf einen anderen, sehr viel kleineren Artikel auf der gleichen Seite: FRAU STIRBT BEI UNFALL MIT FAHRERFLUCHT. Hunt wusste nicht, was ihn an einem derart unbedeutenden Allerwelts-Artikel interessierte - vielleicht war es gerade die nichtssagende Überschrift -, und so überflog er schnell die beiden Spalten, um zu erfahren, dass kurz nach Sonnenuntergang eine Frau, die in einigen hundert Metern Entfernung zur nächsten Ampel die Congress Avenue zu überqueren versuchte, von einem bisher unidentifizierten schwarzen Lastwagen erfasst wurde und noch an der Unfallstelle starb. Das Fahrzeug hatte unmittelbar darauf den Unfallort verlassen. Plötzlich fühlte sich Hunts Mund sonderbar trocken an. Es war Eileen. Im Artikel wurde sie als »Eileen Marx« bezeichnet - was bedeutete, dass sie wieder ihren Mädchennamen angenommen hatte. Sie ist allein gestorben, dachte Hunt, und das machte es für ihn tragischer als alles andere. So zickig, wie sie in den letzten Monaten auch gewesen sein mochte, so schlimm, wie ihre Beziehung auch geworden war - Hunt konnte sich auch noch an die Zeit erinnern, in der es eine gute Beziehung gewesen war. Er sah vor seinem geistigen Auge noch immer das unschuldige Mädchen aus der Highschool, die ihn gefragt hatte, ob er mit ihr zum Sadie-Hawkins-Dance gehen wolle - und die später schüchtern nachgefragt hatte, ob sie »mehr als nur Freunde« werden würden. Und das Gefühl, das Hunt damals verspürt hatte, erfasste ihn erneut, nach all den Jahren. Beth musste seine Miene gesehen haben. »Was ist denn?« »Eileen«, sagte er. »Meine Exfrau.« Selbst diese Worte klangen irgendwie traurig: Es war die hoffnungslose Beschreibung einer einsamen Frau, die er zum letzten Mal gesehen hatte, als sie gerade alleine in einen Bus stieg. Innerlich fühlte Hunt sich leer; er war viel trauriger, als er jemals erwartet hatte. Zum Teil war es Mitleid mit seiner Exfrau, doch zum Teil litt er tatsächlich auch um seiner selbst willen. Eileens Tod hatte jegliche Verbindung zu Hunts eigener Jugend gekappt, hatte ein für alle Mal die Tür verschlossen, die zurück in diese sorglosen, viel optimistischeren Tage führte. Beth wusste nicht, wie sie reagieren sollte. »Das tut mir leid«, brachte sie schließlich hervor. Doch ihre Stimme verriet den Zwiespalt, in dem sie sich sah, und Hunt griff nach ihrer Hand und drückte sie zärtlich. Noch einmal las er die Allerwelts-Überschrift: FRAU STIRBT BEI UNFALL MIT FAHRERFLUCHT. War das purer Zufall?, fragte Hunt sich. Oder war auch Eileen von diesem Versicherungsvertreter aufgesucht worden? Hatte er auch ihr eine Police angeboten, die sie nicht hätte ablehnen sollen? Alleine schon bei dem Gedanken daran wurde Hunt speiübel. Das Telefon klingelte, und Hunt stand auf, um nach dem Hörer zu greifen; er fürchtete schon halbwegs, es könne der Vertreter sein, der ihnen weitere Versicherungsleistungen anbieten wolle. Doch es war Joel, der sich nicht einmal die Mühe machte, ihn zu begrüßen. »Hast du die Zeitung gelesen?« »Ja«, bestätigte Hunt. »Glaubst du ...?« »Ja.« Einen Augenblick lang schwiegen beide. »Er hat mir eine Versicherung gegen körperliche Schäden angeboten«, sagte Joel leise. »Nimm sie«, riet Hunt ihm. »Ihr habt ein Kind.« »Wie ist das passiert? Wie sind wir da reingeraten?« »Ich weiß es nicht.« »O Gott!«, schrie Beth. Sie riss die Augen auf. »Warte mal«, sagte Hunt nur zu Joel. Dann legte er die Hand auf die Sprechmuschel. »Was ist?« Beth deutete auf die Titelseite der Zeitung - auf ein Foto der Gegend, wo der Bandenkrieg getobt hatte. Bisher hatte Hunt sich nicht die Mühe gemacht, dieses Foto genauer zu betrachten, doch jetzt schaute er hin, drehte die Zeitung so, dass sie für ihn nicht mehr auf dem Kopf stand, und spürte, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Polizeiliches Absperrband sicherte einen Abschnitt der Straße, auf dem zahlreiche Leichen lagen. Zu beiden Seiten des Bildes waren Streifenwagen mit flackernden Warnlichtern und ein Krankenwagen zu erkennen. Im Vordergrund stand eine Menschenmenge. Und rechts neben der Menschenmenge, abgesondert und allein, stand ein Geist. Ihr Geist. Der Geist, den Beth und Hunt im Spiegel des Gästezimmers gesehen hatten. Der Mann mit Hut. Hunts Gedanken überschlugen sich. Vielleicht war es doch kein Geist. Vielleicht war das, was sie im Gästezimmer gesehen hatten, etwas ganz anderes. Edward hatte erzählt, mehrere Männer mit Hüten seien auf ihn zugekommen, hätten die Leiter umstellt und dann die Äste der Bäume auf ihn hinabgeschleudert. »Schlägertypen« hatte Edward sie immer genannt - auch wenn sie alle nur zu genau wussten, dass diese Männer viel mehr waren. Bis zu diesem Augenblick hatte Hunt Edwards Beschreibung dieser Gestalten nicht mit der geisterhaften Erscheinung aus dem Gästezimmer in Verbindung gebracht ... doch allmählich ergab dies alles auf aberwitzige, bizarre Art einen Sinn. Wieder schaute er das Foto in der Zeitung an. Diese Kreaturen schienen immer dann aufzutauchen, wenn Probleme mit Versicherungen zu Tod und Zerstörung führten - wann immer es erforderlich war, deutlich darauf hinzuweisen, was geschehen konnte, wenn man keine Versicherung abschloss oder wenn die vereinbarten Konditionen einer Police eingefordert werden mussten. Hunt zweifelte nicht daran, dass sich irgendwo auf dem Gelände eine dieser Gestalten herumgedrückt hatte, als das Haus der Bretts ausgebrannt war, und er bezweifelte auch nicht, dass der Fahrer des Wagens einen Hut getragen hatte, als Kate Gifford ums Leben gekommen war. Sie alle waren Vertreter der Versicherungen. Echte Versicherungs-Agenten, eher noch agents provocateurs, klassische Lockspitzel. Männer - oder Kreaturen -, die ausgeschickt wurden, auf Geheiß der Gesellschaft hin aktiv zu werden. »Bist du noch da?«, fragte Joel. »Hallo?« Hunt nahm die Hand von der Muschel. »Schau dir das Foto auf der Titelseite an«, sagte er. »Unten rechts.« »Ach du Scheiße!«, stieß Joel hervor. »Als Edward seinen so genannten Unfall hatte, da hat er Männer gesehen, die genau so ausgesehen haben.« Er holte tief Luft. »Beth und ich haben auch einen von denen gesehen. In unserem Gästezimmer. Wir hielten ihn zuerst für einen Geist.« Er erwartete Fragen. Keine Witze, keinen Spott - wie es unter normalen Umständen unweigerlich der Fall gewesen wäre -, sondern ernst gemeinte Fragen. Doch Joel brachte es gar nicht aus der Fassung. »Ich habe einen von denen im College gesehen - da hat er gerade mit der jungen Frau geredet, die mir ins Auto gefahren ist. Und genau so hat Lilly auch den Mann beschrieben, den sie mit Kate gesehen hat.« »Sie hat zusammen mit Kate einen Mann gesehen? Das hast du mir gar nicht erzählt.« Beth spitzte die Ohren. »Man hat dich ja freigelassen, und Kate ... na ja, ich schätze, mich hat die ganze Sache einfach überfordert. Aber es stimmt schon, Lilly hat vielleicht mit eigenen Augen genau diesen Kinderschänder gesehen.« »O Gott.« »Und was machen wir jetzt?« »Ich weiß es nicht«, gab Hunt zu. »Wir müssen doch irgendetwas tun! Sollen wir zur Polizei gehen?« »Womit denn?« Hunt blickte zu Beth hinüber, die noch einmal das Foto anschaute. »Rede mit Stacy«, sagte er. »Ich ruf dich nachher wieder an. Ich leg mir einen Plan zurecht.« In dem Augenblick, als er auflegte, klingelte das Telefon erneut. Jorge. »Hol dir eine Ausgabe des Ledger von heute«, sagte er einfach nur. »Auf der Titelseite ist einer der Pfleger, die mich betäubt haben.« Jorge klang, als wäre er völlig klar im Kopf. Der Zorn hatte die Verzweiflung vertrieben; Hunt hörte die wilde Entschlossenheit in der Stimme seines Freundes, diese Sache bis zum Ende durchzuziehen. Der alte Jorge war wieder da. Hunt sprach über Edward, über Joel und das College, über Lilly, über ihren »Geist« und sagte dann: »Die arbeiten für die Versicherungsgesellschaft.« »Diese Dreckskerle knöpfe ich mir vor. Für das, was die getan haben, bring ich die um. Und wenn ich diesen Versicherungsvertreter wiedersehe ...« »Hast du schon eine Idee, was du tun willst?« »Nein. Du?« »Nein«, gab er zu. »Aber Joel macht auch mit.« »Hast du schon mit Edward gesprochen?« »Nee.« »Das mach ich jetzt gleich. Ich ruf dich wieder an.« Schon war die Leitung tot, und Hunt legte den Hörer auf die Gabel. »So kann es nicht weitergehen«, sagte Beth. »Wir müssen etwas tun. Wir müssen die aufhalten!« Hunt nickte zustimmend. Sie hatten schon zu lange gewartet, hatten nur dagestanden und nichts getan, während zahlreiche Menschen verletzt und sogar umgebracht worden waren. Aber was konnten sie tun? Wie sollten sie gegen etwas ankämpfen, was nach Lust und Laune Unfälle und Festnahmen arrangierte? Was keinerlei Bedenken hatte, Menschen zu töten? Was in der Lage war, in einer Nacht fünfundvierzig ... sechsundvierzig ... Menschen zu ermorden? »Ich gehe ins Bad und zieh mich an«, sagte Beth. »Du duscht, und dann fahren wir zu Joel und Stacy und zerbrechen uns gemeinsam die Köpfe.« »Okay.« Hunt folgte seiner Frau aus der Küche. Beth ging in die Gästetoilette. Hunt wollte sich gerade aus dem Schlafzimmer etwas zum Anziehen holen, als er feststellte, dass die Tür zum Gästezimmer halb offen stand. Sie war aber zu gewesen. Es durchlief ihn eiskalt. Er hörte ein lautes Klopfen, und die Tür zum Gästezimmer schwang ruckartig in den Raum hinein. Jemand hatte sie von innen geöffnet. Der Versicherungsvertreter trat auf den Flur, in der Hand seinen Aktenkoffer. Hunt hatte das gleiche Gefühl in den Eingeweiden wie beim ersten Mal, als der Versicherungsvertreter aufgetaucht war: Abscheu, Ekel, Widerwille, ausgelöst durch Furcht. Der Vertreter trug einen schwarzen Anzug, genau das, was man zu einer Beerdigung anziehen würde. Er war jetzt mindestens fünf Zentimeter größer als Hunt, und viel breitschultriger. Seine Zähne wirkten unnatürlich weiß, als hätte er sie erst kürzlich überkronen lassen. Und sie waren zu groß, als wären übergroße Kronen verwendet worden. Hunt erinnerte sich, wie der Versicherungsvertreter sie dazu gebracht hatte, ihn beim ersten Mal in ihr Haus zu bitten: genau so, wie es, den Legenden zufolge, notwendig war, damit ein Vampir ein Haus betreten konnte. Das hätten sie nicht tun dürfen. Hätten sie ihn nicht hereingelassen, hätte er vielleicht nicht Fuß fassen können und wäre vielleicht weitergezogen. Jetzt konnte dieser Dämon jederzeit in ihrem Haus erscheinen, wann immer er wollte. Vampire. Dämonen. Was genau dieser Vertreter nun wirklich war, entzog sich Hunt immer noch, doch es musste tatsächlich etwas in dieser Richtung sein. Doch es war ein Rätsel, das vielleicht niemals gelöst werden konnte. Wenn Menschen in Romanen oder Filmen in schreckliche Ereignisse verwickelt wurden, die weit über ihren Verstand hinausgingen, zeichneten sich letztendlich immer irgendwelche Erklärungen ab. Durch Nachforschungen oder die Geschwätzigkeit der Bösen selbst erfuhren die Helden letztendlich nicht nur das Wie, sondern auch das Warum und brachten in Erfahrung, was wirklich geschah. Sie erfuhren den Grund für alles - und auch eine Möglichkeit, das Böse zu besiegen. Im wahren Leben jedoch gab es niemanden, der solche Antworten parat hatte. »Guten Morgen!«, grüßte der Vertreter mit geheuchelter Fröhlichkeit und streckte die Hand aus. Seine Handflächen waren völlig glatt; nirgends gab es Falten oder Linien, wie Hunt jetzt erst bemerkte. Und die Fingerknöchel traten sonderbar hervor. Hunt hatte solche Hände schon einmal gesehen - auf einem Gemälde, oder in irgendeinem Film -, doch er konnte sich nicht mehr erinnern. Hunt reagierte nicht auf die dargebotene Hand, doch der Vertreter schien es ihm nicht übel zu nehmen. »Wie herrlich es heute ist«, sagte er und atmete tief durch, als wolle er die gute Luft genießen. »Dass man so einen wundervollen Tag erleben darf!« Aus der Gästetoilette hörte Hunt Beths kurzen, schrillen Aufschrei. »Die musste aber dringend, was?« Der Vertreter grinste. »Ich wette, das reicht für eine ganze Gartenbewässerung.« »Raus«, sagte Hunt nur. Die Tür der Gästetoilette wurde aufgerissen, und Beth kam auf den Flur gestürmt. Sie hatte eine Hose und ein T-Shirt angezogen, und eiskalte Wut stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Raus mit Ihnen!«, schrie sie. »Wir wollen Sie hier nicht haben!« Sie versuchte, den Mann von sich zu stoßen, doch er griff blitzartig nach ihren Händen und bewegte sie auf und ab, wie bei einem bizarren Begrüßungsritual. Sofort wich Beth zurück, als hätte sie in frische Exkremente gegriffen. »Ich bin doch nur aus Gefälligkeit hier«, erklärte er ruhig. »Wie ich Ihrem Gemahl gerade schon sagte, während Sie mit so wenig erwähnenswerten anderen Dingen beschäftigt waren, ist es herrlich, so einen wunderbaren Tag erleben zu dürfen. Und genau deswegen bin ich heute hier, um sicherzustellen, dass Sie tatsächlich auch am Leben bleiben - um Sie vor den Schicksalsschlägen zu bewahren, die diese moderne Welt bereithält. Ich möchte Sie vor all den entsetzlichen Realitäten geschützt wissen, mit denen man sich Tag für Tag auseinandersetzen muss.« Er deutete auf den Flur, der vor ihm lag. »Wollen wir uns nicht in die Küche setzen? Vielleicht eine schöne Tasse Kaffee trinken und uns über das äußerst weitreichende Deckungskonzept der Lebensversicherung unterhalten, die wir anbieten?« Lebensversicherung. Hunt schaute zu Beth hinüber. Jetzt, nachdem sie wussten, was ihnen drohte, hatten sie beide nicht mehr den Mut, den Vertreter einfach aus dem Haus zu werfen ... sechsundvierzig ... und so gingen sie in die Küche zurück, eingeschüchtert und zögerlich. Beide lehnten sich mit dem Rücken an die Küchenspüle, anstatt sich wieder an den Tisch zu setzen. Der Vertreter legte seinen Aktenkoffer auf den Tisch und blieb wartend stehen. Hunt war entschlossen, keine Fragen zu dieser Versicherung zu stellen. Er wollte nur den Vertreter reden lassen. Beth schwieg ebenfalls. »Also gut. Ich werde die Sache dann ins Rollen bringen.« Die Sprache des Vertreters war abgehackt, verärgert. »Ich biete Ihnen eine Lebensversicherung. Ich werde nicht auf Details eingehen, weil Sie offenbar nicht sonderlich interessiert sind an meinen Informationen. Außerdem glaube ich, das Konzept einer Lebensversicherung erklärt sich von selbst.« Er öffnete seinen Aktenkoffer. Dieses Mal holte er keine Broschüren hervor, keine Flugblätter, keinerlei Zugeständnisse an die Gebote und Gesten der Höflichkeit, die in der normalen Welt üblich waren. Stattdessen zog er ein übergroßes Formular hervor, auf dickeres Papier gedruckt, und breitete es auf dem Küchentisch aus. Hunt wollte nicht hinsehen, doch er tat es trotzdem. Er sah Worte und Sätze, so klein gedruckt, dass er bezweifelte, sie ohne Lupe überhaupt lesen zu können. »Dieses Mal«, sagte der Vertreter, »muss ich allerdings leider auf eine sofortige Antwort bestehen.« »Wir müssen doch darüber reden!« »Eine sofortige Antwort!« Er hämmerte auf die Tischplatte. Hunt schaute zu Beth hinüber, die nur unglücklich nickte. »Okay«, sagte er. »Ausgezeichnet, ausgezeichnet.« Jegliche Verstimmung war aus der Stimme des Versicherungsvertreters verschwunden. Jetzt wirkte er nicht mehr pikiert, sondern sprach wieder in der leicht affektierten Art des geübten Verkäufers. »Ich gratuliere Ihnen zu einer richtigen Entscheidung.« In einem Ritual, das Beth und Hunt mittlerweile nur zu vertraut war - was es für sie beide aber nicht weniger abscheulich machte -, reichte er ihnen Stifte, und sie unterzeichneten das Antragsformular. Dann schob der Vertreter es wieder in seinen Aktenkoffer zurück, schloss ihn und stellte ihn auf dem Fußboden ab. Hunt und Beth hatten erwartet, dass er sich jetzt fröhlich oder spöttisch von ihnen verabschieden würde, stattdessen blieb er stehen und schaute schweigend aus dem Fenster. »Kommen Sie doch mal her, Mr. Jackson!«, sagte er schließlich. »Erzählen Sie mir, was Sie dort sehen.« Zögerlich trat Hunt neben den Vertreter und schaute aus dem Fenster zu den Ruinen des Hauses hinüber, in dem die Bretts gewohnt hatten. »Was sehen Sie?« Hunt zuckte mit den Schultern. »Ein ausgebranntes Haus.« »Genau so sähe Ihr Haus aus, wenn ein Terrorist beschließen würde, ein Flugzeug genau in ihr Dach zu steuern, oder wenn ...« Er sprach den Satz nicht zu Ende. »Es ist wirklich eine Schande, dass die gar keine Versicherung hatten«, sagte er dann leise, fast wie zu sich selbst. Es war schon das zweite Mal, dass er so etwas über das Haus der Bretts gesagt hatte, und Hunt kam zu dem Schluss, dass es für den Vertreter zu einer Art fixer Idee geworden sein musste. Hatte er Ed Brett eine Versicherung angeboten und war abgeblitzt? Oder war es einfach nur die Tatsache, dass die Bretts gar keine Versicherungen abgeschlossen hatten, was ihn so wurmte, dass es ihn nicht mehr losließ? Der Vertreter wandte sich wieder Hunt zu und strahlte ihn regelrecht an. »Aber das kann Ihnen ja egal sein. Sie haben eine mehr als ausreichende Deckung, und mit diesem Neuzugang zu Ihrem Leistungskatalog sind Sie vor viel mehr geschützt als der durchschnittliche Versicherungsnehmer.« Er tätschelte Hunt die Schulter, und Hunt musste gegen das instinktive Bedürfnis ankämpfen, sich angewidert vor ihm zurückzuziehen. »Ich bin sehr stolz auf Sie.« Hunt blickte zu Beth hinüber und sah ihren sonderbaren, unergründlichen Gesichtsausdruck. Nervös zog sie sich rücklings an die Küchenspüle zurück. Der Vertreter machte ein paar Schritte und griff nach seinem Aktenkoffer, ehe er zur Küchentür ging. »Es ist mir eine Freude, mit Ihnen ein Geschäft zu machen.« Hunt hätte ihn an liebsten zusammengeschlagen. Er wollte fühlen, wie seine Faust Gesicht und Körper dieses Scheusals traf und die Knochen bersten ließ. Doch er hatte das beunruhigende Gefühl, dass unter dem Fleisch dieses Mannes gar keine Knochen waren, und dass das Fleisch sich nicht wie Fleisch anfühlen würde. Mit einem schnellen Winken war der Vertreter durch die Tür und verschwand. Durchs Küchenfenster blickte Hunt ihm nach, schaute zu, wie er den Pfad hinunterging, zwischen den Ocatillas hindurch, bis er auf den Bürgersteig trat. Hunt war versucht, ihm zu folgen und festzustellen, wohin der Mann ging. Er hatte keine Ahnung, ob der Versicherungsvertreter jeden Weg zu Fuß machte, ob er von einer Limousine mit Fahrer durch die Gegend kutschiert wurde, ob er mit dem eigenen Wagen fuhr oder den Bus nahm. Aus irgendeinem Grund konnte man vom Haus aus nie sehen, welches Verkehrsmittel der Mann benutzte. Das war ein weiteres, unheimliches Rätsel, das diesen Mann umgab. Aber dieses Rätsel konnte Hunt vielleicht sogar lösen. Es war ein Punkt, an dem er ansetzen konnte. Und wieder einmal war Beth mit ihm auf der gleichen Wellenlänge. »Wir sollten ihm folgen«, entschied sie. »Bis du sicher?« Sie nickte. »Ich hab eine Idee.« Beth hatte sich bereits umgezogen, doch Hunt trug noch die gleiche Hose wie am Vortag. Nun liefen beide eilig zum Schrank hinüber, der neben dem Eingang stand. Hunt griff nach einer Jeansjacke und schlüpfte barfuß in seine Stiefel, während Beth Sandalen überstreifte; dann eilten beide hinaus. Am Ende des Blocks bog der Vertreter gerade um die Ecke, und sie beeilten sich. Sie mussten ihm in unauffälliger Entfernung folgen, durften ihn aber nicht aus den Augen verlieren. Auch um die Ecke stand kein Auto, kein Deathmobil mit schwarzen Scheiben, kein gar nichts. Der Vertreter spazierte einfach nur gut gelaunt über den Bürgersteig. Hunt und Beth beobachteten ihn. Folgten ihm. Nach weniger als zwei Häuserblocks bog er in die Einfahrt eines eingeschossigen, weitläufigen Hauses im Ranch-Stil ab und setzte sich auf die kleine Veranda vor der Eingangstür. In diesem Augenblick hätte er seine Verfolger leicht erwischen können, so wenig hatten sie damit gerechnet - doch in dem Moment, als der Vertreter vom Bürgersteig auf das Grundstück abbog, duckten Hunt und Beth sich hinter einen Oleanderstrauch vor dem Nachbarhaus. Dann spähten sie zwischen den dichtbelaubten Zweigen hindurch und schauten zu, wie der Versicherungsvertreter seinen Aktenkoffer abstellte und wartete. Er blieb sitzen, ausdruckslos und reglos. Er starrte ins Nichts wie eine Statue. Hunt hatte noch nie erlebt, dass ein Mensch so still gesessen hätte, und der Anblick erschien ihm widernatürlich und unheimlich. Er befürchtete schon, sie würden nun stundenlang hinter dem Strauch hocken müssen, doch nach knapp fünf Minuten rollte ein roter Range Rover in die Einfahrt, und der Vertreter erhob sich, als wäre dieser Wagen wie erwartet eingetroffen - genauso, wie ein Fahrplan es vorgeschrieben hätte. Plötzlich legte der Fahrer des Range Rover den Rückwärtsgang ein und raste wieder auf die Straße. Durch die Windschutzscheibe sah Hunt das vor Panik verzerrte Gesicht des Fahrers, und er sah auch, wie die Lippen der wild gestikulierenden Frau auf dem Beifahrersitz sich lautlos zu einem Schrei verzogen. Grinsend huschte der Versicherungsvertreter im Laufschritt über den Rasen und auf die Straße, stellte sich geradewegs vor den Geländewagen und versperrte ihm den Weg. »Holen wir 's!«, flüsterte Beth scharf. »Was?« Doch sie war bereits losgelaufen, und bevor Hunt sie aufhalten konnte, drängte Beth sich schon durch den Strauch hindurch und lief über den Rasen des Nachbargrundstücks ... ... auf die Veranda zu, auf der immer noch der Aktenkoffer des Versicherungsvertreters stand. Hunt hatte den verzweifelten Wunsch, Beth zurückzurufen, aber er wagte es nicht, zusätzlich die Aufmerksamkeit auf sie zu lenken, und so blickte er nur immer wieder zwischen der Straße und dem Haus hin und her. Auf der Straße hatte der Versicherungsvertreter mittlerweile in aller Ruhe seine Position verändert, sodass der Geländewagen ihm unmöglich entkommen konnte. Hunt sah, wie Beth auf die Veranda schlich, den Aktenkoffer packte und zu ihm in sein Versteck zurückkam. Dann rannten beide davon, so schnell sie konnten, über die Vorgärten der Nachbarhäuser, und hielten sich vom Bürgersteig fern. Hunt rechnete damit, jeden Moment ein schreckliches Brüllen zu hören und eiskalte Finger um seinen Hals zu spüren, wenn der Vertreter sie einholte - eiskalte Finger, die ihn mühelos hochhoben. Doch nichts geschah. Sie sprangen über eine kleine Hecke und flitzten um einen geparkten Cadillac herum, und dann hatten sie die Ecke des Häuserblocks erreicht und bogen nach rechts in die Elm Street ab. Sie verlangsamten ihre Schritte nicht, bis sie eine weitere Kreuzung erreicht hatten; dann bogen sie nach links ab und waren bald zwei ganze Häuserblocks vom Versicherungsvertreter entfernt. Vor einem kitschigen Haus in Pink und Grau blieben sie stehen und schnappten nach Luft. »Wir haben's geschafft«, sagte Hunt keuchend. »Er hat uns nicht erwischt.« »Aber wohin jetzt?«, fragte Beth. Sie sprach leise, verschwörerisch, als fürchtete sie, man könne sie hören. »Nach Hause können wir nicht. Da wird er als Erstes nach uns suchen. Wenn er sieht, dass sein Aktenkoffer weg ist, wird er vielleicht denken, er hat ihn bei uns vergessen und kommt nachschauen. Vielleicht durchsucht er dann das ganze Haus.« Sie erschauerte. »Oder er lässt das seine Kumpel erledigen.« Hunt dachte fieberhaft nach. »Die Bibliothek«, schlug er vor. »Von dort aus rufen wir alle an und sagen ihnen, dass wir uns da treffen.« Der Dorothy-Pickles-Flügel der Bibliothek war nur drei Häuserblocks entfernt. »Aber heute ist Feiertag. Da wird die Bibliothek nicht offen haben.« »Verdammt!«, stieß Hunt hervor. »Was ist mit Kinko's? Auf der Einkaufsstraße da drüben, gegenüber von Safeway.« Hunt nickte. Das war zwar ein Fußmarsch von einer halben Stunde, aber dort gab es reichlich Sitzplätze und Tische, es war immer geöffnet. Dort würden sie auch von allem, was sie vorfänden, nötigenfalls Fotokopien anfertigen können. Hastig durchwühlte Hunt seine Hosentaschen und fand einen zerknautschten Dollarschein, einen Vierteldollar, ein Zehn-Cent-Stück, einen Fünfer und drei einzelne Pennies. Er nahm Beth den Aktenkoffer ab. »Genauso machen wir 's.« Zügig gingen sie weiter, in der ständigen Angst, plötzlich den Vertreter in mörderischer Wut heranstürmen zu sehen. Doch sie sahen weder ihn noch die gespenstischen Männer mit den Hüten, und eine halbe Stunde später erreichten sie über eine winzige Nebenstraße das Copy-Center. Sie gingen an der langgestreckten Seitenwand des Gebäudes entlang und durch den Eingang. Hunt fand eine kleine, abgetrennte Ecke, in der man stundenweise ins Internet konnte, und legte den Aktenkoffer auf den Tisch. Er wäre nicht überrascht gewesen, hätte er jetzt festgestellt, dass es gar kein richtiger Aktenkoffer war, sondern nur so aussah - und dass nur der Versicherungsvertreter selbst, mit eigenen Händen, mit seinen unmenschlichen Fingern, ihn hätte öffnen können. Doch Koffer und Verschluss schienen völlig normal zu sein. Als Hunt erst das linke Schloss aufschnappen ließ, dann das rechte, öffnete sich der Aktenkoffer sofort und enthüllte ein Fach voller Papiere und Sammelmappen. Sorgfältig gingen Beth und Hunt den Inhalt des Aktenkoffers durch. Obenauf lag der Antrag für die Lebensversicherung, den sie beide vorhin unterzeichnet hatten, und darunter eine Sammelmappe, gekennzeichnet mit ihren Namen. Hunt öffnete sie und schaute schnell den Inhalt durch, fand jedoch nichts Außergewöhnliches, nur einen Computerausdruck mit persönlichen Informationen über sie beide, gefolgt von Kopien ihrer sämtlichen Versicherungspolicen. Unter der Sammelmappe lagen Hochglanz-Broschüren, Blanko-Antragsformulare sowie abgegriffene Versicherungshandbücher, die die Insurance Group nur für den Dienstgebrauch ihrer Mitarbeiter hatte drucken lassen. Hunts Herz klopfte heftig. Zum ersten Mal seit langem sah er einen Hoffnungsschimmer. Er schob die Papiere beiseite und griff nach einem dicken Buch mit der Aufschrift »Versicherungsangebot«. Hunt schlug die erste Seite auf, auf der noch einmal der Buchtitel stand, und blätterte zur nächsten Seite. Dort besagte ein kurzer Absatz, dieses Buch liste die Namen und die IT-Nummern (was immer das sein mochte) sämtlicher Versicherungsleistungen auf, die seitens der Insurance Group angeboten würden. Die Seiten des Buches waren extrem dünn, ähnlich wie bei einer Bibel, und es fiel Hunt schwer, sie eine nach der anderen umzublättern. »Meine Güte!«, sagte er. »Schau dir das an!« Beth rückte näher an ihn heran und stellte dann einen Arm auf, damit Vorbeigehende nicht sofort sehen konnten, was sie hier taten. Es gab Versicherungen gegen alles. Im wahrsten Sinne des Wortes. In fast unlesbar kleiner Schrift hatten sie hier eine alphabetische Liste der Situationen und Ereignisse, der Personen, Orte und Dinge, für die es entsprechende Policen gab. Aberglaube, Aberkennung, Aberation ... Hunt blätterte ziellos das Buch durch. Kontamination ... Orchester ... Teleskop ... Unterführung ... Er schlug die letzte Seite auf. Zulu, Zuñi, Zynophobie. Hunt klappte das Buch zu. Er war wie erschlagen. Eine Versicherung, die einen derart umfangreichen Leistungskatalog anbieten und auch abdecken konnte, musste erschreckend mächtig sein. Aber vielleicht fand sich irgendwo ja etwas, gegen das die Versicherung keinen Schutz bot - eine Achillesferse, die sie würden nutzen können. Hunt legte das Buch neben dem Aktenkoffer auf den Tisch und machte sich daran, die anderen Bücher durchzugehen. Drei Bände weiter unten im Aktenkoffer entdeckte er ein kleinformatiges Handbuch, das einfach nur »The Insurance Group« hieß. Rasch griff Hunt danach und schlug es auf. Es hatte weder einen Index noch ein Inhaltsverzeichnis, doch es schien in Kapitel und Unterkapitel aufgeteilt, deren Überschriften in Fettdruck hervorgehoben waren. Hastig blätterte Hunt die Seiten durch, überflog sie nur, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. Wer sind wir?, fragte die Überschrift. Hunt las den nachfolgenden Abschnitt. Der Versicherungsvertreter hatte gesagt, die Insurance Group sei eine Interessensgemeinschaft verschiedener Versicherungsträger, und hier waren sie endlich allesamt aufgelistet. Hunt hörte, wie Beth scharf die Luft einsog, als sie die Namen sah. »Denen gehört UAI«, sagte sie. »Und der Träger deiner Hausratversicherung, und meine alte Immobilienversicherung und ... einfach alles.« Hunt nickte nur. Er war überrascht, aber nicht schockiert. »Also hatten wir recht«, sagte Beth leise. »Die vielen Probleme, die wir hatten ... alles, was die mit uns angestellt haben, geschah mit der Absicht, uns für diese verrückten Versicherungen der Insurance Group weichzuklopfen. Die ganze Zeit haben die darauf hingearbeitet, uns genau dahin zu lotsen, wo die uns haben wollten.« »Aber warum gerade wir?«, fragte Hunt. »Warum haben die sich gerade uns ausgesucht? Oder war das reiner Zufall? Hast du irgendwas Besonderes gemacht? Oder ich vielleicht? Haben wir in irgendein Kundenprofil gepasst? Oder haben die unsere Namen aufs Geratewohl herausgepickt?« Beth schüttelte den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn. Was können wir denn schon bewirken? Wir sind Nobodys. Warum haben die sich keine Leute ausgesucht, die Macht und Einfluss haben? Den Gouverneur, den Präsidenten, Bill Gates oder Ted Turner? Leute, deren Worte und Handeln Gewicht haben. Wenn die Versicherung diese Leute in ihrer Gewalt hätte, dann hätte sie wirklich Einfluss. Dann könnte sie alles kriegen, was sie will.« »Die können jetzt schon kriegen, was sie wollen«, merkte Hunt an. »Offensichtlich geht es denen um etwas anderes.« Doch was das sein mochte, wussten sie beide nicht, und sie hatten auch nicht das Verlangen, sich in Spekulationen zu ergehen. Rasch schaute Hunt den Rest des Buches durch, versuchte herauszufinden, wer die Insurance Group gegründet hatte und wann. Doch falls sich diese Informationen überhaupt in dem Text befanden, waren sie gut versteckt. Hunt brachte in Erfahrung, dass das Firmenmotto die unsinnige, zugleich aber vielsagende Aussage Versicherung ist alles lautete, und dass die Gesellschaft weltweit fast dreitausend Mitarbeiter hatte. »Was ist denn das?«, fragte Beth plötzlich, als Hunt noch die Seiten umschlug. Sie zog einen gefalteten Bogen vergilbten Papiers aus der unteren Lage des Aktenkoffer-Inhalts und breitete ihn auf der einzigen Stelle des Tisches aus, die noch nicht mit Flugblättern und Formularen bedeckt war. Es war eine Weltkarte; mehrere Regionen waren mit einem »X« markiert; von diesen Punkten aus führten Linien zu handschriftlichen Anmerkungen am Rand. Hunt legte sein Buch zur Seite und ging um den Tisch herum, sodass er sich auf die andere Seite neben Beth setzen konnte. »Sieh mal!«, sagte sie aufgeregt. Doch Hunt hatte es schon bemerkt. Die Markierungen und Anmerkungen befanden sich an den wichtigsten Krisengebieten der Welt, den Unruheherden der letzten fünfzig Jahre: Vietnam, Kambodscha, Bangladesch, dem Mittleren Osten, Angola, dem Kosovo, Afghanistan, Somalia, Irak. Unter der Karte befand sich eine weitere, deutlich ältere. Dort hieß der Iran noch »Persien«, Istanbul war »Konstantinopel«, Thailand war »Siam« und Sri Lanka war »Ceylon«. Diese Karte verschwand fast unter den Markierungen und Linien, den »X« und den Sternchen, und die handschriftlichen Anmerkungen führten über den Rand der Karte hinaus in die blau markierten Ozeane hinein. Hunt sah Namen, die er aus der Geschichte kannte; bedeutende Persönlichkeiten, die an weltverändernden Ereignissen beteiligt gewesen waren und hinter Kriegen und Seuchen, Revolutionen und Attentaten gesteckt hatten. Plötzlich wurde ihm alles klar. Jetzt verstand er, warum diese Karte sich im Aktenkoffer des Versicherungsvertreters befand. Ihr Vertreter war auch der Vertreter dieser mächtigen und berühmten Personen gewesen. Beth war zu demselben Schluss gekommen. »Mein Gott«, stieß sie hervor. Hunt nickte bloß. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er zu lesen, was am Ende einer der mit einem Sternchen gekennzeichneten Linie stand. Das einzige Wort, das er entziffern konnte, lautete »Hannibal«. »Meinst du ...«, Beth schluckte schwer, »meinst du, all diese Kriege und Aufstände haben sich ereignet, weil die Leute keine Versicherungen abgeschlossen hatten?« Genau das hatte Hunt vermutet. Er nickte und leckte sich über die plötzlich trockenen Lippen. »Ja.« »Dieser Mann hat die Weltgeschichte beeinflusst? Er hat Geschichte gemacht?« »Wenn das wirklich er war.« Hunt wollte nicht glauben, dass der Vertreter tatsächlich schon so lange sein Unwesen trieb; wenn das zutraf, musste er steinalt sein. »Vielleicht hat er die Karte von seinem Vorgänger übernommen, und der hatte sie von seinem und so weiter.« »Nein«, widersprach Beth. »Das war er.« Hunt verfolgte auf der Karte eine Linie, die von Rom ausging ... Der Untergang des Römischen Reiches? ... bis zu einer Randnotiz, in der er nur die Worte »Nichteinhaltung des Vertrages« lesen konnte. »Was ist er überhaupt?«, fragte Beth. Die nächsten Worte flüsterte sie: »Vielleicht ist er der Teufel.« »Nein«, sagte Hunt. »Er arbeitet einfach nur für die Versicherung.« »Aber was ist das für ein Unternehmen?« Darauf wusste auch Hunt keine Antwort. Er leerte seine Taschen und reichte Beth das wenige Geld. »Sieh zu, wie weit du damit kommst, und fang an zu kopieren«, sagte er. »Ich rufe Joel, Jorge und Edward an.« Bei allen seinen Freunden war das Telefon besetzt, was Hunt sehr verdächtig fand. Die Angst keimte in ihm auf, sie würden gefoltert oder könnten bereits tot sein, bestraft für sein Fehlverhalten. Vor seinem geistigen Auge sah er den Versicherungsvertreter, der vor Jorge und Ynez auf und ab ging und immer wieder fragte, wo sein Aktenkoffer sei, während einer der dunklen, stämmigen Männer mit den breitkrempigen Hüten ihren verstümmelten Sohn festhielt und mit weiteren Abscheulichkeiten droht. Nein. Das war eine Überreaktion. Hoffte Hunt. Dennoch stellte er seine Versuche ein, die Freunde anzurufen, weil er fürchtete, der Versicherungsvertreter könnte sich melden, falls doch jemand abnahm. Nachdem er sich fünfzig Cents fürs Telefon genommen hatte, blieb ihnen genug Geld, um fünfzehn Seiten zu kopieren. Das war nicht viel, also beschlossen sie, die Karten zu kopieren, wobei sie sie Stück um Stück kopierten, um die ganze Karte in Originalgröße reproduzieren zu können. Dafür brauchten sie zwölf Kopien. Mit den restlichen drei Kopien verkleinerten sie die beiden Karten auf ein einzelnes Blatt. Außerdem hatte Beth einen Eintrag gefunden, bei dem es sich um die Adresse des Büros der Insurance Group in Tucson handeln konnte. Auch diese Seite kopierten sie. Hunt wollte sofort zu diesem Büro fahren und dort mit jemandem sprechen - egal, wen er antraf -, oder wenigstens schon mal das Terrain sondieren. Doch sie hatten kein Auto und kein Geld. Also beschlossen sie, zu ihrem Haus zurückzukehren und sich dort alles Nötige zu besorgen, auch wenn es sehr gefährlich war. »Wir warten erst mal ab und beobachten das Haus«, schlug Beth vor. »Wir können uns auf der anderen Straßenseite verstecken. Oder im Garten der Bretts. Wenn wir nichts Verdächtiges entdecken, geht einer von uns ins Haus und checkt dort alles.« »Ich gehe rein«, erklärte Hunt. Beth lächelte. »Ich hatte gehofft, dass du das sagst.« Auf dem Heimweg waren die Straßen frei; nirgends schlich der Versicherungsvertreter in seinem Totengräberanzug durch die Stadt, und er fuhr auch nicht in einem Firmenwagen durch die Gegend. Als Beth und Hunt sich hinter den Ruinen des Brett-Hauses versteckten und ihr eigenes Haus beobachteten, sahen sie keinerlei Bewegung. Hunt ging zur Hintertür. Er rechnete mit allem - mit dem Versicherungsvertreter, einer zertrümmerten Küche, einem Gespenst im Gästezimmer -, doch im Haus war nichts, und nachdem er in alle Zimmer geschaut, sämtliche Schränke geöffnet und auch die Garage überprüft hatte, winkte er Beth herein. Sie beeilten sich. Hunt zog sich ein Hemd an, dazu Tennisschuhe; dann griff er nach seiner Brieftasche und den Schlüsseln. Beth nahm ihre Handtasche und schlüpfte in Turnschuhe. Um die gestohlenen Gegenstände nicht geradewegs in die Höhle des Löwen zu tragen, verbarg Hunt den Aktenkoffer hinter dem überzähligen Kühlschrank, den sie in der Garage abgestellt hatten, während Beth die Kartenkopien im Haus versteckte. Die beiden am Kopierer verkleinerten Karten nahmen sie mit, ebenso die fotokopierte Adresse. Es war kurz nach elf Uhr. »Fertig?«, fragte Hunt. »Fertig.« Sie brachen auf. 3. Joel saß im Wagen, als sein Handy klingelte. Er hatte gerade beim Circle K vollgetankt, weil er das unbestimmte Gefühl hatte, schon bald Benzin zu brauchen. Drei Stunden waren vergangen, und Hunt hatte ihn nicht zurückgerufen, obwohl er es versprochen hatte. Als Joel dann versucht hatte, ihn anzurufen, war niemand ans Telefon gegangen. Nach dem Massaker der letzten Nacht schossen Joel beängstigende Gedanken durch den Kopf; deshalb hatte er Stacy und Lilly angewiesen, das Haus nicht zu verlassen und nicht ans Telefon zu gehen. Dann war er losgefahren, um zu tanken und anschließend am Haus von Hunt und Beth nachzusehen, ob dort alles in Ordnung war. Nun griff Joel gleich beim ersten Klingeln nach dem Handy. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, und er hatte Mühe, sich aufs Fahren zu konzentrieren. Diese Nummer hatte niemand außer Stacy und Lilly, und beide wussten, dass man sie nur im Notfall benutzen durfte. »Ja?« »Er ist hier!«, flüsterte Stacy atemlos. Plötzlich fiel Joel das Atmen schwer. »Wie?«, fragte er nur, auch wenn er wusste, dass Stacy ihm vielleicht nicht antworten konnte. Stacy flüsterte immer noch: »Ich habe Lilly auf den Hof gelassen, damit sie Basketball spielen kann, und da tauchte dieser Kerl plötzlich auf ...« »Ich hatte dir doch gesagt, niemand soll das Haus verlassen!« »Ich hielt es im Hinterhof für ungefährlich.« Dass seine Frau immer noch flüsterte und seine scharfe Kritik sie nicht dazu brachte, die Stimme zu heben, ließ Joel erkennen, wie ernst die Lage war. »Ich habe sie die ganze Zeit beobachtet. Ich habe mich nur einmal umgedreht, um den Orangensaft aus dem Kühlschrank zu holen, und als ich dann wieder rausschaute, hat er mit ihr geredet ... der Versicherungsvertreter.« Joel hatte das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen. »Ich bin rausgelaufen. Er wollte Lilly eine Personenschadenversicherung aufschwatzen. Wenn sie Basketball oder Fußball spiele, sagte er, könne sie sich verletzen. Deshalb brauche sie den Schutz einer Versicherung.« »Dieser Dreckskerl!« »Er hielt die Police schon in der Hand, als ich die beiden erreichte. Der Kerl hat mich angeschaut und gesagt, Lilly sollte die Versicherung unbedingt abschließen - zu ihrem eigenen Schutz! Natürlich müssten wir beide als Erziehungsberechtigte unterschreiben ...« »Ich bin schon unterwegs!«, rief Joel. »Wenn du nicht in drei Minuten hier bist, will er gehen ...« Selbst bei freier Strecke, und wenn alle Ampeln auf Grün standen, würde Joel zehn Minuten brauchen, um nach Hause zu kommen. »Halte ihn irgendwie auf!«, drängte er. »Biete ihm einen Drink an, oder versuch mit ihm über Versicherungen zu reden! Stell ihm irgendwelche Fragen zu der Police!« »Nein!«, schrie Stacy, und plötzlich klang ihre Stimme, als käme sie von weit weg. »Stacy?«, rief Joel. »Stacy!« Aus der Ferne hörte er ihre Stimme: »Bitte, gehen Sie nicht! Mein Mann ist schon unterwegs! Bitte!« Joel schwenkte nach links, holperte über den Mittelstreifen und wurde fast von einem blauen Mercedes gerammt, der ihn wütend anhupte und mit Mühe auswich. Joel trat das Gaspedal durch und jagte den Boulevard hinunter. Sekunden später hörte er das Heulen von Sirenen hinter sich und sah das Blitzen der Warnlichter, als ein Streifenwagen ihn überholte und stoppte. Am Telefon hörte er nur noch Stacys verzweifeltes Schluchzen. NEUNZEHN 1. »Hier kann es nicht sein.« »Doch, hier ist es.« »Dann hast du eine falsche Adresse.« Beth schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist hier.« Hunt stieg aus dem Auto und starrte über das Dach des Saab hinweg zu der Ruine eines Gebäudes hinüber. Es sah aus, als wäre es bombardiert worden. Nur drei noch teilweise erhaltene Wände waren übrig; die vierte Wand war zu Schutt zerfallen, ebenso wie das Dach. Sie befanden sich in den Randbezirken des Countys, nahe der mexikanischen Grenze, und hatten den Wagen vor einer Bauruine abgestellt, bei der es sich um ein einstiges Lagerhaus zu handeln schien. Es war der einzige Bau in einer ansonsten leeren Sackgasse; das Unkraut und die Sträucher, die wild zwischen den Betontrümmern und Stützstreben wucherten, ließen vermuten, dass das Gebäude schon vor geraumer Zeit aufgegeben worden war. Hunt konnte nicht genau sagen, was den Bau eigentlich zum Einsturz gebracht haben mochte. Nach einem Brandschaden sah es jedenfalls nicht aus. Wären sie jetzt noch in Kalifornien gewesen, hätte Hunt vermutet, ein Erdbeben habe den Schaden verursacht, aber mit einer solchen Naturkatastrophe war in Tucson kaum zu rechnen. Beth war auf der Beifahrerseite bereits ausgestiegen. Nun schloss Hunt den Wagen ab und kam zu ihr auf den Bürgersteig. Skeptisch betrachtete Beth eine Kreidezeichnung auf dem Beton: Ein Kind hatte gehörnte Dämonen und Ungeheuer mit riesigen Zähnen gemalt. Beth schauderte. »Ja, hier sind wir offenbar richtig.« Es war unschwer zu erkennen, dass sich in diesem Bau keine Büroräume mehr befanden; doch Hunt hatte noch immer das Bedürfnis, das halb eingestürzte Gebäude zu betreten und dessen Inneres zu erkunden. Vielleicht ließ sich ja doch irgendetwas in Erfahrung bringen. Schließlich war es die einzige Spur, die sie hatten, die einzige Information über die Insurance Group überhaupt, und Hunt hatte nicht die Absicht, sich diese Gelegenheit entgehen zu lassen. »Wo hast du die Kopien?«, fragte er. »In der Schublade mit meiner Unterwäsche.« Er schaute sie schief an. »Was Besseres ist mir auf die Schnelle nicht eingefallen«, sagte Beth. »Ich dachte, da wären sie in Sicherheit.« »Es sei denn, irgendein Perverser bricht in unser Haus ein.« Sie gingen die lange Auffahrt hinauf, die zu dem eingestürzten Gebäude führte. Die ersten Meter des rissigen Betons waren mit Glassplittern, rostigen Nägeln, Müll und Schutt übersät. Doch ein Stück weiter war die Auffahrt erstaunlicherweise freigeräumt, von Sand und Staub und vereinzelten toten Blättern abgesehen. Als sie näher kamen, schob sich die riesige Ruine vor die Nachmittagssonne und warf einen düsteren Schatten auf den Weg. Es wirkte auf billige Art und Weise symbolisch, verfehlte aber dennoch nicht seine Wirkung. Hunt schauderte, als er und Beth auf einem leicht ansteigenden Pfad, vorbei an abgestorbenen Sträuchern, auf den Eingang des Gebäudes zuschritten. Ein rechteckiger, hellerer Fleck an der Mauer neben der Doppelflügeltür verriet Hunt, dass hier ein Schild gehangen hatte, doch er entdeckte keinen Hinweis darauf, was auf dem Schild gestanden hatte. Die Türen waren längst verschwunden; nur die Überreste eines verbogenen Metallrahmens in der linken Hälfte des Eingangs verrieten noch, dass es diese Türen überhaupt gegeben hatte. Hunt schüttelte ungläubig den Kopf. Hier sollte die Zentrale einer Versicherung untergebracht gewesen sein? Doch nach den Informationen, die sie aus dem Aktenkoffer des Vertreters hatten, war es tatsächlich so. Wohin aber war die Gesellschaft verschwunden? Hatte sie ihren Sitz verlegt? Oder - was noch erschreckender wäre - hatte sie sich aus dem Geschäft zurückgezogen, sodass nur noch dieser Vertreter übrig geblieben war, ein wahnsinniger Fanatiker mit übernatürlichen Kräften, der für eine Firma arbeitete, die gar nicht mehr existierte? »Hier gefällt es mir nicht«, flüsterte Beth. »Es ist unheimlich.« »Mir gefällt's hier auch nicht«, erwiderte Hunt und stellte überrascht fest, dass er ebenfalls flüsterte. »Aber wir müssen uns hier umsehen.« Die Wand vor ihnen stand nur noch teilweise; die gesamte rechte Seite war eingestürzt. Vorsichtig traten sie durch den Eingang. Vor ihnen lag ein hoher Schuttberg, ein unüberwindliches Hindernis für jeden, der das Innere des Gebäudes erkunden wollte. Hauptsächlich waren es Teile des Dachs und der Sparren, gewaltige Metallstreben und daran befestigte Stützen, die in sonderbaren Winkeln aus den Trümmern ragten. Ob es nun zufällig oder beabsichtigt war - jedenfalls führte ein nur undeutlich erkennbarer Pfad durch die Trümmer hindurch, ein schmaler Weg, der sich zwischen den Bergen aus Stahl und Beton hindurchwand. Beth und Hunt folgten dem Weg. Irgendwo neben sich hörten sie das leise Huschen von Ratten. Über ihnen krächzte eine Krähe. Sie kamen an eingestürzten Regalen vorbei, die unter gewaltigen Betontrümmern zusammengebrochen waren, sahen Überreste von Kisten und Kartons, entdeckten sogar das Wrack eines Gabelstaplers - doch nichts von dem, was sie sahen, ließ darauf schließen, dies könne die Zentrale einer Versicherungsgesellschaft gewesen sein. In der Mitte des Gebäudes befand sich eine Betonplatte, so groß wie ein geräumiges Zimmer, und genau im Zentrum dieser Platte war eine Treppe zu sehen, die hinunter in die Dunkelheit führte. Beth und Hunt gingen darauf zu, blieben neben der Treppe stehen, fassten einander bei den Händen und spähten in die Finsternis hinab. Die Luft, die aus dem Treppenaufgang emporstieg, war kalt und feucht; sie roch nach Mehltau und verrottenden Pflanzen. Hunt wusste, dass er die Treppe hinuntersteigen musste, wollte er mehr erfahren, doch er hatte Angst. Er fühlte sich wie ein Kind, das in eine düstere Gasse gehen musste, kurz nachdem es einen Gruselfilm gesehen hatte. Hunt hatte Angst davor, dem »Schwarzen Mann« zu begegnen - und dieser Vergleich traf viel besser zu, als Hunt lieb war. »Im Wagen liegt eine Taschenlampe«, sagte er. »Ich geh sie holen.« »Und was soll ich solange machen?«, fragte Beth mit einem Anflug von Panik. »Hierbleiben? Kommt überhaupt nicht in die Tüte! Ich komme mit.« »Ich glaube, du wartest lieber im Wagen«, entgegnete er. »Nur für den Fall.« »Nein, wir gehen da gemeinsam runter.« »Und wenn etwas passiert? Nein, es ist besser, wir machen eine Zeit ab - eine Stunde oder so. Wenn ich bis dahin nicht zurück bin, fährst du los und holst Hilfe!« Beth legte die Stirn in Falten. »Was redest du für einen Unsinn? Wir stecken beide in dieser Sache, und wir gehen beide da runter.« »Aber ...« »Kein Aber. Vier Augen sehen mehr als zwei, und ich werde hier ganz bestimmt nicht die Jungfer spielen, die sich immer schön aus allen Gefahren heraushält, während der Held alleine loszieht.« »Und wenn doch etwas passiert?« »Wir werden sehen. Außerdem habe ich mein Handy dabei. Und jetzt lass uns gehen. Hier verschwenden wir doch nur Zeit.« Hunt musste zugeben, dass er erleichtert war. Er hatte wirklich nicht alleine dort hinuntergehen wollen. Gemeinsam gingen sie zurück zum Wagen, holten die Taschenlampe und zwei Schraubenzieher - notfalls konnte man die immer noch als Waffe benutzen -, kehrten in das zerstörte Gebäude zurück und gingen zu der Treppe, die in die Grube führte. Die Grube. Genau so dachte Hunt darüber. Die Grube. Als würden sie in die Hölle selbst hinuntersteigen. Hunt betete, dass er nur das Opfer einer überaktiven Phantasie sei. Er ging voran, die Taschenlampe in der Hand. Hier unten war es spürbar kälter, und der widerliche Geruch wurde immer stärker. Hunt musste an überreife Pilze oder verfaulte Kartoffeln denken. Die Treppenstufen waren aus Beton, doch die Seitenwände bestanden aus nacktem Erdreich, das so fest zusammengepresst war, dass es wie getrockneter Lehm wirkte. Die Stufen führten längst nicht so tief hinab, wie Hunt erwartet hatte; die Dunkelheit hatte ihn getäuscht und ihm vorgegaukelt, es ginge viel tiefer, als es tatsächlich der Fall war. Sie waren vielleicht ein Stockwerk hinabgestiegen, als die Stufen plötzlich endeten. Hunt und Beth standen in einem leeren Raum, ungefähr so groß wie die Betonplatte über ihnen. Natürlich, dachte Hunt. Ein Keller. Es war dumm gewesen, etwas anderes zu erwarten. Er hatte sich von seiner Phantasie ins Bockshorn jagen lassen. Ein zweites Mal ließ er den Schein der Taschenlampe durch den Raum wandern. Es war kein Keller, wie man ihn unterhalb eines Lagerhauses erwarten würde. Es war eher wie der Vorratskeller eines Privathauses. Die Decke war aus Beton, doch Wände und Boden bestanden aus dem gleichen, dicht gepackten Erdreich wie die Seitenwände des Treppenaufgangs. Der Lichtkegel der Taschenlampe fiel auf das bröckelnde Material, auf die kleinen Steinchen, die darin zu erkennen waren, eine herausragende Wurzel und ... eine Holztür. Neben sich hörte Hunt, wie Beth scharf Luft holte. Die Tür war eben noch nicht da gewesen; eben hatte es dort nur die glatte Fläche des lehmartigen Erdreichs gegeben. Beth griff nach Hunts Arm, klammerte sich fest. »Meinst du, wir sollten da reingehen?« »Ja«, sagte Hunt. »Auch wenn ich nicht behaupten kann, dass diese Aussicht mich begeistert.« Sie traten näher. Im gelblichen Schein der Taschenlampe konnten sie abblätternde grüne Farbe erkennen. Und genau in der Mitte der Tür, kaum erkennbar, sahen sie die matten Umrisse dreier Buchstaben: TIG The Insurance Group. Sie hatten es gefunden. Hunt wusste nicht, ob er sich freuen oder es bedauern sollte. Er wäre zuversichtlicher gewesen, hätten sie diese Tür in einem Gebäude auf der Oberfläche entdeckt. Dass er sich jetzt unter der Erde befand, sorgte dafür, dass er sich äußerst unwohl fühlte - und aus irgendeinem Grund auch viel verwundbarer. Doch sie hatten keine andere Wahl: Sie waren hierhergekommen, um herauszufinden, was sie gegen den Versicherungsvertreter und dessen Gesellschaft unternehmen konnten, deshalb mussten sie durch diese Tür. »Kommst du?«, fragte er. Er spürte Beths Nicken mehr, als dass er es sah. Ein kalter Luftzug strömte durch die Schlitze rings um die Tür, eine Kälte, die auch in den Keller vordrang, in dem sie sich gerade befanden. Doch in den Räumen hinter der Tür musste es bedeutend kälter sein. Hunt nahm alle Kraft zusammen, umklammerte Taschenlampe und Schraubenzieher fester und ging voran. Beth ließ seinen Ärmel los und packte sein Handgelenk. Hunt öffnete die Tür - und taumelte würgend zurück, als ihm ein scheußlicher Pesthauch entgegenschlug. Von hier also kam der Gestank, und so nahe an seiner Quelle war er schier übermächtig. Beth hustete und ließ Hunts Handgelenk los, damit sie sich die Nase zuhalten konnte. »Was mag das sein?«, fragte sie, und ihre Stimme klang erstickt und kraftlos. »Ein totes Tier?« Hunts Phantasie war weniger prosaisch gewesen. Er hatte an schleimige Kreaturen gedacht, die noch nie das Tageslicht erblickt hatten, an entsetzliche, weißhäutige Mutanten, die unter der Erde lebten und sich von Wurzeln und verrottendem Material ernährten und sich nur manchmal an die Oberfläche wagten, wo sie sich dann verwandelten ... in Versicherungsvertreter. Doch jetzt, da Beth den anderen Gedanken aufgeworfen hatte, kam er Hunt zwingend logisch vor, und es erschien ihm wahrscheinlich, dass hier irgendwo ein verwesender Kadaver lag - oder ein Leichnam. Vorsichtig nahm er die Hand von der Nase. Der Geruch war jetzt weniger grässlich als noch vor wenigen Sekunden. Entweder gewöhnte Hunt sich bereits daran, oder die übelriechende Wolke hatte sich inzwischen mit der Luft von draußen vermischt und sich dabei verteilt. Was immer der Grund sein mochte - Hunt stellte fest, dass er sich weiterbewegen konnte, ohne zu würgen, und so richtete er die Taschenlampe nach vorn. Hinter der Tür erstarb der Lichtschein; der Lichtkegel reichte kaum einen halben Meter weit. Was da vor ihnen lag, konnte genauso gut ein Wandschrank sein wie ein ganzes Höhlensystem, das sich meilenweit dahinzog ... oder nach weniger als zwei Metern endete. Hunt spürte, wie Beth sich wieder an ihn drängte. Im matten Schein der Taschenlampe konnte er gerade noch die Umrisse ihres Arms ausmachen. »Gehen wir rein?«, fragte sie. »Ja. Hol tief Luft. Das wird erst mal schlimm, ehe es dann wieder besser wird.« Beide atmeten mehrmals tief ein und flach wieder aus. »Auf drei«, sagte Hunt. »Eins ... zwei ... drei!« Taschenlampe und Schraubenzieher vor sich gestreckt, stürmte Hunt ins Halbdunkel. Ein Licht flammte auf. Sie befanden sich im Büro einer Versicherungsgesellschaft. Hunt blinzelte, damit seine Augen sich schneller an die plötzliche Helligkeit gewöhnten. Der Raum, der vor ihnen lag, sah so völlig anders aus als alles, was Hunt erwartet hatte, und passte so wenig zu der Ruine, die über ihnen lag, und zu dem schmutzigen Keller, aus dem sie gerade kamen, dass Hunts halb betäubtes Hirn einen Moment brauchte, um alles zu erfassen. Sie standen auf einem nüchternen grauen Teppich, wie man ihn oft in Büroräumen vorfindet. Vor ihnen stand ein wuchtiger Schreibtisch, auf dem sich Papiere türmten; dazwischen war ein Computerbildschirm zu erkennen. Hinter dem Schreibtisch befand sich eine ganze Wand voller Regale mit Büchern und zahllosen Ordnern, in denen sich vermutlich Versicherungspolicen befanden. Links von ihnen standen mehrere Aktenschränke aus Metall, und zu ihrer Rechten war ein Sofa für Besucher aufgestellt, über dem Urkunden und Zertifikate hingen. Als hinter ihnen plötzlich ein Geräusch erklang, fuhr Hunt herum. Im Eingang stand der Versicherungsvertreter. Er war groß und muskulös, sein Körper füllte fast den ganzen Eingang aus, und seine Haltung wirkte so bedrohlich wie sein Gesichtsausdruck. Er kam auf sie zu. Gleichzeitig traten Hunt und Beth ein paar Schritte zurück. Der Vertreter lachte, ein tiefes Glucksen, das herzlich und finster zugleich klang. »Kann ich bitte meinen Aktenkoffer wiederhaben?« »Wir ... haben ihn nicht dabei«, stammelte Hunt. »Kommen Sie, kommen Sie! Sie haben ihn gestohlen.« »Er steht zu Hause«, erklärte Beth. »Ich dachte, deswegen wären Sie vorbeigekommen. Um ihn mir zurückzugeben.« Der Vertreter machte eine Handbewegung, als wollte er seine Ärmelaufschläge zurückschieben, und plötzlich hielt er den Aktenkoffer in der Hand. »Ist schon gut. Ich war so frei, ihn selbst zu holen. Die Kopien meiner Karten übrigens auch.« Er lächelte Beth an. »In der Schublade waren sehr hübsche Höschen. Die rochen genau wie Sie.« In der anderen Hand hielt der Vertreter einen von Beths Slips. Er putzte sich damit die Nase; dann warf er ihn achtlos fort. »Kommen wir zum Geschäft.« Er ging an ihnen vorbei, um den Schreibtisch herum und setzte sich. Dann schaltete er den Computer ein. Eine Zeitlang waren nur das angestrengte Keuchen von Hunt und Beth sowie das Klappern der Tastatur zu hören, als der Vertreter darauf tippte. »Ich habe meine Brille nicht dabei«, sagte er schließlich, obwohl Hunt ihn noch nie mit Brille gesehen hatte. »Können Sie mir sagen, wie spät es ist?« Er deutete auf eine Uhr, die neben den Urkunden an der Wand hing. Hunt hatte die Uhr vorher gar nicht bemerkt, doch als er sie nun anschaute, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Das Zifferblatt wies keine Zahlen auf; es gab nur die Cartoon-artige Zeichnung eines Affen-Hinterteils an der Stelle, wo sich die Zwölf hätte befinden müssen, sowie eine Darstellung haariger Hoden anstelle der Sechs. Der einzige Zeiger, den die Uhr hatte, wies auf den Punkt, wo die Drei hätte sein müssen, genau zwischen den beiden Zeichnungen. Halb Affenarsch, viertel vor Ho-den-sack. Der Vertreter lachte. Es war ein erschreckendes, irres Geräusch. Dann stellte er den Computer ab und schwenkte im Sessel zu seinen beiden Besuchern herum. Jetzt verriet seine Miene Zorn und Streitlust. »Also, warum sind Sie hier?«, fragte er. »Was wollen Sie?« Hunt wusste keine Antwort. »Es geht um Versicherungen«, sagte Beth schnell. »Wir glauben, dass Sie uns nicht die Policen anbieten, die wir haben wollen, sondern uns Versicherungen andrehen, die Sie loswerden möchten. Wir sind hierhergekommen, um herauszufinden, ob das stimmt ... und notfalls über Ihren Kopf hinweg Ihre Vorgesetzten über Ihre Unzulänglichkeiten zu informieren.« Die Haltung des Vertreters änderte sich schlagartig. Hunt wusste nicht, was Beth dazu gebracht hatte, so etwas zu sagen und wie sie darauf gekommen war, doch es funktionierte bestens. Der bedrohliche, massige Kerl, der ihnen gerade noch gegenübergestanden hatte, verwandelte sich schlagartig in einen servilen, kriecherischen Lakaien. »Die Aufgabe eines Versicherungsvertreters ist es, die Bedürfnisse seiner Kunden zu ermitteln und dafür zu sorgen, dass die Policen diesen Bedürfnissen auch stets angemessen sind«, sagte er beschwichtigend. »Ich hatte sicherlich niemals die Absicht, auch nur den Eindruck zu erwecken, ich würde Ihnen Versicherungsleistungen aufdrängen. Wer wäre ich denn, Ihnen die Reichweite Ihres individuellen Deckungskonzepts vorzuschreiben? Ich bin nur hier, um Ihnen behilflich zu sein.« Er spreizte die Finger. »Sagen Sie mir nur, für welche Art Police Sie sich interessieren! Was immer es sein mag, ich bin mir sicher, die Insurance Group kann Ihrem Wunsch entsprechen, und ich werde weiterhin in der Lage sein, Ihnen den erstklassigen Service zu bieten, den Sie von mir kennen und erwarten.« Er schien gar nicht zu Beth und Hunt zu sprechen, sondern für irgendeinen unsichtbaren Zuschauer seinen Text herunterzuspulen. Hunt fragte sich, ob jemand anders sie in diesem Moment beobachtete, ob dieser Raum vielleicht überwacht wurde. Aber von wem? Als sie dieses Büro entdeckt hatten, war Hunt gerade zu dem Schluss gekommen, dass es so etwas wie die Insurance Group überhaupt nicht gab, sondern eben nur diesen einen Vertreter, der auf eigene Faust handelte. Doch der Mann schien ernstlich besorgt, wie seine Vorgesetzten auf Beths Kritik an seiner Arbeit reagieren würden. Daraus zog Hunt den Schluss, das es doch eine Versicherungsgesellschaft geben musste - und eben auch Vorgesetzte, denen der Vertreter Rechenschaft ablegen musste. Aber wo waren diese Vorgesetzten? Wer steckte wirklich hinter alledem? Und konnten sie - wer immer sie sein mochten - wirklich in diesem Moment zuschauen, wie sie beide und der Vertreter sich in diesem Büro im Keller eines eingestürzten Gebäudes unterhielten? Hunt hatte genug gesehen, um zu wissen, dass es sehr wohl möglich war, just in diesem Moment beobachtet zu werden - und das bedeutete, dass die Überwachungsmechanismen ebenso gut eine Kristallkugel sein konnten wie irgendwelche High-Tech-Abhöranlagen. Der Versicherungsvertreter hatte mehr als einmal betont, dass die Gesellschaft, für die er tätig war, sehr alt sei - und die Karten und Dokumente, die Beth und Hunt im Aktenkoffer des Mannes entdeckt hatten, schienen das zu bestätigen. Doch nicht zum ersten Mal fragte Hunt sich, wie alt die Insurance Group wirklich sein mochte. Er wusste nicht, wann und wo das Konzept für Versicherungen entstanden war, doch er zweifelte keinen Moment daran, dass die Insurance Group bereits existiert hatte, als es noch gar keine Versicherungen gab. Wie alt war sie? Jahrzehnte? Jahrhunderte? Jahrtausende? Vor seinem geistigen Auge sah Hunt unwillkürlich Fred Feuerstein in seinem Umhang aus Säbelzahntigerfell, der grunzenden Höhlenmenschen Versicherungen verkaufte und die Konditionen der Policen mit einem Faustkeil in eine Steintafel meißelte. Wie alt war der Vertreter? War er unsterblich? Plötzlich überkam Hunt ein schreckliches Gefühl der Mutlosigkeit. Er fühlte sich besiegt und hoffnungslos unterlegen. Wie hatten Beth und er nur glauben können, sie könnten es mit einer Macht aufnehmen, die so alt und mächtig und offensichtlich erfolgreich war? Wer waren sie denn schon? Nobodys! Es würde die größten Geister aus allen Zeitaltern erfordern - und sämtliche Kräfte, die die Regierungen aufbringen konnten -, um dem Treiben dieser Versicherung ein Ende zu machen. Kurz schoss Hunt der lächerliche Gedanke durch den Kopf, er könne ja eine offizielle Beschwerde bei der Bundeskartellbehörde oder irgendeiner anderen Organisation zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs einreichen, sodass die sich dann um die Insurance Group kümmern musste, doch er wusste genau, dass es völlig unmöglich war - selbst wenn es ihm gelänge, jemand dazu zu bringen, dieser ungeheuerlichen Geschichte überhaupt Glauben zu schenken. Der Vertreter sprach immer noch. »Sie werden nirgends einen derart umfassenden Service finden und ein solches Bemühen, Ihre persönlichen Bedürfnisse zu befriedigen, was Versicherungen angeht, wie bei der Insurance Group.« Beth hatte in diesem geradezu manischen Versuch, sich zu verteidigen, offensichtlich einen Hauch von Verzweiflung entdeckt, der Hunt ebenfalls aufgefallen war. »Sie scheinen nicht zu verstehen«, sagte sie jetzt langsam und deutlich, als würde sie mit einem kleinen Kind sprechen. »Wir sind nicht zufrieden damit, wie sie uns betreuen. Da sind wir Besseres gewöhnt, und wir erwarten eine respektvollere Behandlung von unserem«, und nun klang sie geradezu theatralisch geringschätzig, »Versicherungsvertreter.« »Ich bin nur hier, um Ihnen zu Diensten zu sein«, erklärte er Beth und all den anderen, die vielleicht noch zuhörten oder zuschauten. »Mein Ziel ist es, sie vollkommen zufriedenzustellen.« Das war ihre Chance. »Meinen Sie das ernst?«, fragte Hunt. »Natürlich! Sagen Sie mir, was Sie möchten. Schildern Sie mir Ihre Bedürfnisse, und ich werde eine Police finden, die genau darauf zugeschnitten ist.« Hunt schaute den Vertreter an. »Ich hätte gerne eine Lebensversicherung. Ihre Deluxe-Police.« Die Mundwinkel des Vertreters hoben sich. Es war das Grinsen eines Raubtiers. Plötzlich war er wieder ganz der Alte. Er quoll vor Selbstvertrauen geradezu über. Jegliche Spur von Servilität war verschwunden. »Jetzt wird es interessant. Das braucht zwar ganz schöne Beiträge, aber es ist unser ultimatives Rundum-Versicherungspaket.« Er stand auf, ging um den Schreibtisch herum und legte Hunt auf plump-vertrauliche Art den fleischigen Arm um die Schultern. »Ich bin stolz auf dich, mein Junge, und ich kann dir garantieren, dass du mir auf ewig dankbar dafür sein wirst. Auf ewig! Es gibt absolut nichts Vergleichbares, von keinem anderen Anbieter!« Der Arm des Vertreters fühlte sich wie ein gepolstertes Holzscheit an. Und jetzt, wo er ihm so nahe war, glaubte Hunt auch einen Hauch des fauligen Modergestanks von vorhin wahrzunehmen. »Was ist mit Ihnen?« Der Vertreter legte den anderen Arm um Beths Schultern und zog sie zu sich heran. »Sind auch Sie an einer zusätzlichen Versicherung interessiert? Wollen Sie den Rest Ihrer Tage - den Rest der Ewigkeit - mit Ihrem Göttergatten verbringen?« Beth entwand sich ihm, schlüpfte unter seinem Arm hindurch. »Lassen Sie mich bloß aus dieser Sache raus«, sagte sie kalt. Wieder stieß der Versicherungsvertreter das tiefe Glucksen aus, halb herzlich, halb höllisch. Schwer lastete seine große Hand auf Hunts Schlüsselbein. »Tja, dann wohl nur du und ich, hombre.« Du und ich. Der Vertreter selbst hatte diese Lebensversicherung. Die Deluxe-Lebensversicherung. Hunt hatte Angst, zu Beth hinüberzuschauen und sich zu verraten, doch er hoffte, dass es auch ihr nicht entgangen war: Der Vertreter hatte eine Lebensversicherungspolice, die ihn unsterblich machte. Deshalb hatte er so lange im Geschäft sein können. Deshalb hatte er den unzähligen Menschen in all den Ländern Versicherungen verkaufen können. Und deshalb setzte er Hunt und Beth und Gott weiß wen sonst noch so unter Druck. Weil er seine eigenen Beiträge bezahlen musste, die zweifellos unerschwinglich waren. Wenn sie es dem Vertreter doch nur unmöglich machen könnten, die Beiträge zu bezahlen! Wenn sie doch nur ... ... seine Police zerreißen könnten. Das war die Lösung! Plötzlich verspürte Hunt einen Anflug von Überschwang und versuchte sofort, dieses Gefühl hinter einer ausdruckslosen Miene zu verbergen. Jetzt konnten sie tatsächlich etwas unternehmen. Der Versicherungsvertreter hatte eine Schwäche, und sie kannten sie. Jetzt hatten sie die Chance, diesen Hurensohn ein für alle Mal zu erledigen. Noch während der Vertreter Hunt zum Schreibtisch führte, ein Dokument hervorholte und begann, die Konditionen der Versicherungsleistungen zu schildern, arbeitete Hunt an einem Plan, wie sie die Police des Vertreters vernichten konnten. Zuerst mussten sie die wirkliche Hauptgeschäftsstelle der Insurance Group finden, das eigentliche Büro dieser Versicherung. Dann mussten sie dort eindringen, die Police suchen und sie verbrennen. Sobald das Dokument vernichtet wäre, würde der Vertreter ... ja, was? So weit reichte nicht einmal Hunts Phantasie. »Sie werden ewig leben«, versprach der Vertreter. »Diese Police kann nur im gegenseitigen Einvernehmen von Ihnen und der Versicherung gekündigt werden, sie kann nicht einseitig zeitweilig oder auf Dauer aufgehoben oder unwirksam gemacht werden. Nur eine Nichtzahlung der Beiträge kann diese Police vorzeitig unwirksam machen - und das würde zu empfindlichen Strafen führen.« »Welche Strafe könnte schlimmer sein als der Tod?«, erkundigte sich Beth. Die Miene des Vertreters jagte Hunt eine Gänsehaut über den ganzen Leib. »Es gibt viele Strafen, die schlimmer sind als der Tod. Strafen, die noch über den Tod hinaus wirksam sind. Glauben Sie mir, Sie wollen gar nicht wissen, wie die aussehen.« Dann zwinkerte der Vertreter ihr zu und lächelte freundlich. »Falls Sie es doch wissen wollen, lesen Sie das Kleingedruckte Ihrer Police. Da steht alles drin.« »Und wo muss ich unterschreiben?«, fragte Hunt. Der Vertreter drehte das Dokument um und deutete auf eine Linie im unteren Drittel der Seite. »Hier. Datum und Unterschrift.« »Das muss nicht irgendwie mit Blut gemacht werden, oder so?« Der Vertreter lachte, und ausnahmsweise klang es tatsächlich nach echter Belustigung. Er fand diesen Gedanken wohl wirklich lustig. »Nein«, sagte er kichernd. »Nehmen Sie einfach einen Stift. Ihre Unterschrift reicht völlig. Mehr brauchen wir gar nicht.« Hunt griff nach dem Dokument; dann nahm er sich einen Stift aus einem Stifthalter neben dem Computerbildschirm. Nach einem kurzen Blick auf Beth, die fast unmerklich den Kopf schüttelte, als wolle sie sagen: »Tu's nicht!«, setzte er den Stift aufs Papier, unterzeichnete und schrieb das Datum daneben. Hunt war es zuwider, was er tat, doch ihnen blieb keine andere Wahl, wollten sie hier lebend herauskommen. Außerdem - wenn alles glatt lief, würde das hier bald vorbei sein, und sowohl seine Police als auch die des Vertreters würde unwirksam. »Ich würde sagen, wir sind dann hier fertig.« Der Vertreter erhob sich und schüttelte Hunt die Hand. »Danke, dass Sie vorbeigeschaut haben. Aber das nächste Mal«, wieder schien er eher für einen unsichtbaren Zuhörer zu sprechen als für Hunt und Beth, »werde ich doch lieber zu Ihnen kommen, damit Sie nicht den ganzen Weg hierher zu meinem Büro fahren müssen. Wir bieten jedem unsere Kunden eine Rundum-Versorgung und stehen Ihnen jederzeit zur Verfügung. Schließlich ist es unser Ziel, Ihnen den Abschluss von Versicherungen zu vereinfachen, und nicht etwa, es uns selbst bequemer zu machen.« Er wollte gerade hinter seinem Schreibtisch hervorkommen, um sie hinauszubegleiten, doch Hunt und Beth gingen bereits zur Tür. »Wir finden allein hinaus«, verabschiedete Beth sich knapp. »Bis bald!«, rief der Vertreter ihnen hinterher, und dann waren sie durch die Tür und befanden sich wieder im Keller. Ohne ein Wort zu sagen, stiegen sie die Treppe hinauf und gelangten wieder an die Oberfläche. Sie schwiegen, bis sie in ihrem Wagen saßen. In Sicherheit. Oder doch nicht? Hunt wusste nicht, ob sie tatsächlich in Sicherheit waren, doch sie konnten unmöglich ihr eigenes Leben führen, wenn sie davon ausgingen, eine allwissende Versicherung würde sie vierundzwanzig Stunden am Tag beobachten. »Er hat eine Deluxe-Lebensversicherung«, sagte Hunt, als sie die Türen zugeschlagen und verriegelt hatten. »Das hält ihn am Leben.« »Das habe ich auch mitgekriegt. Was können wir dagegen tun? Sollen wir versuchen, das Original seiner Police zu finden und zu vernichten?« Er lächelte. »Dein Plan gefällt mir.« »Ich bin nicht so blöd, wie ich aussehe.« Sie legte die Stirn in Falten. »Aber warum hast du diese Police unterschrieben? Warum hast du nicht ...« »Gewartet? Du kennst doch seine Masche. Mich hätte an Ort und Stelle ein Blitz erschlagen können - einfach nur, um zu zeigen, zu was der Kerl alles fähig ist. Keiner von uns beiden wäre jemals wieder aus dem Büro herausgekommen.« Beth nickte. »Du hast recht.« »Aber jetzt sind wir draußen. Und wir haben die Möglichkeit, die Police zu finden und sie vorzeitig auslaufen zu lassen.« Er ließ den Wagen an, setzte zurück, wendete und fuhr auf den Highway zu. »Aber wohin?« Beth griff unter den Beifahrersitz und lächelte. »Na, dann wollen wir doch mal auf die Karte schauen, was?« »Die Karte? Er hat nicht alle Kopien gekriegt?« »Nur die, die zu Hause waren. Nicht die beiden, die wir mitgenommen haben. Ich glaube, er ist doch nicht so allwissend, wie er glaubt. Zu Hause werden wir die Kopien einscannen, und dann drucken wir ein paar tausend Exemplare.« »Ich liebe dich«, sagte Hunt. »Ich dich auch.« Sie fuhren nach Norden, in Richtung Tucson. 2. Stacy und Lilly saßen wohlbehalten zu Hause und warteten auf Joel, als er endlich eintraf. Er war noch nie ein sonderlich emotionaler Mensch gewesen, doch als er Frau und Tochter in die Arme schloss und fest an sich drückte, wäre er vor Dankbarkeit beinahe in Tränen ausgebrochen. »Ich dachte ...« Er schloss die Augen. »Ich dachte ...« Er brachte es nicht fertig, den Satz zu beenden. »Wir sind hier«, sagte Stacy. »Unversichert, aber hier.« Er lachte, ließ sie los, wischte sich über die Augen. »Der Mann war unheimlich, Dad.« Lilly klang besorgt. »Der hat mich an den Typen erinnert, der bei Kate war. Der Große mit dem Hut.« »Ich weiß, Schätzchen. Aber jetzt ist alles wieder gut.« Aber es war nicht alles wieder gut, und Stacy warf Joel einen Blick zu, den er nicht zu deuten wusste. »Was machen wir jetzt?«, fragte sie. Joel schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich werde versuchen, noch mal Hunt anzurufen, und vielleicht ... Hat er dir seine Karte gegeben?« »Nein«, sagte sie. »Dann werden wir einfach im Haus bleiben, wie eine von diesen ach so glücklichen Familien, die gar nicht mehr vor die Tür gehen, sondern sich nur noch einigeln, sodass wir uns gar nicht erst in Gefahr bringen können, was?« Er sprach von »wir«, doch ihm war klar, dass Stacy genau wusste, von wem hier wirklich die Rede war. Von Lilly. Ihr hatte der Vertreter diese Versicherung angeboten, nicht ihren Eltern. Sie war diejenige, die in Gefahr war. Alle drei zuckten zusammen, als aus dem oberen Stockwerk plötzlich ein donnerndes Dröhnen zu hören war. Lilly brach in Tränen aus. »Was war das?«, fragte Stacy, die Augen vor Angst weit aufgerissen. Joel schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Bleibt hier!« Er schaute sich um, wünschte sich, er hätte eine Waffe griffbereit, doch es gab nichts, was er irgendwie hätte benutzen können, und so rannte er die Treppe hinauf, nahm immer zwei Stufen auf einmal. Sofort sah er, woher der Lärm gekommen war. Er hatte ohnehin keine Zweifel daran gehabt. Die Geräusche kamen aus Lillys Zimmer. Joel lief den kurzen Flur hinunter und durch die Tür. Ein Stück der Decke war eingebrochen. Überall lag Putz: auf dem Fußboden, auf Lillys Schreibtisch, auf dem Bett, auf dem Regal. Ein Brett, einen halben Meter breit und einen Meter lang, offensichtlich Bestandteil der Dachkonstruktion, hatte sich ebenfalls gelöst und war durch die Decke gebrochen. Es war auf dem Bett gelandet, genau dort, wo Lillys Kopf gelegen hätte, wäre sie im Bett gewesen. Das Brett war mit solcher Wucht aufgeschlagen, dass es das Kissen zu Boden geschleudert und ein Loch ins Bettlaken und die Matratze gerissen hatte. Personenschadenversicherung. Durch das Fenster zu seiner Linken sah Joel aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Er trat näher an die Scheibe heran und spähte nach draußen. Im Hof sah er eine dunkle Gestalt, die zwischen dem Haus und dem Zitronenbaum herumschlich. Ein stämmiger Mann mit Hut. »Macht die Fenster zu!«, rief er aus Leibeskräften. »Zieht die Vorhänge vor!« Hastig ließ er die Jalousie vor Lillys Fenster herunter; dann rannte er die Treppe hinunter. Im Wohnzimmer zog Stacy gerade die Vorhänge zu; Lilly stand neben ihr und umklammerte mit beiden Händen fest ihren Gürtel. »Was ist das?«, wollte Stacy wissen. »Was passiert hier?« »Die Decke ist auf Lillys Bett gekracht. Und diese Kerle sind da draußen! Ich habe einen von denen gesehen.« Er lief in die Küche und zog an der Schnur, mit der die Jalousie vor dem Fenster über der Küchenspüle heruntergelassen wurde. Jetzt war im Hof niemand mehr zu sehen, doch Joel wusste genau, dass jedes Gefühl der Sicherheit trügen würde. Plötzlich wurde ihm klar, was für eine Todesfalle ihr Haus war: Lampen konnten auf Lilly herunterstürzen. Der Durchlauferhitzer konnte explodieren. Die alte Zapfsäule im Wohnzimmer konnte umkippen. Die Schallplatten in der Jukebox konnten herausgeschleudert werden und durch die Luft wirbeln wie todbringende Frisbee-Scheiben. Lilly schluchzte. »Ich will nicht sterben!«, jammerte sie. »Ich will nicht sterben!« »Mommy ist ja hier«, tröstete Stacy sie. Joel eilte in sein Arbeitszimmer und zog den Vorhang vor. Er war sich der Bücherregale nur zu bewusst, die umstürzen und eine Neunjährige erschlagen konnten. Dann war alles getan. Das Haus war verriegelt, verschlossen, gesichert. Im Flur trafen sie wieder zusammen. »Wir bleiben hier«, entschied Joel. »Wir gehen nicht raus. Wir halten uns von allem fern, was umfallen oder explodieren oder verbrennen oder sonst wie zu einer Waffe werden kann.« Das Telefon klingelte. »Ich geh schon«, sagte Stacy. »Geh nicht ran!«, herrschte Joel sie an. Stacy warf ihm einen finsteren Blick zu. »Vielleicht gibt er uns ja noch eine Chance!« Sie hatte recht. Joel lief ins Wohnzimmer und griff verzweifelt nach dem Telefon. »Hallo!«, rief er in die Muschel. Es war Beth. 3. Sie trafen sich bei Edward. Beth kümmerte sich um die Logistik, und da Edward nicht nur einen direkten Mordanschlag überlebt, sondern auch schon seit Wochen weder den Versicherungsvertreter noch jemanden von dessen Kohorten gesehen hatte, hielt sie es tatsächlich für möglich, dass er - warum auch immer - in gewisser Weise gegen den Wahnsinn und das Entsetzen immun war, die allen anderen so schrecklich zusetzten. Deshalb hatte sie Edwards Haus zum Treffpunkt erkoren. Sie rief Jorge und Ynez an, dann Joel und Stacy. Jorge ging ans Telefon. Als Beth von ihrem Plan berichtete, sagte er, er werde sofort herüberkommen. »Aber Ynez lässt Martina nicht allein«, fügte er hinzu. »Sie bleibt zu Hause.« »Das verstehe ich«, sagte Beth. Joel war aufgedrehter und wütender, als sie ihn jemals erlebt hatte; so viel Temperament hatte sie ihm überhaupt nicht zugetraut. Doch als er erklärte, was geschehen war, verstand sie ihn. Ein widerliches Gefühl breitete sich in Beths Magengrube aus, als sie daran dachte, dass der Versicherungsvertreter sich Lilly als Ziel ausgesucht hatte. Lilly hatte sie immer »Tante Beth« genannt, seit sie sprechen konnte - und Beth wusste nicht, was sie tun würde, sollte dem Mädchen etwas zustoßen. »Ich bin gleich da«, versprach Joel. »Ich werde nicht einfach hier herumsitzen und warten. Wenn ihr euch den Kerl vornehmen wollt, bin ich dabei.« »Ich lasse meine Tochter nicht allein!«, rief Stacy aus dem hinteren Teil der Wohnung. »Lass sie da«, sagte Beth leise. »Das ist okay so.« Also kamen Jorge und Joel ohne ihre Frauen und Kinder, fast gleichzeitig. Sie versammelten sich am Tisch in Edwards Esszimmer, auf dem Hunt ein Mosaik aus den eingescannten und vergrößerten Kartenausschnitten ausbreitete, die er auf seinem Computer ausgedruckt hatte, ehe sie hierhergefahren waren. Edward selbst war aus dem Bett aufgestanden und mit Hilfe seines Gehgestells ins Esszimmer herübergekommen. Durch das Fenster war zu sehen, wie die Nachmittagssonne in glühenden Farben im Westen versank. Konzentriert betrachteten sie die beiden zusammengesetzten Karten und fürchteten, jeden Moment könne der Versicherungsvertreter durch die Haustür stürmen oder aus irgendeinem anderen Raum kommen, um die Blätter an sich zu raffen. Selbst jetzt beobachtete er sie vielleicht noch. Beth zwang sich, nicht weiter darüber nachzudenken. Nirgends war eine Adresse für die Insurance Group angegeben, doch auf der ältesten Karte gab es eine Reihe geheimnisvoller Linien ohne dazugehörige Pfeile oder Anmerkungen, die allesamt auf den südlichen Teil Mexikos wiesen und fast einen kleinen Kreis mit einem Stern in der Mitte verdeckten. Diesen Kreis sah auch Hunt und tippte mit seinem Stift darauf. »Wenn ich raten müsste«, sagte er, »kommen die genau von dort. Alles scheint sich von dort aus immer weiter ausgebreitet zu haben. Ich wette, da haben die ihren Hauptsitz.« »Oder sie hatten da ihren Hauptsitz«, warf Edward ein. »Die Karte ist ja sehr alt. Was, wenn die umgezogen sind?« »Wir haben nur diese Karte. Kennt jemand sich in Mexiko aus?« Alle blickten auf Jorge. »Ich glaube, das ist Chiapas, aber sicher bin ich mir nicht.« Er wandte sich an Edward. »Hast du einen Atlas auf deinem Computer?« Edward zuckte mit den Schultern. »Keinen blassen Schimmer. Aber ich glaube, da ist ein Programm drauf, das ›Encarta‹ heißt ... 'ne Enzyklopädie oder so.« Die Enzyklopädie war ihnen keine große Hilfe, doch dank eines allgemeinen Eintrags über Mexiko und einer Karte des Landes wussten sie nun wenigstens, dass es tatsächlich um den Bundesstaat Chiapas ging. Sie gingen ins Internet, um weitere Informationen zu finden. Es wäre nachvollziehbarer, überlegte Beth, wenn die Insurance Group ihre Hauptgeschäftsstelle irgendwo in Afrika gehabt hätte, oder im Nahen Osten. Der Wiege der Zivilisation. Doch wäre das der Fall gewesen, wäre auch die Existenz der Insurance Group selbst bekannt gewesen: Sie wäre in uralten Texten erwähnt worden, oder es wären zumindest Gerüchte überliefert, dass es Derartiges gebe. Nein, wenn es der Gesellschaft um Anonymität und Geheimhaltung gegangen war - und das schien der Fall zu sein -, war es tatsächlich das Klügste, ihr Geschäft in den unzugänglichen Dschungeln der Neuen Welt zu eröffnen. Aber wie waren ihre Vertreter ... ihr Vertreter ... damals gereist? In Booten aus Papyrusried? Beth konnte sich nicht vorstellen, wie die Versicherungsvertreter monatelang übers tückische Meer fuhren, schutzlos den Naturgewalten ausgeliefert, um sich über den gesamten Globus auszubreiten und ihre Policen zu verkaufen. Sie mussten irgendeine andere Methode gehabt haben, die weiten Strecken zurückzulegen. Und wie reisten die Vertreter heutzutage? Angenommen, sie müssten in regelmäßigen Abständen bei ihrer Hauptgeschäftsstelle Bericht erstatten - reisten sie dann per Flugzeug? Auch das konnte Beth sich nur schwer vorstellen. Hunt hatte eine detailliertere Karte der Gegend gefunden, die er sofort ausdruckte. Sie alle waren zu dem Ergebnis gekommen, der eingekreiste Stern markiere einen Punkt, der in der Nähe von Tuxtla Gutierrez lag, einem Handels- und Fabrikationszentrum, das zugleich die größte Stadt in Chiapas war. »Fahren wir«, sagte Jorge sofort. Joel nickte. »Dann wollen wir mal einer Versicherungsgesellschaft in den Arsch treten.« Edward verzog das Gesicht und stützte sich auf sein Gehgestell. »In Gedanken bin ich bei euch, Jungs. Aber ich habe wirklich keine Chance, bei der Sache mitzumachen.« Beth schaute zu Hunt hinüber und nickte. Das war ihre einzige Hoffnung. »Also gut«, sagte er. »Auf nach Tuxtla Gutierrez.« ZWANZIG 1. Nachdem sie in Mexico City fast drei Stunden gewartet hatten, in eine einmotorige Cessna umgestiegen waren und einen unruhigen Flug voller Turbulenzen hinter sich gebracht hatten, landeten die vier kurz nach Mitternacht auf dem Flughafen von Tuxtla Gutierrez. Sie waren die einzigen Amerikaner an Bord - die Einzigen, die mutig oder dumm genug waren, während dieser Zeit regionaler Instabilität nach Chiapas zu fliegen. Doch die Flughafenarbeiter auf Nachtschicht verhielten sich ihnen gegenüber freundlich und hilfsbereit. Nachdem sie das Gepäck aus dem Laderaum geholt hatten, fuhren sie mit einem schmutzigen Taxi zu dem Hotel, das sie über ein Online-Reisebüro gebucht hatten. Das Hotel - das erstaunlich sauber war - befand sich genau neben einem Bürogebäude aus Stahl und Glas und gegenüber einem fensterlosen Tongebilde, das geradewegs aus einem präkolumbianischen Jahrhundert hierherbefördert zu sein schien. Joel und Jorge teilten sich ein Zimmer, und da sie beide vom Telefon in der Lobby aus ihre Frauen anrufen wollten, zogen Hunt und Beth sich müde zurück. Hunt stimmte sich mit ihnen noch ab, dass sie sofort geweckt werden sollten, falls sich in den Staaten irgendetwas Sonderbares ereignete. Das Zimmer war adrett, ausgestattet mit einem nicht übermäßig großen Doppelbett, einem Tisch mit drei Stühlen vor dem Fenster und einem Bad mit Waschbecken, Wanne, Toilette und reichlich Seife und Handtüchern. Das Einzige, wodurch sich dieses Hotelzimmer deutlich von einem in den Vereinigten Staaten unterschied, das war das auffällige Fehlen eines Fernsehers. Doch einen Fernseher brauchten Hunt und Beth nun wirklich nicht. Es war ein höllisch langer Tag gewesen, und sie waren erschöpft. Kaum dass sie unter den Decken lagen, waren sie auch schon eingeschlafen. Hunt wurde wach, als Joel gegen die Zimmertür hämmerte. »Aufstehen!«, rief er. »Wir müssen los!« »Ich bin wach!«, log Hunt und stieß Beth an, die neben ihm lag. »Wir sind beide schon wach! In ein paar Minuten sind wir da!« In der Nacht hatten sie von ihrer Umgebung nicht viel sehen können, doch am Morgen war der Ausblick aus ihrem Fenster atemberaubend. Sie befanden sich im dritten Stock eines viergeschossigen Gebäudes, und von ihrem Zimmer aus konnten sie einen großen Teil der Stadt überschauen; dahinter ragten die dicht bewaldeten Berge auf. Hunt war noch nie in einem anderen Teil Mexikos gewesen als Nogales und Baja California, und er konnte sich auch nicht erinnern, jemals Panorama-Aufnahmen der Landschaft von Chiapas gesehen zu haben. Im Fernsehen gab es immer nur Bilder von bewaffneten Guerillas und zerschossenen Häuserwänden zu sehen. Und Tuxtla Gutierrez war ganz gewiss kein Ort, den Hunt bisher als Urlaubsziel auch nur in Erwägung gezogen hätte. Doch die Landschaft hier war wunderschön. Ein wolkenloser Himmel, so blau, als wäre er gemalt, hing über einer Landschaft mit dunklen, zerklüfteten Bergen und Hügeln, die mit dichten, dunkelgrünen Bäumen bewachsen waren. Tuxtla Gutierrez, die Stadt zu Füßen der Berge, wirkte ebenso exotisch, wie ihr Name verhieß. Männer mit dichten Schnurrbärten und in leuchtend bunter Kleidung schoben Wagen über einen riesigen Marktplatz. Alles war fremdartig, exotisch und aufregend. Hunt erkannte, dass sie viel mehr reisen sollten. Wenn Beth und er hier lebend aus dieser Sache herauskamen, sollten sie die Welt kennen lernen und all jene Orte besuchen, von denen sie bisher nur gehört oder gelesen hatten. Falls sie hier lebend rauskamen. Beth kam aus dem Badezimmer, und Hunt war an der Reihe. Zehn Minuten später waren sie angezogen und zum Aufbruch bereit. Sie klopften an die Tür des Zimmers, das Joel und Jorge sich teilten, und gemeinsam stiegen die vier die Treppe hinunter. Bei einem Verkäufer in der Lobby besorgte Hunt ein Brot mit Zuckerguss, zog aus einem Automaten vier Cokes und trug alles zusammen zu einem fadenscheinigen Sofa in der Ecke, damit sie frühstücken konnten. Sie hatten schon die Zeit an Bord der Cessna damit verbracht, die Karten des Versicherungsvertreters zu studieren und sie mit irgendeiner aktuellen Touristen-Karte von Chiapas zu vergleichen; dennoch waren sie bei ihren Bemühungen, die Zentrale der Insurance Group zu finden, noch keinen Schritt weiter als am Tag zuvor in Tucson. Und jetzt, wo sie hier waren, erschien ihnen der Versuch, die Geschäftsräume der Versicherung zu finden, vergleichbar mit der Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen. Sie wussten ja nicht einmal, wo sie anfangen sollten. Sie konnten in einem Telefonbuch nachschlagen oder einfach durch die Straßen spazieren und nach einem Schild Ausschau halten, auf dem »The Insurance Group« stand, doch Hunt hatte das dumpfe Gefühl, dass die Versicherung nicht allzu freigiebig Eigenwerbung betrieb. Dennoch mochte jemand von den Einheimischen irgendetwas wissen, und genau darauf wies Beth auch hin. Sie nickte Jorge zu. »Einen Dolmetscher haben wir ja schon.« Nachdem sie kurz mit dem Rezeptionisten gesprochen hatten, mit den Verkäufern in der Lobby und den Händlern, die vor dem Hotel standen - dazu noch mit zwei Männern, die ohne erkennbares Ziel in die Lobby gekommen waren -, war Jorge der Ansicht, der Plan müsse doch noch ein wenig verfeinert werden. »Wir brauchen einen Fremdenführer«, sagte er. »Jemanden, der sich in der Gegend hier auskennt.« Nacheinander blickte Hunt Beth und Joel an und zuckte mit den Schultern. »Von mir aus.« In atemberaubend schnellem Spanisch sprach Jorge auf den Rezeptionisten ein. Der Mann griff nach dem Telefon, das hinter ihm stand, und sprach einige Minuten lang in den Hörer. Dann nickte er. »Er ist unterwegs!«, verkündete Jorge. Sie zogen es vor, in der Lobby zu warten, statt in ihre Zimmer zurückzukehren. Beth betrachtete die Verkaufsstände in der Halle, an denen vor allem Souvenirs feilgeboten wurden, während die Männer abwechselnd auf dem Sofa saßen oder angespannt auf und ab gingen. Zwanzig Minuten später kam ein hagerer Mann mit einem buschigen Zapatista-Schnurrbart in die Lobby, ging geradewegs auf sie zu und erklärte auf Englisch, mit deutlichem Akzent, aber trotzdem bestens verständlich, er werde sie begleiten und als ihr Fremdenführer fungieren, solange sie es wünschten: für zwölf Dollar am Tag - in amerikanischen Devisen. »Zwölf Dollar!«, wiederholte Hunt ungläubig. »Okay. Zehn Dollar.« Ihr Fremdenführer hieß Manuel. Er verkündete stolz, er habe einen eigenen Pick-up mit Allradantrieb und werde sie überall hinfahren, wohin sie nur wollten. Bedauerlicherweise waren sie mit Manuel zu fünft, und in den Wagen passten nur drei Personen - vorausgesetzt, einer war bereit, sich praktisch auf die Gangschaltung zu setzen. »Ich gehe nach hinten«, erbot sich Joel und klopfte gegen die Seitenwand der Ladefläche. »Ich auch«, sagte Hunt. »Beth? Du und Jorge, ihr geht zu Manuel.« »Nein«, widersprach Jorge. »Du bleibst hier.« »Wir brauchen dich als Dolmetscher.« Manuel war beleidigt. »Ich spreche drei Sprachen! Ich brauche nicht Dolmetscher.« »Ich gehe nach hinten«, sagte Jorge. Joel und er kletterten auf die Ladefläche und kauerten sich zusammen, den Rücken gegen das Fahrerhaus gestemmt. Als er auf der vor Menschenmassen wimmelnden Straße stand, kam Hunt sich vor wie Indiana Jones persönlich, und einen kurzen, wundervollen Moment lang waren all die Schrecken, deretwegen sie hier waren, wie weggeblasen, während er auf den staubigen Vordersitz des klapprigen Pickups kletterte. Dann kehrte mit aller Macht die Realität zurück. Hunt sah Lillys zerschmetterten Leichnam vor dem geistigen Auge, und wieder verspürte er die wilde Entschlossenheit, die so genannte Lebensversicherung dieses Vertreters ... und sein Leben ... vorzeitig zu beenden und alles daranzusetzen, das ganze verdammte Unternehmen zu zerstören, auch wenn Hunt nicht den blassesten Schimmer hatte, wie er ein solch ehrgeiziges Ziel in die Tat umsetzen sollte. »Wohin?«, fragte Manuel, ehe er den Motor anließ. Hunt zeigte ihm die Ausdrucke, den Ausschnitt aus der Detail-Karte von Chiapas, den er so weit vergrößert hatte, dass er ein ganzes Blatt ausfüllte. Dann deutete er auf den Kreis mit dem Stern unterhalb dieses dicken Spinnenwebengeflechts aus Linien. »Wir suchen nach einer Versicherung, die hier irgendwo ihren Sitz hat. Auf Englisch heißt sie ›The Insurance Group‹, aber ich weiß nicht, ob sie hier nicht einen anderen Namen hat. Sie ist ...« ... ein multinationales Unternehmen, hatte Hunt sagen wollen, doch er wusste nicht, ob das wirklich stimmte. Einen Augenblick lang dachte er darüber nach, schaute dann den Fremdenführer an und beschloss, ihm gegenüber ehrlich zu sein. Sie hatten keine Zeit für irgendwelche Spielchen und würden nirgendwohin kommen, wenn sie jetzt wie die Katze um den heißen Brei herumschlichen. »Die Insurance Group ist ein Versicherungsunternehmen. Gibt es hier Versicherungen?« »Bei uns es gibt Versicherung, ja. Habe ich Versicherung? Nein.« »Jedenfalls, die Insurance Group verkauft Autoversicherungen, Immobilienversicherungen und Krankenversicherungen, aber auch Gute-Nachbarschafts-Versicherungen und Personenschadensversicherungen. Und wenn du die abschließt, werden deine Feinde umgebracht, du selbst aber nicht.« Der Fremdenführer riss die Augen auf. »So was habt ihr gekauft?« »Wir hatten keine andere Wahl«, erklärte Beth. »Wir mussten.« »Jetzt habe ich eine Lebensversicherung«, sagte Hunt. »Und mir wurde versprochen, dass ich nun ewig lebe.« »Das ich nicht glaube!« »Tja, ich weiß nicht, ob es wirklich funktioniert, und ich möchte es auch nicht herausfinden, aber ich habe die Versicherung und muss dafür bezahlen, und das kann ich mir nicht leisten. Deshalb möchte ich diese Firma finden und ... es beenden.« »Kommt dir das irgendwie bekannt vor?«, ergriff jetzt auch Beth das Wort. »Hast du jemals etwas in der Art gehört, oder kennst du vielleicht irgendwelche Gerüchte in dieser Richtung?« Manuel schüttelte den Kopf. »Nein.« »Aber kannst du uns helfen, diese Versicherung zu finden?« »Ich weiß nicht, wo ich soll anfangen«, gab Manuel zu. Er grinste und entblößte zwei klaffende Zahnlücken. »Aber deswegen habe ich auch gesagt, ich will euch helfen. Ich gedacht, ihr würdet nicht gehen wollen einkaufen. Deswegen ich verlange nur zehn Dollar am Tag.« »Zwanzig«, bot Beth an. »Gracias. Ich nehme an.« »Also, womit fangen wir an?«, fragte Hunt. »Mit dem Telefonbuch?« »Eure amerikanische Geschäftsstelle nicht steht drin, no?« »Stimmt«, sagte Hunt. »Dann hier wohl auch nicht. Aber ich kenne einen Mann, der uns vielleicht kann helfen. Mit dem wir fangen an.« »Dann los«, sagte Hunt. Beth nickte. »Wir wissen das wirklich zu schätzen.« Manuel ließ den Motor an, der röhrend zum Leben erwachte. »Festhalten«, sagte er. Abseits der Hauptstraßen waren die Gassen und Sträßchen von Tuxtla Gutierrez schmal und uneben. Sie waren zu einer Zeit angelegt worden, als man noch Kutschen benutzte und keine Autos, als man noch Herden durch die Straßen trieb und nicht mit Pick-ups hindurchjagte. Immer noch gingen viele Menschen hier zu Fuß, und Manuels Truck raste an uralten Gebäuden vorbei durch die verschlungenen Gassen und verfehlte oft nur knapp Gruppen von Männern, Frauen und Kindern. Hunt und Beth klammerten sich fest, als hinge ihr Leben davon ab: Hunt stemmte sich gegen das Armaturenbrett, Beths Hand krampfte sich um die Armlehne an der Beifahrertür. Hunt wollte sich gar nicht vorstellen, wie es Joel und Jorge auf der Ladefläche erging. Immer wenn er sich umdrehte und durch die staubige Heckscheibe spähte, sah er, wie sie mit Armen und Beinen kämpften, nicht über die Ladefläche geschleudert zu werden; ihre Münder und Augen waren krampfhaft geschlossen, um sie vor dem Staub zu schützen. Der Wagen jagte an Häusern aus weißgetünchten Tonziegeln vorbei - Gebäude, die aussahen, als wären sie in mehr als nur einem Krieg zerschossen worden, und an verschachtelten Gebäuden mit Leitern, die auf die Dächer führten, wie bei den Bauten der Pueblo-Indianer. Leinen, an denen bunte Wäschestücke hingen, waren über die Gassen gespannt. Dieses Land war uralt. Nie zuvor hatte Hunt spüren können, wie jung die Vereinigten Staaten eigentlich waren, doch hier konnte er die Vergangenheit deutlich wahrnehmen, das ganze Gewicht der Geschichte. Auf diesen Straßen waren schon Menschen unterwegs gewesen, als es noch Jahrhunderte dauern sollte, bis die Pilgerväter bei Plymouth Rock an Land gingen - und viele dieser Straßen schienen sich seitdem kaum verändert zu haben. Schon bald war Hunt nicht einmal mehr ansatzweise in der Lage, sich zu orientieren; seine Verwirrung war vollkommen, als sie endlich ihr Ziel erreichten: ein zweigeschossiges Gebäude aus Ziegeln am Ende einer kleinen Gasse. Aus der offen stehenden Tür trat soeben ein Mann, der an einem Schultergurt eine Maschinenpistole trug. Manuel stieg aus und rief dem Bewaffneten etwas zu, was wie eine Begrüßung klang. Der Mann verschwand wieder im Gebäude. Einen Augenblick später kam ein anderer Mann heraus - ein vergnügt wirkender, übergewichtiger Bursche in weit geschnittener, weißer Kleidung. Er sah wie eine Nebenfigur in einem zweitklassigen Film aus: der Vater des schönen Mädchens, in das der Held sich verliebt und der immer für einen lustigen Spruch oder einen anderen Lacher gut war. Doch der Bursche mit der Maschinenpistole, der offensichtlich den fetten Weißgekleideten bewachte, ließ darauf schließen, dass dieser weit mehr als ein einfacher, lustiger Bursche war. Manuel verhielt sich dem Weißgekleideten gegenüber ebenfalls sehr respektvoll, beinahe schon ehrfürchtig, und auch wenn die beiden einander offensichtlich sehr mochten, war ebenso offensichtlich, wer von beiden der Einflussreichere war. Joel und Jorge sprangen von der Ladefläche und stellten sich neben die Beifahrertür. »Das mein lieber Freund Rodrigo«, erklärte ihr Fremdenführer. »Wenn in Stadt etwas passiert, er weiß davon. Gebt mir eure Karte, dann ich frage ihn nach dieser Versicherungsgesellschaft.« »Bei uns in den Staaten heißt sie nur Insurance Group«, wiederholte Hunt und reichte Manuel die Karte. »Ich ihm erzählen von eurer Lebensversicherung. Er vielleicht es nicht glauben, aber ich weiß, dass es ihn wird interessieren. Wenn er bis jetzt noch nichts über diese Gesellschaft weiß, er wird es herausfinden.« Manuels Bericht führte jedoch nicht zum erwünschten Erfolg, das sah Hunt an Rodrigos Mimik. Doch Manuel sprach weiter, immer schneller und nachdrücklicher; offensichtlich versuchte er, so viel wie möglich an Informationen unterzubringen. Plötzlich versetzte der fette Mann Manuel eine heftige Ohrfeige. Erstaunt trat der Fremdenführer einen Schritt zurück. Wütend stieß Rodrigo ein paar Worte hervor; dann rief er etwas, das wie ein Befehl klang. »Das sieht nicht gut aus«, murmelte Jorge. Zwei weitere Männer mit Maschinengewehren kamen aus dem Haus gerannt. Wieder schlug Rodrigo dem Fremdenführer ins Gesicht, und Manuel machte keinerlei Anstalten, sich zu verteidigen. Dann deutete der Mann auf Joel und Jorge, die neben dem Pick-up standen. Rodrigo war ein Verbrecher, aber offensichtlich ein Mann mit beträchtlichem Einfluss. Hunt wusste nicht, ob er eingreifen und Manuel helfen sollte oder sich schweigend zurücklehnen und darauf warten, dass alles vorbeiging. Die Tatsache, dass er die Sprache nicht verstand und keine Ahnung hatte, was hier überhaupt vorging, brachte Hunt in eine Lage, in der er deutlich benachteiligt wäre. Es war Beth, die schließlich eingriff. »Lasst ihn in Ruhe!«, rief sie und öffnete die Beifahrertür. Rodrigo verharrte. Selbst wenn er Beths Worte nicht verstand, begriff er doch, was ihr Tonfall besagte. In Hunt stieg Furcht auf. Er bezweifelte, dass Rodrigo es gewohnt war, dass jemand so mit ihm sprach - erst recht keine Frau. Langsam zog Manuel sich zurück, bewegte sich auf seinen Pick-up zu und versuchte, jede hastige Bewegung zu vermeiden. »Sie sich lieber halten raus«, sagte er zu Beth. »Sie nichts damit zu tun.« Joel und Jorge zogen sich ebenfalls zurück, bewegten sich von der Beifahrertür zur Ladefläche. »Ich glaube, wir haben sehr wohl etwas damit zu tun«, widersprach Beth, und ihre Stimme klang bestimmt. »Er mir nicht glaubt«, sagte Manuel. »Er meint, ich wolle ihn verspot ...« Ein Schuss dröhnte, doch er kam nicht aus einer der Maschinenpistolen. Die drei Wachen liefen los, umringten Rodrigo und drängten ihn zurück ins Haus. Beth streckte die Hand nach dem Türgriff aus und knallte die Beifahrertür zu. Ein weiterer Schuss wurde abgefeuert - von einem Dach aus oder aus einem Fenster im oberen Stockwerk eines Hauses. Manuel rannte zum Truck zurück. »Runter!«, rief er. »Ducken!« Hunts Mund war trocken. Er spürte, wie ihm das Herz bis zum Hals schlug. Er kauerte sich auf den Boden des Pick-ups und legte schützend einen Arm um Beth. Würden sie hier sterben? Er nicht. Ihn konnte man nicht umbringen. Er hatte eine Lebensversicherung. Eine Deluxe-Lebensversicherung. Aber Beth war in Gefahr. Hunt legte sich auf sie und versuchte, ihren Körper mit seinem zu schützen. Beth sagte nichts und versuchte auch nicht, ihn von sich zu stoßen. Plötzlich saß Manuel wieder auf dem Fahrersitz. Der Motor heulte auf, und rückwärts jagten sie die Gasse entlang, durch die sie gekommen waren. Als der Pick-up eine Nebenstraße erreichte, riss Manuel das Steuer herum und wendete mit kreischenden Reifen. Dann jagten sie davon. »Alles gut!«, verkündete er. »Ihr wieder könnt hochkommen.« Hunt versuchte es, doch die Geschwindigkeit des Wagens und die unebene Straße erschwerten es sehr. »Was zum Teufel sollte das denn?«, fragte er schließlich und prallte mit dem Schädel schmerzhaft gegen die Unterseite des Armaturenbretts. Dann zog er sich auf die Sitzfläche und half Beth hoch. Manuel rieb sich die flammend rote Wange. »Er hat gedacht, ich ihn anlüge. Er gedacht ... ich weiß nicht, was er gedacht. Rodrigo hat viele Feinde, und er nicht kann vorsichtig genug sein. Aber keine Sorge. Ich noch eine Idee.« Hunt schaute Beth an. Ihre Miene besagte genau das, was auch er selbst dachte: Vielleicht sollten sie versuchen, einen anderen Fremdenführer zu finden - jemanden, der keine Kontakte zur Unterwelt pflegte. Sie hatten keine Zeit zu verlieren, doch sie wollten auch nicht erschossen in einer dunklen Seitengasse enden, als Kollateralschäden irgendeines Bandenkrieges. Doch Hunt konnte nicht erschossen werden. Er war unsterblich. Außerdem war ein Mann wie Manuel, der über derart weitreichende Kontakte verfügte, wahrscheinlich genau der Richtige, um den Sitz der Versicherungsgesellschaft ausfindig zu machen. Hunt schaute durch die Heckscheibe und sah, dass Joel und Jorge flach auf der Ladefläche lagen. »Alles in Ordnung?«, rief er. »Es ging uns nie besser!«, brüllte Jorge mühsam zurück. Sie bogen in eine enge Kurve. Der Wagen rüttelte und schlingerte. Jorge klammerte sich an die Unterkante des Fensters, während Joel die Beine ausstreckte, um die Bewegung auszugleichen. »Was hast du denn für eine Idee, Manuel?«, fragte Beth, der von der Rüttelei allmählich übel wurde. »Die Hexe. Vielleicht weiß die etwas.« Hunt und Beth schauten einander an. »Die Hexe?«, wiederholte Beth. Manuel lächelte geheimnisvoll. »Ihr schon werdet sehen.« 2. Beth stieg aus, kaum dass Manuel gehalten hatte. Für die Pause waren sie zutiefst dankbar. Sie waren mehreren unbefestigten Straßen gefolgt und länger als eine Stunde durch eine völlig menschenleere Wildnis gefahren. Beths Oberschenkel waren taub, und ihr Hinterteil schmerzte. Der Wagen war heftig durchgeschüttelt worden, und in Beths Ohren klingelte es immer noch vom Dröhnen des Motors. Ihr Schädel fühlte sich wie angeschwollen an, wie in Watte gepackt, als hätte sie den ganzen Tag in einer Diskothek verbracht und die ganze Zeit ohrenbetäubende Musik gehört. Sie streckte die Arme, krümmte den Rücken und machte ein paar Schritte, um die Verkrampfungen in den Beinen zu lockern. Die Sonne stand tief am Himmel, der Nachmittag war fast vorbei. Ob diese »Hexe« nun Informationen für sie hatte oder nicht - bis zum morgigen Tag würden sie nichts unternehmen können. Hatten sie erst einmal wieder ihr Hotel erreicht, war es längst dunkel. Und sie war immer noch müde, obwohl sie erst gegen Mittag aufgestanden war. An den erschöpften Mienen von Hunt, Jorge und Joel konnte Beth ablesen, dass es ihren Freunden genauso erging. Vielleicht würden sie sich morgen, nach einer durchgeschlafenen Nacht, an das ungewohnte Klima und das fremde Land gewöhnt haben. Hoffentlich. Die Hexe war keine der modernen Wicca-Frauen, wie man sie aus Filmen kannte und die in modernen Wohnungen lebten und Straßenkleidung trugen. Diese Hexe war eine Frau wie aus dem Märchen: ein kleines, boshaft wirkendes altes Weib, das sich in der Welt von Hänsel und Gretel bestimmt sehr wohlgefühlt hätte. Sie hauste in einer kleinen Hütte am Fuße einer schwarzen Klippe aus Vulkangestein. Die Hütte bestand aus Holz - aus Ästen und Zweigen, um genau zu sein, die jedoch sorgfältig zusammengefügt waren, sodass sie geschlossene Wände und eine ebensolche Decke bildeten. Die Behausung war bescheiden, besaß aber eine Aura von ungeheurer Macht - und von etwas abgrundtief Bösem. Die Frau war alt und bucklig, ihr Gesicht war wettergegerbt und faltig, Haut kräuselte sich über der leeren rechten Augenhöhle; fast sah es aus, als würde sie beständig zwinkern. Sie roch nach Fäkalien und Gewürzen, doch Beth zwang sich, den aufsteigenden Würgereiz zu unterdrücken - sie hatte Angst davor, was geschehen könnte, wenn sie sich jetzt nicht beherrschte. Sie spürte, dass Hunt, der neben ihr stand, mit den gleichen Problemen kämpfte. Die alte Frau schien Manuel nicht zu kennen, und sie begrüßte ihn misstrauisch, trotz seines geradezu unterwürfigen Auftretens. Doch er sprach deutlich und ernsthaft, und die Hexe hörte sich an, was er zu sagen hatte. Anders als Rodrigo schien sie weder an seinen Worten zu zweifeln noch seine ganze Geschichte einfach abzutun, sondern schien alles, was er von sich gab, zu akzeptieren. »Was sagt er?«, fragte Hunt Jorge. »Er erzählt ihr nur das, was du ihm erzählt hast. Jetzt beschreibt er gerade die Lebensversicherung, die dich unsterblich macht.« Manuel streckte einen Finger aus, und die Hexe schaute Hunt geradewegs an. Der Fremdenführer holte ein paar Münzen aus der Tasche und reichte sie respektvoll der alten Frau. Sie nickte, um anzuzeigen, dass sie seine Gabe akzeptierte. Dann sagte sie ein einziges Wort: »Sí.« »Sie weiß, wo die Versicherungsgesellschaft ihren Sitz hat«, erklärte Jorge ihnen. Beth war unendlich erleichtert. Es war beinahe so, als hätte sie den Atem angehalten und auf diese Antwort gewartet. Sie griff nach Hunts Hand, drückte sie und war dankbar, als er die Geste erwiderte. Manuel schaute Beth an und lächelte nervös, wobei er einmal mehr seine klaffenden Zahnlücken enthüllte. »Hexe möchte im Gegenzug auch etwas«, sagte er. »Sie will Haarsträhne von dir.« Beth blieb fast das Herz stehen. Die Alte lächelte sie begierig an, und Beth wandte den Blick ab und drehte sich zur Seite, wo sie in einem selbstgemachten Drahtkäfig unglücklicherweise einen Kinderschädel liegen sah, von dessen Schädeldecke einige Stückchen abgetrennt waren. Beth schauderte. Sie hatte keine Ahnung von Magie oder Hexerei, doch in Filmen und Romanen wurden Haare immer dazu benutzt, eine persönliche Bindung zu deren Eigentümer herzustellen, um Macht über ihn zu erlangen. Beth sah sich schon als eine Art Zombie, der wie ein Sklave für diese Alte schuften musste, sah sich Dinge gegen ihren Willen tun - allesamt Vorstellungen, die sie noch vor sechs Monaten als völlig lächerlich abgetan hatte. Doch jetzt erschienen sie ihr realistisch. »Wie wäre es mit meinem Haar?«, bot Hunt an. Manuel übersetzte die Frage, doch die Hexe schüttelte ärgerlich den Kopf, sagte irgendetwas und spuckte aus. Beth wusste, warum Hunt das Angebot gemacht hatte. Die Lebensversicherung. Ihm konnte nichts geschehen. Sie hingegen war verwundbar, völlig ungeschützt - und das alles hier konnte durchaus Teil eines ausgeklügelten Plans der Versicherung sein, sie aus dem Weg zu räumen. Dennoch - welche Wahl hatten sie? »Also gut«, sagte Beth. »Nein!«, lehnte Hunt entschieden ab. Sie schauten einander an. »Wir werden eine andere Möglichkeit finden, Beth«, sagte er. »Genau«, mischte sich Joel ein, und Beth hörte die Furcht in seiner Stimme. »Tu das nicht.« »Es gibt vielleicht keine andere Möglichkeit. Wir sind jetzt schon zwei Tage beschäftigt. Es werden mindestens drei. Ich muss es tun.« Beth trat vor, deutete auf ihren Kopf - und ehe sie bemerkte, wie ihr geschah, hatte die Hexe eine Schere in der Hand und schnitt oberhalb des rechten Ohres eine Strähne ab. Sofort huschte die alte Frau zum hinteren Teil der Hütte und gab die Strähne in einen zerknitterten Papierbeutel; dann kam sie zurück und begann zu sprechen - zu schnell, als dass Manuel oder Jorge es simultan hätten übersetzen können. Die anderen konnten nichts tun als warten, bis die Alte fertig war, und dann der Zusammenfassung eines Dolmetschers lauschen. Jorge versuchte sich als Erster daran. »Im Gebirge«, sagte er. »Sie meint, die Geschäftsstelle befinde sich in einem Canyon, der durch einen Stern in einer Klippe und einen Felsen in Gestalt eines Mannes gekennzeichnet ist.« »Ja«, bestätigte Manuel. Die Hexe sagte noch etwas, kurz und knapp, und das Gesicht des Fremdenführers hellte sich auf. »Sí«, sagte er. »Sí.« Lächelnd nickte er und erklärte den anderen: »Ich weiß, wo das ist.« »Wie weit ist es von hier?«, fragte Hunt. »Ein paar Stunden. Wir morgen fahren dorthin. Die Straße sehr schlecht.« Dankbar, endlich diese faulig riechende Hütte verlassen zu können, folgte Beth Manuel durch den Eingang in die grelle Abendsonne und an die frische Luft. Kurz bevor sie die Tür hinter sich schlossen, sagte die alte Frau noch irgendetwas, wieder in dieser unglaublich schnellen Sprechweise. Manuel nickte und fiel ihr einmal kurz ins Wort; es klang fast wie eine Zustimmung. Doch er übersetzte ihre Worte nicht. »Was hat sie gesagt?«, erkundigte sich Beth. Manuel verzog das Gesicht. »Eine Warnung.« »Vor der Versicherung?« »Vor Babys«, antwortete Jorge und legte die Stirn in Falten. »Babys?«, wiederholte Hunt. Dann schaute er peinlich berührt seinen Freund an und dachte an Jorges Kind, das so entsetzlich verstümmelt worden war. Martina. Sie hatten ihn ... sie Martina genannt. Statt Martin. Manuel ging über den staubigen Boden zum Pick-up. »Hier es gibt mehr ...«, er suchte das richtige Wort, »Geschehnisse als eure Versicherung. Das hier altes Land. Hier es gibt viele Religionen, viele Geister.« »Aber was ist mit den Babys?« »Sie hat gesagt, wir müssten uns davor hüten«, erklärte Jorge. Beth hörte die Furcht in Hunts Stimme, als er nachfragte: »Und was bedeutet das?« Manuel schüttelte den Kopf. »Das ich erkläre euch bei Rückfahrt. Wir jetzt müssen los. Sie nicht möchte, dass wir bei Einbruch der Dunkelheit noch hier.« Auf der Rückfahrt erklärte Manuel den anderen, was es mit den Babys auf sich hatte; er musste ihnen die Geschichte geradewegs zuschreien, um das Dröhnen des Motors zu übertönen. Es war eine sonderbare und erschreckende Geschichte. Beth hatte das Gefühl, als wären sie alle einem Ungeheuer über den Kontinent gefolgt - nur um erfahren zu müssen, dass es aus dem Land der Ungeheuer stammte. Manuel zufolge war es so, dass Babys, die in Chiapas starben, nicht in den Himmel kamen oder sonst irgendein Leben nach dem Tod hatten. Stattdessen blieben sie fest mit der Erde verbunden - und damit auch mit dem Dorf oder der Stadt, in der sie gestorben waren. Und sie waren zornig. Es wurde zum alleinigen Ziel ihrer unheiligen Existenz, die Lebenden zu plagen, sie vom Schlaf abzuhalten und sie in der Nacht zu ängstigen. Sie waren harmlos, solange man sie nicht ins Schlafzimmer ließ. Ob im eigenen Zuhause oder in einem Hotel: Sie konnten über Flure und durch Zimmer streifen, machten Lärm und erschreckten die Leute, doch sie konnten keinen physischen Schaden anrichten. Sobald sie aber in ein Schlafzimmer kamen, durch eine offene Tür oder ein Fenster, wurden sie stark, konnten angreifen und verletzen. Und töten. »Sie wollen strafen ihre Eltern, die sie haben sterben lassen. Doch ist ihnen jeder Erwachsene recht. Sie sehr listig«, warnte ihr Fremdenführer sie. »Sie so tun, als hätte man sie auf Türschwelle abgelegt, oder sie jaulen wie Katze, die ins Haus will, aber glaubt ihnen nicht! Sie wollen euch dazu bringen, sie in euer Zimmer zu lassen. Was immer ihr tut, öffnet keine Türen und keine Fenster. Bleibt im Bett. Geht wieder schlafen.« Manuel hielt inne. »Die Hexe euch gewarnt, ihr sollt vorsichtig sein. Sie sagt, sie würden zu euch kommen heute Nacht.« Vor ihren Erlebnissen mit der Versicherung hätte Beth derartige Geschichten als Humbug abgetan. Doch jetzt versprach sie Manuel, bis zum Morgen keine Türen und keine Fenster zu öffnen. Tatsächlich erwachte Beth mitten in der Nacht, als sie ein Baby schreien hörte. Und dann war da das Klopfen einer winzigen Hand, die oben gegen die Tür ihres Hotelzimmers hämmerte. Das Baby muss in der Luft schweben!, schoss es Beth durch den Kopf. Sie setzte sich im Bett auf und sah, dass Hunt ebenfalls wach war. Rasch schloss er die Augen wieder und tat so, als würde er schlafen, doch als Beth ihm mit dem Ellenbogen in die Rippen stieß, setzte er sich neben sie. »Ich hör's«, gab er zu, ohne dass sie ihn hatte fragen müssen. Sie hörte die Furcht in seiner Stimme. »Verdammt«, fluchte Beth. »Das macht mir Angst. Es ist wie eine Drohung. Als ob man uns sagen wolle: Verschwindet, solange ihr noch könnt.« »Das glaubst du doch nicht wirklich?« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich habe für eine Deluxe-Lebensversicherung unterschrieben«, sagte Hunt. »Wir müssen die Versicherungsgesellschaft finden - und die Police des Vertreters. Wir müssen ihn aufhalten, und zwar schnell. Sonst steht meine erste Beitragszahlung an, und die kann ich nicht bezahlen. Und dann ...« Er führte den Gedanken nicht zu Ende. »Lebensversicherung. Vielleicht haben die Verbrecher dir deswegen nichts tun können«, meinte Beth. »An dir prallen jetzt Kugeln ab wie an Superman.« Eigentlich hatte sie ihn nur aufziehen wollen, doch so, wie sie es aussprach, klang es viel ernsthafter als beabsichtigt - und genauso fasste Hunt es auch auf. »Vielleicht«, stimmte er zu. Vor der Tür schrie wieder ein Baby. Hinter dem Vorhang hörte man, dass leise an die Fensterscheibe geklopft wurde. Unter der Decke kuschelten Hunt und Beth sich aneinander. »Meinst du, Jorge hört das auch?«, fragte Beth und dachte an sein Kind. »Ich hoffe nicht«, antwortete Hunt. 3. Es stellte sich heraus, dass die Hexe nicht wusste, wo sich die Hauptgeschäftsstelle der Insurance Group befand - und ihre Fehlinformationen kosteten sie alle beinahe das Leben. Wie vereinbart erschien Manuel kurz nach Sonnenaufgang mit vollem Tank vor dem Hotel, und sie fuhren in den Dschungel, der in der anderen Richtung lag als die Hütte der Hexe - in einer raueren, sehr viel unwirtlicheren Landschaft. Dieses Mal hatte Manuel den Pick-up seines Bruders genommen, dessen Fahrerhaus ihnen allen Platz bot: zwei von ihnen saßen vorne neben Manuel, die beiden anderen auf einer schmalen, beengten Rückbank. Hunt hielt sich am Armaturenbrett fest, als der Pick-up durch ausgewaschene Furchen holperte und auf dem Weg in die Berge immer wieder über Felsbrocken ruckelte. Die Straße, auf der sie sich befanden, sah eher aus wie ein Wanderpfad - Hunt sah keine anderen Radspuren im Erdreich, nur zahllose Hufspuren -, doch der Pick-up schaffte es, eine steile Passhöhe zu erklimmen und dann in Serpentinen an einem Kliff entlang immer weiter hinaufzufahren. Nach einer Stunde Fahrt den Berg hinauf erreichten sie eine Lichtung, auf der ein kleiner Teich, gespeist von einer sprudelnden Quelle, von den Resten der Fundamente eines uralten Bauwerks umschlossen wurde. Manuel trat auf die Bremse und brachte den Wagen zum Stehen. Nachdem die umherspritzenden Kieselsteine zu Boden geprasselt waren, hörten sie nichts anderes mehr als das Knacken des abkühlenden Motors. »Hier wir steigen aus«, sagte Manuel. »Ist es das?« »Nein, aber weiter wir können nicht fahren. Von hier an wir müssen laufen.« »Warst du schon mal da?«, erkundigte sich Beth. »Ja. Da hat einst eine berühmte Schlacht stattgefunden. Aber jenseits davon? Da, wohin uns Hexe schickt? Nein. Ich nur habe ihre Wegbeschreibung.« »Meinst du nicht, wir könnten uns verirren?«, fragte Beth besorgt. »Ist nicht weit. Das schon gehen.« Doch Hunt gefiel das alles nicht. Er spürte, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Dieser Ort war zwar exotisch und abgelegen genug, um ihr Ziel zu sein - ein geheimer Canyon in einem einsamen Gebirge -, doch auf dem Weg spürte Hunt deutlich, dass es irgendwie ... falsch war. Die Insurance Group mochte fast so alt sein wie die Zeit selbst, doch sie war kein Produkt der bäuerlichen Kultur, sondern der Städtebauer. Die Hauptgeschäftsstelle musste sich demnach irgendwo befinden, wo es Menschen gab, und nicht hier im Niemandsland. Zumindest Joel war der gleichen Ansicht. »Das scheint mir kein Ort zu sein, an dem eine Versicherungsgesellschaft ihre Hauptgeschäftsstelle errichtet«, sagte er. »Nicht einmal die Insurance Group.« Dennoch folgten sie Manuel weiter. Jeder nahm eine der Feldflaschen, die er für sie mitgebracht hatte. Hunt trank, bis er nicht mehr konnte, füllte seine Flasche an der Quelle auf, verzog sich dann zum Pinkeln hinter einen Felsen und wartete, bis die anderen zum Aufbruch bereit waren. Dann machten die fünf sich auf den Weg und folgten einem Trampelpfad durch den Canyon. Hunt hatte damit gerechnet, sehr weit marschieren zu müssen und stundenlang durch ein Labyrinth verborgener Schluchten zu wandern, bis sie irgendwo in einer Klippe einen eingeritzten Stern und einen Felsen finden würden, der aussah wie ein Mensch. Doch schon kurz nach ihrem Aufbruch deutete Jorge nach vorn. Zwischen den Baumwipfeln hindurch, hoch oben in einer Felswand, konnten sie deutlich einen Stern erkennen, umgeben von einem Kreis. Es war ein riesiges Pentagramm, das in die Wand des Kliffs gehauen war. Hunt wusste nicht, wie man etwas Derartiges technisch hatte zustandebringen können. Das Pentagramm schien so groß zu sein wie ein mehrstöckiges Haus; um so etwas zu schaffen, musste ein gewaltiges Baugerüst benutzt worden sein. Wie so etwas möglich gewesen sein sollte, war Hunt ein Rätsel, aber das Pentagramm existierte. »Und jetzt wir suchen nach dem Mann«, erklärte Manuel. Kurz darauf teilte sich der Canyon. In beide Seitenarme führten Trampelpfade. Manuel führte sie auf den linken Abzweig. Der Weg, der nach rechts abbog, schien um den Berg herumzuführen, der vor ihnen lag, doch der Pfad auf der linken Seite führte leicht aufwärts, geradewegs auf das Pentagramm zu. Er war drückend heiß, sie alle schwitzten. Hier im Dschungel schien die Feuchtigkeit an einhundert Prozent heranzureichen. Joel zog sein Hemd aus und wischte sich damit übers Gesicht; dann band er es sich um die Hüften. Die anderen Männer folgten seinem Beispiel. Beth öffnete die beiden oberen Knöpfe ihrer Bluse. Der Canyon vor ihnen endete mit einem Mal, und der Pfad führte den nachfolgenden Hang so steil hinauf, dass sie alle zehn Minuten innehalten mussten, um wieder zu Atem zu kommen und ihre ausgetrockneten Kehlen zu befeuchten. Endlich hatten sie die Kuppe des Berges erreicht. Und dort endlich fanden sie etwas vor, das Hunt erkannte. Eine Mesa. Ein Tafelberg. Bisher waren alle Berge, die sie gesehen hatten, schroff gewesen, mit steilen Gipfeln; jetzt aber befanden sie sich auf einem flachen, wüstenartigen Plateau, das sich schier endlos vor ihnen erstreckte. Der Stern an der Felswand war zu ihrer Rechten immer noch deutlich zu erkennen - hätte er Licht abgestrahlt, hätte er das Plateau erleuchtet. Und nun sahen sie auch einen großen Felsbrocken, der aussah wie ein aufrecht stehender Soldat. Es war nicht zu erkennen, ob Wind und Wetter ihn so geformt hatten oder ob es Menschenhände gewesen waren. »Gehen wir«, sagte Manuel. Es dauerte länger, den Fels zu erreichen, als Hunt gedacht hatte, und bis zum letzten Augenblick war er sich nicht sicher, dass sie dort etwas finden würden. Die Fläche zwischen dem Stern an der Felswand und dem Felsbrocken, der wie ein Mann aussah, schien bloß eine leere Ebene zu sein, bewachsen mit vertrocknetem Gras. Dann erreichten sie den Felsen, und Hunt sah, dass das Plateau dort endete. Die ganze Ebene war eine ... beabsichtigte? ... optische Täuschung. Vor ihnen lag eine tiefe Felsspalte, und am Grunde dieser Spalte befand sich ein Garten. Es war das Schönste, was Hunt je gesehen hatte. Der Kontrast zur Steppe ringsum hob diese Schönheit noch hervor. Unter ihnen wiegte sich ein Meer von Blumen; in sämtlichen Farben des Regenbogens wogten sie in einem unsichtbaren leichten Wind, beinahe so, als würden sie tanzen. Gewaltige, tropisch aussehende Pflanzen mit Blättern, die an Elefantenohren erinnerten, und langstielige Rosen wuchsen neben prächtigen Nelken. Ein Gebäude sah Hunt nicht. Aber vielleicht gab es ja eine Höhle, die sie von ihrem jetzigen Standort aus nicht einsehen konnten. Hunt war immer noch nicht überzeugt, dass sie hier wirklich die Insurance Group vorfinden würden, doch der herrliche Anblick dort unten hatte ihn sofort in Bann geschlagen, und als er zu den anderen hinüberschaute, sah er, dass es ihnen genauso erging. In die Felswand war eine Treppe gemeißelt, und am Fuß dieser Treppe konnte man in einem weißen Palisadenzaun ein Tor erkennen. Der Anblick ließ Hunt auflachen - eher aus Freude denn aus Belustigung. Er griff nach Beths Hand, und schon liefen die beiden die Treppe hinunter. Es war Mittag, doch am Grund der Felsspalte war es so düster, als ginge bereits die Sonne unter. Hunt verstand nicht, warum. Von oben war der Garten ganz deutlich zu erkennen gewesen, und die Blumen hatten sich im hellen Sonnenlicht gewiegt, doch hier unten lag alles im tiefen Schatten, und die Klippen oben wirkten düster und trüb, als wären Sturmwolken aufgezogen. Immer noch hielt er Beths Hand - und dann, ganz plötzlich, war sie verschwunden, und Hunt wusste nicht mehr, wo er war. Joel war gerade noch dicht hinter ihm gewesen, doch Hunt konnte sich nicht daran erinnern, seinen Freund noch einmal gesehen zu haben, nachdem sie die Treppe hinuntergegangen waren. Ein Rascheln war zu hören, ein Flüstern, ein leises Hauchen, das irgendwie zu Hunt sprach. Eine Gänsehaut überlief ihn. Immer weiter drang dieses Flüstern in sein Ohr vor. Es war keine Sprache, und doch gab es Worte, und es gab Gedanken, und dann gab es Bilder, die zu diesen Gedanken passten, und sie schienen sich in seinem Hirn auszubreiten wie Blumen, die bald in seinem Verstand in voller Blüte standen. Plötzlich hörte er diese Laute von überall, und er schaute sich um, suchte nach Beth und Manuel, doch er konnte nichts sehen, nur hören ... und die Dinge, die er hörte, flüsterten vom Tod. Er wollte hier raus, er musste hier raus, doch er war gefangen. Dann hatte er das Gefühl, in einen tiefen Schacht zu stürzen, und als er landete, dämpfte ein weiches Blumenmeer seinen Fall, und die Blumen berührten ihn sanft, streichelten ihn. Dann stachen sie ihn, bissen ihn, fraßen ihn auf. Und dann ... Joel und Manuel zogen ihn durch das Tor hinaus und legten ihn am Fuß der Treppe ab. Neben ihm, auf der ersten Stufe, half Jorge der immer noch halb betäubten Beth, vorsichtig wieder auf die Beine zu kommen. »Tut mir leid«, sagte Manuel. »Ich schneller hätte da sein sollen.« »Was ist passiert?«, fragte Hunt. Seine Lippen waren trocken, seine Augen schmerzten. »Ich hätte es nicht geglaubt, wenn ich es nicht gesehen hätte«, sagte Jorge ungläubig. »Das war wie dieses Mohnfeld aus Das zauberhafte Land!« »Die Blumen haben versucht, euch einzufangen«, erklärte Manuel. »Wir haben Beth unter einem Busch gesehen, und nachdem wir sie da haben rausgeholt, wir haben dich gesehen, Hunt - ganz bedeckt von Blumen. Mich sie haben auch einzufangen versucht. Aber ich kann sie so gut nicht hören.« Er grinste. »Auf linkes Ohr ich taub.« »Diese Hexe hat uns angelogen«, stieß Beth wütend hervor. Manuel nickte. »Ja, sie gelogen. Sie wollte, das wir hier werden eingefangen. Vor allem du, denn die Hexe hat dein Haar.« »Ich habe der Alten von Anfang an nicht getraut«, sagte Joel. »Meinst du, sie arbeitet für die?«, fragte Hunt. »Für diese Versicherungsgesellschaft?« »Sie nur arbeitet für sich selbst«, sagte Manuel. »Sie keine Verbindung zu diese Versicherung. Ich bezweifle, dass sie jemals davon hat gehört.« Beth schüttelte den Kopf. »Aber warum sollte sie dann so etwas tun? Warum sollte sie versuchen, uns von der Spur abzulenken und uns umzubringen?« »So ist sie nun mal«, sagte Manuel. »Denkt nicht mehr an sie. Wir schon finden eure Versicherung.« »Aber ...« »Denkt nicht an sie. Das nicht gut.« Hunt schaute sich um, über das Tor hinweg und zu den Reihen der wunderschönen Blumen. Und dann machte er sich daran, den langen Weg zum Wagen zurückzugehen. In der Nacht kamen die Babys zurück, versuchten erneut, ihre Eltern zu strafen. Hunt wusste, dass er und Beth besser hinter ihrer Hotelzimmertür bleiben sollten, in Sicherheit; andererseits stellte sich ihm immerzu die bange Frage, wie diese Wesen überhaupt aussahen. Er stellte sie sich als Säuglinge mit boshaften Augen vor, den Mund voller Reißzähne, aber sie mochten genauso gut unsichtbar sein: Teufel ohne Gesichter. Doch er würde es niemals erfahren. Auch wenn er es gerne gesehen hätte, um endlich Gewissheit zu haben - er war vernünftig genug, nicht gegen die Regeln zu verstoßen, die man ihnen auferlegt hatte. Sie waren Gäste in diesem Land; sie wussten nichts über diese Dinge. Und wenn sie es schaffen wollten, den Versicherungsvertreter zu vernichten, mussten sie sich allein darauf konzentrieren. Hunt hörte immer noch das Klopfen, Jammern und Zischen der Kreaturen, bis er endlich einschlief. Am nächsten Morgen erschien Manuel mit strahlender Miene. »Glück ist mit uns, amigos! Ich mich umgehört. Einer meiner Kollegen hat ein Freund, dessen Bruder arbeitet für einen Mann, der letzte Woche sich hat umgebracht, weil er nicht mehr bezahlen konnte seine Versicherung. Ich glaube, das ist der, nach dem ihr sucht.« »Aber wir müssen herausfinden, wo diese Versicherung ihre Geschäftsstelle hat. Wir müssen das Gebäude finden.« »Ja, und da wir haben Glück! Der Bruder von Freund meines Kollegen hat gestern gesehen den Vertreter im Westteil der Stadt. Und am Tag davor auch. An beiden Tagen genau zur gleichen Zeit.« Manuel hielt beide Hände ausgestreckt vor sich und bewegte sie wie eine Waage. »Wenn wir hier sind, und er ist da ...« »Dann können wir ihm folgen!« »Si!« In Hunt keimte Hoffnung auf. Das klang plausibel. Keine geheimen Canyons in abgelegenen Bergen, sondern ein Mann, der in der Stadt unterwegs war. Jetzt kamen sie der Sache näher ... »Um wie viel Uhr geht er da vorbei?«, fragte Hunt. »Zehn nach elf. Wir sollten ein halbe Stunde früher da sein - für alle Fälle.« »Eine Stunde«, entschied Hunt. »Eine Stunde, gut.« Hunt schauderte. Er sah vor seinem geistigen Auge, wie der Versicherungsvertreter durch die Straßen von Tuxtla Gutierrez schlenderte, mit seinem altmodischen Hut und dem Trenchcoat, und wie er Policen verkaufte, die brave Menschen dazu brachte, Selbstmord zu begehen. Sie hatten noch anderthalb Stunden Zeit, und so fuhren sie durch die Straßen im Westteil der Stadt und versuchten, auf eigene Faust die Insurance Group zu finden. Doch sie hatten kein Glück. Um kurz vor zehn fuhr Manuel sie zu einem modernen Gebäude, in dem die Baufirma untergebracht war, bei welcher der Bruder des Freundes seines Kollegen arbeitete. Er bat Hunt und die anderen, im Wagen zu warten, verschwand im Gebäude und kam Minuten später wieder heraus, begleitet von einem hochgewachsenen, kräftigen Burschen mit gescheiteltem Haar, der einen Anzug im Western-Stil trug. »Das ist Guillermo«, sagte Manuel. »¡Hola!«, begrüßte der Mann sie, trat ans Seitenfenster des Pick-up heran und fragte etwas auf Spanisch. »Er will wissen, ob auch wir Probleme mit der Versicherung haben«, übersetzte Jorge. »Sí«, gab Hunt sofort zurück. Wieder fragte der Mann etwas. »Er fragt, ob wir diese Versicherung loswerden wollen.« »Sí«, wiederholte Hunt. »Bueno«, sagte Guillermo, nickte entschieden, spuckte auf den Boden und redete auf Manuel ein. Manuel antwortete ihm; dann setzte er sich wieder in den Pick-up. »Zwei Querstraßen weiter«, sagt er. »Guillermo gehen zu Fuß, wir folgen ihm mit Auto. Er zeigt uns, wo wir abstellen sollen Pick-up und sagt uns Bescheid, wenn Versicherungsvertreter kommt vorbei. Dann Guillermo geht zurück.« »Was bekommt er für seine Hilfe?«, fragte Hunt, als Manuel den Motor anließ. »Nichts. Das wäre Beleidigung. Er will Tod von sein Boss rächen ... sein Freund.« Langsam rollte der Wagen die Straße hinunter und folgte Guillermo zu einer Hauptstraße; dann winkte er Manuel, den Pick-up in eine Parklücke zu lenken. Dabei überfuhr er beinahe einen streunenden Hund, der an irgendetwas kaute, das wie ein Stück rohes Fleisch aussah. Guillermo zündete sich eine Zigarette an, stellte sich an einen Zaun in der Nähe des Pick-ups und rauchte. Sie warteten. Obwohl die Seitenfenster heruntergelassen waren, herrschte im Wagen eine stickige Hitze. Hunt döste ein, bis ihn Beths Ellenbogen in die Rippen traf. Sofort war er hellwach und sah Guillermo am Beifahrerfenster stehen. »Aquí«, sagte er leise und sprach dann in schnellem Spanisch auf Manuel ein. »Der Mann trägt einen Koffer«, übersetzte Manuel, während er in den Innenspiegel schaute und den Motor anließ. »Da kommt er.« Guillermo trat rasch vom Wagen zurück und verabschiedete sich. »Gracias, amigo«, sagte Manuel leise. Guillermo nickte ihm zu und machte, dass er davonkam. Sekunden später ging der Vertreter am Pick-up vorbei. Im Unterschied zu seinem Kollegen in den Vereinigten Staaten trug er einen der altmodischen grauen Anzüge, die bei mexikanischen Geschäftsleuten und Politikern anscheinend beliebt waren. Seine Haut war dunkel, und er trug eine Ledertasche, keinen Aktenkoffer. Hunt musste gegen das irrationale Bedürfnis ankämpfen, sich zu ducken, sich unter dem Armaturenbrett zu verstecken, bis der Mann vorbeigegangen war. Er sah nicht so kräftig und machtvoll aus wie sein amerikanischer Kollege; er war eher durchschnittlich groß und besaß die nichtssagenden Gesichtszüge, die Hunt bei der ersten Begegnung mit »seinem« Vertreter gesehen hatte. Der Mann bog um die Ecke des Häuserblocks. Manuel setzte den Wagen aus der Parknische und folgte ihm. »Sollten wir nicht lieber zu Fuß gehen?«, fragte Jorge. »Sind wir nicht zu auffällig? Der Kerl muss doch merken, wenn ihm ein Wagen im Schritttempo folgt.« »Warten wir's ab. Es ist mir lieber, ihn zu verfolgen, wenn er selbst in einen Wagen steigt, als dass er plötzlich spurlos verschwindet.« Auf der Straße drängten sich andere Fahrzeuge, und es wimmelte von Fußgängern. Das bot Manuel die Chance, dem Vertreter auf unauffällige Weise zu folgen, ohne ihn aus den Augen zu verlieren. Sie beobachteten, wie der Mann um eine weitere Straßenecke bog und sich einem seltsamen Gebäude näherte. »Hier ich noch nicht gewesen«, stieß Manuel ungläubig hervor und schüttelte den Kopf. In einem Labyrinth aus den verschiedensten Gebäuden in der Innenstadt von Tuxtla Gutierrez befand sich eine Senke, so groß wie drei Fußballfelder. Hunt sah, wie der Versicherungsvertreter mit forschem Schritt den Hang zum Grund dieser Senke hinunterspazierte. Manuel hielt an, und gemeinsam beobachteten sie, wie der Vertreter den Grund des Beckens erreichte und auf einen kleinen Steinbau zuging, der genau in der Mitte der freien Fläche errichtet war - die Hauptgeschäftsstelle der Insurance Group. Das Gebäude kam Hunt seltsam bekannt vor. Dann fiel es ihm ein: Es erinnerte ihn an den »Knast«. An dieses scheinbar zweckfreie Gebäude hatte Hunt seit dem Tag, an dem Edward und Jorge es ihm gezeigt hatten, gar nicht mehr gedacht - doch jetzt erinnerte er sich wieder an das Grauen und das klaustrophobische Gefühl, das er und seine beiden Freunde im Innern dieses Bauwerks verspürt hatten. Hunt blickte über die Schulter zur Rückbank. »Der Knast«, sagte Jorge und nickte. »Verdammt, ich wünschte, mein Handy würde hier funktionieren. Ich würde sofort Edward anrufen und ihm sagen, er soll sich das Ding genau ansehen!« Sie warteten zehn Minuten, um sicher zu sein, dass der Vertreter im Gebäude blieb. Gerade als sie beschlossen hatten, aus dem Wagen zu steigen und dem Mann zu folgen, kam er wieder zum Vorschein, die Aktentasche unter dem Arm. Er stieg den gegenüberliegenden Hang hinauf, wobei er den steilen Aufstieg ohne Mühe hinter sich brachte, und verschwand in einer schmalen Straße zwischen zwei Gebäuden. Wieder warteten Hunt und die anderen ungeduldig, endlich in das Allerheiligste dieses geheimnisvollen Unternehmens vordringen zu können. Als Hunt sicher war, dass der Vertreter nicht zurückkehrte und dass kein Mensch ... oder ein Etwas ... herauskam, stieg er aus. Beth und Manuel folgten ihm, und auch Joel und Jorge stiegen von der Rückbank. Zu fünft gingen sie über den Kies, blieben am Rand der Senke stehen und schauten hinunter. Es war tatsächlich ihr gesuchtes Ziel; Hunt war sich ganz sicher. Ob man von diesem kleinen Gebäude in ein Labyrinth unterirdischer Katakomben gelangte oder ob es eine Art Raum-Zeit-Anomalie darstellte, sodass sich im Widerspruch zu allen bekannten Gesetzen der Physik in diesem kleinen Bau ein riesiges Bürogebäude befand - genau hier hatte die Insurance Group ihre Zentrale. Hier hatte sie angefangen, vor all den Jahrhunderten, und hier saß sie immer noch. Sie. Hunt ertappte sich dabei, die Versicherung als eigenständiges Wesen zu betrachten, als wäre die Insurance Group eine lebende, vernunftbegabte Kreatur - und das traf wahrscheinlich sogar zu. Es war kein Unternehmen im eigentlichen Sinn, das Leute einstellte und Dienstleistungen anbot. Es war eher wie ein Oktopus, ein Krake, ein lebendes Wesen mit zahlreichen Fangarmen, und wenn man einen dieser Fangarme abschlug, wuchs ein neuer nach. Hunt hatte es bisher vermieden, darüber nachzudenken, was genau sie hier eigentlich würden tun müssen. Er hatte sich ganz darauf konzentriert, die Unsterblichkeitspolice ihres Versicherungsvertreters zu vernichten, doch jetzt, wo sie hier waren und gesehen hatten, wie der hiesige Vertreter erneut in der Stadt verschwunden war, um weiteres Unheil anzurichten, wurde Hunt klar, dass er versuchen musste, sämtliche Vertreter aufzuhalten, nicht nur den, der für ihn selbst, Beth und seine Freunde zuständig war - sonst würde ein anderer dessen Platz einnehmen, und all ihre Bemühungen wären vergebens gewesen. Hunt gab sich nicht der Illusion hin, sie könnten problemlos in dieses kleine Gebäude hineinspazieren und Jahrhunderten des Terrors einfach ein Ende bereiten. Er hatte keine Ahnung, wie sie diesen Bau zerstören konnten. Mit Sprengstoff? Wasser? Feuer? Doch Hunt wusste, dass sie so viele Unsterblichkeitspolicen vernichten mussten, wie sie nur finden konnten, und so viele Fangarme dieses Kraken abschlagen mussten wie nur möglich. »Schon 'ne Idee, wie wir nach da unten kommen?«, fragte Beth. »Der Kerl ist da einfach runtergegangen.« »Für mich sieht das ein bisschen zu steil aus«, sagte Hunt. Es sah steil aus. Doch bevor sie noch länger darüber reden konnten, hatte Manuel sich auf den Boden gesetzt und sich abgestoßen, und nun rutschte er auf den Fußsohlen den staubigen Abhang hinunter. Hunt schaute Beth an. »Machen wir 's ihm nach«, sagte sie. Vorsichtig rutschten Hunt und die anderen den Abhang hinunter. Als Kinder waren sie auf großen Pappkartons einen Grasabhang im Park heruntergesurft, und genau daran erinnerte ihn die Rutschpartie. Doch dieser Abhang war steinig und längst nicht so glatt wie das Gras, und man kam langsamer voran. Am Grund der Senke angelangt, klopften Hunt und die anderen sich Staub und Dreck aus der Kleidung. Ein Stück vor ihnen erhob sich das kleine Gebäude. Vorsichtig gingen sie weiter, schauten immer wieder zum Rand der Grube hinauf, um sich zu vergewissern, dass der Versicherungsvertreter tatsächlich nicht zurückgekehrt war und nun mit schnellen Schritten auf sie zukam. Dann endlich hatten sie das kleine Gebäude erreicht. Daneben, von oben nicht erkennbar, befand sich ein Loch im Boden, das sich als Einstieg zu einer Art Schacht erwies. Er sah aus wie der Eingang zu einer Grabkammer. Fauliger Geruch schlug ihnen aus der Tiefe entgegen - der Gestank verrottender Pilze und vermodernder Kartoffeln. Hunt erkannte ihn sofort wieder, Beth ebenso. »Das ist es«, sagte sie. »Ich nicht gehe da runter«, erklärte Manuel ihnen. »Ich hier auf euch warten.« Hunt nickte. Er bezweifelte, dass er selbst für lumpige zwanzig Dollar am Tag überhaupt so weit mitgekommen wäre. Er griff in seine Gesäßtasche, zog seine Brieftasche hervor und reichte Manuel fünfzig Dollar in Scheinen und weitere hundert Dollar in Travellerschecks. Der Mann war viel mehr als nur ein Fremdenführer für sie gewesen, und so viel hatte er mindestens verdient. Hunt hätte ihm mehr gegeben, doch mehr hatte er nicht bei sich. Manuel versuchte zu protestieren. »Nein, nein.« Hunt drückte ihm das Geld in die Hand. »Nimm schon!« »Wir noch nicht fertig. Ich arbeite immer noch für euch!« Hunt schaute ihn bedeutungsvoll an. »Nur für alle Fälle, damit du nicht leer ausgehst. Du verstehst?« Manuel blickte auf das Loch im Boden, dann zu dem kleinen Gebäude daneben. Schließlich nickte er. »Ich verstehe.« Erneut schaute Hunt auf das kleine Steingebäude und atmete tief durch. Der Eingang schien sich auf der anderen Seite zu befinden, und Hunt zögerte noch, das Gebäude zu umrunden. Er hatte Angst, zumal sie keine Waffen bei sich trugen. Er war so besessen gewesen von dem Gedanken, die Zentrale der Insurance Group zu finden, dass er keinerlei Vorbereitungen für diese Unternehmung getroffen hatte. Er räusperte sich. »Sag mal«, sprach er dann Manuel an, »hast du ein Messer dabei? Irgendeine Waffe?« »So was hier?« Hunt hatte bestenfalls ein Taschenmesser erwartet, doch der Fremdenführer zog aus einer verborgen getragenen Scheide einen Dolch mit einer Klinge von fast zwanzig Zentimetern Länge. »Ja. Das wird reichen.« Manuel schnallte die Scheide ab, und Hunt band sie sich mit dem Gürtel um die Taille, damit er die Hände frei hatte. »Hast du auch Streichhölzer?«, fragte er dann. »Ich hab ein Feuerzeug mitgebracht«, sagte Jorge. Er lächelte. »Ich hab mir schon gedacht, dass du es vielleicht vergisst.« »Danke.« Hunt steckte sich das Feuerzeug in die Tasche. »Ich schätze, wir können los.« Jetzt, wo es so weit war, verspürte Hunt eisige Furcht. »Ich hier warten«, versprach Manuel. »Wenn du bis Einbruch der Dunkelheit nicht zurück, ich holen Hilfe.« »Gracias«, sagte Beth. »Ja, danke, Manuel. Du warst wirklich unser Retter. Ohne dich hätten wir das nie geschafft.« Jorge gab dem Fremdenführer einen Klaps auf den Rücken, dann schloss er ihn in die Arme. Joel schüttelte ihm die Hand. »Du warst uns eine große Hilfe, Manuel.« »War mir eine Freude.« Hunt betrachtete die Gesichter ihrer kleinen, unerschrockenen Truppe. Er sah Zweifel und Furcht, aber auch Zorn und Entschlossenheit. Sie waren schlecht vorbereitet, wahrscheinlich in der Unterzahl und hatten eindeutig die schlechteren Karten als ihre Gegner, doch sie wollten sich davon nicht aufhalten lassen. In diesem Augenblick war Hunt sehr stolz auf seine Frau und seine Freunde. Sie hatten das Richtige getan, und zumindest das konnte ihnen niemand mehr nehmen, egal, was von nun an geschehen mochte. Hunt nickte Manuel zum Abschied zu; dann umrundeten sie das kleine Gebäude. EINUNDZWANZIG 1. Hunt hatte keine Ahnung, was er vorzufinden erwartet hatte, aber das jedenfalls nicht. Der Eingang zu dem kleinen Gebäude hatte keine Tür, sondern war offen, und als Wache stand ein blinder Zwerg davor: ein sonderbar aussehender, kleiner Mann mit weit aufgerissenen Augen und einer Nase, die an den Schnabel eines Vogels erinnerte. Seine Lippen waren zu einem beständigen Lächeln verzerrt. Er hatte keinen einzigen Zahn im Mund, und das Zahnfleisch war widerlich schwarz. Der Zwerg sagte kein Wort, starrte sie nur an. Hunt hatte keine Ahnung, was er jetzt tun sollte. Er schaute zu Beth hinüber, dann zu seinen Freunden, doch deren Mienen waren ebenso ratlos. Aus einem Impuls heraus trat Hunt schließlich vor und ging an dem kleinen Mann vorbei und hinein in das winzige Gebäude. Der Zwerg machte keinerlei Anstalten, ihn aufzuhalten. Er blieb regungslos wie eine Statue. Wie im »Knast« war auch hier der Boden feucht, als stünde das kleine Gebäude in einem Sumpf, doch anders als im »Knast« gab es hier einen weiteren Durchgang - eine kreisförmige Luke, die schwer erreichbar in der hinteren rechten Ecke eingelassen war. Konnten sie auf diesem Weg zur Insurance Group vorstoßen? »Kommt!«, rief Hunt und bedeutete den anderen, ihm ins Gebäude zu folgen. Doch kaum setzte Beth sich in Bewegung, machte der Zwerg einen Satz und stellte sich genau vor den Eingang. Beth schrie auf und taumelte zurück; hastig trat Jorge neben sie, um sie zu stützen, sonst wäre sie gestürzt. Der Zwerg stieß seltsame Laute aus - ein zorniges, schrilles Quietschen, das der Kehlkopf eines Menschen niemals hätte hervorbringen können. Instinktiv machte Hunt einen Schritt in Richtung Eingang, um Beth zu helfen ... ... und der Zwerg trat zur Seite, um ihn durchzulassen. Hunt konnte es kaum glauben. Es war völlig unmöglich, dass der Gnom ihn von hinten hatte kommen sehen. Woher hatte er dann gewusst, wann er zur Seite treten musste, um ihn, Hunt, passieren zu lassen? Dann begriff Hunt, warum er das Gebäude betreten konnte, Beth aber nicht. Die Lebensversicherung. Seine Deluxe-Lebensversicherung. Nur Unsterbliche durften hier eintreten. Beth war auf den gleichen Gedanken gekommen. »Ich habe keine Lebensversicherung abgeschlossen«, sagte sie. »Ich kann nicht reinkommen.« »Lasst mich mal versuchen«, sagte Joel und ging auf den Eingang zu. Sofort sprang der Zwerg ihm in den Weg und stieß wieder das zornige Kreischen aus. »Meine Fresse!« Joel wich so schnell zurück, dass er beinahe über die eigenen Füße gestolpert wäre. »Ich hab eine Idee.« Hunt stellte sich vor Joel hin, und der Zwerg trat zur Seite. »Halt dich an meinen Schultern fest und bleib hinter mir.« Joel packte die Schultern seines Freundes, worauf Hunt vortrat. Tatsächlich schafften sie es ungehindert in das kleine Gebäude. »Es hat geklappt!«, jubelte Hunt. Er ließ Joel in dem winzigen Raum zurück und ging wieder hinaus, um mit Beth auf die gleiche Art und Weise zu verfahren. Diesmal jedoch versperrte der Zwerg ihm den Weg, und dieses Mal quietschte er nicht, sondern knurrte: ein wilder, urtümlicher, bedrohlicher Laut, der Hunt an einen Keiler denken ließ, der sich in die Enge gedrängt fühlte. Hunt blieb stehen, wartete einige Sekunden lang, dann machte er vorsichtig einen Schritt auf den Eingang zu. Der Zwerg duckte sich leicht, als wolle er jeden Moment losspringen; rhythmisch ballte er die Hände mit den langen Klauen zu Fäusten und öffnete sie wieder. Mit seinen milchigen, immer noch weit aufgerissenen Augen und dem grinsenden, zahnlosen Mund mit dem schwarzen Zahnfleisch wirkte er wie ein gemeingefährlicher Irrer. Hunt wich zurück, und der Zwerg nahm wieder seine gewohnte Position ein. Hunt versuchte es erneut, dieses Mal mit Jorge. Wie zuvor mit Joel hatte er auch mit Jorge keinerlei Schwierigkeiten, den kleinen Raum zu betreten. Ungehindert ging Hunt wieder hinaus und nahm Beth auf den Rücken, um sie ins kleine Gebäude hineinzutragen, doch ehe Hunt auch nur einen Schritt machen konnte, ging der Zwerg wieder in Kampfposition und knurrte bedrohlich. Frauen hatten hier keinen Zutritt. Das war der einzig mögliche Schluss. Hunt wollte eine andere Vorgehensweise vorschlagen, doch Beth schüttelte bereits den Kopf. »Geh schon!«, trieb sie ihn an. »Wer weiß, ob es nicht längst einen Alarm gegeben hat. Ihr müsst da so schnell wie möglich rein und wieder raus, bevor noch jemand mitkriegt, was hier läuft.« Beth hatte recht. Hunt nickte, gab ihr einen raschen Kuss und drückte sie kurz an sich; dann ging er wieder an dem Zwerg vorbei in das kleine Gebäude. »Ich auf Beth aufpassen«, verkündete Manuel von der anderen Seite des kleinen Häuschens. »Ich garantiere ihre Unversehrtheit!« »Unversehrtheit? Bin ich eine Porzellanpuppe, oder was?« Hunt hörte die Belustigung in Beths Stimme, doch Manuel begann sich wortreich zu entschuldigen. Hunt wandte sich der runden Luke im Boden zu, die Joel und Jorge schon untersuchten. Nirgends war ein Knauf, ein Griff oder ein Schloss zu erkennen, und Hunt wusste nicht, wie man sie öffnen sollte. Er kauerte sich neben die geschlossene Falltür und versuchte sie anzuheben, doch sie schien beinahe fugenlos in den Boden eingelassen zu sein. Jetzt, wo Hunt sie genauer betrachtete, sah sie gar nicht mehr wie eine echte Klappe aus: Sie wirkte wie aufgemalt. Versuchsweise stampfte Hunt auf den Fußboden, und Wasser spritzte auf. Der Felsboden unter seinen Füßen fühlte sich massiv an. Hunt wollte gerade erneut aufstampfen, um zu lauschen, ob es unter der Luke hohl klang ... ... als sie langsam in die Tiefe sank. Sofort sprangen Joel und Jorge neben ihn auf die Luke, um nicht zurückzubleiben. Hunt kauerte sich hin. Er fürchtete, das Gleichgewicht zu verlieren und war sich nur zu deutlich der Tatsache bewusst, dass es kein Geländer gab und auch sonst nichts, woran er sich hätte festhalten können. Auch Joel kauerte sich hin, während Jorge stehen blieb. In dieser Haltung verharrten die drei, während die Luke sich in die Tiefe bewegte und Sickerwasser auf sie herabtropfte. Langsam sanken sie durch die Dunkelheit. Hatte Beth das gesehen? Hatte sie durch die Tür zugeschaut? Wusste sie, was geschah? Hunt hätte es ihr zurufen sollen, hätte sie auf die Geschehnisse aufmerksam machen müssen, doch nun war es zu spät. Hunt blieb weiterhin zusammengekauert. Das hier war eine Art Fahrstuhl, wurde ihm klar. Ein Fahrstuhl, den nur die Mitarbeiter der Insurance Group benutzten und den auch er benutzen durfte, weil er unsterblich war. Sie hielten ihn für einen der Ihren. Die Abwärtsbewegung der Luke endete, und die drei Männer fanden sich auf dem Boden eines riesigen Raumes wieder. Es sah aus, als stünden sie im Innern eines uralten Tempels oder in der Grabkammer einer ägyptischen Pyramide. Felsblöcke, jeder so groß wie ein Auto, waren so zusammengefügt, dass sie die Wände riesiger Räume bildeten. Auf den Felsblöcken waren Wörter, Piktogramme und Bilder eingemeißelt. Die Wörter konnte Hunt nicht lesen oder deuten, ebenso wenig die Piktogramme, doch die Bilder, so uralt sie auch waren, stellten unverkennbare Motive dar: Zwei Eltern und ein kleiner Junge, die einander an der Taille hielten, schauten zu, wie ein Gebäude abbrannte. Eine Frau stand weinend vor einem Mann, den ein umgestürzter Baum erschlagen hatte. Neben zwei von Ochsen gezogenen Karren, deren Räder sich verkeilt hatten, stritten sich zwei Männer. Das waren Werbeanzeigen. Werbeanzeigen für Versicherungen. Die riesige Kammer war erleuchtet, auch wenn keine Lichtquelle zu sehen war, doch die Winkel und Ecken lagen im Schatten, und aus dem Augenwinkel sah Hunt, wie eine schemenhafte Gestalt sich von der Wand löste und sich bewegte. Beinahe hätte Hunt vor Schreck aufgeschrien. Hastig wich er einen Schritt zurück. Als der Schemen ins Licht trat, sah Hunt, dass es eine hellbraune Kreatur war, wie er sie nie zuvor gesehen hatte. Sie besaß fast die gleiche Farbe wie die Steine oder der Sand. Langsam bewegte sich die Gestalt über den Boden des Saales hinweg auf einen offenen Durchgang in der gegenüberliegenden Wand zu. Das Wesen hatte Beine und Gliedmaßen, die wie Arme aussahen, doch die Gesichtszüge wirkten unscharf und seltsam flach, als wären sie im Lauf der Jahrhunderte abgeschliffen worden. Hunt wartete, bis die Kreatur in den Durchgang getreten und in der dahinterliegenden Dunkelheit verschwunden war; dann drehte er sich zu seinen Freunden um und flüsterte: »Sollen wir ihm folgen?« Jorge nickte stumm, und wie zur Antwort auf Hunts Frage bewegte Joel sich bereits auf den dunklen Durchgang zu. Als die Männer ihn erreichten, stellten sie fest, dass dahinter ein weiterer Raum lag, der von dem gleichen, ursprungslosen Licht erhellt wurde wie die erste Kammer, doch der Raum war sehr viel kleiner, mit einer niedrigeren Decke und kahlen Wänden, die keine Bilder oder Zeichen trugen. Vor ihnen stand ein steinerner Tisch: eine riesige Felsplatte, die auf zwei ebenso massiven Steinsäulen ruhte. Dahinter, auf einer Art Bank, saß das Wesen, dem sie gefolgt waren. Jetzt, wo er ihm so nah war, konnte Hunt erkennen, dass es tatsächlich einst ein Mensch gewesen sein musste, auch wenn seine Haut aussah, als wäre sie versteinert und die Gesichtszüge sich im Laufe der endlosen Jahre immer mehr abgeschliffen hatten. Der Mann hatte keine Lippen mehr; nur noch eine dünne rote Linie ließ vermuten, wo sein Mund gewesen war, und die Nase war zu einem winzigen Auswuchs ohne Nasenlöcher geschrumpft. Statt der Augenhöhlen gab es nur noch schmale, verkrustete Schlitze, als wäre die versteinerte Haut immer weiter über die Augen gewuchert und dann verhärtet. Als Hunt das Wesen betrachtete, schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass dies alles hier trotz seines ungeheuren Alters die Hauptgeschäftsstelle einer Versicherung war, und mit einem Mal begriff er, dass die große Kammer, die sie eben verlassen hatten, offenbar die Lobby eines Bürogebäudes war. Und dieser kleinere Raum hier war das Vorzimmer. Einen Augenblick lang verharrte Hunt, unschlüssig, was er jetzt tun sollte. Sollte er versuchen, mit dem Wesen zu kommunizieren? Dann aber kam er zu dem Schluss, dass sie am besten genauso weitermachten, wie sie angefangen hatten, und er nickte seinen Freunden zu. Sie gingen an der sitzenden Kreatur vorbei und in den Korridor dahinter. Hunt rechnete beinahe damit, dass plötzlich eine Stimme erklang, die ihnen befahl, stehen zu bleiben, doch nichts geschah. Sie stellten fest, dass sie sich in einem Labyrinth befanden, in endlosen Katakomben völlig gleich aussehender, kleiner Räume: das uralte Gegenstück zu den unterteilten Großraumbüros mit ihren kleinen Trennwänden. Fast alle dieser winzigen Räume waren besetzt. Mumifizierte Wesen unbestimmbaren Alters bewegten sich in den Büros langsam hin und her, saßen hinter Sandsteintafeln und hohen Stapeln von Pergament; verschrumpelte Schädel drehten sich knackend auf dürren, vertrockneten Hälsen, und tote Augen schauten den Männern ausdruckslos hinterher, als sie vorbeigingen. Die Wesen hier sahen anders aus als der »Sekretär« am Empfang, vage menschenähnlich und zugleich fremdartiger und weniger leicht zu identifizieren. Hunt wusste nicht, ob diese Kreaturen jemals Menschen gewesen waren oder einer völlig anderen Spezies angehörten. Auf jeden Fall waren sie viel älter, als jedes Lebewesen hätte sein können und sein dürfen: Abscheulichkeiten, die schon vor undenklich langer Zeit hätten sterben müssen, hätte die Natur noch das Sagen gehabt. Sämtliche Wesen, denen sie begegneten, blieben stumm. Auch Hunt und seine Freunde schwiegen aus Angst, jeder Laut könne die Mitarbeiter der Versicherungsgesellschaft alarmieren. Sie gingen weiter einen Flur entlang. Niemand versuchte sie aufzuhalten, niemand beachtete sie. Hunt hatte keine Ahnung, was er hier unten vorzufinden erwartet hatte, doch so etwas auf jeden Fall nicht. Viel eher hatte er eine dunkle, feuchte Unterwelt erwartet, in der es vor schleimigen Monstern wimmelte - Kreaturen, die sie hätten überlisten oder an denen sie sich hätten vorbeischleichen müssen, bis sie den großen, schrecklichen Oberdämon fanden. Mit dem hätten sie sich dann den unausweichlichen Endkampf geliefert, den großen Showdown, und natürlich gesiegt. Danach hätten sie die Police gefunden, die sie suchten wie den Heiligen Gral, und hätten sie verbrannt. Doch das hier war viel unheimlicher und beunruhigender. Hier hatten sie es nicht mit irgendwelchen Bestien zu tun; hier waren sie nicht die Drachentöter, die gekommen waren, um ein Ungetüm zu erschlagen. Nein, das hier war eine gut funktionierende Maschinerie, die schon in Betrieb gewesen war, ehe der Mensch zum Menschen hatte werden können - und die Gleichgültigkeit der Mitarbeiter ihnen gegenüber zeigte Hunt, wie kümmerlich und unbedeutend er und seine Freunde in Wirklichkeit waren. Sie gingen weiter, suchten nach Hinweisen, die ihnen verrieten, wo sie die Unsterblichkeitspolicen finden konnten, nach irgendeinem Anzeichen, dass sie überhaupt auf dem richtigen Weg waren. In einem Raum, der ganz und gar ins Gesamtbild passte, standen ein Computer und ein Bildschirm, der genauso aussah wie der im Kellerbüro des Versicherungsvertreters in Tucson. Der Monitor war eingeschaltet und zeigte winzige Schriftzeichen, doch eine Stromquelle schien es in diesem Raum nicht zu geben: Hunt sah weder ein Kabel noch eine Steckdose. Der Raum war leer, und so huschte Hunt zum Schreibtisch und hoffte, das Wort »Tucson« oder »Arizona« oder »Vereinigte Staaten« eingeben zu können, um vielleicht irgendetwas herauszufinden. Doch die Tastatur war nicht beschriftet, und die Schriftzeichen auf dem Bildschirm waren nicht zu entziffern; es waren weder lateinische Buchstaben, noch handelte es sich um arabische oder kyrillische Schrift. So etwas hatte Hunt noch nie gesehen. Rasch verließen die drei Männer das Büro, ehe der Mitarbeiter der Versicherungsgesellschaft zurückkehrte. In einem anderen, etwas größeren Raum waren in einem Behälter Schädel aufgestapelt - Menschenschädel, Tierschädel und Knochenreste, die nicht zu identifizieren waren. In der Mitte des Raumes stand ein gehäutetes Maultier, das sie stumm anstarrte und in unaussprechlicher Qual mit den Augen rollte. Hunt und seine Begleiter schauderten, gingen rasch daran vorbei und weiter den Flur entlang, wohl wissend, dass sie den unaussprechlichen Schrecken im Herzen der Versicherungsgesellschaft immer näher kamen. Auch hier war kein Laut zu hören: keine Gespräche, kein Schreien, kein Grunzen. Die einzigen Geräusche waren ihre eigenen Schritte auf dem Steinfußboden und gelegentlich das sandpapierartige Flüstern, wenn die Büroangestellten mit ihren Mumienfüßen über den Boden schlurften. Der Flur, auf dem sie sich befanden, endete vor einer massiven Wand, also machten sie kehrt und gingen einen anderen Flur hinunter, der in einen leeren Raum führte. Sie mussten fast sämtliche Räumlichkeiten gefunden haben, die von der Insurance Group genutzt wurden, doch bis jetzt hatten sie noch keine Spur der Original-Policen gefunden. Hunt fragte sich, ob es ihnen jemals gelingen würde. Sie bogen in einen anderen Korridor ab, von dem zahlreiche Seitengänge in sämtliche Richtungen führten: ein Labyrinth, das Hunt an irgendetwas erinnerte, über das er einmal gelesen hatte - irgendetwas aus der griechischen Mythologie. Hier gab es keine Räume, nur endlose Gänge. Hunt und seine Freunde gingen langsam und vorsichtig weiter und achteten darauf, sich jede Abzweigung zu merken, die sie nahmen, damit sie nicht für alle Zeiten durch diese Gänge irren mussten. Endlich erreichten sie eine Räumlichkeit, die wie das Herzstück dieses Labyrinths wirkte: das Nervenzentrum der Versicherungsgesellschaft. Hunt roch es, bevor er es sah. Es war der vertraute Gestank feuchter Verwesung. Er sickerte unter einer roten Holztür hindurch, die in die Steinwand eingelassen war - eine Tür, kaum groß genug für ein Kind oder den Zwerg, der den Eingang an der Erdoberfläche bewachte. Hunt streckte die Hand aus, drehte den flachen Metallknauf, und die Tür schwang auf. Er hielt die Luft an, duckte sich und spähte hindurch. Der Raum, der dahinter lag, bildete einen scharfen Kontrast zu den einfarbigen, hellbraunen Steinen, aus denen der gesamte Komplex errichtet war. Die Wände waren fröhlich bunt, in allen nur erdenklichen Farben: Sie zeigten die aufwändigsten Wandmalereien, die Hunt jemals gesehen hatte. Wie überall in dieser Hauptgeschäftsstelle konnte man im Licht, das von überallher zu kommen schien, alles bestens erkennen. Was Hunt nun sah, war eine bildliche Darstellung der gesamten Menschheitsgeschichte: kunstvolle Gemälde sämtlicher wichtigen Ereignisse der Zivilisationen in der Westlichen und Östlichen Welt und im Nahen Osten, seit Anbeginn der Zeit. Ereignisse, die die Insurance Group versichert hatte. Der Eingang war klein, doch der Raum, der dahinter lag, war riesig. Nicht so überwältigend und gewaltig wie die Lobby, aber doch so groß wie die Stadthalle einer Kleinstadt. In der Mitte des ansonsten leeren Raumes befand sich eine flache Grube, umgeben von einem Miniaturzaun, kaum einen Viertelmeter hoch. Und innerhalb dieser Umzäunung befand sich die Macht, die treibende Kraft, das Gehirn, das hinter der Versicherungsgesellschaft steckte. Es war ein Wesen aus Sand und Erde, ein entsetzlicher Elementargeist, eine Abscheulichkeit, die sich in ihrem Bau drehte und wandte, wobei das schreckliche Maul beständig aufgerissen war zu einem furchtbaren, lautlosen Schrei. Der faulige Gestank war so intensiv, dass die Luft selbst sich klebrig und süß anfühlte - es war, als würde man Zuckerwatte atmen. Eine spürbare Aura des Boshaften, ein überwältigender Impuls negativer Energie ging von diesem Raum aus. Alles an diesem Wesen war böse und verderbt, und als es den scheußlichen Hals reckte, das Maul unmöglich weit geöffnet, wusste Hunt, dass dies ein Anblick war, der ihn bis zum Tod in seinen Träumen verfolgen würde. Wie war es möglich, dass etwas so Fremdartiges eine Versicherungsgesellschaft hatte gründen, organisieren und leiten können? Wie konnte etwas Derartiges hinter dem verwirrenden Fachchinesisch stecken, in dem die verschiedenen Policen abgefasst waren? Wie konnte eine solche Abscheulichkeit die Bestimmungen festlegen, die darüber entschieden, dass es billiger war, einen Volvo zu versichern als eine Corvette? Hunt wusste es nicht. Aber er wusste, dass es die Wahrheit war. Und noch während er hinschaute, veränderten sich die Wandgemälde. Jetzt waren es keine kunstvollen Gemälde mit Szenen aus der Vergangenheit mehr, sondern Echtzeitdarstellungen zahlloser Individuen auf der ganzen Welt: Vertreter und Kunden der Versicherungsgesellschaft. Hunt betrachtete die Myriaden von Bildern. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er in der unteren rechten Ecke Stacy und Lilly erkannte, die sich auf dem Sofa im Wohnzimmer zusammenkauerten, zu verängstigt, das Haus zu verlassen. Wäre er mutiger gewesen - oder wäre das alles hier nur ein Film gewesen -, hätte er jetzt heldenhaft Manuels Messer gezückt, wäre durch die Tür gekrochen und hätte nach hartem Kampf das Ungeheuer erstochen. Aber das hier war kein Film, und noch nie im ganzen Leben hatte Hunt sich so mutlos gefühlt. Die Kreatur war etwas abgrundtief Böses, das so weit über alles hinausging, was er sich bisher auch nur hatte vorstellen können, dass er diese Bestie unmöglich würde bekämpfen können. Ohne zu seinen Freunden auch nur ein einziges Wort zu sagen, schloss er die Tür wieder und zog sich zurück, wobei er darauf achtete, bloß keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Verzweifelt hoffte er, dass die unfassbare Macht dieses entsetzlichen Wesens das Eindringen der winzigen Menschen noch nicht einmal registriert hatte. »Was ist das?«, fragte Joel, und Hunt hörte die Angst und Anspannung in der Stimme seines Freundes. Es waren die ersten Worte, die einer von ihnen hier im Labyrinth gesprochen hatte, und in der Stille klangen sie unglaublich laut. Hunt dachte an die Szene mit Stacy und Lilly auf dem »Wandgemälde«. »Nichts«, log er. Er war überzeugt davon, dass es das Ende der Versicherungsgesellschaft bedeuten würde, wenn er das Ungeheuer hinter der Tür erschlagen konnte, aber das war unmöglich. Hunt erinnerte sich immer noch genau an den Weg, den sie genommen hatten, um hierherzukommen, und so führte er seine Freunde zurück, bis sie erneut einen der Flure erreichten, auf dem die uralten, erodierten Wesen langsam zu ihren Büros schlurften. Nach diesem Ding hinter der roten Tür kamen Hunt diese Wesen vertraut, beinahe schon beruhigend vor. Er wusste nicht, wohin sie jetzt gehen sollten und war versucht, bis zur Lobby zurückzukehren und noch einmal von vorne anzufangen. Doch dann sah er aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Nicht das langsame Schlurfen der mumienhaften Büroangestellten, die sich wie Untote bewegten, sondern den zielbewussten, entschlossenen Gang eines ... Versicherungsvertreters. Es war der Mann, den sie verfolgt hatten. Anscheinend war er wieder in die Zentrale zurückgekehrt. Hunt huschte in das nächstgelegene leere Büro. Joel und Jorge folgten ihm dichtauf. Lautlos standen die drei dann in der Dunkelheit und warteten, bis der Vertreter an ihnen vorbeigegangen war. Dann traten sie aus dem Büro wieder auf den Gang hinaus. Und folgten dem Mann. Sie bewegten sich langsam, so wie die anderen Wesen hier, um nicht unnötig Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, doch sie hätten sich keine Sorgen zu machen brauchen. Der Versicherungsvertreter achtete nicht im Mindesten auf seine Umgebung; er konzentrierte sich offensichtlich nur auf ein einziges Ziel. Hunt beobachtete, wie er den Gang hinunterschritt und nach rechts abbog. Innerlich hatte Hunt sich schon darauf eingestellt, endlos durch dieses Labyrinth irren zu müssen, um hinauszufinden, doch zu seiner großen Überraschung blieb der Mann gleich an der ersten Tür stehen, die er erreichte, und ging in das Zimmer dahinter. Zuerst dachte Hunt, dort wären sie schon vorbeigekommen, doch dem war nicht so: Hinter der offenen Tür lag kein weiteres kleines Büro mit einer uralten Drohne, die an einem Steintisch irgendeine bedeutungslose Aufgabe erfüllte, sondern ein Archiv voller hölzerner Aktenschränke. Der Vertreter suchte irgendetwas in dem Schrank, der dem Eingang am nächsten stand. Hunt huschte am Archiv vorbei, um nicht entdeckt zu werden; wieder folgten Joel und Jorge ihm auf dem Fuß. Sie verschwanden im ersten Büro, das unmittelbar daneben lag, und spähten vorsichtig hinaus. Wenige Augenblicke später sahen sie, dass der Versicherungsvertreter das Archiv verließ. Er schaute nicht in ihre Richtung, sondern ging sofort wieder den Weg zurück, den er gekommen war. Sobald er um die Biegung des Ganges verschwunden war, eilte Hunt in den Archivraum, während Joel sich als Posten neben den Eingang stellte. Die Decke war niedrig, nicht so endlos hoch wie in der Lobby, doch der Raum erstreckte sich so weit in die Tiefe des Gewölbes, dass Hunt das Ende nicht erkennen konnte. Zu beiden Seiten standen lange Reihen von Aktenschränken. Hunt öffnete gleich den ersten neben dem Eingang - den, in dem auch der Versicherungsvertreter irgendetwas gesucht hatte. Hunt entdeckte Mappen mit Papieren und Dokumenten. Eine der Mappen zog er heraus und fand darin Antragsformulare für Versicherungen, die genau so aussahen wie die, die Beth und er hatten ausfüllen müssen, nur dass diese Formulare auf Spanisch abgefasst waren. Hunt legte die Mappe zurück, ging zum nächsten Aktenschrank und fand dort Antragsformulare auf Arabisch. Er schloss die Tür des hölzernen Aktenschranks und schaute sich um. Vor ihm erstreckten sich Aktenschränke bis scheinbar in die Unendlichkeit, doch hinter ihm, am Kopf des Raumes, links von der Tür ... ... befand sich die Unsterblichkeitspolice ihres Versicherungsvertreters. Sie war auf Pergament geschrieben und wurde unter Glas aufbewahrt, wie ein Ausstellungsstück aus einem Museum. Es gab nur sechs solcher Policen - eine für jeden Kontinent? -, und Hunt vermutete, dass es demzufolge auch nur sechs unsterbliche Vertreter gab, die auf der ganzen Erde tätig waren. Hatte es früher mehr gegeben? Und hatten diese Vertreter aus früheren Zeiten vielleicht irgendwann ihre Beiträge nicht mehr zahlen können, sodass sie beseitigt worden waren? Oder gab es insgesamt nur sechs Planstellen, und sobald diese besetzt waren, brauchte sich niemand mehr darauf zu bewerben? Hunt wusste es nicht, und es war ihm auch egal. Die Tatsache, dass es nur sechs Vertreter gab, machte ihm die Arbeit sehr viel leichter. Er stellte sich neben den Aktenschrank und starrte das Pergament durch die Scheibe hindurch an. Dieses Dokument verlieh ihm die Macht über Leben und Tod des Versicherungsvertreters. Jetzt hatte endlich er die Oberhand. Er war es, der den Ausgang dieser Schlacht bestimmte. Was sich hinter dieser Glasscheibe befand, war nicht die unsterbliche Seele des Vertreters, es war seine Unsterblichkeitspolice. Der Vertreter hatte keine Seele, nur diese Police. Hunt begriff, dass die Bibel recht hatte: Im Anfang war das Wort. Und das Wort war mächtiger, wichtiger und verbindlicher, als ein Körper es jemals sein konnte. »Was ist das?«, fragte Jorge. »Seine Lebensversicherungspolice«, antwortete Hunt. Immer noch sprachen sie nur im Flüsterton miteinander, als fürchteten sie, jemand könne sie hören. Hunt beugte sich vor, bis er die Nase fast gegen das Glas presste. Die Bestimmungen der Police waren in einer Schrift geschrieben, die Hunt nicht kannte - sie musste noch älter sein als die Keilschrift -, doch die Form und der allgemeine Aufbau des Dokuments waren identisch mit Hunts eigener Unsterblichkeitspolice, und er sah auch die Zeile am Anfang, in der der Name des Vertreters eingetragen war. Er hieß Ralph Harrington. Ralph. Das schien unglaublich, unmöglich. Der Name des Bösen konnte doch nicht so alltäglich sein, so lächerlich trivial ... Ralph Harrington. In gewisser Weise machte das diesen Mann, diese Bedrohung, irgendwie kleiner, verwies ihn in seine Schranken, machte ihn weniger einschüchternd. Er wirkte nicht mehr wie ein übernatürliches Wesen, sondern mehr wie ein normaler Bursche von nebenan. Hunt musste daran denken, was Del ihm im Gefängnis erzählt hatte: dass Namen Macht verliehen - wie bei Rumpelstilzchen. Worte. Namen. Das waren die Dinge, die wirklich wichtig waren. Aus reiner Neugier schaute Hunt sich weiter in dem Glaskasten um und las die Namen auf den anderen Policen. Einer war entweder in chinesischen oder in japanischen Schriftzeichen eingetragen, ein weiterer auf Griechisch oder Kyrillisch. Zwei Namen waren in arabischer Schrift eingetragen. Nur bei Ralphs Namen waren lateinische Buchstaben verwendet worden. Doch all diese Namen schienen aus der Gegenwart zu stammen, und Hunt fragte sich, ob die Namen sich mit der Zeit änderten, ob sie irgendwie, auf magische Weise, stets auf dem neuesten Stand gehalten wurden - ob die jeweiligen Vertreter ihre Namen jedes Mal änderten, um stets in die aktuelle Zeit zu passen. Doch das war egal. Jetzt hieß ihr Versicherungsvertreter auf jeden Fall »Ralph Harrington«. Das war der Name, der in die Police eingetragen war, und somit war es der Name, dem er verpflichtet war. Hunt suchte nach einem Riegel oder einem Schloss, nach irgendeiner Möglichkeit, die Vitrine zu öffnen, in der die Policen lagen, doch es gab nichts dergleichen. Schließlich ging Hunt zum nächstbesten Aktenschrank, nahm eine dicke Mappe heraus, legte sie auf die Glasscheibe und schlug dann mit der Faust auf die Mitte der Mappe, so fest er konnte. Das Glas zersprang. Zum Glück war es kein Sicherheitsglas, sonst hätte Hunt es womöglich nicht zerschmettern können. Er ließ die Mappe auf den Fußboden fallen, entfernte dann die größten Glassplitter und ließ auch sie fallen. Schließlich konnte er die Policen gefahrlos aus der Vitrine nehmen. Jetzt war die Zeit der Abrechnung gekommen. Einen Sekundenbruchteil lang zögerte Hunt. Doch dann dachte er an Jorges Kind, an Lilly, an Eileen, an all die Menschen, die wegen des Versicherungsvertreters gestorben waren oder leiden mussten. Hunt tat, was zu tun er sich vorgenommen hatte. Er legte die anderen Policen beiseite und griff nach der, die auf den Namen »Ralph Harrington« ausgestellt war. Dann zog er das Feuerzeug aus der Tasche, ließ es aufschnappen, hielt das Pergament an der Oberkante fest und entzündete die untere rechte Ecke. Es war kein magisches Puff! zu hören, und auch nicht das verklingende Echo eines Schreies, doch das uralte Papier fing schnell Feuer und verbrannte in einer ruhigen, gleichmäßigen Flamme. Bis zum letzten Moment hielt Hunt es fest; dann ließ er es fallen. Auf dem Fußboden brannte es noch ein paar Sekunden weiter und erlosch. Nun lag auf dem Boden nur noch ein kleiner, dreieckiger Papyrusfetzen, auf dem nicht mehr das Geringste aufgedruckt war. Doch Hunt wollte kein Risiko eingehen, also hob er auch den Fetzen auf, hielt ihn erneut ans Feuerzeug und hielt es fest, bis die Flammen seine Fingerspitzen versengten und die Police völlig verbrannt war. Hunt schaute zur Tür. Er hatte mehrere Minuten gebraucht, um die Kiste aufzubrechen, die Policen herauszunehmen und die von Ralph Harrington anzuzünden, doch Joel hielt immer noch ungestört Wache. Gerade jetzt schaute er wieder zu Hunt und nickte ihm zu, um ihm zu bedeuten, dass die Luft immer noch rein sei. Hunt und Jorge nutzten die Gelegenheit und verbrannten auch die anderen Policen. Niemand kam, um sie aufzuhalten. Das war das Sonderbarste: Während Hunt und Jorge eine der kostbaren Policen nach der anderen in Brand steckten, schrillten keine Alarmsirenen, und keine Sprinkleranlage reagierte auf den Rauch. Nichts geschah. Hunt konnte es nicht begreifen. In den Vereinigten Staaten schien die Versicherungsgesellschaft jeden ihrer Schritte nachzuverfolgen, und hier, in Mexiko, konnte er einfach hereinspazieren und die Policen anzünden, die sämtliche hiesigen Vertreter am Leben hielten! Lag es daran, dass diese Männer sich ganz auf die Außenwelt konzentrierten? Oder daran, dass sie zuvor noch nie einen Eindringling in ihren (un-)heiligen Hallen gehabt hatten? Hatte es noch nie einen Verräter unter ihnen gegeben? Hatte es noch nie einen Grund gegeben, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen? Lag es daran, dass die einzelnen Vertreter ihre Kunden zu überwachen hatten und dafür verantwortlich waren, über sämtliche ihrer Schritte informiert zu sein? Oder gewährte ihm seine eigene Lebensversicherung hier völlig freie Hand? Hatte sie ihm sozusagen eine Tarnkappe geschenkt und ihm die Genehmigung erteilt, alles zu tun, was er wollte? Plötzlich gellte ein Wutschrei. Und dann geschah alles blitzschnell. 2. Joel stand im Eingang des Archivs und hielt Wache, während hinter ihm Hunt und Jorge die Policen des Versicherungsvertreters und seiner bisher unsterblichen Kollegen in Brand steckten. Vor dem geistigen Auge sah Joel, wie der Vertreter zu Staub zerfiel, während seine Police verbrannte wie ein Vampir im Sonnenlicht. Umso größer war Joels Entsetzen, als er Schritte hörte und eben diesen Versicherungsvertreter aus einem Quergang auf den Flur treten sah ... »Du Dreckskerl!«, schrie Joel und rannte auf den Vertreter zu, der ihn jedoch ignorierte, einfach weiterging und auf der anderen Seite des Flurs wieder im Quergang verschwand. »Ich bring dich um!«, brüllte Joel. Hunt und Jorge kamen aus dem Archiv gestürmt. Sie konnten nicht fassen, wen sie da sahen. Den Versicherungsvertreter. Er hätte längst tot sein müssen! Hätte er, war er aber nicht. Tatsächlich sah er keine Spur schlechter aus als zuvor; er wirkte so kräftig und gesund wie eh und je. Wie war das möglich? Er war nicht mehr unsterblich, wenn er keine Police mehr hatte, die ihn schützte! Der Mann hatte schon mehrere Jahrhunderte gelebt, vielleicht noch länger, und sobald seine Unsterblichkeit zunichte gemacht war, hätte er augenblicklich in seinen derzeitigen Zustand verfallen müssen. Das aber war nicht geschehen. Weil er immer noch seine eigene Ausfertigung der Police hatte. Das musste es sein! Das Original der Police war fort, doch solange noch ein schriftlicher Beweis existierte, solange der Vertreter noch selbst ein Schriftstück besaß, das ihm ewiges Leben garantierte, stand ihm die Versicherungsleistung zu. Ein Stück vor ihnen verschwand der Vertreter in einem Seitenstollen in völliger Finsternis. Joel stieß einen Wutschrei aus und kam zu Hunt und Jorge zurück. »Der Mistkerl ist entwischt!«, stieß er hervor. »Ja«, sagte Hunt und packte seinen Freund am Arm. »Aber wir wollen nicht, dass etwas passiert, ehe wir erledigt haben, weshalb wir hierhergekommen sind.« Joel holte tief Luft und zwang sich zur Ruhe. »Du hast seine Police verbrannt«, sagte er dann. »Aber der Kerl lebt immer noch. Willst du wissen, warum? Weil er immer noch eine Ausfertigung davon hat! Solange eine Ausfertigung oder Abschrift der Police existiert, ist sie noch gültig - und damit alles, wofür sie steht. Wir müssen auch seine Kopie verbrennen.« »Du hast recht.« Hunt dachte kurz nach. »Aber wo könnte die sein? Wo würde er sie aufbewahren? In seinem Büro, zu Hause in Arizona? In seinem Haus? Hier irgendwo?« Auf einmal erschien der Vertreter aus einem Raum ungefähr dreißig Schritt vor ihnen. Er lachte vor sich hin. Seltsamerweise hatte er seinen Aktenkoffer nicht dabei. Auch seine Kleidung war anders als üblich, viel salopper: Er hatte jetzt dienstfrei. Wäre Joel eine Figur aus einem Cartoon gewesen, wäre jetzt über seinem Kopf eine Glühbirne erschienen. Es gab nur eine Erklärung für das plötzliche Auftauchen und Verschwinden des Versicherungsvertreters: Das hier war sein Zuhause. Er wohnte in der Hauptgeschäftsstelle der Insurance Group! Alle Vertreter dieser Versicherung wohnten hier. Wenn sie herausfinden konnten, wo sein Zimmer war ... »Wir müssen ihm folgen«, flüsterte Joel. »Der Kerl wohnt hier irgendwo. Und genau da wird auch seine Police sein.« Hunt nickte. Zu dritt eilten sie den Korridor hinunter und blieben in diskretem Abstand zum Versicherungsvertreter. Es war ein Büro, aus dem er zum Vorschein gekommen war. Im Innern sah es fast so aus wie ein Umkleideraum, wie Joel bemerkte, als er im Vorbeigehen kurz hineinschaute. Er sah lange Steinbänke, die längs in der Mitte des kleinen Raumes aufgestellt waren, und die Wände zu beiden Seiten wiesen Doppelreihen kleiner Alkoven auf. In dem Raum schien niemand zu sein. Der Gang führte erst nach rechts, dann bog er nach links ab, und für einen Augenblick verloren sie den Vertreter aus den Augen. Sie wagten es nicht, schneller zu gehen, denn sie durften ihm nicht zu nahe kommen, obwohl die Flure hier so voller Biegungen und Kreuzungen waren. Dann endete der Korridor vor einer geschlossenen Tür. Auf diese Tür aufgemalt, wie die Initialen an der Tür zur Umkleide eines Filmstars in alter Zeit, waren zwei Buchstaben: R. H. »Ralph Harrington«, sagte Hunt. »Das ist er.« »Und was machen wir jetzt?«, fragte Jorge nervös. »Reingehen«, entschied Hunt. 3. Hunt legte ein Ohr an die Tür und lauschte einen Moment. Als er nichts hörte, versuchte er, den Türknauf zu drehen. Es war nicht abgeschlossen; der Knauf ließ sich leicht bewegen. Sie betraten einen höhlenartigen Raum, erleuchtet von einer einzigen schwarzen Kerze auf einem schmiedeeisernen Ständer. In der Ecke war ein verrostetes Spülbecken aus Metall zu sehen, und in der Mitte des Raumes lag eine Matratze auf dem Fußboden; sie war so schmutzig, dass ihr Gestank die Männer würgen ließ. Hunt sah keinen Herd, keine Mikrowelle, keinen Kühlschrank. Vielleicht aß der Versicherungsvertreter nie. Am anderen Ende des Zimmers stand eine schwarze Vitrine, in der Dinge lagen, bei denen es sich vermutlich um Trophäen handelte: Knochen verschiedener Wildtiere, vertrocknete Pflanzen und andere tote Dinge aus der Gegend um Tucson. Hunt dachte an den Raum mit den bleichen Schädeln zurück, und an das gehäutete Maultier, und mit einem Mal wusste er, was es damit auf sich hatte. Pergament. Die Insurance Group hatte eigene Gerberäume, in denen die Pergamente für ihre wichtigsten Policen hergestellt wurden. Hunt schaute sich noch einmal die Vitrine mit den scheußlichen Überresten an, vor der sie standen. Es war gut möglich, dass der Versicherungsvertreter hier in diesem Raum in kleinerem Maßstab selbst Pergament herstellte. Zur Entspannung nach Dienstschluss sozusagen. Vom Vertreter selbst fanden die Männer keine Spur, doch rechts neben der Vitrine war eine kleine Holztür, die an den Zugang zu einem kleinen Nebenraum erinnerte - oder an ein Toilettenhäuschen. Hunt war sich fast sicher, dass der Vertreter sich darin aufhielt. Wie um seine Vermutung zu bestätigen, war jetzt ein sonderbares Knarren hinter der Tür zu vernehmen. Sofort drängten die drei sich zusammen. »Sucht nach einem Aktenschrank«, flüsterte Hunt. »Oder einem Schreibtisch. Irgendetwas, wo er seine Papiere verstecken könnte.« Es war zu dunkel, als dass die Männer sich hätten aufteilen können, also nahm Joel die Kerze aus dem Ständer und ging zusammen mit den anderen von links nach rechts durch den Raum. Sie sahen einen alten Victrola-Plattenspieler, Taljen aus der Takelage eines Schoners, ein Schwert und ein Bajonett, die gegen einen mannshohen Spiegel gelehnt waren - jedoch nichts, was danach aussah, als könne man wichtige Dokumente darin aufbewahren. Dann flammte plötzlich das Licht auf, und der Raum veränderte sich. Jetzt war es keine Höhle mehr, angefüllt mit Erinnerungsstücken aus der Vergangenheit, sondern ein modernes, aufgeräumtes Apartment, das mindestens doppelt so groß war wie der Raum, in dem die Männer sich gerade noch befunden hatten. Dort, wo die Victrola gestanden hatte, war jetzt ein großer Plasmafernseher zu sehen, und statt der schwarzen Vitrine stand da jetzt ein begehbarer Kleiderschrank voller sauberer, maßgeschneiderter Anzüge aus verschiedenen Zeitaltern. Die dreckige Matratze war einem weißen, modernen Sofa gewichen, das zum Fernseher hin ausgerichtet war, und die geschlossene Tür, die zum Toilettenhäuschen führte, hatte sich in einen breiten, bogenförmigen Durchgang verwandelt, durch den man ein geräumiges Schlafzimmer mit Hellholzmöbeln erkennen konnte. Eine weitere Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Apartments führte in eine voll ausgestattete Küche mit modernsten Edelstahlarbeitsflächen. Und zu ihrer Rechten, unter einem gerahmten Chagall Kunstdruck, standen ein Computerschreibtisch und ein Aktenschrank. Hunt durchwühlte hastig die Schubladen des Schreibtischs. Stifte ... Papier ... Gummibänder ... Büroklammern ... Disketten ... Aus Richtung des Schlafzimmers war mit einem Mal das Rauschen einer Toilettenspülung zu hören. Der Vertreter hatte offenbar seinen Aufenthalt im Bad beendet. Deshalb also waren die Lichter aufgeflammt! Vermutlich würde der Mann jeden Augenblick hier im Zimmer erscheinen. Hunt fühlte sich wie ein Kind, das ängstlich das Erscheinen des Ungeheuers erwartete. Er eilte zum Aktenschrank und öffnete ihn. Der Schrank war voller brauner Mappen, allesamt sorgfältig mit dem Namen der Police beschriftet, die sich jeweils darin befand. Er hatte es gefunden! Das Rauschen der Spülung wurde lauter, als die Tür des Badezimmers sich öffnete, die ins Schlafzimmer führte. Der Vertreter kam. A ... B ... C ... D ... Schritte. E ... F ... G ... H ... Tonloses Summen. I ... J ... K ... L! Lebensversicherung! Hunt griff nach der Mappe und riss sie aus der Schublade. Joel und Jorge stellten sich vor ihn, damit er nicht sofort zu sehen war, während Hunt das Feuerzeug aus der Tasche zog und versuchte, die Seiten in Brand zu stecken. Eine kurze, erschreckende Sekunde lang sah es so aus, als würde das Pergament nicht brennen, dann aber loderte eine Flamme auf. Das Pergament fing Feuer. Es brannte immer noch, als der Vertreter das Schlafzimmer durchquerte und zur Tür herauskam. Er brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was hier geschah. Als er schließlich erkannte, wer die drei Eindringlinge waren und was hier vor sich ging, stieß er ein ohrenbetäubendes Brüllen aus und schleuderte Joel und Jorge beiseite, als wären sie Spielzeugpuppen. Die Mappe war noch nicht ganz verbrannt, und so musste Hunt die Flucht vor dem Vertreter ergreifen. Er nutzte die Möbelstücke als Hindernisse, lief um das Sofa herum, sprang über den Couchtisch, dann hinter einen Sessel. Die Police war jetzt fast gänzlich verbrannt, die Flammen leckten Hunt bereits über den Handrücken, doch er wagte es nicht, sie schon loszulassen, und so rannte er durchs Schlafzimmer ins Bad. Hastig schloss und verriegelte er die Tür hinter sich; dann stieg er in die Duschkabine. Mit einem Ruck riss der Versicherungsvertreter die Badezimmertür auf. Doch es war zu spät. Hunt ließ den letzten Fetzen der Police fallen, bevor er sich die Finger verbrannte. Die geschwärzten Pergamentflocken schwebten auf die Kacheln, winzige Flämmchen züngelten noch daran, und dann war es fort - ein kleines, verkohltes Häufchen Asche, das nun zu Staub zerfiel. Hunt zog Manuels Messer und behielt den Versicherungsvertreter lauernd im Auge. Wenn er damit gerechnet hatte, dass sein Gegner nun ebenfalls zu Staub zerfiel, wurde er enttäuscht. Nichts dergleichen geschah. Es gab kein magisches Leuchten, kein Knistern unvorstellbarer Energien - keinerlei Anzeichen, dass sich überhaupt etwas veränderte. Und doch war es so. Und sie wussten es beide. Im Schlafzimmer, hinter dem Rücken des Vertreters, nahm Hunt eine Bewegung wahr. Joel und Jorge kamen aus der Küche über den Flur herbeigeeilt. Beide hielten lange Fleischmesser in der Hand. Vor Wut brüllend, stürzte Joel sich auf den Vertreter und stieß zu, das Gesicht zu einer schrecklichen Grimasse verzerrt. Doch Joels Angriff verfehlte sein Ziel - und dann fand er sich stöhnend vor Schmerz am Boden wieder. Hunt begriff endlich, was vor sich hing: Der Vertreter mochte zwar nicht mehr unsterblich sein, doch er stand zweifellos immer noch unter dem Schutz jeder Art von Versicherung, die man sich nur vorstellen konnte. Eine Schwachstelle in seinem Panzer zu finden - irgendetwas, das diese Kreatur übersehen oder vergessen hatte -, würde nahezu unmöglich sein. Doch genau das musste geschehen. Und zwar schnell. Innerhalb der nächsten Sekunden. Hunt dachte fieberhaft nach, schaute über die Schulter des Vertreters hinweg und sah Jorge, der kurz vor dem Sprung stand. »Nein!«, rief Hunt, doch es war zu spät. Jorge stürzte sich mit wilder Wut auf den Mann, der jedoch herumwirbelte und den Angreifer von sich stieß. Jorge taumelte zurück, die Waffe fiel ihm aus der Hand, und sein Schädel prallte mit hörbarem Knacken gegen das Bettgestell. »Hören Sie auf, Harrington!«, schrie Hunt. Der Blick des Vertreters zuckte zu ihm herüber. Seine Augen waren vor Wut und Entsetzen weit aufgerissen. Das war es! Sein Name. Namen verliehen Macht. Hunt erinnerte sich, wie der Vertreter über die Bemerkung gelacht hatte, er, Hunt, habe geglaubt, man müsse die Unsterblichkeitspolice mit Blut unterschreiben. Ihre Unterschrift reicht völlig. Mehr brauchen wir nicht. Das war alles, was sie brauchten. Kein Blut, keine Seelen. Nur den Namen. Das war es, was Del ihm hatte erzählen wollen. »Ralph Harrington«, sagte Hunt laut und deutlich. »Woher kennen Sie meinen Namen?«, wollte der Versicherungsvertreter wissen. »Ich habe ihn auf Ihrer Unsterblichkeitspolice gelesen. Bevor ich sie verbrannt habe.« So etwas wie Anerkennung flammte im Blick des Vertreters auf, vermischt mit namenloser Angst. »Also haben Sie es tatsächlich getan«, sagte er, und seine Stimme war mit einem Mal leise. »Sehr einfallsreich.« »Und ich kündige hiermit sämtliche Policen, die ich bei der Insurance Group abgeschlossen habe.« »Kündigen?« Der Vertreter schlug mit der Faust so wuchtig gegen das Waschbecken im Bad, dass in der Porzellanschüssel ein breiter Riss entstand. Hunt wich bis zur Rückwand der Duschkabine zurück, das Messer immer noch in der Hand. »Was glauben Sie denn, wie Sie ohne Versicherungen durchkommen wollen? Was wird Sie vor den Schrecken des Lebens beschützen? Vor der Hölle, die diese Existenz nun einmal ist? Haben Sie je darüber nachgedacht?« Das Gesicht des Vertreters war knallrot und wutverzerrt. Er trat vor, streckte die Hand bis in die Duschkabine aus und versetzte Hunt einen Schlag auf die Wange. Es schmerzte unvorstellbar. Tränen schossen Hunt in die Augen. Er hatte das Gefühl, ein Ziegelstein habe ihn getroffen. »Das ist das Problem mit euch allen!«, brüllte der Vertreter. »Ihr denkt nie einen Schritt weiter!« Hunt versuchte, die Schmerzen und die Schwellung seiner Wange zu ignorieren, obwohl sie so schnell größer wurde, dass er schon jetzt auf dem linken Auge kaum mehr sehen konnte. »Hören Sie zu, Harrington.« »HÖREN SIE AUF, MICH SO ZU NENNEN!« Der Gesichtsausdruck des Mannes war unbeschreiblich ... unmenschlich und grotesk, voller Wut und Hass, verletzt und voller Schmerz. Seinen Namen laut ausgesprochen zu hören, schien ihm fürchterliche Qualen zu bereiten. »Ralph Harrington!«, rief Hunt. »Ralph Harrington!« Der Vertreter taumelte zurück. Er wirkte wie betäubt. Hunt wiederholte den Namen immer wieder: »Ralph Harrington! Ralph Harrington!« Auch Joel und Jorge, die sich aufgerappelt hatten und das Geschehen fasziniert beobachteten, griffen den Ruf auf: »Ralph Harrington! Ralph Harrington!« Hunt dachte fieberhaft nach, während er immer weiter den Namen rief, zermarterte sich das Hirn, wie er dem Vertreter den Rest geben konnte. Aber der Himmel mochte wissen, durch welche Versicherungsleistungen dieser Mann noch geschützt war ... »DAS IST NICHT MEIN NAME!«, kreischte der Vertreter mit schriller Stimme. Plötzlich kam Hunt eine Idee. »Wie ist denn Ihr Name?«, fragte er. Die Sprache, in der dieses einzelne Wort gesprochen wurde, klang anders als alles, was Hunt je gehört hatte: ein raspelnder Laut, wie in einer Sprache aus den Tiefen der Hölle - teils metallisches Knirschen, teils schrilles Kreischen, teils matschiges Schmatzen. So also klang die Sprache, in der die Originalpolicen erstellt worden waren. Am Anfang war das Wort. Und plötzlich wirkte der Versicherungsvertreter unendlich müde. Jeglicher Zorn schien von ihm abzufallen, jegliche Wut, jeglicher Hass. Er stand nur noch da, in sich zusammengesunken, den Blick auf den Fußboden gerichtet. Er wurde kleiner, unscheinbarer, bis er wieder zu dem nichtssagenden Mann geworden war, der damals, vor so langer Zeit, an Hunts Tür geklopft hatte. Und dann verblasste er. Seine Wohnung verblasste mit ihm. Die Duschkabine verschwand, das Waschbecken wurde durchscheinend, der Durchgang zum Schlafzimmer löste sich in Luft auf. Hunt und die anderen hatten sich nicht bewegt, doch plötzlich standen sie wieder in der Höhle. Der Fernseher wurde zu einer Victrola, und die Victrola verwandelte sich in eine primitive Trommel, und dann verschwand auch die Trommel, löste sich in nichts auf. Selbst das dunkle Vulkangestein flammte vielfarbig auf - und dann standen sie zu dritt in einer leeren Sandsteinhöhle. Nur der Vertreter war immer noch zu sehen. Doch seine Gestalt hatte sich auf erschreckende Weise verändert. Er sah nicht mehr aus wie ein Mensch, sondern wie etwas, das ungleich älter war als die Menschheit; er ähnelte jetzt den Wesen, die hier durch die Gänge schlurften und in den Büros arbeiteten - doch zugleich wirkte er irgendwie anders, auf groteske Weise jung. So mussten all die anderen Wesen ausgesehen haben, ehe die Zeit und ihre Arbeit sie gleichsam ausgesaugt hatten. Die Kreatur stand da, mit hängenden Schultern, und starrte reglos auf den Fußboden ... und dann, von einem Augenblick auf den anderen, war sie verschwunden. Wo das Wesen gestanden hatte, lag jetzt ein verwitterter Stein, in den unlesbare Zeichen eingeritzt waren. Die ursprüngliche Police. Hunt griff nach dem Stein und schleuderte ihn mit aller Kraft gegen die Wand. Er zerbarst in tausend Teile. »Machen wir uns wieder an die Arbeit«, sagte er. 4. Hunt hatte damit gerechnet, dass es auf den Fluren und Gängen der Versicherungsgesellschaft jetzt vor aufgebrachten Vertretern nur so wimmeln würde; dass es wie in einem Bienenstock zuging und die Vertreter ihnen ans Leder wollten, doch selbst der Verlust eines der Ihren schien die uralten Wesen, die durch die Flure schlurften und in den Büroräumen arbeiteten, nicht im Mindesten zu beeinträchtigen. Nach wie vor bewegten sie sich quälend langsam durch das endlose Meer der Zeit. »Wir müssen sämtliche Akten vernichten«, sagte Hunt. »Und den Direktor oder Geschäftsführer oder was immer es war, was ich im Zimmer hinter der roten Tür gesehen habe.« »Hinter der roten Tür?« Joel legte die Stirn in Falten. »Du hast doch gesagt, da wäre nichts.« »Ich habe gelogen.« »Dann los«, sagte Jorge. Joel lächelte. »Alle für einen.« Sie kehrten ins Archiv zurück, rissen einen Aktenschrank nach dem anderen auf und warfen die Papiere in fieberhafter Eile in die Mitte des Raumes. Doch selbst wenn sie Tag und Nacht geschuftet hätten, wäre es ihnen nicht möglich gewesen, jeden einzelnen Aktenschrank auszuräumen. So mühten sich die drei Männer in den nächsten zehn oder fünfzehn Minuten, Hunderte der vermutlich neuesten Aktenmappen herauszureißen - so viele, wie sie für notwendig erachteten, um ein Feuer zu legen. Dann schoben sie die Papiere so zurecht, dass sie die einzelnen Aktenschränke in Flammen setzen würden, sobald sie brannten, und zündeten mit dem Feuerzeug die Kanten mehrerer Dokumente an. Sie hatten einen ganzen Berg an Akten aufgehäuft, und so griffen die Flammen schnell auf sämtliche Schriftstücke über. Rasch breitete das Feuer sich aus. An der Stelle, an der die Papiere am dichtesten lagen, loderte bald darauf eine wahre Feuersbrunst zwischen den beiden Aktenschrankreihen. Ehe die Männer den Raum verließen, stieß Hunt noch die beiden Holzschränke um, die dem Eingang am nächsten standen, damit sie ebenfalls Feuer fingen und die Flammen zusätzlich nährten. Hunt vermeinte, außer brennendem Papier und Pergament auch brennendes Fleisch zu riechen, entfernte sich dann aber schnell. So genau wollte er es gar nicht wissen. »Suchen wir die rote Tür«, entschied er. »Ja«, sagte Jorge. »Suchen wir den Geschäftsführer und kündigen die Policen!« Sie brauchten mehrere Minuten, um sich zu orientieren und den Flur zu finden, der zum Herzen dieser Abscheulichkeit führte, die sich Insurance Group nannte. Kurz darauf waren sie am Ziel. Hunt wusste, dass er kneifen würde, wenn er sich jetzt zu viel Zeit ließ, sodass er über die unbeschreiblichen Schrecken nachdenken konnte, die er in diesem Raum gesehen hatte. Also riss er kurz entschlossen die Tür auf, ging in die Knie und kroch hinein. Joel und Jorge hielten sich dicht hinter ihm. Der Raum hatte sich verändert. Sehr verändert. Statt des festsaalgroßen Raumes sah er jetzt eine riesige Halle vor sich, deren Ausmaße sich nicht einmal abschätzen ließen. Vor ihnen war der Boden abschüssig, und so weit das Auge reichte, saßen dort Reihen um Reihen stämmiger Männer mit schlechter Haltung, die dunkle Mäntel und identische Hüte trugen. In weiter Ferne war im Halbdunkel ein rötliches Glimmen zu sehen. Es wirkte fast kreisrund. Das Tor zur Hölle, dachte Hunt bei diesem Anblick, und obwohl er nicht religiös war, erschien ihm dieser Gedanke durchaus plausibel: Das hier war der Ort, von dem die Armee von Geistern, Dämonen und agents provocateurs kamen - oder was immer sie sein mochten. Hunt fragte sich, was sonst noch in der entsetzlichen Hitze dieses diabolischen Glosens leben mochte. Die Hölle, ging es ihm durch den Kopf, ist keine Höhle mit Feuer und Schwefel - sie ist ein Versicherungsbüro. »Was machen wir jetzt?«, fragte Jorge, und Hunt hörte in der Stimme seines Freundes nicht nur Angst, auch Ehrfurcht. Hunt hatte keine Ahnung. Sich diesem Elementargeist, diesem Ungeheuer in der Grube zum Kampf zu stellen, wäre schon schlimm genug gewesen, doch es war schlichtweg unmöglich, dass sie es zu dritt, nur mit Küchenutensilien bewaffnet, mit den Legionen geisterhafter Schlägertypen aufnahmen und sich bis zu dem glosenden Schlund durchkämpften. Das Beste wäre, sofort dorthin zurückzukehren, woher sie gekommen waren, und sich damit zufriedenzugeben, was sie bis jetzt erreicht hatten. Selbst wenn sie nicht jene düstere Macht aufhalten konnten, die das Herz der Insurance Group verkörperte, so hatten sie zumindest deren Vertreter aus dem Weg geräumt und vielleicht auch die meisten der archivierten Policen vernichtet. Die Versicherungsgesellschaft würde lange brauchen, sich davon zu erholen, möglicherweise länger, als Hunt, Jorge und Joel noch zu leben hatten. Sie konnten guten Gewissens darauf warten, dass es irgendwann später jemand anders mit diesem schier übermächtigen Gegner aufnahm und die Aufgabe endgültig zu einem Abschluss brachte. Jemand anders? Nein. Sie mussten es tun. »Ich habe eine Idee«, sagte Hunt unvermittelt. »Raus hier!« Er scheuchte Joel und Jorge durch die kleine Tür auf den Gang; dann kroch er ihnen hinterher, schlug die Tür wieder zu, wartete einen Augenblick und öffnete die Tür erneut. Genau wie er gehofft hatte, war die gewaltige Halle mit ihrer riesigen Armee verschwunden, ebenso deren Quelle, der rot glühende Höllenschlund. Stattdessen sah Hunt nun wieder den leeren Raum mit den Wandgemälden, der umzäunten Grube und dem scheußlichen, sich schlangengleich windenden Ungeheuer vor sich. Hunt schloss die Tür erneut, öffnete sie dann wieder und spähte noch einmal hinein. Dieses Mal erblickte er einen viel kleineren Raum, dessen Ausmaße genau zu der winzigen Tür passten. Die Wände waren schwarz, und in der Mitte, auf einem Gestell aus Metall, das aussah, als wäre es älter als die Erde selbst, lag eine Steintafel. Sie sah aus, wie Hunt sich immer die Steintafeln mit den Zehn Geboten vorgestellt hatte. Hunt schlängelte sich durch die kleine Öffnung und hielt schließlich vor der Steintafel inne, immer noch auf Händen und Knien. Die Schriftzeichen, die in die Platte geritzt waren, vermochte er nicht zu entziffern, doch sie mussten immens machtvoll sein, denn alleine vom Hinschauen bekam er rasende Kopfschmerzen, und seine Haut fühlte sich trocken und heiß an und kribbelte wie bei einem Sonnenbrand. Hunt war sich ganz sicher, dass er die Satzung der Insurance Group vor sich hatte. Im Anfang war das Wort. Der Raum war zu klein, als dass Hunts Freunde auch noch hätten hereinkommen können. Joel und Jorge standen immer noch auf dem Flur, hatten sich vor die Tür gekauert und konnten nichts sehen als Hunts Rücken. »Was ist denn da?«, fragte Joel. »Ich glaube, das ist deren Satzung«, erklärte Hunt. »Wir müssen sie vernichten.« »Und wie?«, fragte Jorge. Gute Frage. Manuels Messer würde hier nicht viel ausrichten. Nirgends hatten sie einen Hammer oder Meißel oder Ähnliches gesehen, womit sie die Steintafel hätten zertrümmern können. Hunt stöhnte vor Anstrengung, als er die unerwartet schwere Tafel kurz entschlossen vom Ständer hob und auf den Boden fallen ließ. Doch sie zerbrach nicht, so sehr er es auch gehofft hatte. Er versuchte, die Platte über den Boden zu schieben, doch sie bewegte sich keinen Millimeter. Mit aller Kraft, die ihm verblieben war, hob er die Platte erneut an und stellte sie hochkant, während er auf den Knien in Richtung Ausgang rutschte, bis er wieder den Türrahmen erreicht hatte; dann stieß er die Tafel mit den Füßen hindurch und schlüpfte hinterher. Im gleichen Augenblick, da Hunt und die Steintafel draußen auf dem Gang waren, schlug die rote Tür zu. Nur war sie jetzt nicht mehr rot. Sie war pechschwarz. »Sieh dir das an«, sagte Jorge und streckte den Arm aus. Immer noch schwang Furcht in seiner Stimme mit. Hunt stand auf, hob die Steinplatte so hoch, wie er nur konnte, und ließ sie fallen. Obwohl sie mit lautem Knall auf dem Fußboden des Korridors aufschlug, zerbarst sie nicht. Aber nun hatte sie einen Riss. Ängstlich öffnete Joel erneut die Tür. Wieder sah er die endlose Halle, doch dieses Mal war das orangefarbene Leuchten deutlich intensiver, und die Heerscharen stämmiger Männer mit Hüten hoben die Köpfe ... und schauten sie geradewegs an. Durch die Tür hindurch konnte Hunt ihre Gesichter sehen. Und ihre Zähne. Jetzt wusste er, warum Edward solche Angst vor ihren Zähnen hatte. »Mach die Tür zu!«, schrie er. Joel tat hastig, wie ihm geheißen. Auf dem Gang roch es jetzt nach Rauch. Irgendwo brannten immer noch die Akten. Hunt wusste, dass sie nicht darauf vertrauen konnten, dass das gesamte Gebäude abbrannte - schließlich bestand es größtenteils aus Stein, nicht aus Holz -, doch wenn sie Glück hatten, würde hier noch deutlich mehr Schaden entstehen. »Helft mir!«, sagte Hunt und mühte sich ab, die Steinplatte erneut hochzuwuchten. Er hatte kaum noch Kraft in den Armen, und seine Muskeln schmerzten, doch gemeinsam gelang es ihnen, die Platte bis über ihre Köpfe zu stemmen. »Auf drei«, sagte Hunt. »Eins ... zwei ... drei!« Diesmal ließen sie die Platte nicht einfach fallen, sondern stießen sie regelrecht zu Boden. Es war dieser zusätzliche Schwung, davon war Hunt überzeugt, der endlich dazu führte, dass die Platte in drei ungleichmäßige Stücke zerbrach. Der Rauchgeruch wurde intensiver. Es fiel den Männern zunehmend schwer, zu atmen; wenn sie noch lange hierblieben, würden sie bald in dichten Rauch gehüllt sein und auf dem Weg zur Lobby die Orientierung verlieren, was ihren sicheren Tod bedeutete. Dennoch hoben sie die Bruchstücke der Steinplatte auf und schleuderten sie mit aller Kraft immer wieder auf den Boden und gegen die Wände, bis diese Schriftzeichen nicht mehr zu erkennen waren. Schließlich nahm Hunt das letzte Stück und schleuderte es den Gang hinunter, so weit weg, wie er nur konnte. Die Satzung war vernichtet. Die Insurance Group gab es nicht mehr. »Kommt!«, rief Hunt. »Nichts wie weg!« Der Geruch des Rauchs war jetzt überall, und die ersten schwarzen Rußschwaden zogen bereits durch mehrere Korridore und nahmen ihnen fast die Sicht. Dennoch waren die Gänge größtenteils leer; nur noch gelegentlich schlurften die mumienhaften Angestellten an ihnen vorbei. Sie schienen gleichgültig zu sein gegenüber dem, was hier vor sich ging. Doch Hunt und seine Freunde eilten durch die Gänge, am Labyrinth der Büroräume vorbei, ließen den verwitterten, steinalten Sekretär am Empfang hinter sich und erreichten schließlich die Lobby. In der Beth und Manuel soeben auf dem kreisförmigen Bodenausschnitt in die Tiefe geschwebt kamen, den auch Hunt und seine Gefährten benutzt hatten, um diese Räumlichkeiten zu erreichen. »Was macht ihr denn hier?«, rief Hunt ihnen zu. »Nichts wie raus! Hier stürzt bald alles in sich zusammen!« Der Kreis setzte auf dem Boden auf, und Beth lief auf Hunt zu. »Dieser Wächter oben vor dem Eingang«, stieß sie hervor, schlang die Arme um Hunt und schauderte. »Er ist einfach ... geschmolzen. Hat sich in einen dampfenden Haufen Schleim verwandelt. Und dann sind wir euch hinterhergekommen. Wir dachten, ihr würdet Hilfe brauchen.« Flüchtig erwiderte Hunt Beths Umarmung, während er fieberhaft nachdachte, wie sie am schnellsten fliehen konnten. Fünf weitere Kreise kamen aus der Decke herabgesunken. Auf vieren stand jeweils ein Versicherungsvertreter in verschiedenen Stadien des körperlichen Zerfalls. Einer von ihnen, in einen grauen, chinesischen Geschäftsanzug gekleidet, stand aufrecht und schien noch am Leben zu sein, doch auch er schmolz, genau wie Beth es von dem Zwerg am Eingang berichtet hatte. Die rechte Hälfte seines Schädels tropfte auf seine Schulter, und sein linkes Bein zuckte, als führe er einen krampfartigen Tanz auf. Hunt deutete auf den leeren Kreis. »Das da«, sagte er, »ist unsere Rückfahrkarte.« Beth wirkte unsicher. »Lass uns lieber so zurückgehen, wie wir hergekommen sind.« Jorge nickte. »Ja, das ist sicherer. Wir ...« Ein Stück der Decke brach herunter, ein riesiger Felsbrocken. Er krachte ein paar Meter hinter ihnen auf den Gang. Rauch quoll aus dem Durchgang, aus dem sie gerade eben gekommen waren - mit solcher Wucht, dass der Windstoß ihnen die Haare zerzauste und Rußflecken auf ihren Gesichtern hinterließ. »Schnell!«, sagte Joel und hustete. »Wir müssen verschwinden, sonst werden wir lebendig begraben!« »Sí!«, rief Manuel, und auf seiner Miene spiegelte sich Entsetzen. »Okay.« Hunt führte Beth zu dem Kreis und betrachtete die Konstruktion. Vier Personen mochte sie tragen, aber nicht fünf. »Ihr fahrt alle mit«, sagte er. »Ich komme nach.« »Nein!«, rief Beth verzweifelt. Hunt grinste. »Ich habe eine Lebensversicherung der Insurance Group.« »Jetzt nicht mehr«, warf Joel ein. »Geht!« Doch der Kreis wollte nicht wieder aufsteigen, und keiner von ihnen wusste, wie man ihn in Bewegung setzte. Jorge trat von dem Kreis herunter. »Versuch du 's«, sagte er zu Hunt. Donnern und Krachen waren zu hören, als ein Teil der gegenüberliegenden Wand einbrach. Hunt nickte und nahm den Platz ein, auf dem eben noch Jorge gestanden hatte. Nichts geschah. Der Kreis unter seinen Füßen zitterte nicht einmal. »Es ist kaputt!«, heulte Manuel auf. »Der andere«, sagte Hunt und zog Beth hinter sich her. »Selbst wenn es nicht unserer ist, muss er irgendwo hinführen.« Er lief zu dem leeren Kreis hinüber und stellte sich darauf. Sofort spürte er, wie ein kräftiges Zittern seinen ganzen Körper durchfuhr. »Kommt schon!«, rief er. Beth drängte sich an ihn, stellte sich auf seine Füße wie ein Kind, das mit dem Vater spielte, während Manuel sich gegen Hunts Rücken presste. So schafften sie es doch noch alle fünf, auf dem Kreis Platz zu finden. Und er begann aufzusteigen. Aus den Tiefen unter ihnen war ein entsetzlicher Schrei zu hören, so laut, dass Hunt beinahe das Trommelfell platzte. Hätte er nicht schreckliche Angst gehabt, das Gleichgewicht zu verlieren und in die Tiefe zu stürzen, hätte er sich die Ohren zugehalten. Unweigerlich musste er an das fürchterliche, sich windende Ungeheuer in der Grube denken, das Maul für alle Zeiten in einem lautlosen Schrei aufgerissen - der jetzt nicht mehr lautlos war. Der Schrei löste Hektik und Chaos bei allem und jedem aus, was nun tief unter Hunt und den anderen zurückblieb. All die schlurfenden, uralten Wesen strömten jetzt in die Lobby, wild entschlossen, die Eindringlinge zu vernichten. Doch deren Kreis war schon zu weit aufgestiegen, als dass sie ihn noch hätten erreichen können, und die Angestellten ... Ex-Angestellten ... der Versicherung konnten nichts mehr ausrichten, sprangen in hilfloser Wut auf und ab und ruderten wild mit den Armen. Ein weiterer riesiger Brocken brach aus der Decke und verfehlte den aufsteigenden Kreis nur um wenige Zentimeter. Beth klammerte sich fester an Hunt. Der Felsbrocken landete auf einer Gruppe der mumienhaften Wesen und zermalmte sie, doch ehe sie reglos liegen blieben, zuckten noch einmal ihre widernatürlich dürren Arme. Der Kreis stieg weiter empor. Und kam ins Freie. Wasser tropfte auf die Gefährten hinunter. Sie befanden sich im »Knast«. Hunt erkannte ihn sofort wieder, und seine Emotionen hätten ihn beinahe überwältigt: Sie waren wieder zu Hause! Sie hatten die Versicherungsgesellschaft besiegt, hatten diesem Schrecken ein für alle Mal ein Ende bereitet - dem Schrecken, der ihnen das Leben so lange zur Hölle gemacht hatte. Wortlos trat Hunt von dem Kreis herunter, der jetzt aussah wie eine normale Schachtabdeckung; dann schloss er Beth fest in die Arme. Er hatte keine Ahnung, wie es möglich war, dass sie die Hauptgeschäftsstelle in Chiapas in Mexiko betreten hatten und nun hier in Tucson, Tausende von Meilen entfernt, wieder herausgekommen waren. Und doch war es so, und Hunt nahm es nur zu gerne hin. Sie zwängten sich durch die halb offene, verrostete Tür ins Freie. Es war kurz nach Mittag, und die Sonne stand hoch am Himmel. Es war warm, die Luft klar und erfrischend. Verzweifelt versuchten die Gefährten, so schnell und so weit wie möglich von der Zerstörung und dem Inferno in der Tiefe fortzukommen, und rannten über den Sand auf den Südhang der Senke zu. »¿Dónde estamos?«, fragte Manuel, und Jorge antwortete: »Tucson.« »Das gibt dem Ausdruck multinationaler Konzern‹ eine ganz neue Bedeutung«, merkte Joel an. Es war kein allzu guter Scherz, doch sie alle lachten, während sie weiterrannten; sie lachten vor Stolz und Erleichterung. Beth wischte sich Tränen aus den Augen. Sie konnte noch immer nicht fassen, wie knapp sie gerade dem Tod entronnen waren. Am Rande der Senke blieben sie kurz stehen, ehe sie sich daranmachten, den Hang hinaufzuklettern. »Seht!«, sagte Beth. Hunt drehte sich um und sah, wie Rauch aus dem kleinen Gebäude drang. Deutlich zeichneten sich die Schwaden vor der Mittagssonne ab. »Ihr habt es geschafft!«, rief Beth. »Ihr habt es wirklich geschafft!« »Ja. Wir haben seine Police und die aller anderen Vertreter verbrannt. Dazu noch jede Menge Akten, die hoffentlich die neuesten Versicherungsabschlüsse enthielten - und hoffentlich waren unsere dabei.« »Und wir haben ihre Satzung zu Klump geschlagen«, ergänzte Joel. »Das dürfte bedeuten, dass sie erledigt sind und dass ihre schwachsinnigen Geschäftsbedingungen keine Gültigkeit mehr besitzen. Schluss, aus, vorbei.« Nervös schaute Beth zu dem kleinen Gebäude. »Wir sollten machen, dass wir hier wegkommen. Vielleicht fliegt das Ding in die Luft!« So müde und erschöpft sie auch waren, körperlich und geistig, so reichte das Adrenalin doch noch aus, sie den sandigen Hang erklimmen zu lassen. Oben angekommen, blieben sie stehen und warteten. Doch es gab keine Explosion und keine Implosion. Der Boden unter dem »Knast« tat sich nicht plötzlich auf und verschlang das kleine Gebäude. Wieder rief Hunt sich ins Gedächtnis, dass der »Knast« nichts anderes war als ein Portal - und dass die Versicherungsgesellschaft sich in Wirklichkeit gar nicht hier befand. Vielleicht war sie gar nicht in Mexiko gewesen. Doch wo immer die Versicherung tatsächlich gewesen war, sie existierte nicht mehr. Mit der Vernichtung der Satzung der Insurance Group hatten sie die Gesellschaft zerstört - und damit auch die Versicherungspolicen, an die Hunt und die anderen gebunden waren. Jorge setzte sich unter einen Grünholzbaum und schaute mit zusammengekniffenen Augen zu Hunt auf. »Und was machen wir jetzt mit unseren Versicherungen?« Er grinste. »Wohl doch wieder das Angebot des County annehmen, was?« »Ich wünschte, wir würden nie mehr eine Versicherung benötigen«, sagte Beth. »Aber wir brauchen sie«, gab Hunt zurück. »Und genau da liegt das Problem. Dem werden wir niemals entkommen können.« Er dachte an all die Namen im Versicherungshandbuch, das sie im Aktenkoffer des Vertreters entdeckt hatten. Die Insurance Group hatte viele Fangarme. Wie ein Krake. Vielleicht waren sämtliche Versicherungsgesellschaften auf der ganzen Erde Teil der gleichen Firmengruppe. Vielleicht waren sie auf geheimnisvolle Art und Weise miteinander verbunden, waren Tochtergesellschaften des gleichen Mutterkonzerns. Vielleicht gehörte der Insurance Group ja schlichtweg alles. Vielleicht war sie der letztendliche Ursprung sämtlicher Versicherungen, die es seit Anbeginn der Zeit auf der Welt gegeben hatte, von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen. Und vielleicht hatten sie dem ein Ende bereitet. Ja, vielleicht. Aber darüber wollte Hunt nicht mehr nachdenken. Irgendwann in der Zukunft würde vielleicht wieder ein Versicherungsvertreter zu ihnen kommen, um sie vor den Schicksalsschlägen des Alltagslebens zu beschützen, doch vorerst hatten sie die Versicherung besiegt, und Hunt hatte das Gefühl, dass es lange, sehr lange dauern würde, bis man sie wieder belästigte. »¿Qué ... Wie spät ist es?«, fragte Manuel. »Hat jemand eine Uhr?« »Will wirklich jemand wissen, wie spät es ist?«, fragte Jorge, zog sein Handy und versuchte, Ynez anzurufen. »Interessiert das jemanden?« Joel holte ebenfalls sein Handy hervor, um Stacy anzurufen. »Ich weiß auf jeden Fall, wie spät es nicht ist.« Müde lächelte Hunt und schaute zu Beth hinüber. »Halb Affenarsch, viertel vor Hodensack.« Manuel blickte ihn verwirrt an, doch Beth lachte befreit, während Hunt dankbar zum blauen Himmel aufblickte und tief die klare, köstliche Wüstenluft atmete. Bentley Little wurde in Arizona geboren, kurz nachdem seine Mutter die Weltpremiere von Psycho besucht hatte. Vor seiner Karriere als Autor schlug er sich mit Gelegenheitsjobs als Reporter, Bibliothekar, Zeitungsbote oder Kassierer durchs Leben. Mit seinem ersten Roman gewann Bentley Little den begehrten Bram-Stoker-Award und machte damit Stephen King auf sich aufmerksam. Seitdem gilt er als Meisterschüler des »King of Horror« und steht seinem Lehrer in nichts nach: Seine Romane begeistern weltweit Millionen Fans. Bentley Little lebt mit seiner Frau in Arizona und schreibt derzeit an seinem nächsten Roman.