Böse Bentley Little Bentley Little wurde in Arizona geboren, kurz nachdem seine Mutter die Weltpremiere von Psycho besucht hatte. Vor seiner Karriere als Autor schlug er sich mit Gelegenheitsjobs als Reporter, Bibliothekar, Zeitungsbote oder Kassierer durchs Leben. Mit seinem ersten Roman gewann Bentley Little den begehrten Bram-Stoker-Award und machte damit Stephen King auf sich aufmerksam. Seitdem gilt er als Meisterschüler des »King of Horror« und steht seinem Lehrer in nichts nach: Seine Romane begeistern weltweit Millionen Fans. Bentley Little lebt mit seiner Frau in Arizona und schreibt derzeit an seinem nächsten Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Dr. Rolf Tatje Für die Originalausgabe: Copyright © 2003 by Bentley Little Titel der Originalausgabe: »The Mailman« Für Wendy Mein Dank gilt meinem Agenten Dominick Abel und - einmal mehr - Keith Neilson für seinen Rat, seine Kritik und sein Wissen um alle dunklen und schrecklichen Dinge, ob groß oder klein. Dank auch an Don Cannon, den fachkundigen Buchhändler, und an Jeff Teets, den hervorragenden Fotografen. Und Dank an meine Familie, dass sie sich mit dem Postamt herumgeschlagen hat. 1. Es war der erste Tag des Sommers und Doug Albins erster Tag in Freiheit. Er stand auf der Veranda und blickte auf den mit Kiefern bestandenen Hügelkamm oberhalb der Stadt. Genau genommen war es nicht der erste Sommertag; der war erst in drei Wochen. Es war nicht einmal Dougs erster Ferientag; der war schon am Samstag gewesen. Aber es war der erste Tag, an dem die Schule geschlossen war. Als Doug nun am Geländer stand und die Aussicht genoss, fühlte er sich großartig. Er atmete tief ein und roch den würzigen Duft der Kiefern, vermischt mit dem Aroma von Schinkenspeck und Pfannkuchen, der vom Nachbarhaus herüberwehte. Düfte des Morgens. Es war kühl draußen, und es ging eine leichte Brise, aber Doug wusste, dass es nicht lange so bleiben würde. Der Himmel war tiefblau, ohne die kleinste Wolke; gegen Mittag würde die Temperatur weit über dreißig Grad liegen. Doug suchte den Horizont ab. Ein Falke kreiste gemächlich über seinem Kopf und bewegte sich in immer größeren Kreisen von ihm weg. Auf dem Hügelkamm konnte Doug den dünnen grauen Rauchfaden eines Lagerfeuers erkennen, der über den Bäumen aufstieg. In der Nähe sah er kleinere Tiere: Kaninchen, Eichhörnchen, sogar ein paar Kolibris. Doug war mit der Sonne aufgestanden, wie jeden Montagmorgen; diesmal aber nicht aus Notwendigkeit, sondern aus freien Stücken und ohne den Druck eines bevorstehenden Arbeitstages, der ihm sonst den Morgen verdarb. Er brauchte sich beim Anziehen nicht zu beeilen, musste sein Frühstück nicht herunterschlingen und konnte mehr als nur die Schlagzeilen der Zeitung lesen. Er musste überhaupt nichts. Der ganze Tag lag vor ihm, und er konnte damit anfangen, was er wollte. Die Eingangstür hinter ihm öffnete sich. Doug blickte sich um, als er den Riegel klicken hörte. Trish steckte den Kopf hinter dem Fliegengitter hervor. »Was willst du zum Frühstück?« Doug betrachtete ihre zerzauste Haarmähne und ihr verschlafenes Gesicht und lächelte. »Nichts. Ich hab keinen Hunger. Komm raus zu mir.« Trish schüttelte den Kopf. »Nee, ist mir zu kalt. Sag schon, was möchtest du? Du kannst das Frühstück nicht auslassen, nur weil du Ferien hast. Es ist ...« »... die wichtigste Mahlzeit des Tages«, beendete er den Satz für sie. »Ich weiß.« »Wie wär's mit Toast? Oder Waffeln?« Doug roch wieder das Frühstück im Nachbarhaus. »Eier«, sagte er. »Mit Speck.« »Nichts da«, entgegnete Trish. »Es gibt Müsli und Weizentoast. Du hast in letzter Zeit genug fettes Essen verschlungen. Denk an dein Cholesterin.« »Warum hast du mich dann überhaupt gefragt?« »Eine Prüfung. Du bist durchgefallen.« Sie schloss die Gittertür. »Sobald du deine Zwiesprache mit Mutter Natur beendet hast, komm rein. Und mach die Tür zu. Es friert heute Morgen.« Er lachte. »So kalt ist es auch wieder nicht.« Doch Trish hatte die Tür schon geschlossen, und er stand allein auf der Veranda und blickte über die Ponderosa-Kiefern hinweg auf die felsigen Klippen der Hügelkette hinter der Stadt. Der dünne Rauchfaden des Lagerfeuers wurde vom Wind zerfasert und bildete nun einen grauen Streifen am meerblauen Himmel. Noch einmal nahm Doug einen tiefen Atemzug, hungrig nach dem Sommer, voller Verlangen, die köstliche Freiheit zu atmen. Doch irgendetwas hatte sich verändert: Die Brise trug einen bittersüßen Geruch heran, der Doug auf unbestimmte Weise vertraut war und ein seltsames Gefühl des Verlusts in ihm weckte, das er nicht zuordnen konnte. Die friedliche Stimmung verflog, und er wandte sich vom Geländer der Veranda ab. Ein Kolibri summte auf dem Weg zur Futterstelle neben dem Küchenfenster an seinem Kopf vorbei, als er das Haus betrat. Trish bereitete das Frühstück und schnitt Scheiben vom selbstgebackenen Brot ab. Auf Müsli hatte sie zu Dougs Erleichterung verzichtet, doch er sah eine offene Pappschachtel mit Haferbrei neben dem Topf auf dem Herd. Ein Krug Orangensaft stand auf der Anrichte. Trish blickte auf, als Doug ins Zimmer kam. »Du könntest Billy wecken«, sagte sie. »Lass den Jungen schlafen«, entgegnete Doug. »Es ist Ferienzeit.« »Ich will nicht, dass er den ganzen Tag im Bett vertrödelt.« »Es ist halb sieben.« »Bring ihn einfach dazu, dass er aufsteht.« Trish widmete sich wieder dem Brot und schnitt den runden Laib in gleichmäßig dünne Scheiben. Doug stieg absichtlich laut die Treppe zum Dachgeschoss des Hauses hinauf und hoffte, dass seine polternden Schritte den Jungen weckten. Doch Billys Füße lugten noch unter der Decke am Kopfende des Bettes hervor, und sein Kopf auf dem Kissen am Fußende war zugedeckt. Doug stieg über Unterwäsche, Socken, Hemd und Hose hinweg, die über den Boden verstreut waren. Das Sonnenlicht fiel durch einen Spalt zwischen den grünen Vorhängen - ein Keil heller Strahlen, der die Poster von Rockstars und Sportlern an den Dachschrägen beleuchtete. Doug zog die Decke vom Kopf seines Sohnes. »Okay, du Penner, hoch mit dir.« Billy stöhnte und griff nach der Decke, um sie sich wieder über den Kopf zu ziehen. »Wie spät isses?« »Fast neun.« Ein Auge öffnete sich, um auf die Armbanduhr zu blinzeln, die an einem Band von der schrägen Decke über dem Bett hing. »Es ist erst sechs! Was soll der Scheiß?« Wieder griff er nach der Decke, diesmal aggressiver. »Viertel vor sieben. Komm, steh auf.« »Okay. Ich bin ja schon hoch. Lass mich jetzt!« Doug lächelte. Der Junge kam nach seiner Mutter. Nach dem Aufstehen war Trishs Laune oft so, als hätte sie die halbe Nacht durchgefeiert: Sie war kaum ansprechbar und unausstehlich. Doug war das genaue Gegenteil. Er war morgens »unerträglich gut drauf«, wie einer seiner alten Mitbewohner es ausgedrückt hatte. Deshalb hatten er und Trish es sich angewöhnt, sich in der ersten halben Stunde nach dem Aufstehen aus dem Weg zu gehen. Er ließ Billy die Decke, und obwohl der Junge sofort wieder den Kopf darunter versteckte, wusste Doug, dass er bald nach unten kommen würde. Ehe Doug die Treppe hinunterstieg, verabschiedete er sich mit einem »Nun komm schon, steh auf«, auf das er jedoch keine Antwort erhielt. Er setzte sich an die Theke aus Resopal, die Wohnzimmer und Küche trennte und die sie als Frühstückstisch benutzten. Trish, die den Haferbrei umrührte, drehte sich um. »Welche Pläne hast du für heute?« Er grinste. »Es ist Sommer. Ich habe keine Pläne.« Sie lachte. »Das hatte ich befürchtet.« Sie drehte die Herdflamme aus, ging zum Küchenschrank und nahm drei Schalen heraus. »Ich dachte, du wolltest Billy wecken.« »Er ist auf.« »Er ist nicht am Tisch, und ich höre oben keine Geräusche.« »Soll ich ihn holen?« Trish schüttelte den Kopf. »Ich mach das schon.« Sie ging ins Wohnzimmer und blickte zum Geländer des halb offenen Dachgeschosses hinauf. »Billy!«, rief sie. In ihrer Stimme lag ein Unterton von Zorn; ob echt oder nicht, konnte Doug nicht sagen. »Frühstück ist fertig.« Sie hörten einen gedämpften Fluch, gefolgt vom Tappen nackter Füße in Billys Zimmer. Zwei Minuten später kam er die Treppe herunter. Nach dem Frühstück ging Trish nach draußen, um im Garten zu arbeiten. Billy schaute sich die Today-Show an und fuhr dann mit seinem Rad los, um im Wald zu üben. Gegen Ende Juli gab es einen Mountainbike-Wettbewerb, an dem er teilnehmen wollte. »Sei vorsichtig!«, rief Doug ihm von der Veranda hinterher, als der Junge wild in die Pedale trat und über den Feldweg raste, der zwischen den Bäumen hindurch auf die Hügel führte, doch entweder hörte Billy ihn nicht, oder er hatte nicht die Absicht, vorsichtig zu sein. Trish blickte vom Unkrautjäten auf. »Ich mag es nicht, wenn er so verrückt Rad fährt.« »Das ist schon okay.« »Es ist nicht okay. Es ist gefährlich. Eines Tages wird er sich einen Arm oder ein Bein brechen. Ich wünschte, du würdest ihn nicht noch bestärken.« »Ich bestärke ihn doch gar nicht.« Sie lächelte schelmisch. »Erzähl mir nicht, dass es dir nicht gefällt, wenn er mit dem Rennrad ...« »Es ist kein Rennrad, es ist ein Mountainbike.« »Schon gut, Herr Lehrer. Es sind Sommerferien. Du brauchst mir keinen Unterricht zu erteilen.« Doug kicherte. »Einmal Lehrer, immer Lehrer.« Spielerisch streckte sie ihm die Zunge heraus und widmete sich dann wieder dem Unkrautjäten. Doug ging ins Haus zurück und machte den Fernseher aus. Einen Augenblick stand er im Wohnzimmer und überlegte: Es gab ein paar Dinge, um die er sich an diesem Morgen noch kümmern musste - Korrespondenz, die er in den letzten beiden Wochen wegen der Abschlussarbeiten seiner Schüler vernachlässigt hatte. Er beschloss, diese Dinge zu erledigen, ehe er sich an seine wichtigen Vorhaben machte, darunter sein großes Projekt für diesen Sommer, den Lagerschuppen. Es war jetzt drei Jahre her, dass er Trish versprochen hatte, hinter dem Haus einen Schuppen zu bauen, um ihre Werkzeuge und Gartengeräte, das Brennholz und die Abfälle darin zu deponieren. Obwohl Doug noch in jedem Juni geschworen hatte, den Schuppen zu bauen, hatte er sich irgendwie nie dazu aufraffen können. Dieses Jahr aber hatte er Nägel mit Köpfen gemacht und einen Schuppen aus vorgefertigten Bauteilen gekauft. Doch er beschloss, erst einmal die Büroarbeit zu erledigen und die Woche dann mit Lesen und Nichtstun zu verbringen. Da er seine Ungeschicklichkeit mit Werkzeugen und seine Aversion gegen körperliche Arbeit kannte, würde der Geräteschuppen - theoretisch ein Projekt von einer oder zwei Wochen - wahrscheinlich den ganzen Sommer in Anspruch nehmen, und er wollte wenigstens einen Teil seiner Ferien genießen. Doug ging durch die Küche und über den kurzen Flur zum Schlafzimmer. Sein Schreibtisch stand auf der anderen Seite des Bettes, ungünstig nahe beim Kleiderschrank. Ein Stapel Bücher und Papiere lag neben der staubigen, nicht abgedeckten Schreibmaschine. Doug schob alles zur Seite, als er sich auf den harten Metallstuhl setzte, den er anstelle des hölzernen Drehstuhls benutzte, den er ursprünglich haben wollte. Rasch blätterte er den Stapel durch. Rechnungen. Rechnungen. Noch mehr Rechnungen. Ein Brief von einem ehemaligen Schüler, der in die US Army eingetreten war. Sein Antrag für ein Forschungsjahr. Doug ließ alles andere auf den Tisch fallen, hielt das gelbe Antragsformular hoch und starrte wie benommen darauf. Bei dem Antrag ging es um ein Programm der Regierung, das Lehrern mit bestimmten Unterrichtsfächern eine einjährige Befreiung vom Schuldienst bot, sodass sie sich mit Forschungsarbeiten beschäftigen konnten. Es gab nichts, was Doug wirklich erforschen wollte oder konnte, aber er war scharf auf das unterrichtsfreie Jahr und hatte zu diesem Zweck eine ziemliche überzeugende Bewerbung geschrieben. Allerdings war er sicher gewesen, den Antrag bereits vergangenen Monat abgeschickt zu haben, was aber offensichtlich nicht der Fall war. Er blickte auf die Abgabefrist auf dem Formular. Siebter Juni. In fünf Tagen. »Scheiße«, murmelte er. Er steckte den Antrag in einen Umschlag, adressierte ihn, klebte eine Marke darauf, ging nach draußen und stieg die Stufen der Veranda hinunter. »Was ist das?«, fragte Trish. »Mein Antrag auf das Forschungsjahr. Ich hab vergessen, ihn abzuschicken.« Sie grinste ihn an. »Einmal Lehrer, immer Lehrer.« »Sehr witzig.« Doug ging über die Kiesauffahrt zum Briefkasten, öffnete den Metalldeckel, legte den Umschlag hinein und richtete den roten Wimpel auf. Dann ging er über den Kies zurück, wobei er seine nackten Füße vorsichtig setzte. Bob Ronda, der Postbote, würde den Brief gegen Mittag abholen; gegen vier würde er auf der Post sein, am nächsten Morgen in Phoenix ankommen und wahrscheinlich zwei oder drei Tage später in Washington eintreffen. Es wurde eng, aber wahrscheinlich würde es noch reichen. Doug ging ins Haus, um sich den Rechnungen zu widmen. Doug und Trish aßen auf der Veranda Sandwiches zu Mittag, während Billy drinnen aß und sich eine Wiederholung von Andy Griffith anschaute. Es war hochsommerlich, und sie neigten den Sonnenschirm über dem Tisch, um die Gluthitze und das grelle Licht abzuhalten. Danach machte Doug den Abwasch, und sie zogen sich beide auf die gepolsterten Gartenstühle auf der Veranda zurück, um zu lesen. Eine Stunde verging, doch Doug konnte sich einfach nicht entspannen. Immer wieder sah er von seinem Buch auf und horchte vergeblich auf das stotternde Husten, das Bob Rondas Auto von sich gab, auf das metallische Quietschen alter Bremsen. Er dachte daran, dass seine Bewerbung im Postkasten nutzlos vergammelte, und war verärgert, dass der Postbote nicht pünktlich aufgetaucht war. Er blickte zu Trish hinüber. »Die Post ist noch nicht durch, oder?« »Ich glaube nicht.« »Mist«, murmelte Doug. Er wusste, dass er Bob Ronda nicht zum Sündenbock machen konnte; schließlich war es seine eigene Dummheit gewesen, so lange mit dem Abschicken des Antrags für das Forschungsjahr zu warten. Aber Doug konnte nicht anders: Er ärgerte sich über den Postboten. Wo blieb der Kerl? Doug seufzte, widmete sich wieder seinem Buch und versuchte zu lesen, konnte sich aber nicht konzentrieren und gab es bald auf. Seine Gedanken schweiften ständig ab, und er ertappte sich dabei, dass er immer wieder denselben Satz las, ohne ihn zu begreifen. Schließlich legte er das Buch auf den Tisch, ließ sich tiefer in den Stuhl rutschen und schloss für einen Moment die Augen. Er hörte, wie Trish aufstand und ins Haus ging; dann war das summende Rauschen von Wasser in der Leitung zu vernehmen, als Trish sich in der Küche etwas zu trinken einschenkte. Der Wagen des Postboten kam und kam nicht. Trish kam wieder nach draußen. Die Dielen der Veranda knarrten laut unter ihren nackten Füßen, und Doug schlug die Augen auf. Irgendetwas stimmte nicht. Bob Ronda erschien jeden Tag gegen elf, spätestens zwölf Uhr. Er unterhielt sich dann gern und blieb oft noch ein Weilchen, um mit den Leuten zu plaudern. Aber er kannte auch seine Aufgaben und erledigte seine Arbeit pünktlich und effizient. Jedes Jahr kamen auf Bob Rondas Runde neue Leute hinzu - Familien bezogen in den Ferien ihre Sommerhäuser in dieser Gegend -, doch irgendwie fand er jedes Mal die Zeit, ein Schwätzchen zu halten und seine Runde trotzdem gegen vier Uhr zu beenden. Bob stellte nun schon seit zwanzig Jahren die Post zu, als das Städtchen Willis noch so wenige Einwohner gehabt hatte, dass der Job des Postboten eine Teilzeitstelle gewesen war. Jetzt trug Bob Ronda eine Mütze des US Postal Service, dazu Levi's Jeans und Westernkleidung, und fuhr immer noch seinen verbeulten blauen Dodge. Bob Ronda war ein großer, schwerer Mann mit weißem Vollbart, der sein Postboten-Credo sehr ernst nahm und die Post selbst dann noch zustellte, wenn er sich erkältet hatte oder sonst wie erkrankt war. Deshalb kam bei Bob die Post nie zu spät. Bis heute. Doug blickte auf die Uhr. Es war Viertel nach zwei. Er stand auf. »Ich fahre in die Stadt und gebe meinen Antrag direkt im Postamt auf. Ich kann nicht länger warten. Die Post wird um vier Uhr weitergeschickt. Wenn der Antrag nicht rechtzeitig da ist, kann ich das Forschungsjahr vergessen.« »Du hättest nicht so lange warten sollen.« »Ich weiß. Aber ich dachte, ich hätte das verdammte Formular schon abgeschickt.« Trish stand auf und zupfte an ihren verschwitzten Shorts, die an ihrem Hintern klebten. »Ich gebe den Brief ab. Ich fahre sowieso in die Stadt.« »Wieso?« »Das Abendessen. Ich habe gestern alles vergessen, was ich dafür brauche.« »Lass mich fahren.« Trish schüttelte den Kopf. »Du bleibst hier und ruhst dich aus, weil du morgen die Veranda streichen wirst.« »Ach ja?« »Ja. Jetzt geh und hol deinen Antrag. Ich ziehe mir inzwischen die Schuhe an und sortiere meine Einkaufsgutscheine.« Kichernd ging Doug über die Auffahrt zum Briefkasten. Er holte den Umschlag heraus und kam zum Haus zurück. Die Vorhänge in den Fenstern vorn heraus waren zugezogen, um die Nachmittagssonne abzuhalten, und auf dem kleinen Tisch neben der Hutablage war ein Ventilator aufgestellt, der in einem Winkel von neunzig Grad hin und her schwenkte und für eine Brise sorgte, die so ziemlich alles kühlte - vom Kamin und dem Bücherschrank an der linken Wand bis zu der Couch, auf der Billy lag und sich Familie Feuerstein anschaute. »Mach das aus«, sagte Doug. »Warum verschwendest du deinen Tag vor der Glotze?« »He, das ist Familie Feuerstein. Außerdem ist Sommer. Was soll ich sonst machen? Lesen?« »Zum Beispiel.« »Man liest doch nicht zum Vergnügen.« »Deine Mutter und ich schon.« »Ich nicht.« »Warum nicht?« »Ich lese, wenn ich muss. Das reicht.« Doug schüttelte den Kopf. »Wenn die Sendung vorbei ist, machst du den Kasten aus und suchst dir eine sinnvolle Beschäftigung.« »Ja, ja, schon okay«, sagte Billy gereizt. Trish kam aus dem Schlafzimmer, setzte ihre Sonnenbrille auf und zog ihre Tasche über die Schulter, die Schlüssel in der Hand. Sie trug weiße Shorts und ein dünnes weißes Matrosenhemd und hatte ihr langes braunes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. »Was meinst du?«, fragte sie und drehte sich um die eigene Achse wie ein Model. »Susan St. James?« »Ich würde eher sagen, Susan Secondhand.« Sie stieß ihn mehr oder weniger freundschaftlich an. »He, das hat wehgetan.« »Das sollte es auch.« Sie nahm ihre Einkaufsliste von der Theke. »Brauchen wir sonst noch was außer Milch, Brot und Essen für heute Abend?« »Cola«, sagte Billy. »Mal sehen«, sagte sie und steckte die Liste in ihre Tasche. Doug reichte ihr den Umschlag mit dem Antragsformular und folgte ihr zum Ford Bronco. »Cola!«, rief Billy noch einmal von drinnen. Trish lächelte und stieg in den Wagen. »In ungefähr einer Stunde bin ich wieder da.« Doug küsste sie durch das geöffnete Fenster. »Okay. Danke.« »Aber morgen streichst du.« »Morgen streiche ich.« Trish setzte aus der Auffahrt zurück und fuhr über den ungepflasterten Weg in Richtung Stadt, wobei sie die Seitenfenster hochfahren ließ, um den Staub draußen zu halten; dann schaltete sie die Klimaanlage ein. Der erste Schwall Luft, der aus den Lüftungsdüsen drang, war abgestanden und feucht, wurde aber rasch erfrischend kühl und trocken, als sie an den anderen Häusern vorbeifuhr, die verstreut an dem Waldstück standen. Die Straße wand sich um die Flanke des Hügels und führte dann hinunter zu einem Bach. Mit der routinierten Sicherheit einer Einheimischen fuhr Trish durch die niedrige Furt. Die Reifen des Bronco ließen das Wasser aufspritzen, als sie durch den Bach holperten. Als Trish auf die gepflasterte Straße gelangte, fuhr sie langsamer und kreuzte die erste Querstraße. Sie war froh, dass Sommer war und Doug nicht arbeiten musste; aber sie wusste, dass sie ein paar Verhaltensregeln würde festlegen müssen, so wie sie es jeden Sommer tat. Doug hatte Ferien, und das war gut, aber auch sie brauchte Freizeit - nur gab es leider keine Möglichkeit, als Hausfrau und Mutter viel freie Zeit abzuzweigen. Diese Jobs waren Vollzeitbeschäftigungen, die obendrein das ganze Jahr andauerten. Wenn sie Doug sich selbst überließ, würde er den ganzen Sommer herumhängen, auf der Veranda liegen und lesen und rein gar nichts tun. Es war an ihr, ihm klarzumachen, dass die Mahlzeiten, die sie aßen, gekocht werden mussten, dass anschließend das Geschirr gespült werden musste und dass das Haus sich nicht von selbst in Schuss hielt. Man konnte von Doug nicht erwarten, Hausfrauenarbeit zu erledigen, aber er konnte wenigstens mithelfen: Staub saugen, Geschirr spülen, den Hof harken. Sie, Trish, würde immer noch den Löwenanteil der Arbeit erledigen, aber es würde ihr schon sehr helfen, wenn Doug ein paar Pflichten mit ihr teilte. Die Straße wand sich am Wohnwagenpark vorbei, ehe sie auf die Hauptstraße traf. Trish setzte den Blinker und bog links ab. In der Stadt war es ruhiger als sonst. Auf dem Parkplatz bei Bayless standen ein paar Wagen, und mehrere Wohnmobile waren auf der Straße unterwegs, deren Besitzer zu den Seen fuhren oder von dort kamen. Doch es herrschte nicht der gewohnt dichte Berufsverkehr des Montagnachmittags. Trish fuhr an der Exxon-Tankstelle vorbei und die Pine Street entlang zur Post. Im Postamt war es immer voll, und der heutige Tag machte da keine Ausnahme. Der kleine Parkplatz stand voller Limousinen und staubiger Pick-ups. Drei Wagen bildeten bereits eine Mini-Schlange auf der Straße und warteten auf den nächsten freien Platz. Anstatt zu warten, fuhr Trish auf den Parkplatz des Chiropraktikers nebenan und ging das kurze Stück bis zur Post zu Fuß. Sie parkte im Schatten einer Ponderosa-Kiefer und ging um die kleine Ziegelmauer herum, die das Postamt und die Praxis des Chiropraktikers trennte. Trish bemerkte, dass das Sternenbanner sowie die Flagge von Arizona vor dem Postamt auf Halbmast wehten. Sie versuchte sich zu erinnern, ob heute der Gedenktag für irgendeine historische Persönlichkeit oder ein geschichtliches Ereignis war. Ihr fiel nichts ein. Vielleicht war kürzlich irgendein Politiker gestorben, und sie hatte noch nicht davon gehört. Sie stieg die Stufen hinauf, öffnete die Tür und trat ein. Der Verdunstungskühler auf dem Dach des Postamts hatte die Innentemperatur gesenkt, die Luftfeuchtigkeit jedoch erhöht, sodass es praktisch gar nichts brachte. Die Schlange am Schalter war lang und erstreckte sich durch die Doppeltür bis in die Halle neben den Postfächern. Howard Crowell, der örtliche Postchef, stand hinter dem Schalter. Trish sah sofort, dass er eine schwarze Armbinde trug. Sofort bekam sie ein flaues Gefühl im Magen. Sie stellte sich ans Ende der Warteschlange hinter Grady Daniels. Daniels drehte sich um und blickte Trish an. »Eine Schande«, sagte er. »Eine verdammte Schande.« »Was?« »Bob Ronda«, sagte er. »Was ist passiert?« »Sie haben es noch nicht gehört?« Trish schüttelte den Kopf. Grady senkte die Stimme. »Er hat sich heute Morgen das Hirn weggepustet. Mit einer Schrotflinte.« Der Postchef blickte wie benommen hoch, als der Kunde ging, den er soeben bedient hatte. »Der Nächste.« Trish richtete den Blick die ganze Zeit auf Howard, während sie sich in der Schlange voranbewegte. Ihr war kalt geworden. Howards Augen waren rot und feucht, seine Wangen gerötet. Es war offensichtlich, dass die Tragödie ihn zutiefst schockiert hatte. Seine Stimme, normalerweise laut und polterig, war rau und gedämpft, und seine Hände zitterten, als er Briefmarken und Wechselgeld herausgab. Bob Ronda war nicht nur Howards einziger Angestellter gewesen, sondern auch sein bester Freund. Es hatte kaum einen Samstagabend gegeben, an dem die beiden nicht den Corral besucht hatten, die örtliche Kneipe, wo sie dem Countryswing der Toronto Trailblazers lauschten, ein paar kühle Bierchen zischten und über Gott und die Welt diskutierten. Es war kein Geheimnis, dass Howards Frau ihn vor zwei Jahren verlassen hatte, auch wenn er darauf beharrte, dass sie in Tucson ihre behinderte Mutter pflegte; seit jener Zeit waren Howard und Bob Ronda fast unzertrennlich gewesen. Ellen, Rondas Frau, hatte sich sogar beklagt, dass ihr Mann mehr Zeit mit Howard verbrachte als mit ihr. Die Schlange bewegte sich weiter voran, bis Trish und Grady ganz vorn standen. »Der Nächste«, sagte Howard. Grady trat vor. »Ich möchte meine Post abholen«, sagte er. Trish fiel ein Schild ins Auge, das mit Klebeband am Schalter befestigt war: »Die Post wird nur noch montags, mittwochs und freitags zugestellt, bis ein neuer Postbote eingestellt wurde. Das Postamt ist vorübergehend nur dienstags und donnerstags geöffnet. Danke für Ihr Verständnis.« Neben dem Schild befand sich eine Todesanzeige für Bob Ronda. »Wie lange wird es dauern, bis wir einen neuen Postboten haben?«, fragte Grady. »Von mir wird der nicht eingestellt«, antwortete Howard. »Das Hauptpostamt in Phoenix schreibt einmal im Jahr offene Stellen aus, und die kümmern sich dann um alles Weitere. Ich habe heute Morgen angerufen und einen Antrag für einen neuen Postboten gestellt, aber es wird wohl ein paar Wochen dauern, ehe sie jemanden schicken.« »Es ist eine Schande, was mit Bob passiert ist«, sagte Grady. »Eine verdammte Schande.« Howard nickte schweigend. Grady bekam seine Post, winkte zum Abschied, und Trish trat an den Schalter vor. »Wie geht es Ihnen, Howard?«, fragte sie mitfühlend und legte ihre Hand auf seine. Er zuckte mit den Achseln; sein Blick war verschwommen und ging ins Leere. »So gut, wie man's erwarten kann.« »Ich habe es gerade erst gehört. Es ist schrecklich.« »Ja.« »Bob schien nicht ... ich meine, er machte nicht den Eindruck, als ob er so etwas tun könnte.« »Das habe ich den Leuten schon den ganzen Tag gesagt. Ich kann nicht glauben, dass er sich umgebracht hat. Die Leute sagen das immer, wenn so was passiert, aber normalerweise gibt es doch Gründe dafür. Scheidung, Tod des Ehepartners, Verlust des Arbeitsplatzes. Aber da ist nichts! Ich war gestern Abend noch bei Bob zu Hause. Er, Ellen und ich haben zu Abend gegessen und uns nett miteinander unterhalten. Alles war normal. Bob war überhaupt nicht deprimiert oder so. Er war nicht glücklicher als sonst und nicht trauriger, weder gesprächiger noch weniger gesprächig. Es war wie immer. Er hat sich auch nicht mit Ellen gestritten. Wenn das mal vorkam, sind Bob und ich immer auswärts essen gegangen, ohne Ellen.« Er schüttelte den Kopf und starrte für einen Augenblick auf den Schalter; dann blickte er Trish an und versuchte zu lächeln. Das Ergebnis sah auf seinem schmerzerfüllten Gesicht schaurig aus. »Tja, Trish, was kann ich für Sie tun?« »Ich bin nur gekommen, um einen Brief abzugeben und ein Briefmarkenheftchen zu kaufen.« »Ein Briefmarkenheftchen, okay«, sagte Howard und schob die Briefmarken zu ihr über den Schalter. Trish bezahlte und drückte dann leicht seine Hand. »Wenn Sie irgendwas brauchen, rufen Sie an«, sagte sie. »Egal wann.« Howard nickte müde. »Mach ich.« Trish entfernte sich vom Schalter. Hinter sich hörte sie Howards benommene Stimme: »Der Nächste.« 2. Das Begräbnis war gut besucht. Fast jeder im Ort kannte Bob Ronda und hatte ihn mit Vornamen angeredet, und fast jeder hatte ihn gemocht. Auf dem Friedhof drängten sich die Menschen, und viele der zu spät Gekommenen mussten außerhalb des schmiedeeisernen Tores auf dem Hang des kleinen Hügels stehen. Bob war nie ein Kirchgänger gewesen, und so hatte Ellen beschlossen, dass der gesamte Gottesdienst am Grab gehalten werden sollte. Sie stand neben dem Pfarrer, in einem schlichten schwarzen Kleid, und starrte auf den Boden. Mit der Rechten umklammerte sie ein verknittertes weißes Taschentuch und knetete es geistesabwesend zwischen den Fingern. Es ging das Gerücht, dass Ellen fast verrückt geworden sei, als sie die Leiche ihres Mannes gefunden hatte, dass sie geschrien und gekreischt und alles im Haus kurz und klein geschlagen und sich sogar die Kleider vom Leib gerissen hätte und dass Dr. Roberts sie seitdem unter schwere Beruhigungsmittel gesetzt habe. Als Doug sie nun sah, wie sie von ihren erwachsenen Söhnen gestützt wurde, konnte er es sich beinahe vorstellen. Der Zeitungsbericht über den Selbstmord war skizzenhaft und allgemein gewesen - eine höfliche, die Fakten gnädig verhüllende Darstellung aus Respekt vor den Hinterbliebenen. Doch in einem Ort wie Willis verbreiteten sich die Neuigkeiten manchmal durch schnellere Kanäle als die Presse, und gegen Mittag des folgenden Tages hatte fast jeder die ganze Geschichte gehört. Offenbar war Bob Ronda aufgestanden, ehe seine Frau wach geworden war, hatte in der Garage seine abgesägte Schrotflinte geholt und war ins Badezimmer gegangen. Dort hatte er sich nackt ausgezogen, hatte sich in die Badewanne gelegt, hatte sich die Mündung der Schrotflinte in den Mund geschoben und sich ein Loch in den Schädel gepustet. Blut und Knochensplitter waren gegen die Fliesen hinter ihm gespritzt und tropften in die Wanne, als Ellen ins Bad gestürzt kam. Es hatte keinen Abschiedsbrief gegeben. Es gab noch andere Versionen der Geschichte. Eine Version, der Doug jedoch keinen Glauben schenkte, besagte, dass Ronda auf der Schrotflinte gesessen habe und sich das Blei in die Innereien gejagt hätte. Eine weitere Version: Er habe sich den Lauf in die Augenhöhle geschoben und ein Auge zerquetscht, eher er abgedrückt hatte. Doch diese grässlichen Gerüchte waren rasch wieder verstummt. Billy hatte die Nachricht vom Selbstmord des Postboten tief erschüttert. Er hatte noch alle vier Großeltern, hatte noch nie auch nur ein Haustier verloren. Bob Rondas Selbstmord war seine erste Begegnung mit dem Tod. Billy hatte Bob Ronda sehr gemocht, wie die meisten Kinder in der Stadt, und es war ein Schock für ihn gewesen, dass der Postbote sich das Leben genommen hatte. Billy war die letzten beiden Tage still, bedrückt und ungewöhnlich nachdenklich gewesen. Trish und Doug hatten lange darüber diskutiert, ob der Junge zur Beerdigung mitgehen sollte. Am Ende hatten sie sich dagegen entschieden: Beide waren der Meinung, ihrem Sohn den Anblick der Trauernden und des Sarges ersparen zu können, und so hatten sie Mrs. Harte ins Haus kommen lassen, damit sie am Vormittag auf Billy aufpasste. Wenn sie zurückkamen, würden sie mit Billy in Ruhe über das Begräbnis reden, damit er begriff, was geschehen war. Der Pfarrer stand am Grab vor dem geschlossenen Sarg und las aus der Bibel. Taktvoll verzichtete er darauf, die Todesursache zu nennen, und redete stattdessen von der Lücke, die Bob Ronda in seiner Familie und der Stadt hinterlassen würde. Doug lauschte dem Pfarrer, ertappte sich jedoch dabei, dass seine Gedanken abschweiften. Obwohl er traurig war, hätte er irgendwie trauriger sein sollen. Er hätte ebenso sehr durch die Worte, die er hörte, bewegt sein sollen, wie durch seine Gedanken und Erinnerungen. Was den Worten des Pfarrers fehlte, wurde Doug klar, war aufrichtige Anteilnahme: Viele Trauergäste hätten eine bessere und mehr von Herzen kommende Grabrede halten können - Menschen, die Ronda persönlich gekannt und ihn gemocht hatten. Der Barkeeper aus dem Corral zum Beispiel. Oder George Riley. Oder Howard Crowell. Doug ließ den Blick über die Menge schweifen, bis er den Postchef gefunden hatte. Howard stand neben Bob Rondas Familie; er trug einen neuen schwarzen Anzug, den er extra für diesen Anlass gekauft hatte, und schluchzte, ohne es zu verbergen. Offensichtlich lauschte er den Worten des Predigers, und sein Blick schien vom Sarg gefesselt zu sein. Doug runzelte die Stirn. Neben Howard stand - in einer hellblauen Postuniform, die einen deutlichen Kontrast zur schwarzen Kleidung der anderen Trauernden bildete - ein Mann, den er noch nie gesehen hatte. Groß und dünn, mit rotem Haarschopf und langem, blassem Gesicht. Der Mann starrte in die Ferne und war offensichtlich von der Beerdigung gelangweilt. Obwohl Doug nicht nahe genug war, um den Gesichtsausdruck des Fremden erkennen zu können, spürte er Arroganz und Geringschätzung in der Haltung des Mannes. Er drehte sich behäbig, um den Pfarrer anzuschauen, und das Sonnenlicht glänzte auf einer Reihe auffälliger Knöpfe an seiner Uniformjacke. Bei jedem anderen hätte diese Uniform würdevoll ausgesehen, vielleicht sogar Respekt gebietend, doch an ihm wirkte sie seltsam clownhaft, wie eine Zirkusuniform, und führte dazu, dass das Begräbnis trivial erschien. Der Fremde drehte sich wieder um und blickte über die Menge hinweg, und Doug hatte das plötzliche und unerklärliche Gefühl, dass der Mann ihn direkt ansah. Er wurde nervös, schaute rasch zur Seite und richtete den Blick dann wieder auf Howard. Trish schien den Fremden gar nicht zu bemerken. Ihr Blick war auf Howard gerichtet, auf seine nassen Wangen und sein Gesicht, auf dem sich Schmerz und Erschütterung spiegelten. Er sah verloren aus, hoffnungslos und hilflos. Trish beschloss, ihn bald zum Abendessen einzuladen. Wahrscheinlich hatte ihm diese Woche die halbe Stadt solche Angebote gemacht, doch Trish wusste, dass er Doug und sie mehr mochte als die meisten anderen, und sie hoffte, ihn ein wenig aufmuntern zu können. Trish blickte zu Ellen Ronda hinüber, die auf der anderen Seite neben Howard stand. Sie hatte die Frau nie so recht gemocht. Ellen war ihr immer zu hart erschienen, zu ehrgeizig für Bob, der ein liebenswürdiger und bescheidener Mann gewesen war. Doch der Schmerz, der trotz der Wirkung der Beruhigungsmittel zu erkennen war, ließ keinen Zweifel daran, dass Ellen ihren Mann von ganzem Herzen geliebt hatte und dass sie seinen Verlust nur schwer verwinden würde. Trish musste gegen die Tränen ankämpfen. Der Himmel über ihnen war strahlend blau, und die Sonne brannte schon um zehn Uhr morgens heiß. Von hier aus konnte Trish den größten Teil des Ortes sehen: die stumpfblaue Mauer des Restaurants, die hinter dem Valley National Building hervorlugte, und das kleine Büro der Handelskammer; Teile des Einkaufszentrums, die zwischen den Stämmen und Ästen der Bäume hindurchschimmerten; die knallbunten Schilder der Tankstellen und Fastfood-Restaurants in dem neueren Viertel dahinter. In größerer Nähe, auf der anderen Seite der Wiese, die den Friedhof vom Golfplatz trennte, befand sich der ursprüngliche Ortskern: das Zeitungsgebäude, die Bibliothek, die Bars und die Polizeiwache - alle günstig gelegen innerhalb eines einzigen Häuserblocks. Und natürlich das Postamt. Das Postamt. Der Anblick des leeren Gebäudes schmerzte Trish. Es kam ihr verloren und verlassen vor, obwohl es nur für den heutigen Tag geschlossen war. Sie wischte sich die Augen, konzentrierte sich auf die Worte des Pfarrers und richtete den Blick auf das dunkle Rosenholz des Sarges. Er war glatt, die Kanten abgerundet, sodass er beinahe wie ein großer polierter Stein aussah. Trish wusste, dass Rondas Familie sich einen solch teuren Sarg gar nicht leisten konnte, und sie war sicher, dass der Betrag aus der Sterbekasse für den Differenzbetrag nicht reichen würde. Vielleicht hatte jemand im Ort einen Fonds eingerichtet, der helfen konnte, die Beerdigungskosten zu tragen. Sie würde Doug bitten, einmal nachzufragen. Wenn es nicht anders ging, würde sie selbst sich darum kümmern. Bob Rondas Familie hatte auch ohne die finanzielle Belastung eine schwere Zeit vor sich, musste sie doch mit dem Schmerz des Verlusts weiterleben. »Asche zu Asche«, sagte der Pfarrer, »Staub zu Staub.« Trish und Doug schauten sich an und nahmen sich bei den Händen. »Amen.« Ellen Ronda und die Jungen bewegten sich vorwärts, als der Sarg ins Grab gesenkt wurde. Begleitet vom Schluchzen der Trauernden war das leise Summen zu vernehmen, als die motorisierte Hebevorrichtung hinabfuhr. In der Stadt war es still. Da die meisten Bewohner zum Begräbnis gekommen waren, störte nicht einmal der gelegentliche Lärm von Autos oder Maschinen die Stille. Ellen streckte die Hand aus, um ein wenig Erde aufzuheben. Bevor sie sie ins offene Grab fallen ließ, murmelte sie unhörbar ein paar Worte und drückte die Erde an ihre Lippen. Plötzlich brach sie zusammen, sank auf die Knie und schlug mit den Fäusten auf den Boden. Sie begann zu schreien, und einer ihrer Söhne zog sie auf die Beine, während der andere sanft auf sie einredete und sie zu beruhigen versuchte. Dr. Roberts drängte sich durch die Menge zu ihnen. Die meisten Anwesenden blickten aus Rücksicht und Höflichkeit weg, aber Doug sah, dass der Neuankömmling die Witwe unverschämt anstarrte und dabei auf den Fersen wippte, als gefiele ihm der Anblick. Einen Augenblick später war es vorbei. Der Arzt hielt Ellens Hand, und sie stand starr neben dem Grab, mit steinerner Miene, während ihre Söhne die symbolische Hand voll Erde auf den Sarg fallen ließen. Der Pfarrer sprach ein abschließendes Gebet. Nach dem Gottesdienst gingen sie zu Rondas Familie und warteten in der Schlange, um ihr Beileid auszusprechen. Nach ihrem Gefühlsausbruch schien Ellen benommen und unter Beruhigungsmitteln zu stehen, und ihre Söhne mit ihren verweinten Augen fanden die Kraft, sie zwischen sich zu stützen. Der Pfarrer stand bei der Familie, ebenso wie Dr. Roberts und Howard. Neben dem Postchef, im äußeren Ring dieses engsten Kreises, stand der Neuankömmling. Aus der Nähe konnte Doug die Gesichtszüge des Mannes deutlich erkennen: die schmale, scharfe Nase, die durchdringenden blauen Augen, der harte Mund. Trish ergriff fest Ellens ausgestreckte Hand. »Sie sind stark«, sagte sie. »Sie schaffen das. Es mag jetzt so scheinen, als ob der Schmerz für immer bleibt, aber er wird vergehen. Versuchen Sie einfach nur, Tag für Tag zu überstehen. Versuchen Sie weiterzuleben. Bob hätte es so gewollt.« Ellen nickte schweigend. Trish blickte von einem Sohn zum anderen. »Passen Sie auf Ihre Mutter auf. Kümmern Sie sich um sie.« »Das werden wir, Mrs. Albin«, sagte Jay, der ältere. Doug fiel nichts ein, was er sagen konnte, ohne dass es trivial und unangemessen gewesen wäre. Doch auch die Worte anderer waren in einer solchen Situation bedeutungslos und oberflächlich. »Es tut mir sehr leid«, sagte er einfach, hielt für einen Augenblick Ellens Arm und schüttelte dann beiden Jungen die Hand. »Wir hatten Bob sehr gern. Er wird uns fehlen.« »Das ist wahr«, sagte Martha Kemp hinter ihm. Trish sprach bereits mit Howard und äußerte dieselben Gefühle. Sie umarmte ihn kurz. Doug trat neben sie und klopfte mitfühlend auf die Schulter des älteren Mannes. »Er war der beste Freund, den ich je hatte«, sagte Howard, wischte sich über die Augen und blickte von einem zum anderen. »Normalerweise sind die Freunde aus der Kindheit die besten. Es sind die Menschen, mit denen man zusammen aufgewachsen ist. Es kommt nicht oft vor, dass man jemanden findet, dem man so nahe steht.« Trish nickte verständnisvoll. Doug nahm ihre Hand. »Er fehlt mir jetzt schon.« »Das wissen wir«, sagte Doug. Howard lächelte matt. »Vielen Dank. Und danke für die Karte und den Anruf neulich. Danke, dass Sie einem verrückten, sentimentalen alten Mann zuhören.« »Sie sind nicht verrückt, und alt sind Sie auch nicht«, entgegnete Trish. »Und was ist verkehrt daran, sentimental zu sein?« Howard blickte Doug an. »Sie können sich glücklich schätzen«, sagte er. »Sie haben eine sehr nette Frau.« Doug lächelte. »Ich weiß.« »Wir würden uns freuen, wenn Sie diese Woche mal am Abend zu uns kommen«, sagte Trish und blickte Howard in die Augen. In ihrer Stimme war irgendetwas, das keinen Widerspruch zuließ. »Ich mache Ihnen ein gutes, selbst gekochtes Abendessen, okay?« »Okay.« »Versprochen?« »Versprochen.« »Also abgemacht. Wir sehen Sie später. Und wenn Sie nicht anrufen, rufen wir Sie an. Glauben Sie ja nicht, dass Sie so einfach davonkommen.« Howard nickte zum Abschied, während die beiden weitergingen. Er hatte ihnen nicht den Mann neben sich vorgestellt, aber Doug wusste, auch ohne dass man es ihm gesagt hatte, dass er Bob Rondas Ersatz war. Der Mann streckte eine blasse Hand aus, die Doug widerstrebend ergriff. Die Haut des Mannes war warm, beinahe heiß, und vollkommen trocken. Er lächelte und enthüllte weiße, gleichmäßige Zähne. »Schönen Tag noch«, sagte er. Seine Stimme war tief und gedämpft, beinahe melodiös, doch es lag ein spöttischer Unterton darin, der die beiläufige Gefühllosigkeit seiner Worte nur noch verstärkte. Doug sagte nichts, legte nur den Arm um Trish, ignorierte den Mann und ging mit den anderen Leuten aus der Stadt den Hügel hinunter zum Parkplatz. Als er sich umdrehte, um die Wagentür aufzuschließen, sah er zufällig den neuen Postboten, der aus den anderen Trauernden herausstach. Aus dieser Entfernung war es schwer zu sagen, doch es sah aus, als ob der Mann sie beobachtete. Und es schien, als lächelte er immer noch. Billy sagte Mrs. Harte, dass er zum Spielen nach draußen gehen wollte, und sie erwiderte, dass sei in Ordnung, solange er in Rufweite des Hauses bliebe. Billys Eltern konnten jederzeit zurückkehren, und Mrs. Harte wollte nicht, dass sie den Eindruck bekamen, sie würde nicht auf Billy aufpassen. Billy sagte, dass er nur zum Fort ginge, direkt hinter dem Haus. Sobald er das Auto seiner Eltern höre, käme er sofort zurück. Mrs. Harte war einverstanden. Das »Fort« befand sich zwischen den Bäumen hinter dem Haus, war aber von keinem Fenster aus zu sehen. Billy und Lane Chapman hatten es letzten Sommer aus dem Restmaterial von der Baustelle einer Sommerhütte weiter unten an der Straße gebaut. Die Firma, die Lanes Vater gehörte, hatte die Hütte errichtet; er hatte den Jungen auch die Pfosten, Bretter und ein paar Sack Zement gegeben - genug, um ihr Fort mit zwei Zimmern zu bauen. Sie hatten den größten Teil des Sommers gebraucht, um die Inneneinrichtung zusammenzuschnorren, doch als sie fertig waren, war das Fort perfekt - besser, als sie gedacht hatten. Die Front und die Seiten waren mit Essigbaum- und Manzanita-Zweigen getarnt; die Rückseite lehnte an einem dicken Baum. Man betrat das Fort, indem man auf diesen Baum stieg, von dort aufs Dach, und dann an der Schnur zog, mit der man auch die Klapptür entriegelte. Es gab keine Stufen und keine Leiter, die ins Innere führten, aber der Sprung war nicht tief. Der größere der beiden Räume war mit Krimskrams ausgestattet, den die Jungen beim Sperrmüll ergattert hatten: alte LP-Hüllen, Bambusperlen, ein leerer Bilderrahmen, das Vorderrad eines Fahrrads. Lane hatte ein gestohlenes Stoppschild zur Einrichtung beigetragen, das ihm ein Freund geschenkt hatte. Der andere Raum, das »Hauptquartier«, war kleiner und mit einer fleckigen Teppichbrücke ausgelegt, die sie auf der Müllkippe gefunden hatten. Hier bewahrten sie auch die Playboy-Hefte auf, die sie in einem Sack voller Zeitschriften gefunden hatten, die zum Recycling bestimmt gewesen waren. Billy ging den kurzen Weg hinter dem Haus entlang. Er hätte Lane anrufen können, um sich im Fort mit ihm zu treffen, aber heute wollte er allein sein. Er fühlte sich seltsam und traurig und einsam, und obwohl es kein angenehmes Gefühl war, wollte er es doch nicht verdrängen. Manchen Gefühlen musste man einfach ihren Lauf lassen - man musste sie erfahren, sie von selbst vorübergehen lassen -, und dies war solch ein Gefühl. Außerdem war Billy nicht nach Reden zumute, und wenn Lane da war, wäre es nicht zu vermeiden gewesen: Der Junge redete mehr als jeder andere, den Billy je kennen gelernt hatte. Manchmal war das in Ordnung, aber nicht immer, und heute war Billy einfach nicht in der Stimmung für Gespräche. Trotzdem kam er sich ein bisschen wie ein Verräter vor, weil er allein hierhergekommen war. Es war das erste Mal, dass er ohne Lane zum Fort ging, und das erschien ihm irgendwie falsch. Als ob er eine Art Pakt verletzte, obwohl es zwischen ihm und Lane keine derartige Vereinbarung gab, weder ausgesprochen noch unausgesprochen. Billy erreichte das Fort und kletterte rasch den Baum hinauf, schwang sich auf das Dach und öffnete die Klapptür. Er ließ sich in den Hauptraum fallen, stand dort einen Augenblick und betrachtete den alten Eiskasten, den sie auf den Kopf gestellt und zu einer Bank umfunktioniert hatten. Den Eiskasten hatte ihnen Mr. Ronda gegeben, dazu ein paar Sperrholzbretter, die er noch zu Hause hatte. Er hatte das Material einmal bei einer seiner Runden mitgebracht und neben dem Briefkasten abgelegt. Billy dachte an Mr. Rondas freundliches Gesicht, an seine lachenden blauen Augen, den dichten weißen Bart. Er hatte den Postboten sein Leben lang gekannt, hatte ihn jeden Tag gesehen, bis er zur Schule gehen musste, und danach an jedem Samstag, sowie in den Ferien und im Sommer. Als Billy für ein Schulfest Gummibänder gebraucht hatte, hatte Mr. Ronda sie für ihn gesammelt und morgens mit der Post geliefert. Als Billy ein Referat über das Postamt schreiben musste, hatte Mr. Ronda ihn auf seiner Runde mitgenommen. Nun würde Mr. Ronda ihm nie mehr helfen, würde nie mehr vorbeikommen, um die Post abzuliefern, würde nie mehr reden, nie mehr lächeln, nie mehr leben. Billy spürte, wie seine Augen sich mit Tränen füllten, und er betrat durch den Vorhang das Hauptquartier. Er wollte traurig sein, aber nicht weinen, und so zwang er sich, an etwas anderes zu denken. Später, wenn er sich gefasst hatte, würde er sich wieder an Mr. Ronda erinnern. Billy setzte sich auf den Teppich und nahm den obersten Playboy vom Stapel. Er blätterte durch das dicke Magazin, bis er zu den ersten Fotos kam. »Frauen in Uniform«, lautete die Überschrift. Er ließ den Blick über die Seite wandern. Da war eine Frau, die rittlings auf einem Feuerwehrschlauch saß und nur einen roten Feuerwehrhelm und einen glatten roten Regenmantel trug. Unter dem Foto war das Bild einer halbnackten Frau mit großen Brüsten, die eine Polizeimütze trug und an der runden Spitze eines Schlagstocks leckte. Billys Blick schweifte nach oben auf die nächste Seite und auf eine nackte Frau, die nichts als ein Lächeln und die Mütze eines Postboten trug. Eine Hand hielt einen Packen Briefe, der Zeigefinger der anderen Hand lag auf der Unterlippe ihres Schmollmundes. Billy spürte, wie sich in seiner Hose etwas regte. Er drückte seine Jeans herunter, die sich auszubeulen begann. Würde der neue Postbote so aussehen? Einen Augenblick starrte er auf das Dreieck aus rotem Schamhaar und auf die rosafarbenen, harten Brustwarzen der Frau. Er fühlte sich schuldig, dass er solche Gedanken hatte, und schnell klappte er das Magazin zu und legte es oben auf den Stapel. Billy versuchte, wieder an Mr. Ronda zu denken und daran, was der Postbote für ihn getan hatte und nie wieder tun würde; an den Mann, der er gewesen war und nie wieder sein würde. Doch der Augenblick war verstrichen, und so sehr Billy es auch versuchte, es kamen keine Tränen mehr. 3. Am nächsten Morgen hörten sie nicht, wie der Postbote kam, und sahen ihn auch nicht, doch als Trish um zehn Uhr zum Briefkasten ging, war die Post bereits durch. »Verdammt«, sagte sie. Nun musste sie entweder zum Postamt und den Brief selbst abgeben, oder ihn in den Briefkasten legen und bis morgen warten. Sie griff in den Metallbehälter, holte die eingegangene Post heraus und sah sie durch. Heute waren es nur vier Umschläge: drei für Doug, einer für sie. Es waren keine Rechnungen und kein Werbemüll dabei. Sie schloss den Deckel des Briefkastens. Doug würde irgendwann heute in die Stadt fahren, um Lebensmittel einzukaufen. Bei der Gelegenheit konnte er den Brief bei der Post abgeben. Als Trish die Auffahrt zurückging, besah sie sich den Brief, der an sie adressiert war. Es gab keinen Absender, und der Poststempel war von Los Angeles. Sie öffnete den Umschlag, faltete den Brief auseinander und blickte zuerst auf die Unterschrift. Sie blieb stehen. Nein. Das konnte nicht sein. Paula? Sie blickte noch einmal auf die Unterschrift. Paula. Schnell lief sie die Stufen zur Veranda hinauf und ins Haus. Doug kramte in der Küchenschublade und suchte etwas. »Du wirst es nicht glauben«, rief Trish, als sie in die Küche kam. »Ich hab einen Brief von Paula bekommen.« »Paula?« Er blickte hoch. »Paula Wayne?« Sie nickte und überflog das Schreiben. »Ich dachte, du wüsstest nicht, wohin sie gezogen ist.« »Wusste ich auch nicht.« Trish schüttelte den Kopf. »Wie hat sie mich bloß gefunden?« »Wahrscheinlich über deine Eltern.« »Aber die sind zweimal umgezogen, seit ich Paula zuletzt gesehen habe. Und sie haben eine Geheimnummer.« Sie lächelte. »Ich kann es kaum glauben! Ich weiß nicht, wie in aller Welt Paula mich gefunden hat, aber ich freue mich darüber.« »Willst du den Brief denn gar nicht lesen?« »Und ob ich das will!«, antwortete sie und blickte auf das Papier. »Warte mal.« Sie las schnell; ihr Blick huschte über die sauber geschriebenen, regelmäßigen Buchstaben. »Sie hat sich von Jim scheiden lassen und ist nach L.A. gezogen. Sie arbeitet jetzt als Anwaltsgehilfin.« »Sie hat sich scheiden lassen?« Doug lachte. »Ich dachte, die beiden wären das ideale Paar.« »Pssst«, sagte Trish und las weiter. »Sie schreibt, dass sie glücklich ist, aber Santa Fe vermisst ... Und sie hofft, dass ich sie nicht vergessen habe ... Vielleicht macht sie im August eine Reise zum Grand Canyon ... Sie möchte wissen, ob sie vorbeikommen und uns besuchen kann.« »Ich werde darüber nachdenken«, bemerkte Doug. Sie kicherte, las schweigend weiter und drehte das Blatt um. »Was ist?« »Das ist persönlich. Frauengespräche.« Trish las die zweite und dritte Seite, faltete den Brief zusammen und steckte ihn in den Umschlag zurück. Sie schüttelte den Kopf. »Paula. Ich kann's nicht glauben.« Doug nahm einen Schraubenzieher aus der Schublade. »Du vermisst sie, stimmt's?« »Natürlich. Oh - hier, das hätte ich beinahe vergessen. Ein bisschen Post für dich.« Sie reichte ihm die anderen drei Umschläge. Er riss den obersten auf. »Du wirst es nicht glauben«, sagte er. »Was?« »Er ist von Don Jennings.« »Was! Den hast du nicht mehr gesehen, seit ...« »... seit du Paula das letzte Mal gesehen hast«, beendete er für sie den Satz. Sie lachte. »Was für ein seltsamer Zufall.« Sie trat vor, um Doug über die Schulter zu spähen, doch er hielt den Brief von ihr weg. »Das ist persönlich«, erklärte er. Trish stieß ihn an. »Sehr witzig. Lass mich auch lesen!« »Okay, okay.« Dann stand sie neben ihm und brachte sich auf den neuesten Stand der Ereignisse in Dons Leben. Don hatte an der Highschool Sozialwissenschaften unterrichtet; er war zur selben Zeit Lehrer geworden wie Doug und hatte an der gleichen Schule unterrichtet. Als Neulinge waren sie anfangs aus der Notwendigkeit heraus Freunde geworden und waren sich dann nahegekommen. Don, ein Stadtmensch, war in Willis nie wirklich glücklich gewesen, und vor ungefähr zehn Jahren war er nach Denver gewechselt. Die beiden Familien waren eine Zeit lang in Kontakt geblieben, hatten sich Briefe geschrieben und angerufen. Doug und Trish und Billy, damals noch ein Baby, hatten die Jennings in einem Sommer sogar in Denver besucht. Aber es waren neue Freunde aufgetaucht; die Verpflichtungen waren gewachsen, und es war nicht mehr so einfach gewesen, in Kontakt zu bleiben. Nach und nach war die Verbindung abgerissen. Doug hatte oft zu Trish gesagt, er müsse Don endlich mal anrufen oder ihm schreiben, aber irgendwie hatte er es nie getan. Und nun hatte Don geschrieben, um ihm mitzuteilen, dass er und Ruth nach Arizona zurückkämen. Er hatte eine Anstellung an der Camelback Highschool im Valley, schrieb er, und die beiden Familien müssten sich unbedingt sehen, sobald er wieder in Arizona sei. »Wirst du ihm zurückschreiben?«, fragte Trish, nachdem sie fertig gelesen hatte. »Na klar.« Doug öffnete die anderen beiden Briefe. Der eine kam von der Schulverwaltung: Für das nächste Jahr war mit der Lehrergewerkschaft eine Lohnerhöhung in Höhe der Inflationsrate beschlossen worden. Das andere Schreiben kam von der Schulbehörde: Die Abgabefrist für die Stipendienanträge lief eine Woche später aus, als auf den Formularen angegeben; für etwaige Probleme, die durch den Druckfehler aufgetreten sein könnten, bitte man um Entschuldigung. Doug sah Trish ungläubig an. »Lass mich das mal auf die Reihe bringen: Du und ich hören beide von Freunden, die wir seit Jahren nicht gesehen haben und zu denen wir keinen Kontakt mehr hatten; wir kriegen die Gehaltserhöhung, die wir haben wollten, und mein Antrag wird ohne Probleme rechtzeitig ankommen, weil die Frist eine Woche später endet, als ich dachte?« »Schwer zu glauben, nicht?« »Ich kaufe heute noch ein Lotterielos. Wenn unser Glück anhält, sind wir bis Mitternacht Millionäre.« Trish lachte. »Du glaubst, ich mache Witze? Das ist nicht bloß ein glücklicher Zufall. Das ist Glück!« Doug umfasste ihre Taille und zog sie an sich. »Wir haben eine Glückssträhne, Baby.« »Baby?« Doug drehte sich um. Billy stand in der Tür. Er sah müde aus, aber er lächelte, als er in die Küche kam. »Kann ich dich auch so nennen, Mom?« Trish wand sich aus Dougs Armen und drehte sich zu Billy um. »Sehr witzig. Dein Vater spielt wie üblich den Clown. Du solltest aus seinen Fehlern lernen.« Doug versuchte, sie zu fassen, doch sie entzog sich ihm und ging zum Schlafzimmer, und Doug gelang es nur, ihr einen Klaps auf den Hintern zu geben. Billy sah seinen Eltern kopfschüttelnd zu, ging ins Wohnzimmer, stellte den Fernseher an und setzte sich auf die Couch. Doug ging in die Küche und beobachtete seinen Sohn aufmerksam. Sie hatten am Abend zuvor mit Billy gesprochen und eine lange Diskussion über den Tod und das Sterben geführt; Doug hatte gehofft, dass dabei viele Ängste angesprochen worden waren, aber anscheinend waren nur wenige bewältigt worden, wenn überhaupt: Billy war offensichtlich durch den Selbstmord des Postboten noch immer verstört. Doug musste gestehen, dass das auch für ihn selbst galt. Wie Billy hatte er sich nie wirklich mit dem Tod auseinandersetzen müssen. Natürlich hatte er Menschen gekannt, die gestorben waren, doch sie alle waren - wie Ronda - eher Bekannte gewesen als enge Freunde; Doug war nicht sicher, wie er reagieren würde, wenn seine Eltern sterben würden, oder Trish, oder Billy. Trotz des Gesprächs mit seinem Sohn, in dem es vor allem um die Notwendigkeit gegangen war, sich seinen Ängsten zu stellen, wollte Doug nicht bei diesem Thema verweilen. Es war zwar ein oberflächlicher Ausweg, doch er zog es vor, lieber sein Leben weiterzuleben, als wäre nichts geschehen. Trotzdem musste er jetzt an Bob Ronda denken. Schaudernd stellte Doug sich vor, wie der Postbote ausgesehen haben musste, nachdem er sich den Schädel weggeblasen hatte und Blut und Hirn an die Fliesen gespritzt waren. Der Tod war in jeder Form ein Thema, mit dem man nur schwer umgehen konnte, doch ein so schrecklicher Selbstmord war schmutzig und grausig zugleich. Er blickte auf die Briefe in seiner Hand und dachte an den neuen Postboten. Der Zufall, an einem einzigen Tag so viel erfreuliche Post zu bekommen, war wunderbar, aber auch ein wenig unheimlich. Hätte Bob Ronda diese Briefe zugestellt, wäre Doug vor Freude außer sich gewesen. Doch wenn er sich vorstellte, wie die blassen, heißen Hände des neuen Postboten die Umschläge in den Kasten schoben und dann sorgfältig die Klappe schlossen, konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie irgendwie ... beschmutzt waren. Und obwohl eigentlich nichts passiert war, das seine Laune trüben konnte, war er nicht mehr so glücklich wie noch einen Augenblick zuvor. Er blickte zu Billy hinüber. »Um welche Zeit ist der Postbote gekommen?«, fragte er beiläufig. »Hab ich nicht mitgekriegt«, antwortete Billy, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden. Doug erinnerte sich an das spöttische Lächeln des Postboten, an seine arrogante Miene. Er ertappte sich dabei, wie er sich fragte, was für einen Wagen der Mann wohl fuhr. Und wie mochte er heißen? Doug blieb beim ersten Laden stehen, um Brot, Holzkohle, Tomaten, Salat und Erdnussbutter zu kaufen; dann schaute er auf dem Rückweg im Postamt vorbei. Er hatte keine Schwierigkeiten, eine Parklücke zu finden. Der winzige Parkplatz war praktisch leer. Zwei alte Männer saßen auf der Bank vor dem Postamt, als Doug die Stufen hinaufging, aber drinnen waren keine Kunden. Howard war wie üblich am Schalter und beschäftigte sich mit einem Paket. Er sah abgespannt aus; sein Gesicht war rot und fleckig, die Augen verweint, und Doug nahm an, dass er die Nacht zuvor wahrscheinlich mit Trinken verbracht hatte. Der Anblick des Mannes bereitete ihm ein unbehagliches Gefühl, aber er zwang sich zu lächeln, während er sich dem Schalter näherte. »Wie geht's, Howard?« Der Postchef blickte zerstreut auf. »Gut«, sagte er, doch seine Stimme klang nicht überzeugend. Seine Antwort war eine Floskel, eine automatische Reaktion, und hatte nichts zu bedeuten. »Kann ich etwas für Sie tun, Doug?« »Eigentlich bin ich nur vorbeigekommen, um einen Brief abzugeben, aber ich dachte, wenn ich schon mal da bin, könnte ich mal sehen, wie es Ihnen geht.« Ein Anflug von Zorn huschte über Howards Gesicht. »Es geht mir gut. Ich wünschte, die Leute würden aufhören, mich zu behandeln, als käme ich gerade aus der Nervenheilanstalt. So zerbrechlich bin ich nicht. Ich werde schon keinen Nervenzusammenbruch erleiden. Himmel, man könnte meinen, ich wäre ein kleines Kind.« Doug lächelte. »Die Leute hier machen sich Sorgen um Sie. Das wissen Sie doch.« »Na ja, stimmt schon. Ich wünschte mir nur, dass sie sich ein bisschen weniger kümmern würden.« Er musste gehört haben, dass seine Stimme genervt klang, denn er schüttelte dümmlich lächelnd den Kopf. »Es tut mir leid, ich glaube, ich war in der letzten Zeit nicht ganz ich selbst.« Er warf Doug einen warnenden Blick zu. »Aber ich will kein Mitleid.« Doug lachte. »Von mir kriegen Sie auch keins.« »Gut.« »Also, wer ist der neue Postbote?« Howard legte das Paket auf die Waage, setzte seine Brille mit dem Metallrahmen auf und blinzelte durch die dicken Gläser, um das Gewicht abzulesen. »Er heißt John Smith.« John Smith? »Er war ziemlich schnell da, nicht?« »Ja, das hat mich auch gewundert. Normalerweise dauert es vier oder fünf Wochen, um jemanden zu versetzen. Ich habe am Montag eine Anforderung beim Hauptpostamt eingereicht, und am Mittwoch war Smith schon hier.« »Kommt er aus Phoenix?« »Keine Ahnung. Er redet nicht viel. Aber ich bin sicher, dass ich das bald herausfinde. Ich habe ihm gesagt, dass er bei mir bleiben kann, bis er eine eigene Wohnung gefunden hat. Murials Zimmer steht leer, solange sie weg ist. Er kann da schlafen, wenn er das Bett macht und hinter sich aufräumt. Das ist billiger als ein Hotel, und er gewinnt dadurch etwas Zeit, sich eine Bleibe zu suchen. Normalerweise endet das damit, dass die Postler die erstbeste Wohnung nehmen, die sie kriegen können, weil sie es sich nicht leisten können, länger im Hotel zu bleiben. Die Post gibt keinen Zuschuss für Umzüge, und Gott weiß, dass sie den Postboten nicht genug bezahlen, um wochenlang im Hotel wohnen zu können.« Er schrieb eine Nummer auf einen kleinen Zettel, stempelte ihn mit einem roten Siegel ab und nahm das Paket von der Waage. Oben auf das Paket stempelte er FIRST CLASS. »Und wie ist er so? Was halten Sie von ihm?« Howard zuckte die Achseln. »Ist noch zu früh, um das zu sagen. Er scheint ganz nett zu sein.« Doug blickte den Postchef misstrauisch an, während dieser das Paket in einen großen Karren warf. Es war nicht Howards Art, so zurückhaltend zu sein. Normalerweise war er mit seinem Urteil rasch bei der Hand und hielt damit auch nicht hinter dem Berg: Entweder mochte er jemanden oder nicht, und er zögerte auch nicht, seine Meinung kundzutun. Doch Doug sagte nichts. Howard hatte gerade seinen besten Freund verloren. Wer war er, in einer solchen Situation über das Verhalten dieses Mannes zu urteilen? »Trish hatte es ernst gemeint«, sagte er. »Wir möchten wirklich, dass Sie zu uns kommen.« Howard nickte. »Ich komme gern«, sagte er aufrichtig. »Wie wäre es dann am Wochenende? Freitag oder Samstag?« »Klingt gut.« »Ich sage Trish Bescheid. Sie wird Sie wahrscheinlich noch deswegen anrufen. In solchen Dingen verlässt sie sich nicht auf mich.« Er öffnete die Tür des Postamts. »Wir sehen uns.« »Bis später«, antwortete Howard. John Smith, dachte Doug, während er die Stufen hinunterging und seine Autoschlüssel aus der Tasche holte. Wer's glaubt. Doug war auf dem Nachhauseweg, als ihm einfiel, dass er vergessen hatte, ein Lotterielos zu kaufen. Er hatte es nicht ernst gemeint, als er zu Trish gesagt hatte, das Glück stünde ihnen jetzt offen: Er kein kein Spieler, kaufte aber gelegentlich ein Los. Und obwohl er ein intelligenter und aufgeklärter Mann war, war er nicht ganz gegen Aberglauben immun. Er glaubte nicht wirklich an vorherbestimmtes Glück oder Unglück, schloss es aber auch nicht als völlig unmöglich aus. Außerdem hatte er nichts dagegen, ein paar Millionen zu gewinnen. Er würde sich schon an den Reichtum gewöhnen. Doug wendete den Wagen und fuhr zum Circle-K-Einkaufszentrum. Er kaufte ein Los, überließ es dem Automaten, die Glückszahlen auszuwählen, und dachte über sein Leben als wohlhabender Mann nach, als er zum Wagen zurückging. Er wollte gerade die Tür aufschließen, als er neben dem Briefkasten am Straßenrand den Postboten sah. Der Mann kniete auf dem Boden. Die Klappe des Briefkastens war geöffnet; Schlüssel und Kette baumelten am Schloss, und er holte die eingeworfene Post heraus. Nur leerte er den Kasten nicht einfach, wie Doug es bei Bob Ronda gesehen hatte. Er ging die Umschläge durch und musterte jeden einzelnen sorgfältig. Einige legte er ordentlich in einen Plastikkasten neben sich. Andere steckte er achtlos in eine braune Papiertüte. Seltsam, überlegte Doug. Wieso geht er mit einigen Umschlägen sorgfältig um, mit anderen gleichgültig? Es sah beinahe so aus, als wollte er ein paar Umschläge vor Howard verbergen, weil er gar nicht die Absicht hatte, sie zuzustellen. Der Postbote hob den Blick und starrte Doug direkt an. Doug schaute rasch zur Seite und tat so, als hätte er die Straße abgesucht, wobei sein Blick sich für einen kurzen Moment zufällig mit dem Postboten gekreuzt hatte. Aber in der Sekunde, als ihre Blicke sich trafen, hatte Doug das untrügliche Gefühl, dass der Postbote wusste, dass er ihn beobachtete - und dass genau dies der Grund dafür war, warum er in diesem Moment aufgeblickt hatte. Du bist ja verrückt, sagte Doug sich selbst. Der Mann hatte bloß in seine Richtung geblickt. Das war alles. Es war eine vollkommen alltägliche Begegnung, ein purer Zufall. Es war nichts Seltsames oder Unheimliches daran. Doch als er den Postboten wieder anschaute, sah er, dass der Mann ihn immer noch anstarrte und dass ein angedeutetes, verächtliches Lächeln auf seinen schmalen Lippen lag. Doug öffnete rasch die Wagentür und stieg ein. Er fühlte sich verletzlich, schutzlos und ein bisschen schuldig, als wäre er dabei erwischt worden, wie er jemanden beim Entkleiden beobachtete. Er wusste nicht, warum der Blick des Postboten solche Gefühle in ihm auslöste, aber er wollte erst gar nicht darüber nachdenken. Doug ließ den Motor an und setzte aus der Parklücke zurück. Die einzige Ausfahrt vom Parkplatz des Circle K war direkt neben dem Briefkasten, und er fuhr rasch über den Asphalt und hoffte, direkt auf die Straße abbiegen zu können. Doch er hatte kein Glück. Auf dem Highway wimmelte es von Autos und Wohnwagen, die vom See kamen, und Doug musste auf eine Lücke warten. Er konzentrierte sich auf den Verkehr und blickte nur nach links, konnte aus dem Augenwinkel aber erkennen, dass der Postbote ihn weiter anstarrte, schweigend und regungslos. Dann endete die Schlange von Fahrzeugen, und Doug fuhr mit kreischenden Reifen los. Er konnte dem Impuls nicht widerstehen und blickte beim Vorbeifahren durch das Beifahrerfenster. Der Postbote winkte ihm lächelnd zu. 4. Billy war auf der Veranda, als der Postbote kam. Es gab keine Vorwarnung wie bei Mr. Ronda, keinen lauten Motor oder quietschende Bremsen. Es gab nur das ruhige Schnurren eines neuen Motors und das leise Knirschen von Reifen, die zum Stehen kamen. Billy legte sein Luftgewehr hin und blickte neugierig zu dem neuen Postboten hinüber. Doch die Scheiben des roten Wagens waren getönt und das Innere dunkel, und er konnte nichts sehen als eine magere weiße Hand und den Ärmel einer blauen Uniform, die sich aus dem Fenster der Fahrerseite streckten, um einen Packen Briefe in den Kasten zu legen. Der Anblick hatte etwas an sich, das ihn störte, das nicht passte. In der Dunkelheit des Wagens glaubte er einen roten Haarschopf über einem verschwommenen bleichen Gesicht zu erkennen. Der Postbote sah nicht freundlich aus wie Mr. Ronda. Er sah irgendwie ... nicht menschlich aus. Billy spürte, wie ihn ein leichtes Frösteln durchlief, obwohl die Temperatur schon merklich auf die dreißig Grad zuging. Die weiße Hand winkte ihm zu - nur einmal, ganz kurz -, dann fuhr der Wagen weiter und glitt geräuschlos über die Straße. Billy wusste, dass er hinausgehen und die Post aus dem Kasten holen sollte, doch aus irgendeinem Grund fürchtete er sich davor. Der Briefkasten und die Straße schienen plötzlich schrecklich weit von der Sicherheit des Hauses und der Veranda entfernt zu sein. Was, wenn der Postbote sich entschloss, umzudrehen und zurückzukommen? Billys Dad war im Badezimmer an der Rückseite des Hauses, und seine Mutter war drüben bei den Nelsons. Billy wäre da draußen auf sich selbst gestellt, ganz allein. Hör auf mit dem Quatsch, sagte er sich. Es war dumm. Er war jetzt elf, beinahe zwölf, praktisch ein Teenager. Und da hatte er Angst, die Post zu holen? Mann, wie erbärmlich! Es war nicht mal Nacht. Es war Morgen, helles Tageslicht. Er schüttelte den Kopf. Was für ein Schlappschwanz er doch war! Dennoch hatte er Angst, und so sehr er sich selbst auch zurechtgewiesen hatte, er musste sich zwingen, die Stufen zur Veranda hinunter und über den Kiesweg der Auffahrt zu gehen. Billy schritt langsam an der Kiefer vorbei, in die sie die Futterstelle für die Vögel gehängt hatten, und kam dann am Bronco seiner Eltern vorüber. Sein Herz hämmerte. Er blickte die Straße entlang und sah voller Entsetzen, wie der Wagen des Postboten plötzlich rückwärts auf ihn zugefahren kam. Billy stand wie angewurzelt da; am liebsten wäre er zurück zur Veranda gerannt, aber er wusste, wie dämlich das aussehen würde. Der Wagen kam neben ihm zum Stehen. Jetzt konnte Billy deutlich das schwarze Innere des neuen Wagens erkennen. Und das weiße Gesicht des Postboten. Billy schlug das Herz bis zum Hals. Das Gesicht des Postboten war zwar nicht direkt hässlich oder Furcht erregend, aber die Haut schien zu blass zu sein, die Züge zu ebenmäßig. Das Haar war grellrot, sodass es im Kontrast zu der weißen Haut künstlich wirkte, wie eine billige Perücke. Billy schauderte. »Ich habe vergessen, einen Brief abzugeben«, sagte der Postbote. Seine Stimme war tief und gleichmäßig, so glatt und professionell wie die eines Gameshow-Moderators oder Nachrichtensprechers. Er reichte Billy einen Umschlag. »Danke«, zwang Billy sich zu sagen. Seine Stimme klang hoch und kindlich. Der Postbote lächelte ihn an - ein stilles, vielsagendes Lächeln, das Billy das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er schluckte heftig und ging die Auffahrt zur Veranda zurück, wobei er sich darauf konzentrierte, ruhige und gleichmäßige Schritte zu machen, denn er wollte nicht, dass der Postbote seine Angst spürte. Die ganze Zeit rechnete er damit, dass im Wagen hinter ihm ein Gang eingelegt wurde; er machte sich auf das Geräusch gefasst, wie die Reifen sich knirschend durch den Kies wühlten, sobald der Postbote davonfuhr. Aber da war nur Stille. Billy starrte krampfhaft nach vorn auf die Fenster des Hauses, doch im Geiste sah er das unheimliche Lächeln des Postboten, und er fühlte sich schmutzig und besudelt davon, als müsste er ein Bad nehmen. Ihm wurde unangenehm bewusst, dass er Shorts trug, sodass der Postbote seine nackten Beine sehen konnte. Billy erreichte die Veranda und ging direkt zur Tür, öffnete sie und schlüpfte ins Haus. Erst jetzt drehte er sich um, um durch die Fliegentür auf den Postboten zu spähen. Aber der Wagen stand nicht mehr am Beginn der Auffahrt: Wo er gewesen war, erhob sich nicht einmal eine Staubwolke. »Was guckst du, Sportsfreund?« Beim Klang der Stimme fuhr Billy zusammen. »Nichts«, sagte er, doch an der Miene seines Vaters konnte er erkennen, dass der ihm nicht glaubte. »Was ist? Du wirkst ein bisschen schreckhaft.« »Nichts«, wiederholte Billy. »Ich bin nur rausgegangen, um die Post zu holen.« Er reichte seinem Vater die Umschläge, die er in der Hand hielt. Dougs Miene verwandelte sich von Verwirrung zu etwas, was aussah wie ... Verständnis? In diesem Augenblick knirschten Reifen draußen auf dem Kies. Sie blickten beide aus dem Fenster. Hobie Beechams verbeulter weißer Pick-up war gerade in die Auffahrt eingebogen, und Hobie sprang aus dem Führerhaus. »Okay«, sagte Doug und nickte Billy zu. Er legte die Umschläge auf den Tisch, schob die Fliegentür auf und ging hinaus auf die Veranda. Hobie kam mit dem typischen, staksigen Cowboy-Gang eines weißen Südstaatlers über die Auffahrt. Er polterte laut die Stufen zur Veranda hinauf und schob dabei seine Baseballmütze zurecht. »Ich wollte eigentlich schon gestern kommen«, sagte er zu Doug, »aber ich war auf Busenwache.« Er grinste, nahm seine verspiegelte Sonnenbrille ab und steckte sie in die Tasche seines T-Shirts. »Ein harter Job, aber jemand muss ihn ja machen.« Hobie besaß die Autowerkstatt und war Fahrlehrer, doch im Sommer arbeitete er freiwillig zwanzig Stunden die Woche als Bademeister im öffentlichen Schwimmbad. Er war ein recht guter Schwimmer, aber kein ausgebildeter Rettungsschwimmer. Trish hatte sich oft laut gefragt, warum man ihn überhaupt genommen hatte, denn es war bekannt, dass er mehr Zeit damit verbrachte, hinter seiner Sonnenbrille die Mütter zu begaffen, als auf deren Kinder zu achten. Trish war Hobie gegenüber möglicherweise voreingenommen, aber auch Doug fand, dass der Bursche nicht ganz astrein war: Hobie war groß, laut, unheilbar sexistisch und auch stolz darauf. Billy, der in der Tür stand, musste über Hobies Bemerkung lachen. Er fühlte sich schon besser. Er mochte Mr. Beecham. »Das hast du nicht gehört«, ermahnte ihn Doug. Hobie schüttelte kichernd den Kopf. »Die Kids fangen heute ganz schön früh an.« Billy nahm sein Luftgewehr, ging zum anderen Ende der Veranda und zielte auf die Aluminiumdose, die er auf einen Baumstumpf gestellt hatte. Die Erinnerungen an den Zwischenfall mit dem Postboten verblassten bereits. Doug und Hobie gingen ins Haus, und Hobie nahm seine Baseballmütze ab. Unaufgefordert setzte er sich in den nächsten Sessel und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Gibt es hier irgendwas Kaltes zu trinken?« Doug ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. »Wir haben Eistee, Coke, Wasser ...« »Irgendwas Härteres?« »Bier ist alle. Außerdem, es ist noch nicht mal elf Uhr.« Der andere Lehrer seufzte. »Also dann, Coke.« Doug öffnete je eine Dose Cola für Hobie und sich selbst, kam mit den Getränken ins Wohnzimmer und reichte eine Dose seinem Freund. »Was führt dich hierher?« »Die Sitzung des Schulvorstands nächsten Dienstag.« Doug stöhnte. »Vorstandssitzung? Die haben wir doch gerade erst gehabt.« Er setzte sich auf die Couch. »Außerdem dachte ich, die Sitzung wäre erst Ende Juli.« »Tja, die Bastarde haben sie vorverlegt. Die haben sich gedacht, sie können den Haushalt ohne Widerspruch durchbringen, wenn sie die Sitzung abhalten, während die meisten Lehrer in den Ferien sind. Verdammt, ich habe es nur herausgekriegt, weil einer der Hausmeister es mir erzählt hat. Ich habe ihn im Schwimmbad getroffen.« »Aber sie müssen doch Ort und Zeit bekannt geben.« Hobie zuckte mit den Achseln. »Ich bin sicher, das haben sie auch.« Seine Stimme bekam einen sarkastischen Unterton. »Du kennst sie ja. Sie würden nie etwas Illegales tun.« Er schnaubte. »Wahrscheinlich haben sie die Bekanntmachung letzte Woche zwischen den Kleinanzeigen versteckt, damit sie keiner sieht.« Doug schüttelte den Kopf. »Ich habe die Schnauze voll von der Schule. Ich will bis Ende August nicht mal daran denken.« »Ich dachte nur, du wolltest es wissen. Wenn ich mich recht entsinne, wolltest du höhere Mittel beantragen?« Doug seufzte melodramatisch. »Für neue Bücher?« Doug nickte und trank seine Coke. »Ja«, gab er zu. »Ich hab's satt, immer Junge Dornen von Braithwaite durchkauen zu müssen.« Er lehnte sich zurück und stützte den Kopf gegen die Wand. »Irgendeinem Arschloch ist vor ein paar Jahren in den Sinn gekommen, dass es die Kids fürs Lesen interessieren könnte, wenn man populäre Romane statt Klassiker unterrichtet. Also haben sie einen zwanzig Jahre alten Roman ausgesucht, von dem die Kinder noch nie etwas gehört haben, ein Video von dem Spielfilm gekauft und mir gesagt, dass ich es unterrichten soll. Aber es langweilt die Schüler zu Tode. Das würde Der scharlachrote Buchstabe zwar auch, aber wenigstens würden sie etwas daraus lernen.« Hobie kicherte. »Mir hat Lulu ganz gut gefallen. Sie hatte hübsche Möpse.« »Sehr witzig. Es geht aber darum, dass der Vorstand und die Eltern immer wieder darauf herumreiten, wie unsere Prüfungsergebnisse im Vergleich zum Rest des Staates abschneiden. Na ja, an anderen Schulen wird Herz der Finsternis von Joseph Conrad gelesen, und Twains Huckleberry Finn. Unsere Kinder sind im Nachteil. Ich möchte nur, dass sie mithalten können.« »Ich habe dank Comicstrips das Lesen gelernt«, bemerkte Hobie. Doug setzte sich gerade hin. »Ich habe gar nichts gegen diese Theorie. Natürlich werden die Kinder lesen wollen, wenn man ihnen interessantes Lesematerial gibt. Und es gibt eine Menge populäre Literatur, die lesenswert ist. Ich finde, wir sollten besseres Arbeitsmaterial haben.« Er schüttelte den Kopf. »Scheiße!« Auf der Veranda kicherte Billy. »Hör auf herumzuspionieren«, rief Doug. »Nixon Junior!« Hobie grinste. »Klingt so, als ob du zu der Versammlung gehst.« Doug seufzte. »Ja, ich gehe zu der Versammlung.« »Gut. Wir können eine gemeinsame Front bilden.« »Eine gemeinsame Front?« »Ich brauche eine neue Spritzpistole für meinen Automechaniker-Kurs.« »Und du willst, dass ich dich unterstütze?« Hobie blickte verletzt. »Wir sind Lehrer-Brüder.« »Okay, aber du weißt, wie zugeknöpft der Vorstand ist. Wenn es unentschieden ausgeht, werde ich dich den Wölfen vorwerfen.« »Abgemacht.« Hobie hielt seine Coladose hoch. »Cheers.« Als Trish von den Nelsons kam, sah sie Hobies Pick-up auf der Auffahrt, noch ehe sie den Briefkasten erreicht hatte. Sie überlegte, ob sie umkehren und zurückgehen sollte, wenn er weg war, doch sie hörte seine laute Stimme, die von der leichten, warmen Brise getragen wurde, und wusste, dass er gerade gehen wollte. Sie ging über den unbefestigten Straßenrand und bog in die Auffahrt ein. »Trish«, rief Hobie. Er lachte laut, eilte vorwärts, fasste sie um die Taille und drückte sie. »Wie isses?« Trish setzte ein gequältes Lächeln auf. Sie mochte Hobie Beecham nicht, auch wenn sie versuchte, Doug zuliebe mit ihm auszukommen. Sie verstand wirklich nicht, was ihr Mann an dem Kerl fand. Er war anzüglich, derb und nur wenig intelligenter als ein Steak. Sie verspannte sich, als Hobies Umarmung andauerte, und schließlich schob sie ihn mit sanftem Nachdruck von sich weg. Das letzte Mal, als er sie begrüßt hatte, hatte er die Gelegenheit genutzt, ihren Hintern zu drücken, obwohl Doug sagte, dass es wahrscheinlich nur ein Zufall gewesen war, als sie ihm davon erzählte. Trish wusste, dass es kein Zufall war, und sie sagte Doug, dass sein Freund seine Hände lieber bei sich behalten sollte oder er würde sich plötzlich mit einem Hoden weniger wiederfinden. Billy jedoch hielt Hobie für großartig, und jedes Mal, nachdem er herübergekommen war, stolzierte der Junge im Haus herum und versuchte, seiner Stimme einen Südweststaaten-Akzent zu verleihen. Trish wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, Billy dazu zu bringen, einem ihrer kultivierteren und intellektuelleren Freunde nachzueifern, doch Billy war in einem Alter, in dem Jungen diese Art von Macho-Verhalten extrem attraktiv zu finden schienen. Trish sah keine Chance, ihn von Hobie abzubringen, ohne Hobie nur noch interessanter für ihn zu machen. Trish sah den großen Mann von oben bis unten an. »Wir haben dich bei der Beerdigung vermisst«, sagte sie unverblümt. »Na ja, ich bin nicht hingegangen. Ich meine, das wäre ein bisschen heuchlerisch gewesen. Ich kannte den Mann eigentlich gar nicht. Er hat meine Post gebracht, ich habe ihn ab und zu gesehen, aber wir waren bestimmt keine Freunde.« »Eine Menge Leute waren da.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich nicht. Bring mich vor Gericht.« Er lächelte. »Freunde zu suchen war nie eines meiner wichtigsten Ziele im Leben.« »Das habe ich gemerkt«, entgegnete Trish kühl. Hobie wandte sich an Doug. »Da wir gerade von Bob Ronda sprechen - hast du schon den neuen Postboten gesehen?« »Ja«, sagte Doug. »Ich habe ihn heute Morgen an der Post getroffen«, erzählte Hobie. »Unheimlicher Kerl. Ich mag ihn nicht.« Jemand anderem war es also auch aufgefallen! »Hast du mit ihm gesprochen?« »Wollte ich nicht. Er hat den Job, die Post zuzustellen, und nicht, mein Kumpel zu sein. Ich rede ja auch nicht mit dem Gasableser oder dem Zeitungsjungen oder dem Telefonmann. Nimm es mir nicht übel, aber das habe ich an Bob Ronda nie besonders gemocht: Er hat dauernd angehalten, um mit jedem zu schwatzen.« »Bob Ronda war ein guter Mann«, stellte Doug fest. »Genau. Untersteh dich, etwas Schlechtes über ihn zu sagen«, warnte Trish mit einem drohenden Blick aus ihren dunklen Augen. Hobie wollte etwas erwidern, überlegte es sich dann aber anders und hielt den Mund. Er bedachte Doug mit einem Lächeln von Mann zu Mann - ein Lächeln, das ausdrückte, dass Trish ein typisches, dummes weibliches Wesen war. Trish hat recht, ging es Doug durch den Kopf: Manchmal ist Hobie ein unsensibler Blödmann. Trish ging die Stufen zur Veranda hinauf und schlug die Tür hinter sich zu. »Wie auch immer«, sagte Hobie, »den neuen Postboten mag ich nicht.« »Ich auch nicht.« »Ein merkwürdiger Kotzbrocken. Er ist so blass. Und dieses rote Haar ... Ich wäre nicht überrascht, wenn es gefärbt wäre. Der Kerl sieht hässlich aus.« Doug schwieg. Er wusste nicht, was er von dem neuen Postboten halten sollte. Er hatte keine feste Meinung über den Mann, nur eine unbegründete Abneigung, ein Gefühl des Unbehagens, das durch ein paar zufällige Begegnungen noch verstärkt wurde. Normalerweise neigte er nicht zu solch impulsiven, instinktiven Beurteilungen und war ein wenig von sich selbst überrascht. Für gewöhnlich war er darauf stolz, im Zweifelsfall - und bis zum Beweis des Gegenteils - erst einmal das Beste von jedem Menschen anzunehmen. Seine negative Meinung über den Postboten war jedoch sofort da gewesen; er hatte auf Anhieb eine Abneigung gegen den Mann verspürt, ohne das Geringste über ihn zu wissen. Abneigung und Furcht. Ja, Furcht, gestand er sich ein. Auf irgendeiner Ebene, aus irgendeinem Grund, den er nicht verstand, hatte er Angst vor dem Postboten. Und auch diese Angst war sofort da gewesen. Hobie öffnete die Tür des Pick-ups und schwang sich auf den zerschlissenen Fahrersitz. Er vergrub seine Hand in der rechten Tasche seiner Levis und zog den Schlüsselbund heraus. »Also, kommst du morgen mit mir zu der Versammlung?«, fragte er. »Geht klar.« »Prima. Wir werden denen schon in den Arsch treten.« Grinsend schlug er die Tür zu und ließ den Motor an. »Morgen und Freitag bin ich auf Miezen-Patrouille, aber ich ruf dich vor Montag noch mal an.« »Okay«, sagte Doug. »Viel Spaß.« »Den werde ich haben«, sagte Hobie, zog seine verspiegelte Sonnenbrille aus der Brusttasche des T-Shirts und setzte sie auf. »Darauf kannst du wetten.« Rasch setzte er den Pick-up zurück und fuhr auf die Straße in Richtung Stadt. Er winkte kurz, dann war er verschwunden. Doug stieg die Stufen hinauf. »In den Hintern treten«, sagte Billy und legte sein Luftgewehr hin. »Wiederhole das nicht«, rief Trish von drinnen. »Du hörst, was deine Mutter gesagt hat«, ermahnte Doug ihn. Er versuchte, seine Stimme energisch klingen zu lassen, konnte aber nicht anders, als zu lächeln. Er öffnete die Fliegentür und ging ins Haus, wobei er die Post vom Tisch nahm, wo er sie hingelegt hatte. Er warf einen Blick auf die Umschläge in seiner Hand. Wieder keine Rechnungen. 5. Am Tag darauf bekam Doug ein Schreiben der Ford Company, das ihn darüber informierte, dass die Garantie für ihren Bronco auf Grund eines Prozesses, den die Firma vor kurzem verloren habe, um ein weiteres Jahr verlängert worden sei. Außerdem gab es einen Scheck über eine Rückzahlung von zwei Dollar von Polaroid und einen Brief an Billy von Trishs Mutter, in dem eine Fünf-Dollar-Note lag. Am Tag darauf bestand die Post aus einem Brief von Dougs Mutter an Billy - er enthielt eine Ein-Dollar-Note; sie war reicher als Trishs Mutter, aber knauseriger - sowie ein Geschenkabo für den Fruit-of-the-Month Club von einem anonymen Spender »aus Anlass Ihres Geburtstages«. Die beiliegende Karte war an Trish adressiert, doch ihr Geburtstag war erst im Januar. Dougs Geburtstag war früher, im Oktober, doch auch bis dahin waren es noch einige Monate. »Wer könnte uns das geschickt haben, und warum?«, fragte sich Trish und blickte auf die kleine Schachtel delikater roter Äpfel. Doug wusste es nicht, und es gefiel ihm auch nicht. Außerdem machte er sich allmählich Sorgen um die Rechnungen. Es war genau eine Woche her, dass Bob Ronda sich umgebracht hatte, und obwohl er dem Mann, der ihn ersetzt hatte, keinen Fehler ankreiden konnte - John Smith -, fand er es doch nicht normal, dass sie in dieser Zeit keine Rechnungen oder Werbemüll bekommen hatten. Das hatte etwas Verdächtiges und Beunruhigendes. Es war merkwürdig genug, dass es einmal passiert war, aber dass es sich Tag für Tag wiederholte ... also wirklich! Die Post war von Natur aus weder nur gut noch nur schlecht. Sie beförderte völlig gleichgültig sowohl positive als auch negative Botschaften, filterte nichts heraus, machte keinen Unterschied. Die Chance, dass so etwas passierte, war mikroskopisch klein. Außerdem wusste Doug, dass die Wasserrechnung und die Rechnung von Exxon jeden Monat pünktlich um diese Zeit kamen. Wenn er diese Rechnungen nicht bis Montag hätte, erklärte er Trish, würde er zur Post gehen und sich mit Howard unterhalten. »Hör auf mit deinem Verfolgungswahn«, entgegnete sie. »Wenn du Langeweile hast, dann räum endlich den Müll hinter dem Haus weg. Fang mit dem Geräteschuppen an. Mach etwas Sinnvolles. Hör auf, dir verrückte Verschwörungstheorien auszudenken.« »Was für verrückte Theorien?«, fragte er. »Einiges von unserer Post geht offensichtlich verloren. Ich will nur mit Howard darüber sprechen.« »Komm mir nicht damit. Du hast diesen neuen Postboten auf dem Kieker, seit du ihn zum ersten Mal gesehen hast.« Sie hatte recht, auch wenn Doug nie etwas darüber gesagt hatte. Tatsächlich hatte er mit Trish kein Wort über den Postboten gesprochen, nur über die Post als solche. Was ihm allerdings ebenso sehr Sorgen machte wie das Ausbleiben von Rechnungen und Reklame, war allein schon die Menge an Briefen und Korrespondenz, die sie derzeit bekamen. Unter normalen Umständen bekamen sie in einem ganzen Monat nicht so viel, geschweige denn in wenigen Tagen. So etwas ließ sich nicht einfach abtun; es gab keine rationale Erklärung dafür. Das konnte man nicht der Unfähigkeit eines Postmitarbeiters zuschreiben. Doug erinnerte sich daran, wie der Postbote sorgfältig die Briefe sortierte, nachdem er sie aus dem Briefkasten geholt hatte. »Ich werde Howard anrufen«, wiederholte er. Am nächsten Tag rief Howard selbst an, um auf ihre Einladung zum Abendessen zurückzukommen. Trish nahm den Anruf entgegen. Obwohl Doug an ihrem mitfühlenden und verständnisvollen Tonfall sofort erkannte, wer der Anrufer war, sagte er nichts von der Post: Howard durchlebte gerade eine schwierige Zeit, und er wollte es ihm nicht noch schwerer machen. Falls sich bis dahin nichts getan hatte, würde er die Beschwerde nächste Woche vorbringen, in einer geschäftsmäßigen Umgebung und nicht bei einem privaten Anlass. Trish schlug ein Datum vor, und Howard war einverstanden, am Samstag zu Braten und Kartoffeln herüberzukommen. »Weißt du was?«, gab Doug Trish gegenüber zu, ehe sie an dem Abend zu Bett gingen. »Ich glaube, ich fange tatsächlich an, den Werbemüll zu vermissen. Die meisten von diesen Flugblättern und Anzeigen hab ich immer weggeworfen, ohne sie zu lesen, aber jetzt, da wir sie nicht mehr kriegen, komme ich mir vor, als wären wir von der Welt abgeschnitten. Es ist beinahe so, als bekämen wir keine Zeitung mehr. Ich komme mir vor, als wäre ich nicht mehr auf dem Laufenden.« Trish drehte sich herum und knipste das Licht aus. »Hör auf mit der Post«, sagte sie. »Komm ins Bett.« 6. Lane Chapman wohnte in einem großen Haus mit drei Schlafzimmern oben auf dem Hügel, oberhalb der eingeebneten Ruinen des alten Dorfes der Anasazi-Indianer. Das Haus war modern, ganz aus Holz und Glas und mit verwinkelten Ecken, und das Innere sah aus, als stammte es aus einer Architekturzeitschrift: weiße Brücken auf weißen Bodenfliesen aus Mexiko, viele weiße Sofas, Punktstrahler mit gerahmten Kunstplakaten auf ansonsten nackten weißen Wänden. Billy starrte auf den zweistöckigen Bau, während er die gepflasterte Auffahrt zum Eingang hinaufging. Er bewunderte das Haus, aber er mochte es nicht. Es erschien ihm kalt, mehr wie eine Ausstellung und nicht wie ein Haus, und die beiden Jungen verbrachten normalerweise die meiste Zeit im kleinen, aber gemütlichen Haus der Albins. Obwohl Billy es Lane nie sagen würde, fand er auch die Eltern seines Freundes kühl und distanziert. Mr. Chapman war kaum je zu Hause, aber wenn er da war, ging Lane ihm aus dem Weg. Der Mann lächelte selten, fluchte oft und verschwendete seine Zeit nicht gerne damit, mit Kindern zu reden. Billy war sich nicht einmal sicher, ob Mr. Chapman seinen Namen kannte, obwohl er seit dem Kindergarten der beste Freund seines Sohnes gewesen war. Mrs. Chapman war immer zu Hause, doch in ihrem unerschütterlichen Lächeln lag etwas Falsches, und ihre ständige Freundlichkeit hatte etwas Künstliches. Lane, das wusste er, betete seine Mutter an, aber Billy wusste nicht, ob dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte. Mrs. Chapman erschien ungefähr so warm und entgegenkommend wie ihre kostbaren weißen Möbel. Ehe die Chapmans hierher nach Pine Top Acres gezogen waren, hatten sie nur ein Stück die Straße entlang von Billys Familie in einem Fertighaus aus Holz gelebt, das Lanes Dad gebaut und als Modellhaus für seine Leistungsfähigkeit als Bauunternehmer genutzt hatte. Jetzt hatten die Chapmans eine geheime Telefonnummer, und die einzigen Menschen, die das Haus betreten durften, waren die wenigen, die dorthin eingeladen worden waren. Billy drückte auf die Türklingel und hörte dumpf das vertraute musikalische Läuten aus den Tiefen des Hauses. Wenige Augenblicke später war Lane an der Tür. »Komm«, sagte er. »Lass uns abhauen. Mein Daddy ist zu Hause, und er ist stinksauer. Er hat gerade einen Auftrag an Gagh and Söhne verloren und schlechte Laune. Er droht damit, mich wieder zu Crazy Carl zu bringen.« Billy lachte. Der verrückte Carl war der älteste Friseur am Ort, ein Veteran des Zweiten Weltkrieges, in dessen Laden die Wände mit Fotos aus dieser Zeit tapeziert waren; er betrachtete es als seine patriotische Pflicht, dafür zu sorgen, dass das Haar jedes Jungen auf eine Länge gekürzt wurde, die er für annehmbar hielt. Ganz egal, welcher Stil gewünscht war, Carl würde das Haar unweigerlich zu einem Militärschnitt herunterrasieren. Einmal, vor Jahren, hatte Billys Dad ihn zu Crazy Carl gebracht und ihm gesagt, dass er dem Jungen nur über den Ohren ein wenig nachschneiden sollte. Carl hatte Billy fast völlig kahl rasiert, und wochenlang war er die Zielscheibe des Spottes seiner Klasse gewesen. Weder er noch sein Vater waren jemals wieder zu Carl gegangen. »Das meint er nicht ernst, oder?«, fragte Billy. »Kann man bei meinem Dad schwer sagen. Er droht immer damit, mich auf eine Kadettenanstalt zu schicken oder so.« Lane schüttelte den Kopf. »Ich hab langsam genug von dem Scheiß. Ich schwöre, wenn ich achtzehn bin, mach ich den Abflug, und wenn mein Alter mich aufzuhalten versucht, hau ich ihm eine rein.« Billy unterdrückte ein Lächeln. Lane redete immer davon, wie er seinem Dad »eine reinhauen« oder »in den Hintern treten« würde. Letzte Woche, als sie ein Lotterielos auf dem Boden gefunden hatten, hatte Lane gesagt, dass er bei einem Gewinn von zu Hause weggehen und eine Wagenladung voll Hundekacke schicken würde, die auf dem Auto seines Vaters abgeladen werden sollte. Lanes Pläne waren immer witzig, aber sie hatten auch etwas Trauriges, und Billy war dankbar, dass er nicht die Eltern seines Freundes hatte. Lane blickte die Auffahrt entlang. »Wo ist dein Rad?« Billy nickte in Richtung Straßenrand. »Ich habe es da hinten gelassen. Ich dachte, vielleicht schläft dein Bruder. Ich wollte ihn nicht wecken.« Als er das letzte Mal vorbeigekommen war, hatte er nach Lane gerufen, anstatt an die Tür zu klopfen oder zu klingeln, und Lanes Mutter war herausgekommen, lächelnd wie immer, und hatte ihm mit höflicher Stimme, aber stählernem Unterton mitgeteilt, dass er das Baby aufgeweckt hatte. Lane lachte. »Du glaubst, dein Rad würde ihn aufwecken? Da ist die Türklingel ja lauter!« »Und? Hab ich ihn wieder geweckt?« »Nein. Es geht ihm gut. Sei nicht so ein Angsthase. Was glaubst du denn, was meine Mutter mit dir machen wird? Dir eine runterhauen?« Das war möglich, dachte Billy, aber er sagte nichts. Er ging die Auffahrt entlang zu dem Strauch, wo er sein Rad abgestellt hatte, während Lane sein eigenes Rad holte, und bald sausten die beiden über die Straße. Obwohl das Land auf dem Hügel seit über zwei Jahren zur Bebauung freigegeben war, waren erst wenige der großen Grundstücke verkauft worden, und noch weniger waren schon bebaut. Da war das Haus der Chapmans, Dr. Koslowskis Haus, das Haus von Al Houghton, dem Pine Top Acres gehörte, und ein paar teure Ferienhäuser, die von Leuten errichtet worden waren, die sie nie benutzten. Ansonsten war die eingeebnete Kuppe des Hügels nur die Heimat von Bäumen und Felsen und Büschen. Billy und Lane traten in die Pedalen und fuhren auf der gepflasterten Straße an der ländlichen Residenz des Doktors vorbei. Die Aussicht von dort war spektakulär. Zur Linken lag die Stadt, weiße Gebäude aus Holz und braune Schindeldächer, die zwischen den sommerlich grünen Bäumen hervorlugten, und dahinter die gezackte Hügelkette. Zur Rechten war der Wald, der sich im wechselnden Muster von Hügel und Tal, Hügel und Tal bis zum Horizont erstreckte, unterbrochen nur von den gerodeten Flächen und den winzigen, zusammengewürfelten Flecken entfernter Ortschaften. Die Jungen sausten die Straße entlang. Sie hatten vor, die indianischen Ruinen am Fuß des Hügels zu besuchen. Ein Team von Archäologiestudenten der Arizona State University war gestern zu ihrem alljährlichen Sommerworkshop eingetroffen, und Billy und Lane hofften, von ihnen eingeladen zu werden, sich an der Erkundung zu beteiligen. Sie hatten das Ausgrabungsteam im vergangenen Sommer entdeckt, auf dem Labyrinth kaum erkennbarer Pfade, die vom Forstweg abzweigten, der sich durchs Tal zog. Sie hatten aus der Ferne sich bewegende Farbflecken im Grün des Waldes entdeckt und waren hingefahren, um nachzuforschen. Die Grabung war bereits seit einem Monat im Gange gewesen, und der Anblick, der sich ihnen bot, versetzte beide in Erstaunen. Fünfzehn oder zwanzig Männer und Frauen gruben mit winzigen Kellen in flachen, quadratischen Löchern, die mit Leinen und Pfosten exakt abgesteckt waren. Die Archäologen untersuchten Tonscherben und Gegenstände aus Stein und staubten die Objekte mit kleinen, schwarzen Pinseln ab. Neben einem verbeulten Pick-up in der Mitte der Wiese lagen Reihen von Knochen und Schädeln und indianischen Schmucksteinen. Im Umkreis der Grabungsstätte waren Teile einer niedrigen Steinmauer freigelegt worden. Die beiden Jungen hatten mit ihren Rädern am Rand der Wiese gestanden, bis jemand sie entdeckt und »He!« gerufen hatte. Daraufhin waren sie fluchtartig losgefahren und hatten wild in die Pedalen getreten. Doch am nächsten Tag schon waren sie zurückgekehrt. Und am Tag darauf kamen sie noch einmal wieder. Wie neugierige wilde Tiere gewöhnten sie sich an die Archäologiestudenten, und die Studenten gewöhnten sich an sie. Eines Tages, als sie sozusagen gezähmt waren, hatten sie den Mut aufgebracht, das Camp zu betreten. Es war eine außergewöhnliche Erfahrung gewesen. Billy und Lane hatten beobachtet und versucht, den Studenten nicht im Weg zu stehen. Dann hatte der Grabungsleiter, ein Professor, sie ein paar Pfeilspitzen aus dem harten Boden herausschaben lassen. Es hatte Spaß gemacht und war unheimlich spannend gewesen, und obwohl die Jungen keines der Fundstücke behalten durften, hatten beide auf der Stelle beschlossen, später Archäologen zu werden. Die Straße schlängelte sich in Kurven abwärts, und sie fanden den Pfad, der vom Asphalt weg über ein freies Grundstück in den Wald führte. Billy sprang mit dem Rad die kleine Böschung hinunter; Lane folgte ihm. Dann hatten sie auch schon das Grundstück überquert und verschwanden zwischen den Bäumen. Der Pfad wand sich durchs Unterholz und folgte dem Lauf eines längst ausgetrockneten Bachs, der in das Tal am Fuße des Hügels hinabführte. Sie sausten über den sandigen Boden. Kleine Eidechsen flitzten aus der Spur ihrer rasenden Reifen; Vögel flatterten aus den Sträuchern auf und erhoben sich lautstark zeternd in die Luft. Schließlich erreichten sie den Fuß des Hügels, und Billy kam mit schlitternden Reifen zum Stehen. Lane stoppte neben ihm. Von weiter her auf der rechten Seite drangen leise Gesprächsfetzen und Rockmusik an ihre Ohren, und sie drehten ihre Räder herum. Obwohl die niedrigen, steinernen Umrisse der Anasazi-Gebäude sich über den gesamten Talboden erstreckten, konzentrierte das Team der Universität sich jeweils nur auf einen kleinen Abschnitt. Im vergangenen Jahr hatten die Studenten am nördlichen Ende des Tals gegraben, in der Nähe der Wiese, aber dieses Jahr schien es, als hätten sie diese Idee aufgegeben und versuchten, am dicht bewaldeten Südende nach Artefakten zu suchen. Billy und Lane hatten den Grabungsort erreicht, ehe sie es bemerkt hatten, und hielten dicht am Rand der kleinen Lichtung. Unter mehreren Bäumen waren Klapptische und -stühle aufgestellt worden; darauf lagen Bücherstapel und Schachteln und verschiedene Werkzeuge. Der Teppich aus braunen Kiefernnadeln, der normalerweise den Boden bedeckte, war entfernt worden, und die flache, nackte Erde war in quadratische Flächen aufgeteilt. Leuchtend blaue und rote Zelte waren in dem Bereich aufgestellt, allerdings nicht genug, dass das ganze Team darin schlafen konnte. Die Studenten selbst waren um ihren Professor versammelt, ein Mann mittleren Alters mit beginnender Glatze, Präsident-Lincoln-Bart und der Sonnenbräune eines Goldsuchers. Die Jungen stellten ihre Räder an den Büschen ab und gingen langsam und scheu vorwärts. Einige Gesichter der Studenten waren ihnen vom vergangenen Jahr bekannt, aber die meisten waren neu, und Lane und Billy wussten nicht, wie man auf sie reagieren würde. Die Blicke der Frauen und Männer schwenkten vom Professor auf die beiden Jungen, die sich vorsichtig über den aufgegrabenen Erdboden bewegten. Der Professor drehte sich um. Als er sie wiedererkannte, legte sich ein Lächeln auf sein Gesicht. »Ich habe mich schon gefragt, wann ihr auftaucht«, sagte er. Seine Stimme war brüchig und heiser. »Bereit zur Arbeit?« »Deshalb sind wir gekommen«, antwortete Lane. Der Professor lachte. »Freut mich, dass ihr an Bord seid. Ich bin sicher, wir finden Arbeit für euch.« Er wandte sich seiner Studentengruppe zu. »Den Kommilitonen, die in unserem Aufbaukurs neu sind, möchte ich vorstellen: Lane ...« »Chapman«, soufflierte Lane. »Und Billy ...« »Albin.« »Genau.« Der Professor wollte gerade etwas hinzufügen, als seine Aufmerksamkeit auf das andere Ende der Lichtung gezogen wurde. Billy folgte seinem Blick. Er sah Bewegung im Unterholz. Es war ein Mann in blauer Uniform und mit schmalem weißem Gesicht. Und leuchtend rotem Haar. Von der anderen Seite trat der Postbote auf die Lichtung. Offensichtlich war er den ganzen Weg von der Straße aus, die das Tal am Südende durchquerte, durch Büsche und Bäume gelaufen, doch seine Postuniform zeigte keinerlei Schmutzspuren; keine toten Blätter oder Zweige waren an seiner Mütze, und die goldenen Knöpfe an seiner Jacke glänzten. In der Hand hielt er einen einzelnen Umschlag. »Dr. Dennis Holman?«, fragte er mit seiner glatten, tiefen Stimme. Der Professor nickte. »Ich habe einen Brief für Sie.« Er reichte den Brief dem Professor; dann sah er Billy an. Auf seinem Gesicht lag dasselbe vielsagende Lächeln, das Billy an jenem Tag am Briefkasten gesehen hatte. Ihm wurde flau im Magen, und er bekam Angst. Sein Herz klopfte, und er blickte zu Lane hinüber, um zu sehen, ob auch er es bemerkt hatte, doch Lane hatte seine Aufmerksamkeit auf eine Frau ohne BH in der vorderen Reihe der Studenten gerichtet. Billy zwang sich, nur den Professor anzusehen, und versuchte, den unheimlichen, vieldeutigen Blick des Postboten zu ignorieren. Dr. Holman öffnete den Umschlag und überflog den Inhalt. »Unsere Projektmittel sind bewilligt«, verkündete er der versammelten Gruppe und hielt den Brief hoch. »Die Universität hat beschlossen, unser Forschungsprojekt fortzusetzen!« Die Studenten brachen in spontanen und zum größten Teil ehrlich gemeinten Jubel aus. Der Professor grinste und nickte dem Postboten zu. »Das ist die beste Neuigkeit, die ich im ganzen Semester bekommen habe.« »Freut mich, wenn ich Ihnen dienen konnte«, sagte der Postbote. Normalerweise, überlegte Billy, wäre das das Stichwort gewesen, um zu gehen, aber der Mann machte keinerlei Anstalten. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und blieb ruhig stehen, schaute sich im Lager um und nahm alles in sich auf. Seine Miene war neutral, auf Ausdruckslosigkeit bedacht; dahinter jedoch lag unterschwellige Selbstgefälligkeit. Sie gab Billy das Gefühl, dass der Postbote über alle, die er beobachtete, sein Urteil fällte - und dass er glücklich war, dass sie seinen Ansprüchen nicht genügten. Er war schweigsam, doch Billy konnte sehen, dass er sich innerlich daran weidete. Die Augen des Postboten musterten die Gesichter der Studenten und landeten dann wieder bei Billy. Billy schwitzte. Er spürte, wie aus den Achselhöhlen Schweißperlen herunterrannen. Auch seine Stirn war schweißbedeckt, und er wischte sie mit der Handfläche ab. Es war heiß draußen, aber nicht so heiß, und er schluckte heftig und wollte losrennen, von hier abhauen, nichts wie weg. Doch er konnte sich nicht bewegen. Er war wie versteinert durch diesen Blick und das scheinbar wohlwollende Lächeln, sodass er es nicht einmal schaffte, zu Lane hinüberzuschauen. Der Postbote nickte ihm zu - ein bestätigendes Nicken, das Billy sagte: »Ich weiß, was du gerade denkst.« Dann drehte er sich um und ging mit forschem Schritt auf dem Weg, den er gekommen war, durch den Wald zurück. »Wir haben unsere Finanzierung«, begeisterte sich der Professor. »Endlich haben wir unsere Finanzierung!« Stolz hielt er den Brief in die Höhe. »Jetzt können wir wirklich Fortschritte machen!« Lane verpasste Billy mit dem Ellbogen einen Rippenstoß. »Das ist stark, was? Wir werden noch mehr ausgraben können.« »Super, ja«, wiederholte Billy. Doch seine Gedanken waren nicht beim Professor oder der Archäologie. Seine Augen und Gedanken konzentrierten sich auf die Stelle zwischen den Bäumen, wo wenige Augenblicke zuvor der Postbote mit seiner weißen Hand langsam und beinahe liebevoll zum Abschied gewunken hatte. 7. Um Punkt sieben bog Howard in die Auffahrt ein. Es war noch hell draußen, doch das Blau am östlichen Horizont wurde langsam vom Purpur erobert, und der blasse Himmel im Westen färbte sich orange. Billy saß auf der Couch und sah sich eine Wiederholung von M.A.S.H. an, bis Trish den Fernseher ausschaltete und ihn nach oben schickte. Billy beklagte sich zwar, stieg aber die Treppe hinauf, denn er fühlte sich in Gegenwart Erwachsener nicht wohl und zog sich normalerweise zurück, wenn seine Eltern Freunde zu Besuch hatten. Trish konnte es ihm nicht verübeln. Als sie in seinem Alter gewesen war, hatte sie genauso empfunden. »Ich ruf dich, wenn das Essen fertig ist«, sagte sie. »Dann kommst du runter und holst dir was.« »Ja, ja, okay.« Doug stand auf und ging, um die Tür zu öffnen. »Sag nichts über Bob, bis er das Thema selbst anspricht«, schlug Trish vor. »Wir sollen ihn aufmuntern und von seinem Kummer ablenken.« Er drückte sich an ihr vorbei. »Na klar. Hältst du mich für blöd?« Sie lächelte. »Ich versuche nur, dem Einfluss von Hobie Beecham entgegenzuwirken.« »Danke sehr.« Während Trish in die Küche eilte, um nach dem Essen zu sehen, öffnete Doug die Tür, als Howard auf die Veranda kam. »Freut mich, dass Sie die Zeit gefunden haben«, begrüßte er ihn. Der Postchef lächelte. »Freut mich, dass Sie mich eingeladen haben.« Er trug eine neue dunkelblaue Jeans, ein gestärktes weiß-rosa Cowboyhemd und ein Lederband mit einem Achat um den Hals. Seine Stiefel waren geputzt, und sein Haar war gegelt und nach hinten gekämmt und schimmerte feucht. In der Hand hielt er eine als Geschenk verpackte Flasche. »Kommen Sie rein«, sagte Doug und hielt die Tür auf. Trish nahm ihre Schürze ab und kam nach vorn, um ihren Gast zu begrüßen. Auch sie hatte sich für den Anlass zurechtgemacht und trug ein tief ausgeschnittenes schwarzes Kleid, eine Türkiskette mit dazu passendem Armband und antike Silberohrringe. Ihr brünettes Haar war zu einer raffinierten Rolle hochgesteckt. Freundlich nahm sie das angebotene Geschenk entgegen. »Vielen Dank«, sagte sie. »Aber Sie hätten wirklich nichts mitzubringen brauchen.« »Ich wollte es aber gern.« Howard blickte sie an und hob die Augenbrauen. »Sie sehen toll aus, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.« Er wandte sich an Doug. »Ich habe es schon früher gesagt, und ich sage es noch einmal: Sie sind ein glücklicher Mann.« Trish errötete. Sie wickelte die Flasche aus, drehte sie um und las das Etikett. »Champagner!« Sie drückte Howard einen raschen Kuss auf die Wange. »Vielen Dank.« Sie ging in die Küche, stellte die Flasche auf die Theke und warf das Geschenkpapier in den Müllbeutel unter der Spüle. »Ihr beide beschäftigt euch jetzt mal eine Zeitlang allein, okay? Ich mache die Vorspeise fertig.« Doug bedeutete Howard, sich in einen der Sessel gegenüber der Couch zu setzen, und nahm dann selbst Platz. Die Fenster waren geöffnet, der Ventilator eingeschaltet, aber die Luft war immer noch unangenehm warm. Von oben kamen die vertrauten Klänge der Titelmelodie von M.A. S.H. Doug lächelte Howard an. »Entschuldigen Sie mich einen Moment.« Er ging zur Treppe. »Mach leiser, Billy«, rief er hinauf. Der Lärm des Fernsehers verebbte erst und verstummte dann ganz. »Mein Sohn Billy«, sagte Doug, als er ins Wohnzimmer zurückging. Er machte es sich wieder im Sessel gemütlich. Es gab Fragen, die er gerne stellen, und Dinge, die er wissen wollte, aber er wusste nicht, wie er das Thema behutsam angehen sollte. Er räusperte sich, beschloss, direkt ins kalte Wasser zu springen, wobei er hoffte, dass er nicht allzu neugierig klang. »Wie kommen Sie mit dem neuen Postboten zurecht? Wohnt er noch bei Ihnen?« »Ja«, erwiderte Howard, »aber ich sehe ihn nicht sehr oft. Sie wissen sicher, wie das ist. Ich bin kein junger Bursche mehr. Ich gehe eher zu Bett als er und wache später auf. Mein Lebensstil und seiner passen nicht gut zusammen.« »Und wie ist er so?« Trish kam ins Zimmer und stellte ein Tablett mit Käsecrêpes auf den kleinen Tisch zwischen ihnen. »Ich bin gleich mit dem Champagner wieder da«, sagte sie sanft. Sie fixierte Doug mit einem strengen, vielsagenden Blick, während sie sich vom Postchef abwandte, doch Doug tat so, als bemerkte er es nicht. Sie nahmen beide einen Crêpe. »Mmm«, sagte Howard und genoss mit geschlossenen Augen den Geschmack. »Das ist eines der Dinge, die ich vermisse, seit Murial weg ist - gute Küche. Irgendwann hat man Tiefkühlkost und Hotdogs satt.« »Kochen Sie denn nicht?«, fragte Trish, während sie den beiden Champagner servierte. »Ich versuche es, aber erfolglos.« Trish lachte auf und ging in die Küche zu ihrem eigenen Glas Champagner zurück. »Wie ist er denn so?«, fragte Doug noch einmal. »Er stellt die Post jedenfalls ziemlich früh zu. Bob kam immer um Mittag herum. Jetzt ist die Post schon da, wenn wir gefrühstückt und ein bisschen aufgeräumt haben.« »John fängt wirklich früh an. Wenn ich aufstehe, ist er normalerweise schon weg. Gegen elf ist er mit der ganzen Runde fertig, und er bleibt bis vier.« Howard nahm sich noch einen Crêpe und steckte ihn in den Mund. »Er hat noch keine Stechkarte abgegeben - die ist erst diese Woche fällig -, aber wenn er es tut, muss ich mir mal ansehen, wie viele Stunden er aufschreibt. Er soll eigentlich nicht mehr als acht Stunden arbeiten, aber ich glaube, es sind eher zehn oder elf.« »Finden Sie nicht auch, dass er ein bisschen merkwürdig ist?«, fragte Doug. »Ich meine, warum trägt er die Post so wahnsinnig früh aus?« Trish schoss einen weiteren wütenden Blick über Howards Kopf ab, bevor sie sich neben ihn setzte. »Ja, stimmt, John kann einem ein bisschen seltsam erscheinen. Aber er macht seine Arbeit gut und erledigt alles, was anfällt. Und er ist immer bemüht, sogar noch mehr zu tun. So was sieht man heute nicht oft. Ich könnte mir keinen besseren Boten wünschen.« Doug nickte. Howards Worte waren voll des Lobes, doch in seiner Stimme lag ein seltsamer Unterton. Es war, als ob er Worte wiederholte, die er eingeübt hatte; als ob er etwas sagte, was er sagen wollte, ohne tatsächlich so zu empfinden. Zum ersten Mal, seit sie Howard kannten, glaubte Doug, dass er heuchelte, dass er ihnen bloß etwas vormachte. Dougs Blick traf über den Tisch hinweg Trishs, und er sah, dass auch sie es bemerkt hatte. Doch Trish weigerte sich, dieses Gesprächsthema weiter zu verfolgen, und geschickt lenkte sie die Unterhaltung auf etwas weniger Persönliches. Das Abendessen war ausgezeichnet. Billy war heruntergekommen, hatte sich genommen, was er wollte, und sich wieder ins Obergeschoss verzogen. Die drei Erwachsenen aßen am Tisch und genossen das Essen in aller Ruhe: Cobb-Salat, gebratenes Roastbeef in Weinsauce, serviert mit Backkartoffeln mit einer Füllung aus saurer Sahne und Schnittlauch. Dazu hatte Trish ihr selbst gemachtes Brot gebacken, dick und warm und weich, das nach kurzer Zeit verschwunden war. Howard lächelte. »Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so gut gegessen habe.« »Ich auch nicht«, sagte Doug. »Genieße es, solange du kannst«, warnte ihn Trish. »Das war alles an rotem Fleisch für diesen Monat.« »Meine Frau steht auf gesunde Ernährung«, erklärte Doug. »Wir sind eine sehr gesundheitsbewusste Familie.« »Du kannst auch jede Unterstützung gebrauchen, die du kriegen kannst. Wenn du ein bisschen mehr Sport treiben würdest, könnten wir es uns erlauben, ein wenig nachsichtiger zu sein. Aber du hast eine rein sitzende Lebensweise. Deshalb kann ich nur darauf achten, dass du wenigstens vernünftig isst.« Howard kicherte. Billy kam mit seinem Geschirr herunter, lächelte den Postchef scheu an und verschwand dann wieder nach oben. Sie tranken den Rest des Champagners, und Trish brachte Howard und Doug ein Bier. Sie selbst trank Eiswasser. Im Verlauf der Mahlzeit wurde die Unterhaltung ernster und weniger oberflächlich, und es war Howard, der das Thema anschnitt. »Ich frage mich, warum Bob das getan hat«, sagte er, schaute dabei auf den Teller und schob die leere Kartoffelschale mit der Gabel hin und her. »Das ist das Einzige, was ich beim besten Willen nicht verstehe. Warum hat er das getan?« Er blickte auf und sah Trish mit roten Augen an, doch seine Stimme war ruhig. »Sie kannten Bob. Er war ein gelassener Busche, der nichts an sich herankommen ließ. Er mochte seine Arbeit, liebte seine Familie, hatte ein gutes Leben. Und nichts hatte sich geändert. Es gab keine große Katastrophe, keinen Todesfall, nichts, was ihn in den Abgrund getrieben hätte. Wenn ihn irgendwas bedrückt hätte, hätte er es mir erzählt.« Seine Stimme zitterte leicht, und er räusperte sich. »Ich war sein bester Freund.« Trish legte ihre Hand auf seine. »Ich weiß«, sagte sie leise. Howard wischte sich mit dem Handrücken über die Nase und zwang sich, nicht den Tränen nachzugeben. »Ellen wird nur schwer damit fertig. Es ist schlimmer, als ich gedacht hätte. Sie schien eine so starke Frau zu sein.« Er lächelte traurig. »Bob nannte sie immer ›den Felsen‹.« Ohne es zu merken, fummelte er an seiner Serviette herum. »Sie stand unter starken Medikamenten, als ich sie kürzlich besucht habe. Der Arzt gibt ihr ... ich weiß gar nicht was alles. Er sagt, es ist die einzige Möglichkeit, sie ruhig zu stellen. Die Jungs müssen sich um alles kümmern, aber man merkt, dass auch sie an ihre Grenzen gekommen sind. Sie haben Fragen, genauso wie ich, und es gibt einfach keine Antworten.« Doug hatte plötzlich ein Bild von den beiden Jungen vor sich, wie sie jeden Morgen aufwachten und beide in derselben Badewanne duschten, in der ihr Vater sich den Schädel weggeblasen hatte, wie sie ihre Seife aus derselben Seifenschale nahmen, in der sein Blut gestanden und Teile seines zersplitterten Schädels gelegen hatten. Er fragte sich, wie Ellen badete, ohne daran zu denken, was sie in der Wanne gesehen hatte. »Das wird schon wieder«, sagte Trish. »Er fehlt mir«, platzte Howard heraus. »Bob fehlt mir.« Er atmete tief ein; dann sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus. »Ich weiß nicht mehr, was ich mit meinen Samstagabenden anfangen soll. Ich weiß nicht, wen ich um Rat fragen oder wem ich einen Rat geben oder mit wem ich wo hingehen soll oder ... verdammt!« Er brach in Tränen aus. Nach dem Abendessen setzten sie sich auf die Veranda. Es war schwül; Regen lag in der Luft. Fledermäuse, flatternde Schatten in der Dunkelheit, flogen in den beleuchteten Kreis, den die Straßenlaterne erzeugte, und wieder hinaus. Von weiter unten an der Straße erklangen die knisternden, elektrischen Geräusche eines Insektenvernichters, der seine Opfer auf der Stelle grillte. »Als wir klein waren, haben wir immer Fledermäuse geangelt«, sagte Doug geistesabwesend. »Wir haben ein Blatt oder etwas anderes auf einen Angelhaken gesteckt und die Schnur dann in der Nähe einer Straßenlampe in die Luft geworfen. Ihr ›Radar‹ sagt den Fledermäusen, dass es ein Insekt ist, also stürzen sie sich darauf. Wir haben nie eine gefangen, aber ein paar Mal waren wir dicht dran.« Er kicherte. »Ich weiß nicht, was wir gemacht hätten, hätten wir wirklich eine erwischt.« »Man tut dummes Zeug, wenn man klein ist«, sagte Howard. »Ich erinnere mich, dass wir mit Schrotflinten auf Katzen geschossen haben. Nicht nur auf wilde oder streunende Katzen. Auf alle Katzen.« Er trank sein letztes Bier aus. »Jetzt fällt es mir schwer, mich daran zu erinnern, dass ich mal so grausam war.« Eine Weile schwiegen sie, zu satt und zu müde, um sich zur Konversation aufzuraffen. Im Osten über der Hügelkette leuchteten Blitze auf und zeichneten die Umrisse dunkler Quellwolken nach. Wie die meisten Sommergewitter würde auch dieses wahrscheinlich in der Nacht kommen, am Morgen verschwunden sein und eine Schwüle und Feuchtigkeit hinterlassen, die dem klimatisierten Kino einen Besucheransturm verschaffen und die Leute an Flüsse und Seen treiben würden. Sie blickten nach oben. Die Nacht war mondlos, und obwohl sich offensichtlich ein Gewitter näherte, war der Himmel über ihnen der Traum jedes Astronomen: übersät mit Millionen von Sternen. Dougs Stuhl knarrte, als er sein Gewicht verlagerte und sich vorbeugte. »Wo ist John Smith heute Abend?« Der Name klang lächerlich, wenn man ihn aussprach. »Ist er bei Ihnen zu Hause?« »Weiß ich nicht.« Das Bier musste seine Zunge gelöst haben, denn Howard schüttelte den Kopf, eine undeutliche Bewegung in der Dunkelheit. »Normalerweise ist er nicht so früh da. Er geht abends aus, aber ich weiß nicht, wohin oder was er macht. An manchen Abenden kommt er überhaupt nicht nach Hause.« »Woher wissen Sie das?« »In letzter Zeit schlafe ich sehr schlecht ein. Ich bin todmüde, komme aber nicht in den Schlaf.« »Das ist verständlich«, sagte Trish. »Manchmal stehe ich auf und laufe herum, nur um etwas zu tun zu haben. Vor kurzem ging ich nachts in die Küche, um mir einen Orangensaft zu holen, und auf dem Weg dorthin merke ich, dass seine Tür offen steht. Ich schaue hinein, und das Bett ist gemacht, und Smith ist weg. Das war so um zwei oder drei Uhr morgens.« »Vielleicht hat er eine Freundin«, meinte Trish. »Vielleicht.« Doch Howard schien es zu bezweifeln. »Haben Sie ihn je schlafen sehen?«, fragte Doug. »Was für eine Frage ist das denn?«, fragte Trish stirnrunzelnd. »Sagen Sie es nur.« »Nein«, sagte der Postchef langsam. »Jetzt, da ich darüber nachdenke - nein, habe ich nicht.« »Haben Sie sein Bett je ungemacht gesehen?« Howard schüttelte den Kopf. »Aber an Sonntagen bleibt er in seinem Zimmer. Er macht nicht mal die Tür auf. Bleibt einfach da drin, als ob er dort überwintert oder so. Ich glaube, dann schläft er.« »Den ganzen Tag?« Howard zuckte mit den Schultern. »Weiß ich nicht. Vielleicht schläft er, vielleicht macht er was anderes. Am Montagmorgen scheint er immer müde zu sein.« Doug spürte, wie Kälte in ihm hinaufkroch. Er wusste nicht, warum er solche Fragen stellte oder was er herauszufinden hoffte, aber dieser Smith hatte etwas an sich, was ihn beunruhigte. »Haben Sie viele Beschwerden über ihn bekommen?« »Keine einzige.« Doug war enttäuscht. Irgendwie hatte er zu hören gehofft, dass noch ein Rest an Gefühlen für Bob Ronda - oder die offensichtlich merkwürdige Art von John Smith - zu einem negativen Urteil über den neuen Postboten geführt hätte. »Tatsächlich«, fuhr der Postchef fort, »scheinen die Leute sehr damit zufrieden zu sein, wie er seine Arbeit macht. Ich kann mich nicht erinnern, dass es im Postamt jemals so viel zu tun gab. Die Leute schicken mehr Briefe, kaufen mehr Briefmarken. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber die Leute scheinen sogar zufriedener zu sein als vorher.« Seine Stimme bekam einen bitteren Unterton. »Das ist alles gut und schön, und ich will mich auch gar nicht beschweren, aber irgendwie kommt es mir so vor, als wäre das ein Schlag gegen Bob. Ich meine, niemand hat je etwas Schlechtes über ihn gesagt. Ganz im Gegenteil. Ich höre nichts als Lob und gute Worte über ihn. Aber auf professioneller Ebene scheinen die Leute mit John zufriedener zu sein.« Einen Augenblick lang war Howard still; als er wieder sprach, war seine Stimme voll ruhiger Überzeugung. »Bob war ein verdammt guter Postbote. Der beste, den ich je kennen gelernt oder mit dem ich je gearbeitet habe, und ich habe einfach das Gefühl, dass er betrogen wird!« Doug und Trish waren still. Howard stand auf, trat ans Geländer und starrte in den Grüngürtel. »John Smith ist ein guter Mann. Er ist höflich und arbeitet hart. Er macht einen hervorragenden Job.« Seine Stimme war so leise, dass man sie kaum hören konnte. »Aber ich mag ihn nicht. Ich weiß nicht warum, aber Gott helfe mir - ich mag ihn nicht. Ich mag ihn überhaupt nicht!« Howard, der ziemlich viel getrunken hatte, ging nach zehn Uhr. Doug erbot sich, ihn nach Hause zu fahren, doch Howard sagte, dass er nicht betrunken sei, und zumindest schien er keine Schwierigkeiten zu haben, klar und deutlich zu sprechen. Trotzdem ließ Trish ihn eine Tasse Kaffee trinken, bevor er sich verabschiedete. Doug und sie sahen ihm von der Veranda aus nach, als er davonfuhr, bis die roten Rücklichter zwischen den Bäumen verschwanden. Doug hatte Howard nach der Post gefragt, hatte ihm von seinem Verdacht erzählt, dass der neue Postbote Briefe unterschlagen würde, doch Howard - nun wieder verschlossen - sagte, dass normal sei, was geschah: Die Post habe Ebbe und Flut, wie die Gezeiten. Aber hier scheine es ein Muster zu geben, argumentierte Doug. Sie bekämen keine Rechnungen, keine Werbung, keine schlechten Neuigkeiten. Zufall, sagte Howard, und obwohl Doug ihm nicht glaubte, drängte er ihn nicht weiter. Er konnte es ohnehin nicht beweisen. In jedem Fall war er entschlossen, Schecks für die regelmäßigen monatlichen Zahlungen auszustellen und gleich morgen abzuschicken, anstatt darauf zu warten, dass die Rechnungen eintrafen. Als Trish und Doug hineingingen und die Eingangstür hinter sich abschlossen, beschlossen sie, den Abwasch bis zum nächsten Tag stehen zu lassen. Von oben hörten sie Billys regelmäßiges Schnarchen. Doug lächelte. Der Junge zerlegte das Holz so rhythmisch wie eine Sägemühle, und sein Schnarchen war so laut und tief wie das eines alten Mannes. Trish machte das Licht in der Küche aus, und sie gingen über den kurzen Flur zum Schlafzimmer. »Findest du nicht auch, dass Billy in letzter Zeit ziemlich ruhig ist?«, fragte Trish. »Nicht mehr als sonst.« »Irgendwas scheint ihn zu beschäftigen. Er war ... ich weiß nicht, irgendwie zerstreut. Wie heute, als er von Lane nach Hause kam. Da habe ich ihn gefragt, was er gemacht hat, und er hat nur den Kopf geschüttelt und wollte mir nicht antworten. Dann hat er sich hingesetzt und den Rest des Tages ferngesehen.« Doug lachte auf. »Und was ist so neu daran?« »Ich mache keine Witze. Könntest du ihn nicht mal fragen, was los ist? Immerhin bist du sein Vater.« »Okay. Morgen rede ich mit ihm. Ich weiß nicht, was ich herausfinden soll, aber ...« »Du sollst nur sehen, ob er irgendwelche Schwierigkeiten hat, ob etwas nicht in Ordnung ist. Wahrscheinlich bilde ich es mir nur ein, aber es schadet nicht, mal nachzusehen. Er ist schon fast ein Teenager.« Doug wusste, worauf sie anspielte, ging aber nicht weiter darauf ein. »Okay, ich rede mit ihm.« »Danke.« Sie hatten das Schlafzimmer erreicht. Es war dunkel, und keiner von beiden machte das Licht an. »Jedenfalls schläft Billy jetzt«, sagte Doug. Trish schwieg. »Es hört sich jedenfalls so an«, schob er nach. Er hörte, wie die Bettdecke zurückgeschlagen wurde. Das Zimmer war warm, aber bei weitem nicht so warm wie das Wohnzimmer im vorderen Teil des Hauses. In der Ferne grollte Donner. Doug knöpfte sein Hemd auf. »So ohne Licht ist es irgendwie romantisch«, sagte er. »Meinst du nicht auch? Ich ...« In diesem Augenblick spürte er ihre Hand zwischen seinen Beinen. Er streckte den Arm aus, und seine Finger berührten glatte, warme Haut. Irgendwie hatte Trish leise ihre Kleider und die Unterwäsche ausgezogen. Ihre Lippen trafen sich, und Doug spürte, wie ihre warme, feuchte Zunge gierig in seinen Mund glitt. Ihre Hand öffnete langsam seinen Gürtel, zog den Reißverschluss herab, zog Hose und Shorts herunter. Er streifte seine Schuhe ab, stieg aus den Kleidern, die auf seine Knöchel gerutscht waren, und beide bewegten sich schweigend zum Bett hinüber. Trish drückte ihn wortlos auf den Rücken, und er streckte sich lang auf der Matratze aus. Ihre Finger, weich und sanft, ergriffen sein Glied und massierten es, bis er hart wurde. Das Bett knarrte, als sie ihre Position einnahm, und er konnte den moschusartigen Duft ihres Schamhaars riechen, während es über sein Gesicht streifte. Er hob den Kopf, und seine Zunge berührte Feuchtigkeit. Er konnte sie schmecken, süß und sauer, und während seine Zunge in ihre feuchte Öffnung glitt, spürte er, wie ihr heißer Mund sein Glied in sich aufnahm. Es verging nahezu eine Stunde, ehe sie erschöpft nebeneinander lagen. Es war lange her, seitdem sie es so sehr genossen hatten - seitdem sie es sich erlaubt hatten, es so sehr zu genießen. Im vergangenen Jahr hatte ihr Sexualleben mehr aus Werbespots als aus Spielfilmen bestanden: hastige, schnelle Nummern, wenn sie sicher waren, dass Billy schlief oder längere Zeit nicht im Haus sein würde. Seitdem Doug seinen Sohn aufgeklärt hatte, hatten sie beide immer darauf geachtet, dass Doug keine Hinweise auf ihr Liebesleben entdeckte. Jedenfalls war es diesmal wie in den alten Zeiten gewesen, genüsslich, ohne Eile, voller Hingabe, einfach wunderbar. Erschöpft schliefen sie in den Armen des anderen ein, noch immer nackt, noch immer den anderen umschlingend. 8. Billy stand vor dem Kino und wartete darauf, dass sein Vater ihn abholte. Der Film hatte früher geendet, vor beinahe zwanzig Minuten, und alle anderen waren schon fort. Der Parkplatz war verlassen. Die Platzanweiser und andere Angestellte des Kinos hatten bereits sauber gemacht und gingen nun ebenfalls. Wo ist Dad? Billy hatte vor ungefähr zehn Minuten zu Hause angerufen, nachdem Brads und Michaels Eltern gekommen waren, um die Freunde abzuholen, und seine Mom hatte gesagt, dass sein Dad gerade losgefahren und auf dem Weg sei. Wo blieb er also? Der letzte Wagen der Kinoangestellten fuhr ab, und laute Rockmusik dröhnte verzerrt aus Lautsprechern, die nicht für solche Lautstärken ausgelegt waren. Nun war der Parkplatz vollkommen leer bis auf einen verlassenen Pick-up auf der anderen Seite. Die Lampen - eine war an einen Telefonmast, die andere an einen richtigen Laternenpfahl montiert - erloschen gleichzeitig. Es gab nur noch Dunkelheit und Stille. Nein, keine völlige Stille. Da war ein leises Schnurren. Das Geräusch eines neuen Automotors. Billys Herz begann zu hämmern. Er überquerte den Bürgersteig, blickte in beide Richtungen die Straße entlang und suchte verzweifelt seinen Dad, aber der war nirgends zu entdecken. Da war nur ein neuer, roter Wagen, der langsam die Straße entlang auf ihn zukam. Panik erfasste Billy, und er blickte sich hastig nach einem Platz um, wo er sich verstecken konnte. Doch an der Vorderfront des Kinos gab es keine Nischen oder Einbuchtungen, wo er sich verbergen konnte. Es gab nicht einmal Sträucher, hinter die er sich hätte ducken können. Beim Bau des Kinos waren alle Bäume und Büsche ausgerissen worden, um Raum für den asphaltierten Parkplatz zu schaffen. Billy saß fest. Er konnte nichts tun, konnte nirgendwohin ... Der Wagen fuhr auf den Parkplatz. Das Fenster auf der Beifahrerseite senkte sich langsam, und vor dem dunklen Hintergrund des Wageninnern sah der Junge das milchweiße Gesicht und das leuchtend rote Haar des Postboten. Der Wagen hielt direkt neben ihm an. »Brauchst du eine Mitfahrgelegenheit?« Die glatte Stimme klang verführerisch, einschmeichelnd. »Mein ... mein Dad kommt gleich und holt mich ab«, sagte Billy. Sein Herz schlug so wild, dass er glaubte, es würde zerspringen. »Dein Dad kommt nicht«, entgegnete der Postbote. Seine Stimme war immer noch seidenweich, hatte aber einen bedrohlichen Unterton. Die Beifahrertür öffnete sich. »Steig ein.« Billy wich zurück. »Dein Dad ist nicht mehr hier«, sagte der Postbote und kicherte. So, wie er das Wort »hier« dehnte, ließ Billy schaudern. Er bekam eine Gänsehaut. »Steig ein.« »Nein«, sagte Billy. »Du wirst einsteigen, und es wird dir gefallen.« Der Postbote streckte den Arm durch die geöffnete Tür. Und streckte ihn weiter. Und noch weiter. Bis seine kalten weißen Finger Billys Kehle umklammerten. Billy wachte schreiend auf. 9. Doug war an der Reihe, das Frühstück zu machen. Er stöpselte das Waffeleisen und den Mixer mit dem Teig ein, während Trish nach draußen ging, um wie jeden Morgen die Pflanzen zu gießen. Geistesabwesend rührte Doug den Teig. Billys Schreien beunruhigte ihn. Der Junge hatte noch nie solch einen schlimmen Albtraum gehabt. Selbst nachdem sie ihn beruhigt und davon überzeugt hatten, dass er nur einen bösen Traum gehabt hatte, war Billy immer noch blass gewesen und hatte gezittert und wollte sie nicht gehen lassen. Und er hatte ihnen einfach nicht erzählen wollen, worum es in dem Albtraum ging. Doug hatte Billy bedrängt, bis Trish ihm mit einem leichten Ruck am Arm klargemacht hatte, dass diese Fragen bis zu einem günstigeren Zeitpunkt warten konnten. Billy hatte den Rest der Nacht auf der Couch im Erdgeschoss geschlafen. Als der Teig gerührt war, ging Doug ins Wohnzimmer und blickte aus dem Fenster. Bevor Howard am Abend zuvor herübergekommen war, hatte er am Spätnachmittag einen Brief in den Postkasten gelegt, ein langes, ausführliches Schreiben an Don Jennings, der Don über die Meilensteine ihres Lebens während des vergangenen Jahrzehnts auf den neuesten Stand brachte. Der rote Wimpel am Kasten war jetzt unten, und Doug blickte auf die Uhr. Sechs Uhr dreiunddreißig. Die Post kam jeden Tag früher. Und das auch noch an einem Samstag. Er ging nach draußen auf die Veranda, stieg die Stufen hinunter und schlenderte die Auffahrt entlang. Das Gewitter der letzten Nacht war über Willis hinweggezogen, ohne sich die Mühe zu machen, Hallo zu sagen, doch es hatte eine höllische Luftfeuchtigkeit zurückgelassen. Als Doug den Postkasten erreichte, schwitzte er bereits. Er öffnete die Metallklappe. Sein Brief war verschwunden; an seiner Stelle lag ein dünner weißer Umschlag mit blau gestreiftem Rand im Kasten, der an Trish adressiert war. »Meine Tomaten!« Doug konnte Trishs Aufschrei von der Straße aus hören. Er eilte die Auffahrt entlang zu der Stelle, wo sie im Garten stand, den Schlauch in der Hand. Sie blickte ihn an und zeigte auf die Pflanzen zu ihren Füßen. »Die Javelinas haben schon wieder meine Tomaten erwischt!« Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Verdammt!« Die Javelinas, auch Halsband-Pekaris genannt, hatten in den vergangenen drei Jahren jeden Sommer ihre Tomatenpflanzen gefressen. Letztes Jahr waren die Tomaten grünlich rot und fast reif gewesen, als die Wildschweine den Garten überfallen hatten. Dieses Jahr hatte Doug einen kleinen Zaun aus Maschendraht um den Garten gezogen, der die Tiere abhalten sollte, aber das hatte offensichtlich nicht funktioniert. »Wie sieht es mit den anderen Pflanzen aus?«, fragte er. »Die Radieschen sind okay, die Zucchini sind noch zu retten, die Gurken sind in Ordnung, der Koriander und die anderen Kräuter sind unberührt, aber der Mais ist ruiniert. Verdammt!« »Brauchst du Hilfe?« Sie nickte. »Wir retten nach dem Frühstück, was zu retten ist. Jetzt gieße ich erst mal zu Ende.« »Wir könnten Fallen aufstellen, wenn du willst. Hobie weiß, wie das geht.« »Keine Fallen«, sagte sie. »Und kein Gefängnis. Ich hasse die kleinen Bastarde, und ich wünschte, dass sie tot wären, aber ich will nicht diejenige sein, die sie umbringt.« »Es ist dein Garten.« Doug ging zur Vorderseite des Hauses und stieg die Stufen zur Veranda hinauf. Als er die Gittertür öffnete, hörte er das Geräusch langsamer, müder Schritte auf dem Fußboden. Er stand bewegungslos da, den Mund vor gespielter Ungläubigkeit geöffnet, als Billy von der Couch in die Küche ging. »Ich glaube es nicht«, sagte er. »Wunder über Wunder!« »Ja, ja«, maulte Billy. »Du bist tatsächlich von selbst aufgestanden!« »Ich muss ins Badezimmer«, murmelte Billy und ging über den Flur. »Warte mal«, sagte Doug. Billy drehte sich um. »Alles in Ordnung?« Der Junge starrte ihn einen Augenblick lang an; dann nickte er müde, ging ins Bad, schlug die Tür zu und schloss ab. Doug legte den Brief auf den Tisch vor der Couch, öffnete den Kühlschrank und nahm Butter und Marmelade heraus. Aus dem Schrank holte er Honig und Erdnussbutter und stellte alles auf die Theke neben die Teller. Die schmutzigen Teller vom Vorabend standen noch in der Spüle. Er würde das gesamte Geschirr waschen, wenn sie mit dem Frühstück fertig wären. Doug öffnete das Waffeleisen, das nun heiß war, goss ein wenig Teig darauf, schloss das Eisen und roch den vertrauten, üppigen Duft von Buttermilch. Die Toilette rauschte, und Billy kam heraus und ging geradewegs durch die Küche ins Wohnzimmer, wo er den Fernseher einschaltete. »Fernsehen am Samstagmorgen?«, sagte Doug. »Das macht einen ja krank.« Billy ignorierte ihn, zappte auf einen Zeichentrickfilm und machte es sich auf der Couch gemütlich. Trish kam erhitzt und wütend herein, gerade als Doug die ersten vier Waffelquadrate vom Eisen abhob. »Möchtest du?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Gib sie Billy.« »Warum machen wir heute nicht mal ein Picknick?«, schlug Doug vor und legte die Waffeln auf einen Teller. »Das haben wir schon ziemlich lange nicht mehr gemacht. Es wird heiß heute. Wir könnten nach Clear Creek.« »Klingt gut«, sagte Billy aus dem Wohnzimmer. Trish blickte ihren Sohn an, strich sich das Haar aus der Stirn und nickte dann zustimmend. »In Ordnung«, sagte sie. Sie beschlossen, über den Pfad durch den Grüngürtel zu wandern, anstatt zu fahren oder den Weg über die Straße zu Fuß zu gehen. Über den Pfad ging es schneller, machte mehr Spaß und führte an einen Teil des Bachs, an dem es kaum Touristen gab. Trish machte für alle Salami-Käse-Sandwiches mit ihrem selbst gebackenen Brot, und Doug schleppte die Kühltasche, während sie und Billy die Klappstühle trugen. Zu ihrer Rechten ging der sanfte Hügel in einen steileren Anstieg über; Erde und heller Sandstein wichen dunklerem Granit. Die Vegetation wechselte von Kiefern und Manzanitas zu Espen und Akazien. Ranken wilder Erdbeeren wucherten über die Felsoberfläche, vermischt mit Farn, Zylinderputzer-Büschen und Giftsumach. Der Pfad selbst war von den winzigen roten Blüten der Indian Paintbrush gesäumt. Zur Linken fiel das Gelände zum Bach hin ab; der Pfad folgte diesem Abhang auf gemächliche Weise. Sie hörten den Bach, ehe sie ihn sahen - ein leises, beständiges Gurgeln, das wie das Grummeln eines fernen Gewitters klang. Doch als sie näher kamen, konnten sie einzelne Geräusche unterscheiden; Vögel und Insekten waren zu vernehmen. Dieser Abschnitt des kleinen Flusses war von jungen Bäumen gesäumt - Espen, Pappeln und Platanen -, die in chaotischer Üppigkeit zwischen den Felsblöcken wuchsen, die sich am Ufer reihten. Billy und seine Eltern mussten ein ganzes Stück um die Flussbiegung herumwandern, ehe sie einen Flecken fanden, der dicht genug am Wasser war, um das Lager aufzuschlagen. Sie stellten die Kühltasche zwischen den Klappstühlen ab. Billy trug seine abgeschnittenen Jeans, sodass er sofort in den Bach sprang, um sich abzukühlen, nachdem er sich eine Coladose geschnappt hatte. Der Wasserspiegel war niedrig. Billy spritzte eine Weile wild herum. Dann langweilte es ihn, und er watete den Bach aufwärts. »Geh nicht zu weit weg«, rief Trish. »Nee!«, rief er zurück. Doug setzte sich auf seinen Stuhl. Er hatte sich den neuesten Roman von Joyce Carol Oates mitgebracht. Als Menschen fand er Oates großspurig und verlogen, und die meisten ihrer Bücher fand er langweilig und viel zu lang. Doch sie hatte etwas Bezwingendes; er konnte nicht anders, als ihre Romane und Kurzgeschichten-Sammlungen zu lesen, sobald sie erschienen. Er mochte weder sie noch ihr Werk, war aber trotzdem ein Fan. Hobie stand mehr auf Filme und war ein eingefleischter Fan von Clint Eastwood, obwohl er die Filme als solche nicht so toll fand. Es war paradox. Genau wie mit dem Postboten: Doug hasste den Mann, aber der Bursche hatte ihm die erfreulichste Post zugestellt, die er je bekommen hatte. Natürlich hatte der Bote nichts mit dem Inhalt der Post zu tun - wenn man dem Überbringer keine Schuld an einer schlechten Nachricht geben konnte, konnte man ihm ebenso wenig für gute Nachrichten danken -, aber irgendwie brachte man beides doch in Verbindung. Doug warf einen Blick zu Trish hinüber, die den Blick friedvoll über den Bach und die Klippen dahinter schweifen ließ. Er war überrascht, dass sie keine echte Abneigung gegen den Postboten verspürt hatte - dass sie nicht die Unnatürlichkeit bemerkt hatte, die ein Teil seiner Persönlichkeit zu sein schien. Für gewöhnlich war Trish die bei weitem Sensiblere von ihnen, bemerkte sofort jedes abweichende Verhalten und fällte spontan und intuitiv Urteile, die in der Regel zutreffend waren. Doug begriff nicht, weshalb sie diesmal so blind war. Warum hatte er in letzter Zeit so viel über diesen Postboten nachgedacht? Es grenzte fast schon an Besessenheit. Er musste sich zwingen, damit aufzuhören. Er musste aufhören, herumzusitzen und sich Sorgen zu machen. Er musste etwas anderes finden, mit dem er seine Zeit ausfüllen konnte. Anstatt über den Postboten nachzudenken, sollte er sich an den Bau dieses verdammten Geräteschuppens machen. Aber Howard mochte den Postboten auch nicht ... Nun, das bedeutete gar nichts. Er und Howard mochten den Typen nicht, aber das hieß längst nicht, dass er böse war. Böse. Böse. Da. Er hatte es gedacht, wenn auch nicht gesagt. Denn das war das Wort, das ihm seit dem Tag des Begräbnisses, als er den Postboten zum ersten Mal gesehen hatte, im Hinterkopf herumgeisterte. Es war ein schlichtes, ein vereinfachendes Wort, doch es beschrieb am besten, was er dem Postboten gegenüber fühlte. Der Mann war böse. »Was denkst du?«, fragte Trish. Überrascht und verlegen, bei seinen dunklen Gedanken ertappt zu werden, blickte Doug auf. »Nichts«, log er und widmete sich dem Buch auf seinem Schoß. »Nun sag schon.« »Nichts.« Ihm war bewusst, dass sie ihn anstarrte, er zog es aber vor, ihren Blick zu ignorieren. Stattdessen konzentrierte er sich auf die Worte vor ihm, auf die Bedeutung hinter den Worten, auf die Gedanken hinter der Bedeutung und versuchte, sich in der Prosa zu verlieren. Schließlich gelang es ihm. So wie er als Kind immer eingeschlafen war, wenn er zu schlafen vorgegeben hatte, als seine Eltern nach ihm schauten, begann er nun zu lesen, als er zu lesen vorgab. Zehn oder fünfzehn Minuten später hörte er Billys Stimme, kaum lauter als der Gesang des Bachs. Er blickte von seinem Buch auf. »Dad!« Billy kam platschend durch die Mitte des Bachs auf sie zu. In der Hand hielt er einen nassen, durchgeweichten Umschlag. Wasser triefte von Billys Jeans und von seinen nackten Armen. Auf seinem Gesicht lag der Ausdruck des aufgeregten Entdeckers, als hätte er gerade die Lost Dutchman Goldmine gefunden oder irgendeinen lange vergrabenen Schatz ausgebuddelt. »Dad!« Doug markierte die Stelle im Buch und legte es auf einen großen, trockenen Felsen neben sich. »Was gibt's?« »Komm her. Du musst herkommen.« Fragend sah er Trish an. »Unternimm doch ausnahmsweise mal etwas mit deinem Sohn«, sagte sie. »Erinnerst du dich, worüber wir gesprochen haben? Sitz nicht nur rum und verplempere deine Zeit mit Lesen.« Doug stand auf. »Das hat er von dir«, sagte er und winkte ermahnend mit dem Zeigefinger in ihre Richtung. »Das ist Teil des Anti-Intellektualismus, der durch dieses Land fegt. Wenn aus ihm mal nichts wird, ist es meine Schuld. Dabei habe ich mein Bestes versucht.« Er nahm seine Brieftasche aus der Hosentasche und legte sie oben aufs Buch; dann ging er über das Gestrüpp und die Steine zu Billy. Bei jedem Schritt sprangen Dutzende von kleinen braunen Grashüpfern hoch. »Was ist los?«, fragte er Billy. »Und warum hast du diesen Brief da in der Hand?« »Das kann ich dir nicht sagen. Ich muss es dir zeigen.« »Wo?« »Nur ein Stück den Bach entlang.« »Muss ich mich nass machen?« Billy lachte. »Hab dich nicht so. Komm schon.« Doug machte einen vorsichtigen Schritt ins Wasser. Es war kalt. »'ne irre Sache«, versprach Billy und wedelte verlockend mit dem Umschlag. »Wo der herkommt, gibt es noch mehr. Das ist dein einziger Hinweis.« Doug stieg ins Wasser. Es war kalt, reichte ihm aber nur bis zur Mitte der Waden. Billy ging los und winkte seinem Vater, ihm zu folgen, und so watete Doug hinter ihm her. Sie folgten einer Flussbiegung, dann noch einer. Die Hänge an den Ufern wurden steiler. Das Wasser war hier ein wenig tiefer, und die Steine im Bachbett waren rutschig. Auf dem Grund konnte Doug kleine schwarze Flecken auf einigen Steinen entdecken. Blutegel. »Ich wusste nicht, dass du durch so eine Umgebung wanderst«, sagte er. »Das gefällt mir nicht. Es ist gefährlich. Von jetzt an bleibst du näher bei mir und Mom.« »So schlimm ist das nicht.« Doug rutschte beinahe aus und konnte sich gerade noch mit einer Hand an einem Felsen festhalten. Billy hingegen watete geradewegs und sicher durchs Wasser. »Dann geh wenigstens nicht so weit weg, dass wir dich nicht mehr sehen können. Du könntest dir den Schädel einschlagen, und wir würden es niemals erfahren.« Billy war an einer weiteren Flussbiegung stehen geblieben und zeigte um die Kurve. »Da ist es.« Doug schloss zu ihm auf. Und blieb stehen. Beide Ufer des Bachs waren von Umschlägen übersät, weiß und gelb, braun und beige. Hunderte von Umschlägen. Sie waren überall, wie rechteckige Schneeflecken oder irgendein bizarrer Pilz, der in präzisen geometrischen Mustern wuchs, alles bedeckte, sich an Büschen festklammerte und zwischen den Felsen hervorlugte. Die meisten Umschläge waren nass, hatten sich voll Wasser gesogen und steckten im Schlamm am Bachufer. Weitere Briefe hingen in den Zweigen der Bäume in der Nähe. »Irre, was?«, sagte Billy aufgeregt. Er zog einen Umschlag aus den Zweigen eines jungen Baums neben ihm. Doug hob die beiden Umschläge auf, die ihm am nächsten waren. Rechnungen. Er erkannte sie sofort an der gedruckten Rücksendeanschrift und dem Adressfenster mit Name, Hausnummer, Straße, Stadt, Staat und Postleitzahl des Empfängers. Er ließ den Blick schweifen. Nahezu alle Umschläge schienen das kurze rechteckige Format aufzuweisen, in dem sich normalerweise Rechnungen oder Steuerbescheide befinden. Nur wenige hatten das längliche Format weniger formeller Schreiben oder die kleinen, hübschen Umschläge persönlicher Korrespondenz. Fassungslos starrte Doug auf die dreißig oder vierzig Umschläge, die aussahen, als würden sie auf Bäumen wachsen. Der Postbote hatte die Post im Bach entsorgt. Es war eine logische Schlussfolgerung; dennoch hatte Doug ein seltsames Gefühl, sich dies einzugestehen. Warum sollte der Mann so etwas tun? Was für einen Sinn hätte es? Was könnte der Grund dafür sein? Schon die Merkwürdigkeit der Sache als solche war Furcht erregend. Doug verstand einfach nicht, was der Postbote dadurch zu gewinnen hoffte. Es war verrückt. Wenn der Mann die Briefe einfach hätte loswerden wollen, hätte er sie verbrennen oder vergraben oder an einer bequemeren Stelle abladen können. Doug sah sich um. Der Ort war so weit von den ausgetretenen Wegen entfernt, dass er nicht einmal wusste, woher der Postbote ihn kannte. Von der Straße aus hätte der Mann zweieinhalb Kilometer weit gehen müssen, um hierher zu gelangen, und dabei hätte er den Postsack schleppen müssen, da es keinen Weg hierher gab, der breit genug war, ihn mit dem Auto befahren zu können. Doug blickte zu seinem Sohn hinüber. Als Billy den Ausdruck auf seinem Gesicht sah, ließ er den Umschlag fallen, den er in der Hand gehalten hatte. Die Erregung verschwand aus seinen Augen und wurde durch einen Ausdruck des Begreifens verdrängt. Und der Angst. Trish saß auf ihrem Stuhl, den Kopf in den Nacken gelegt, und blickte zum Himmel. Sie liebte es, die Wolken zu beobachten und deren vergängliche Gestalten mit konkreten Gegenständen zu beschreiben. Und nirgendwo war der Anblick der Wolken dramatischer als in Arizona. In Kalifornien, wo sie aufgewachsen war, hatte es immer einen Überfluss oder einen Mangel an Wolken gegeben. Entweder existierten sie gar nicht, oder sie bedeckten den gesamten Himmel bis zum Horizont. Nur selten hatte Trish dort die riesigen, sich verschiebenden Formen gesehen, die sie hier in Arizona beobachten konnte - Wolken so weiß vor dem blauen Himmel, dass sie künstlich aussahen. »Trish!« Beim Klang von Dougs Stimme setzte sie sich kerzengerade auf. Sein Ton war unerwartet ernst, und ihr erster Gedanke war, dass er oder Billy ausgerutscht und hingefallen waren und sich etwas gebrochen hatten. Mit Erleichterung sah sie, dass sie beide durchs Wasser auf sie zukamen, ohne sich den Arm oder das Handgelenk zu halten. Sie entspannte sich ein wenig, obwohl ihr auffiel, dass Billy nicht so aufgeregt war wie vorher. Er sah aus, als hätte er Angst. »Was ist los?«, fragte sie. »Das musst du sehen!« Doug kam aus dem Bach auf sie zu. Trish stand auf und zog sich die Shorts zurecht. »Muss ich?«, fragte sie im Scherz, doch die einzige Reaktion, die sie bekam, war ein klägliches Lächeln. Irgendetwas stimmte nicht. »Was ist denn?« »Ich muss es dir zeigen. Komm mit.« Trish ahnte Böses und folgte Doug in den Bach. Sie klammerte sich fest an seinen Arm, während die drei über die schlüpfrigen Steine flussaufwärts wateten und sich über kleine Untiefen mit Stromschnellen bewegten. Der Bach wurde schmaler; Zweige streiften über ihre Gesichter. »Ich bin nicht verrückt«, stellte Doug fest, als sie um die Kurve bogen. Ehe Trish sich fragen konnte, was zum Teufel er mit dieser rätselhaften Bemerkung meinte, sah sie es. Ihr Herz machte einen kleinen Satz, als sie auf die Umschläge starrte, Tausende, wie es schien, die an beiden Ufern des Bachs verstreut waren. Sie lagen auf den Felsen, hingen in Bäumen und Sträuchern und steckten im Schlamm. Es sah beinahe aus wie in einem Märchenland, wie ein Ort, der durch Magie verzaubert oder verflucht war. Sie stand da wie angewurzelt, während das Wasser über ihre Tennisschuhe und Fußknöchel floss. Der Anblick war so verrückt, dass sie nicht wusste, was sie davon halten sollte. Sie schaute Doug an. Ihr wurde klar, dass seine Angst sie angesteckt hatte. Kein angenehmes Gefühl, aber wenigstens war sie damit nicht allein. Sie standen nebeneinander und hielten sich an den Händen. Billy, der ihnen ein paar Schritte voraus war, war still, und Trish erkannte an seinem Gesichtsausdruck, dass auch er sich fürchtete. »Es gibt keine Straße zu diesem Ort«, stellte Doug fest. »Er musste hierher laufen, musste all die Säcke schleppen, wie viele es auch waren.« Er zeigte auf den Steilhang am Ufer. »Ich nehme an, er hat sie von da oben fallen lassen. Es ist die einzige Möglichkeit, wie sie in die obersten Zweige kommen konnten.« »Aber warum?«, fragte Trish. Doug schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.« Eine leichte Brise bewegte die Bäume, und mehrere Umschläge flatterten von den Zweigen in den Bach. Billy und seine Eltern standen schweigend da, bewegungslos, während die Umschläge um ihre Beine wirbelten und flussabwärts trieben. 10. Nachdem sie vom Picknick zurückgekehrt waren, versuchte Doug, Howard anzurufen, doch er war nicht zu Hause und auch nicht im Postamt. Und wenn er doch da war, ging er nicht ans Telefon. Doug ließ es fünfzehn Mal durchschellen, ehe er auflegte. »Dafür wird dieser Postbote gefeuert«, sagte er zu Trish. »Es ist strafbar, sich an der Post zu vergreifen. Wahrscheinlich wandert der Kerl in den Knast.« Er hoffte jedenfalls, dass der Bursche ins Gefängnis gehen würde. Sie hatten mehrere Umschläge am Bach aufgehoben und mitgenommen. Nun suchten sie nach Briefen, die an sie selbst gerichtet waren, konnten aber keine finden; also beschränkten sie sich auf Umschläge, die an Leute adressiert waren, die sie kannten. Die gerettete Post lag noch im Wagen. Doug hatte vor, sie Howard als Beweis zu zeigen. Er verbrachte den Rest des Nachmittags mit dem Versuch, Howard anzurufen, zu lesen, Radio zu hören und mit dem Lagerschuppen anzufangen, doch er machte sich Sorgen, war aufgedreht und konnte sich nicht konzentrieren. Es gab Spaghetti zum Abendessen. Billy nörgelte, weil sie selbst gemacht waren, mit Kräutern und Gemüse aus dem Garten, aß sie aber trotzdem. »Nächstes Mal«, sagte er, »essen wir sie mit Hackfleischsauce wie normale Leute.« »Das hier ist besser als alles, was du im Laden kaufen kannst«, erklärte ihm sein Vater. »Und gesünder«, ergänzte seine Mutter. Billy verzog das Gesicht, während er die Nudeln herunterschluckte. Nach dem Abendessen versuchte Doug noch einmal, Howard anzurufen, doch als er den Hörer abnahm, war die Leitung tot, kein Klicken, kein Freizeichen. »Irgendwas stimmt mit dem Telefon nicht«, sagte er. »Hat einer von euch vor kurzem telefoniert?« »Seitdem du versucht hast, Howard anzurufen, hat niemand den Apparat angefasst«, sagte Trish und räumte weiter den Tisch ab. »Ich versuche es vom Telefon im Schlafzimmer aus«, sagte Doug und verschwand durch die Tür. Er nahm den Hörer ab, aber auch dieser Apparat war tot. Er schlug mit dem Hörer einmal fest gegen den Nachttisch, hielt ihn ans Ohr und lauschte. Nichts. »Verdammt«, murmelte er und knallte den Hörer auf die Gabel. Er würde morgen sowohl dem Postamt als auch der Telefongesellschaft einen Besuch abstatten müssen. Doug starrte auf den weißen Apparat aus Kunststoff. Er hasste es, dass er zur Telefongesellschaft musste. Jedes Mal, wenn er in ihr Büro ging, sah er dort vier oder fünf Mitarbeiter herumsitzen, aber wann immer er darum bat, jemanden vorbeizuschicken, dauerte es wenigstens drei Tage, bis jemand erschien, egal, wie dringend es war. »Nichts?«, fragte Trish, als Doug wieder in den Flur kam. Er schüttelte den Kopf. »Es ist tot.« »Tja, bis morgen können wir nichts machen.« Sie hatte das Geschirr ins Spülbecken gestellt. »Willst du spülen oder abtrocknen?« »Abtrocknen«, antwortete er müde. Sie gab ihm ein Geschirrtuch. Im Fernsehen gab es nichts Vernünftiges, sodass sie beschlossen, ein Video einzulegen, nachdem sie gespült hatten. »Etwas, auf das wir alle uns einigen können«, sagte Trish. Billy schlurfte die Treppe hinauf. »Ich guck mir das normale Programm an.« »He! Ich sagte doch, wir schauen uns etwas an, auf das wir alle uns einigen können«, rief Trish ihm hinterher. »Fernsehshows sind besser als Filme«, rief Billy zurück. Sie blickte Doug an. »Fernsehshows sind besser als Filme? Hast du das gehört? Irgendwas ist bei dem Jungen völlig schiefgelaufen.« Doug kicherte. »Okay, was soll es denn sein? Deep Throat? Oder Göttinnen der Liebe?« Sie stieß ihn an. »Sei still. Billy kann dich hören.« »Ja, kann ich«, rief Billy von oben. »Siehst du?« Sie nahm die Liste ihrer Videos vom Tisch und ging sie durch. »Lass uns den Stadtneurotiker anschauen«, sagte sie schließlich. »Den hab ich schon ziemlich lange nicht mehr gesehen.« »Okay.« Doug stand auf, ging zum Bücherschrank und neigte den Kopf, damit er die Titel auf den Videohüllen lesen konnte. Der Stadtneurotiker war auf demselben Band wie Das Geisterschloss und Landhaus der toten Seelen, wie in einem Sandwich eingeklemmt zwischen den beiden Horrorstreifen. Doug musste den Schnellvorlauf betätigen, um den Anfang des Films zu erreichen. »Letzte Chance«, rief er nach oben, als der Vorspann anlief. Billy machte sich nicht einmal die Mühe zu antworten. Doug war froh, dass sie sich für eine Komödie entschieden hatten. Es half ihm, seine Gedanken von allem anderen abzulenken, das vor sich ging. Woody betrat gerade Christopher Walkens Zimmer, um über Nachtfahrten zu reden, als plötzlich die Lichter im Haus erloschen und der Fernseher ausging, vor statischer Elektrizität knisternd. Der Videorecorder summte, als er langsam zum Stehen kam. »Stromausfall«, stellte Trish fest. Sie stand auf und tastete sich in die Küche, wo sie eine Taschenlampe aus der Schublade mit dem Krimskrams holte. Außerdem nahm sie Streichhölzer und zwei Kerzen heraus. »Kommst du runter?«, rief sie zu Billy hinauf. »Nee. Ich geh ins Bett.« »Um halb neun?« »Ich weiß nichts Besseres.« »Du könntest runterkommen und mit uns bei Kerzenlicht lesen«, schlug Doug spöttisch vor. Billy imitierte spöttisch ein lautes Schnarchen. Trish zündete die Kerzen an und steckte sie in Kerzenhalter, während Doug sich zum Fenster bewegte. »Irgendwie unheimlich, ein Stromausfall ohne Gewitter«, sagte er und schob die Vorhänge zur Seite. Er spähte nach draußen in Richtung der anderen Häuser an der Straße und glaubte, gelbes Licht durch die Äste der Bäume sickern zu sehen. »Merkwürdig«, murmelte er. »Was?« »Ich glaube, die Nelsons haben noch Strom.« »Ich könnte sie anrufen ...« »Kein Telefon«, erinnerte er sie. Trish lachte. »Das ist eine Verschwörung.« »Es ist ein Abenteuer. Wir sind von der Welt abgeschnitten, ganz allein. Irgendwie aufregend, findest du nicht?« »Und romantisch.« Sie trat neben ihn und stellte eine Kerze auf die Fensterbank. »Ich bin noch wach!«, rief Billy. »Tut lieber nichts, das euch später peinlich ist.« Beide mussten lachen, und Doug spürte, wie Trishs Arm sich um seine Taille legte. Sie zog ihn an sich und gab ihm einen leichten Kuss, der nur knapp seine Lippen verfehlte. »Wir warten, bis er schläft«, versprach sie flüsternd. Trish wachte mitten in der Nacht auf, weil sie ins Badezimmer musste. Doug schlief neben ihr, regelmäßig atmend, leise schnarchend, und sie schob vorsichtig die Bettdecke von ihrem Körper, um kein Geräusch zu machen, schwang die Beine über die Bettkante und warf dabei einen Blick auf die Uhr auf dem Toilettentisch. Viertel nach drei. Nachdem sie sich geliebt hatten, hatte sie Slip und Nachthemd angezogen; nun schlüpfte sie trotzdem noch in einen Morgenmantel, ehe sie über den Flur ins Bad ging. Trish hatte sich noch nie wohl gefühlt, wenn sie unbekleidet im Haus herumging. Der Vollmond schien wie eine Straßenlaterne durch das Milchglasfenster oberhalb der Badewanne und beleuchtete einen Teil des kleinen Raumes. Als Trish fertig war, zog sie den Slip hoch, spülte ab und ging in die Küche, um sich etwas zu trinken zu holen. Die Nacht war still, aber nicht so still, wie sie hätte sein sollen. Unter der melodisch zirpenden Musik der Grillen und dem gelegentlichen Schrei eines Nachtvogels lag noch ein anderes, weniger natürliches Geräusch: ein tiefes, gleichmäßiges Grummeln, das immer näher kam. Ein Automotor. Trish ging ins Wohnzimmer hinüber und beugte sich vor, um durch einen Spalt in den geschlossenen Vorhängen zu spähen. Wer sollte um diese Zeit hier herumkurven? Sicher nicht die Nelsons oder die Tuckers oder sonst jemand, der in der Umgebung wohnte. Trish zog den Vorhang ein Stück weiter auf. Ihr stockte der Atem. Ganz leise konnte sie die Klänge eines Rock 'n' Roll-Songs aus dem Stereogerät des Wagens hören. Während sie weiter beobachtete, streckte sich eine schmale, blasse Hand aus dem Fenster der Fahrertür und öffnete die Klappe des Briefkastens, während die andere Hand mehrere Umschläge darin deponierte. Das Gesicht des Postboten erschien weiß vor dem schwarzen Hintergrund am Wagenfenster. Er blickte in Trishs Richtung und schien genau zu wissen, wo sie war, obwohl er den dünnen Spalt zwischen den Vorhängen bei dieser Dunkelheit unmöglich gesehen haben konnte. Er lächelte - ein wissendes, gerissenes, hässliches Lächeln, das Dinge versprach, an die Trish nicht einmal denken wollte, Dinge, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließen. Sie wollte wegschauen, wollte sich aus dem Blick des Mannes zurückziehen, doch sie hatte Angst, dass er sehen würde, wie die Vorhänge sich bewegten, und so blieb sie völlig regungslos stehen. Obwohl sich nur ein Auge und ein Teil ihrer rechten Wange in der Nähe des Schlitzes im Vorhang befanden, war ihr überdeutlich bewusst, dass sie fast nackt war, dass ihr Nachthemd über ihren Slip gerutscht war, während sie sich vorgebeugt hatte. Sie war verlegen und fühlte sich gedemütigt, als wäre sie beim Masturbieren überrascht worden. Der Postbote winkte ihr kurz zu und grinste sie breit an; dann fuhr er in die Dunkelheit davon, und das Geräusch des Motors wurde leiser. Erst jetzt wurde Trish bewusst, dass sie den Atem angehalten hatte, und sie schloss die Augen, atmete tief durch und versuchte sich zu entspannten, während der Wagen sich auf der unbefestigten Straße entfernte. Sie ließ den Vorhang fallen, stand einen Augenblick da und hielt sich am Tisch fest, ehe sie sich schließlich ins Schlafzimmer zurückzog, ins Bett stieg und sich in die Sicherheit der Bettdecke kuschelte. Dougs Körper neben ihr fühlte sich warm und stark an und versprach Geborgenheit. Die Nacht war jetzt vollkommen still; selbst die Grillen machten kein Geräusch, und es kam Trish vor, als ob sie eine Ewigkeit wach läge, bevor sie endlich einschlief. Sie träumte vom Postboten. Er trug die Post aus, doch statt bei ihrem Briefkasten zu halten, fuhr er in die Auffahrt und parkte direkt neben dem Haus. Durch das Fenster sah sie, wie er aus dem Wagen stieg. Er lächelte. Sie rannte durchs Haus, ins Schlafzimmer, ins Bad, ins Loft und suchte nach Doug oder Billy, doch sie war ganz allein. Das Haus war leer. Sie versuchte, durch die Hintertür zu entkommen, aber die ließ sich nicht öffnen. Hinter sich hörte sie die Schritte des Postboten, die das Wohnzimmer und dann die Küche durchquerten. Trish stürmte ins Schlafzimmer und wollte die Tür verschließen und verbarrikadieren, entdeckte aber, dass da keine Tür war. Breit grinsend betrat der Postbote den Raum. Er trug keine Hose. Und dann war er auf ihr und in ihr; sein unnatürlich langer Penis war heiß, und sie spürte die brennenden Schmerzen, als er in ihr pumpte. Sie schrie auf, doch mit einem scheußlichen Gefühl des Widerwillens wurde ihr bewusst, dass dieser schreckliche, brennende Schmerz auch mit Lust vermischt war und dass ein Teil ihres Körpers dies alles genoss ... Schweißgebadet wachte sie auf. Ihr Haar und das Kissen waren feucht. Sie kuschelte sich an Doug, um die Angst wegzuschieben. Draußen, weit entfernt, glaubte sie das sonore, gleichmäßige Geräusch eines Autormotors zu hören, der sich in den Wald zurückzog. Der Wagen des Postboten. 11. Doug stand unter der Dusche, als das Wasser versiegte; er war gerade dabei, sein Haar zu waschen, und sein Kopf war voller Schaum, als er plötzlich im Trockenen stand. »He!«, rief er. »Das Wasser ist weg!«, rief Trish aus der Küche. »Großartig«, murmelte er. Mit geschlossenen Augen, während das Shampoo ihm auf Nase und Wangen lief, zog Doug den Duschvorhang zur Seite und tastete an der Wand nach dem Handtuchhalter. Seine Finger schlossen sich um Frotteestoff. Es fühlte sich wie eines von Trishs guten Badetüchern an, die nur zur Zierde im Bad hingen und nicht benutzt werden durften. Doch dies war ein Notfall, und so nahm Doug das Tuch, um sich die Seife vom Gesicht und aus den Augen zu wischen. Im Bad war es dunkel. Der Strom war noch nicht wieder da. Das einzige Licht fiel durch das kleine Fenster. Rasch rubbelte Doug sein Haar trocken und stieg aus der Wanne. Er zog Unterhose und Hose an, öffnete die Tür und ging in die Küche, noch tropfend vor Nässe. »Was ist passiert?« Trish stand in der Mitte des Zimmers. Ihr Haar stand vom Kopf ab, und sie starrte auf die halb gefüllte Kaffeekanne in der Spüle. Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe gerade die Kanne gefüllt, und da ist das Wasser weggeblieben.« »Hast du schon unter der Spüle nachgesehen?« Doug öffnete den Unterschrank, doch der Müllsack und die Schachteln mit Reinigungs- und Waschmitteln waren allesamt trocken. Keines der Rohre tropfte. »Ich gehe nach draußen«, sagte er, »und sehe nach, ob ich was finde.« Er ging durch die hintere Tür hinaus. Die Steine und Kiefernnadeln schmerzten an seinen Füßen, als er zu der Seite des Hauses ging, wo die Rohre an den Zähler angeschlossen waren. Er blickte durch das vergilbte Glas auf die Ziffern. Es gab überhaupt keinen Wasserdruck. Er beugte sich hinunter und öffnete den Abflusshahn, doch es kam nichts heraus. »Was, zum Teufel ...« Er drehte den Griff an der Verbindung von Hauptwasserleitung und den Leitungen zum Haus, doch auf dem Zähler wurde nichts angezeigt. »Was ist es denn?«, fragte Trish, als er wieder ins Haus kam. »Verdammt, wenn ich das wüsste! Das Wasser scheint gar nicht aufgedreht zu sein.« Doug fuhr sich mit der Hand durchs Haar und spürte, wie das Shampoo an seinen Fingern klebte. »Ich werde nach dem Frühstück nachschauen, was mit dem Wasser und dem Strom los ist.« »Und mit dem Telefon«, erinnerte ihn Trish. Doug nickte verärgert. »Und mit dem Telefon.« Die Verwaltung des Strom- und Wasserwerks war in einem kleinen braunen Fertigbau neben dem Rathaus untergebracht. Doug fuhr langsam über die Schwelle, die den Parkplatz von der Straße trennte, und parkte in einer der markierten Lücken neben den drei Streifenwagen der Stadt. Er stieg aus dem Bronco, ohne sich die Mühe zu machen, den Wagen abzuschließen, und ging rasch über den Asphalt zu den Glastüren des Vordereingangs. Sein Haar fühlte sich merkwürdig an, und ihm wurde klar, dass es an dem Shampoo lag. Das Mädchen am Empfang war jung genug, um eine seiner Schülerinnen zu sein, doch ihr Gesicht kam Doug nicht bekannt vor. Sie war über die Tastatur eines Apple-Computers gebeugt, beobachtete aufmerksam, wie ihre Finger sich durch das Alphabet hackten, und machte sich nicht einmal die Mühe aufzublicken, als er das Büro betrat. »Entschuldigen Sie bitte.« »Bin in einer Sekunde für Sie da«, sagte das Mädchen. Sie betrachtete den Bildschirm, drückte eine Reihe von Tasten und beobachtete aufmerksam, was passierte. Doug ließ den Blick durch das Büro schweifen. Es war klein und kärglich möbliert. Die Wände waren mit billigen Paneelen furniert, an denen eingerahmte Dokumente hingen. Ein unbesetzter Schreibtisch gegenüber von dem des Mädchens war mit Bergen von Papieren bedeckt. An einer der Wände stand eine Reihe grauer Aktenschränke aus Metall. Das Mädchen drückte noch eine Taste, nickte, stand auf und kam an den Empfang. Sie war hübsch, und ihr Lächeln schien echt zu sein, doch ihr Gesicht war vollkommen ausdruckslos. »Wie kann ich Ihnen helfen, Sir?« »Gestern Abend, so um neun Uhr, ist bei uns der Strom ausgefallen. Zuerst dachten wir, es wäre ein normaler Stromausfall, aber der Strom ist nicht wiedergekommen. Dann war heute Morgen auch noch das Wasser weg. Ich bin nach draußen gegangen, um mir die Leitungen anzusehen, aber es war alles in Ordnung. Der Zähler zeigt an, dass wir überhaupt keinen Wasserdruck haben. Könnten Sie jemanden rausschicken, der sich um Wasser und Strom kümmert?« Das Mädchen ging zum Computer zurück. »Würden Sie mir bitte Ihren Namen und Ihre Adresse nennen?« »Doug Albin. Grundstück vier-fünf-drei, Trail End Drive.« Sorgfältig tippte das Mädchen Namen und Adresse in den Computer und las, was auf dem Bildschirm vor ihrer Nase erschien. »Nach unseren Unterlagen haben Sie uns darüber informiert, dass die Lieferung eingestellt werden soll.« »Die Lieferung eingestellt? Warum, zum Teufel, sollte ich das denn wollen?« »Das weiß ich nicht, Sir.« Sie stand auf. »Lassen Sie mich mal nachsehen. Wir müssten Ihren Brief in den Akten haben.« »Meinen Brief?« »Nach unseren Unterlagen haben Sie uns letzten Donnerstag einen Brief geschickt.« Sie ging durchs Büro zu den Aktenschränken. Nach kurzer Suche in einer Reihe von Formularen und Papieren zog sie ein einzelnes Blatt Schreibmaschinenpapier heraus, das an einen Umschlag mit Fenster geheftet war. »Da ist er.« Sie kam zurück und reichte Doug das Papier. Er überflog den getippten Text und las laut: »›Sehr geehrte Damen und Herren, am zwölften Juni wird meine Familie nach Kalifornien umziehen, wo ich eine Stelle im Schulbezirk Anaheim angenommen habe. Bitte schalten Sie am elften Juni meine Stromversorgung und am zwölften Juni meine Wasserversorgung ab. Vielen Dank.‹« Doug blickte das Mädchen scharf an. »Was ist das denn?« Das Mädchen blickte verwirrt drein. »Ich weiß nicht, was Sie meinen, Sir. Haben Sie uns diesen Brief denn nicht geschickt?« »Ganz bestimmt nicht! Also, ich möchte, dass Sie mir Strom und Wasser wieder aufdrehen, und ich möchte, dass Sie herausfinden, wer diesen verdammten Brief geschickt hat.« »Tja, vielleicht war es ein Scherz. Vielleicht hat jemand von Ihren Freunden ...« »Es ist kein Scherz, und ich finde es auch überhaupt nicht lustig!« Seine Hände zitterten, und er legte sie auf die Theke. Ihm wurde bewusst, dass er unnötig schroff zu dem Mädchen war und seinen Zorn an ihr ausließ, obwohl sie offensichtlich nichts wusste. In seiner Magengrube breitete sich Übelkeit aus, ein Gefühl der Hilflosigkeit, ein Gefühl, dass er in etwas hineingezogen wurde, gegen das er nicht würde ankämpfen können, und das alles weckte in ihm den Wunsch, jemanden anzuschreien. Er schloss die Augen und zwang sich zur Ruhe. »Es tut mir leid«, sagte er. »Drehen Sie Wasser und Strom bitte wieder auf.« »Es wird aber bis heute Nachmittag dauern, ehe wir jemanden daransetzen können«, entgegnete das Mädchen. »Und da ist dann noch eine Anschlussgebühr von fünf Dollar ...« »Hören Sie«, sagte Doug, der darauf achtete, ruhig und leise zu sprechen, »Sie haben das verbockt. Sie haben mir Strom und Wasser abgedreht, ohne mich vorher zu fragen, und ich bin mir ganz sicher, dass ich nicht für einen Fehler bezahlen werde, den Sie gemacht haben.« Das Mädchen versteifte sich. »Technisch gesehen ist es nicht unser Fehler. Wir haben einen Brief bekommen ...« »Ich werde meine Zeit jetzt nicht mit Wortgeplänkel verplempern«, entgegnete Doug. »Lassen Sie mich mit Ihrem Vorgesetzten sprechen.« »Er ist gerade nicht im Büro, aber ich kann ihm Ihren Namen und Ihre Adresse hinterlassen, damit er Sie anruft, wenn er zurück ist.« »Tun Sie das. Und glauben Sie, Sie könnten dafür sorgen, dass ich wieder Strom und Wasser kriege? Meine Frau und mein Sohn würden irgendwann heute gerne ein Bad nehmen, und es wäre schön, wenn wir uns heute Abend etwas zu essen kochen könnten.« Das Mädchen nickte. »Wir werden das in Ordnung bringen. Es tut mir leid, dass Sie Unannehmlichkeiten hatten.« Ihre Stimme klang versöhnlich und ein wenig besorgt, und Doug begriff, dass sie sich Sorgen machte, was er ihrem Vorgesetzten sagen würde. »Es ist nicht Ihr Fehler«, beruhigte er sie. »Ich habe nicht vor, es an Ihnen auszulassen. Ich bin im Moment nur ziemlich fertig, wie Sie sich bestimmt denken können.« »Ja, sicher. Ich werde dafür sorgen, dass mein Vorgesetzter Sie anruft, sobald er zurück ist«, versprach sie. »Danke sehr.« Doug drehte sich und ging zur Tür hinaus, wobei er in seine Tasche griff, um die Wagenschlüssel herauszuholen. Seine Hände zitterten immer noch. Nach dem Besuch bei der Telefongesellschaft war Dougs Wut noch größer. Dort hatten sie auch einen Brief bekommen, der angeblich von ihm stammte und in dem er sie aufforderte, seine Telefonverbindung abzuschalten. Als Doug sie bat, sein Telefon wieder anzuschließen, wurde ihm gesagt, dass dafür eine Gebühr von zwanzig Dollar fällig sei und der früheste Termin für den Telefonservice der Donnerstag wäre. Doug arbeitete sich die Bürohierarchie hinauf und erzählte seine Geschichte schließlich dem Abteilungsleiter, der ihm unmissverständlich mitteilte, dass die Verbindung erst wieder eingerichtet würde, nachdem er die Gebühr bezahlt hätte, und dass der frühest mögliche Anschlusstermin der Mittwoch sei. Wenn er es wünsche, könne er ein Erstattungsgesuch einreichen, in dem er die Einzelheiten der Situation erklärte. Das Gesuch werde an die Zentrale von Mountain Bell geschickt, die über die Sache entscheiden müsse. Wutentbrannt fuhr Doug aus der kleinen Parklücke und rammte beinahe die alte Mrs. Buford, die wütend hupte. Sie kreischte irgendetwas, was Doug durch ihr geschlossenes Wagenfenster nicht verstehen konnte. Er winkte ihr entschuldigend zu. Briefe. Wer, zum Teufel, schickte Briefe an die Telefongesellschaft und das Gas- und Wasserwerk, dass sie die Lieferung einstellten? Nein, nicht wer. Warum? Doug wusste schon, wer die Briefe geschickt hatte - zumindest hatte er einen starken Verdacht. Der Postbote. John Smith. Doch es machte keinen Sinn, und Doug hatte keine Ahnung, warum der Postbote so etwas tun sollte, aber für ihn gab es keinen Zweifel, dass John Smith es gewesen war, der die falschen Botschaften geschickt hatte. Die nahezu perfekt gefälschte Unterschrift hatte etwas an sich, was Doug an die Nachrichtensprecherstimme des Postboten erinnerte. In seine Wut mischte sich Furcht, aber die Wut behielt eindeutig die Oberhand, und Doug fuhr direkt zum Postamt, um Howard seine Meinung kundzutun, seinen Verdacht, seine Anschuldigung. Der Parkplatz war voll, doch als er ankam, setzte gerade ein Jeep aus einer Parklücke zurück, und Doug fuhr schnell hinein. Er nahm die Umschläge vom Beifahrersitz. Sie waren immer noch feucht, und das Papier fühlte sich weich und leicht biegsam zwischen seinen Fingern an. Höflich nickte er dem alten Mann zu, der auf der Bank vor dem Gebäude saß; dann öffnete er die Tür. Als Erstes fiel ihm die Hitze auf. Es war warm draußen, aber hier drinnen war es geradezu höllisch. Die Luft war feucht und stand; keine Brise kam aus den Öffnungen an der Decke, und das vertraute, leise Pfeifen des Verdunstungskühlers war nicht zu hören. Das Postamt war trotzdem voller Menschen. Sechs oder sieben Leute standen Schlange, Briefe und Pakete in den Händen, und Doug nahm den beinahe Übelkeit erregenden, säuerlichen Geruch vom Parfüm der Frauen und dem Deodorant der Männer wahr, der sich mit dem Aroma von frischem Schweiß mischte. Doug warf einen Blick zum Schalter, doch Howard war nicht da. Stattdessen stand der Postbote hinter dem Schalter und sprach leise und geduldig mit einer älteren Kundin. In seiner Stimme und auf seinem Gesicht lag Ernsthaftigkeit, doch sie war falsch und heuchlerisch - das oberflächliche Interesse, das ein gerissener Verkäufer seinem Opfer erweist, herablassend und beleidigend zugleich. Der Postbote schwitzte trotz der Schwüle kein bisschen. Doug versuchte, hinter den vertäfelten Raumteiler zu spähen, um herauszufinden, ob Howard irgendwo im hinteren Teil des Postamts war, aber er konnte nichts erkennen. Er war überrascht, dass Howard dem Postboten die Verantwortung am Schalter überließ, zumal er neu in der Stadt war. Doug konnte sich nicht erinnern, dass Bob Ronda jemals hinter dem Schalter gestanden hatte; ja, er war kaum einmal im Postamt gewesen, außer um einen Packen Briefe zu bringen oder abzuholen. Doug hatte immer nur Howard hinter dem Schalter arbeiten sehen. Irgendwie machte ihn das noch wütender auf den Postboten. Die alte Frau nahm das Wechselgeld, das der Postbote ihr gegeben hatte, steckte es in ihre Geldbörse und schlurfte davon. Doug ging rasch an den anderen Kunden vorbei zum Schalter. »Entschuldigung«, sagte er, »ich möchte mit Howard sprechen.« Der Postbote sah ihn an, und die Andeutung eine Lächelns umspielte seine dünnen Lippen. »Es sind andere Leute vor Ihnen in der Schlange, Sir. Bitte warten Sie, bis Sie an der Reihe sind.« Sein Blick ruhte für einen Augenblick auf den feuchten Briefen in Dougs Hand. Er sagte nichts, und seine Augen verrieten nicht, ob er sie wiedererkannte, doch sein Lächeln wurde breiter. »Würden Sie ihn nur bitten, einen Moment herauszukommen?« »Es tut mir leid, Sir. Bitte warten Sie, bis Sie an der Reihe sind.« Doug wollte heftig widersprechen, doch als er sich umdrehte und die Leute hinter sich sah, die ihn ungeduldig anblickten, sagte er: »Also gut«, und stellte sich ans Ende der Schlange. Zehn Minuten später war er wieder am Schalter. Er hatte den Postboten ununterbrochen beobachtet, hatte ihn studiert und nach Anzeichen von irgendetwas Ungewöhnlichem gesucht. Doch abgesehen davon, dass der Mann eine Art natürliche Überlegenheit ausstrahlte, schien nichts verkehrt zu sein. Der Postbote schaute Doug nicht ein einziges Mal an. Dougs Furcht und seine Wut waren nun ungefähr gleich groß. Er trat an den Schalter und wischte sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn. »Ich möchte mit Howard sprechen.« »Mr. Crowell ist heute nicht da.« Die Worte waren so einfach und doch so unerwartet, dass sie Doug völlig überraschend trafen. Howard war nicht da? Howard war immer da! »Ist er krank?«, fragte Doug. »Ja. Kann ich Ihnen helfen?« Doug starrte ihn voller Wut an. »Vielleicht. Meine Familie und ich sind gestern zum Picknicken am Clear Creek gewesen. Wir haben ungeöffnete, nicht zugestellte Post gefunden, die am Ufer des Bachs verstreut war.« Ein leichtes Lächeln umspielte die Lippen des Postboten. »Verstreut?« Seine spöttische Sprechweise glich so sehr der von Trish, dass Doug für eine Sekunde der Mut verließ. Doch er fasste sich sofort wieder und legte die Umschläge auf den Schalter. »Hier sind ein paar Briefe, die wir gerettet haben.« Der Postbote streckte die Hand nach den Umschlägen aus, aber Doug zog sie zurück. »Die gebe ich Howard selbst.« »Es tut mir leid, aber es ist die Pflicht des Postdienstes, Briefe umgehend zuzustellen. Es ist gegen das Gesetz, dass Sie nicht zugestellte Poststücke zurückhalten.« Doug spürte, wie ihm das Adrenalin in die Adern schoss. Er schwitzte jetzt am ganzen Körper und wischte sich wieder die Stirn ab. »Das hier scheinen alles Rechnungen zu sein«, erklärte er. »Und da waren noch Hunderte anderer Rechnungen am Creek. Und wissen Sie was? Ich habe in letzter Zeit meine regelmäßigen Rechnungen nicht mehr bekommen. Ich glaube, ich habe keine einzige Rechnung bekommen, seitdem Ihr Vorgänger gestorben ist. Ich weiß nicht, was da läuft, aber ein großer Teil der Post scheint spurlos zu verschwinden.« »Ich habe meine Rechnungen in letzter Zeit auch nicht gekriegt«, sagte der Mann hinter Doug. Doug beobachtete das Gesicht des Postboten, suchte nach irgendeiner Reaktion. Er hatte erwartet, dass der Mann ihn anstarrte, dass er wütend wurde, dass er irgendwie zugeben würde, die Post in den Creek geworfen zu haben, aber das Gesicht des Postboten blieb heiter und gelassen. »Ich verspreche, dass wir uns so bald wie möglich um diese Beschwerden kümmern werden«, sagte er. Seine Stimme klang angenehm, unerschütterlich und beruhigend. »Haben Sie sonst noch etwas, Mr. Albin?« »Nur dass jemand einen Brief an das Gas- und Wasserwerk geschrieben hat, meine Strom- und Wasserversorgung abzudrehen. Dieselbe Person hat einen Brief an die Telefongesellschaft geschickt und ihr geschrieben, dass sie mein Telefon abschalten sollen. Ich denke, das ist Postbetrug.« »Ja, allerdings, Mr. Albin. Und ich versichere Ihnen, wir werden das unverzüglich untersuchen. Ich werde Mr. Crowell von Ihren Anliegen berichten.« Doug blickte dem Postboten direkt in die Augen. Er sah eine Härte und Kälte darin, die ihn frösteln ließ und den Wunsch in ihm erweckte, wegzuschauen, doch er zwang sich, den Blickkontakt zu halten. Der Schweiß auf seinem Körper fühlte sich plötzlich kalt an. »Danke«, sagte er knapp. Der Postbote streckte seine dünne weiße Hand aus. »Würden Sie mir jetzt bitte die nicht zugestellten Briefe aushändigen?« Doug schüttelte den Kopf. »Bringen Sie mich vor Gericht. Aber die Briefe werde ich nur Howard geben.« »Gut«, sagte der Postbote mit nüchterner Stimme. »Würden Sie dann bitte beiseitetreten? Hinter Ihnen warten noch weitere Leute, Mr. Albin.« Doug wandte sich vom Schalter ab, verließ das Postamt und ging zu seinem Wagen. Erst auf dem Rückweg fiel ihm ein, dass er dem Postboten gar nicht seinen Namen genannt hatte. Woher hatte der Mann ihn gewusst? 12. Als Hobie nach Hause kam, fühlte er sich gut. Im Freibad war es heute voll gewesen, aber nicht nur mit Kindern: Am Nachmittag war eine Gruppe junger Frauen erschienen; sie hatte sich in der Nähe des Schwimmerbereichs niedergelassen, ein gutes Stück entfernt von den Kindern und ihren Müttern, die sich am anderen Ende des Beckens aufhielten, wo das Wasser nicht so tief war. Hobie hatte heimlich Mrs. Farris beobachtet, die schlank und fit war und einen pfirsichfarbenen Badeanzug trug, der fast durchsichtig wurde, wenn er nass war, doch als die jungen Frauen erschienen, ihre Badetücher ausbreiteten und sich mit Sonnenlotion einkremten, richtete Hobies Aufmerksamkeit sich sofort auf sie. Sie alle hatten die glatten braunen Körper von Aerobic-Trainerinnen und waren unglaublich attraktiv. Eine von ihnen, eine Brünette, trug einen String-Bikini; wenn sie sich vorbeugte, konnte er beinahe bis in die Ritze ihres perfekt geformten Hinterteils sehen. Die anderen trugen Badeanzüge, die so weit ausgeschnitten waren, dass es beinahe schon an Erregung öffentlichen Ärgernisses grenzte. Ja, es war wirklich ein verdammt guter Tag gewesen. Er holte seine Schlüssel aus der Tasche und nahm seine Post aus dem Kasten. Obwohl Hobie in einem großen braunen und weißen Wohnwagen in der Nähe des Stadtzentrums lebte, nur ein Stück vom Einkaufszentrum entfernt in einem Teil von Willis, der zugegebenermaßen nicht das vornehmste Viertel war, fühlte er sich in seiner Umgebung wohl. Die Häuser hier standen dicht beieinander und waren nicht so hübsch wie die im Rest der Stadt, aber das war Hobie ganz recht. Niemand belästigte ihn, niemand sagte ihm, dass er seine Stereoanlage leiser drehen sollte, niemand sagte ihm, dass er seinen Hof sauber machen oder seine alten Autos abschaffen sollte. Hobie wusste, dass sein Grundstück wie eine Miniatur-Müllhalde aussah. Es gab kaum Rasen, fast nur nackte Erde; vor dem Haus waren ein 1974er Vega und ein 1979er Datsun geparkt, während hinter dem Haus ein 1965er Mustang aufgebockt stand. Sein Carport war vollgestellt mit Autoteilen und zwei alten Motorblöcken. Doch Hobie gefiel es, und seinen Nachbarn machte es nichts aus. Das Innere des Wohnwagens sah da schon aufgeräumter aus. Hier hielt Hobie Ordnung, obwohl er allein lebte. Er warf seine Sonnenbrille auf den Tisch und ging in die Küche, um sich ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen. Er öffnete die Dose, nahm einen großen Schluck und blickte auf die Absender der Umschläge in seiner Hand: seine Mutter, der Classic Mustang Club, sein Gehaltsscheck von der Schulverwaltung. Auf einem Brief - ein langer gelblicher Umschlag - war kein Absender, und Hobie drehte ihn um. Sowohl Vorderseite wie Rückseite waren voller verschmierter bräunlich-roter Fingerabdrücke. Er runzelte die Stirn, stellte das Bier ab und riss den Umschlag auf. Darin waren zwei Fotos, die mit einer Büroklammer zusammengeheftet waren. Das obere Foto zeigte ein nacktes, orientalisch aussehendes Mädchen von fünfzehn oder sechzehn Jahren, das auf einer Strohmatte lag. Hobie starrte das Foto an. Das Mädchen war schön, mit großen, mandelförmigen Augen und vollen, sinnlichen Lippen. Sie lag ausgestreckt da, die Beine aufreizend gespreizt. Hobie nahm die Büroklammer ab - und der Schreck fuhr ihm durch alle Glieder: Das andere Foto zeigte denselben Teenager auf derselben Strohmatte. Nur war der Kopf abgeschnitten und auf den Bauch des Mädchens gelegt worden. Auf dem Foto waren dieselben schmutzigen, bräunlich-roten Fingerabdrücke wie auf dem Umschlag. Plötzlich war Hobie übel. Gegen seinen Willen war er durch das erste Bild von dem Mädchen erregt worden. Es war jung und schön, und sein Körper sah sinnlich und einladend aus. Das zweite Bild jedoch war wie ein Schlag in den Magen. Hobie schloss die Augen und drehte das Foto um, damit er es nicht mehr sehen musste, doch er hatte immer noch die toten, starr blickenden Augen des Mädchens und ihren runden, geöffneten Mund vor Augen und die Pfütze aus Blut, die sich vom Halsstumpf über die Matte verteilt hatte. Wer schickte ihm so etwas Grässliches? Wer konnte es ihm geschickt haben? Und warum? Und was war mit diesen Fingerabdrücken? Rasch zerknüllte er die Fotos und den Umschlag und warf alles in den Müll. Er wusch sich in der Spüle gründlich die Hände und schrubbte sie mit Bimsstein, wie er es immer tat, wenn er versuchte, Wagenschmiere von den Fingern zu entfernen. Die Küche schien dunkler zu sein als vorher, obwohl die Sonne erst in zwei Stunden unterging, und Hobie schaltete das Licht ein. Nachdem er sein Bier in drei großen Zügen heruntergestürzt hatte, schnappte er sich eine zweite Dose. Er setzte sich an den Tisch und versuchte, die anderen Briefe zu lesen, konnte sich aber nicht darauf konzentrieren. Immer wieder musste er an das Mädchen denken und an die Frauen im Freibad ... er sah sie auf dem nackten Beton liegen, die abgetrennten Köpfe auf ihren gebräunten Bäuchen, die ihn mit weit aufgerissenen, toten Augen anstarrten. 13. Hobie kam kurz nach dem Frühstück vorbei, klopfte aus Höflichkeit einmal an den Türrahmen, ehe er die Gittertür öffnete, und ging ins Wohnzimmer. Er zeigte mit dem Finger auf Billy, der sich auf der Couch ausgestreckt hatte. »Hallo, Billy.« Doug räumte gerade das letzte Frühstücksgeschirr weg und warf einen Blick auf seine Armbanduhr, als Hobie erschien. »Du schon? Es ist erst halb neun.« »Ich weiß, das Meeting fängt erst um zehn an. Aber ich dachte, wir sollten eher hingehen, die Lage peilen und uns überlegen, was wir sagen wollen. Nachdem ich gestern Nachmittag am Pool fertig war, habe ich versucht, dich anzurufen, aber eine Computerstimme hat immer wieder gesagt, deine Verbindung sei stillgelegt worden.« Doug nickte. »Irgendjemand hat einen Brief von mir gefälscht und an die Telefongesellschaft geschickt, dass ich umziehe und mein Telefon abmelden wollte.« »Wirklich?«, fragte Hobie. »Ja. Auch ans Gas- und Wasserwerk wurden Briefe geschickt, dass sie Strom und Wasser abstellen sollen.« Hobie schüttelte den Kopf. »Verrückt. Ein einziger Brief könnte ja noch ein Scherz gewesen sein, aber zwei. Was meinst du, wer das war?« Der Postbote, wollte Doug sagen; stattdessen zuckte er mit den Schultern. »Glaubst du, dass es ein Schüler war? Wen hast du dieses Jahr durchrasseln lassen?« »Niemanden. Außerdem glaube ich nicht, dass ich Schüler habe, die mich hassen. Am ehesten könnte ich mir Duke Johnson vorstellen, aber selbst der würde so einen Schwachsinn nicht machen.« »Hast du die Cops angerufen?« »Ja. Ich hab denen alles erzählt und ihnen Kopien von den Briefen gegeben, aber sie haben gesagt, dass sie wenig tun könnten.« Hobie schnaubte. »Na toll!« Doug wischte die Küchentheke ab und hängte das Geschirrtuch auf. »Willst du jetzt gleich losfahren?« »Ja. Ich habe Mark Pettigrew angerufen, der trifft sich dort mit uns. Ich habe auch versucht, den Trainer und Donovan zu erreichen, aber beide waren nicht zu Hause. Wahrscheinlich sind sie im Urlaub. Donovan wollte nach Durango.« »Na gut, bringen wir es hinter uns.« Doug ging in den Flur und klopfte an die Badezimmertür. »Ich bin mit Hobie weg, okay?« »Okay«, sagte Trish durch die geschlossene Tür. »Viel Glück. Ich hoffe, ihr kriegt eure Bücher.« »Na, ich rechne eher nicht damit.« Doug kehrte durch die Küche ins Wohnzimmer zurück, während Hobie bereits die Gittertür öffnete und nach draußen ging. Doug wandte sich an Billy, der immer noch auf der Couch lag. »Pass auf deine Mutter auf.« »Tu ich doch immer.« Doug lachte. »Das möchte ich erleben.« Er folgte Hobie zu dessen Wagen. »Wo wir gerade von Wasser und Gas reden - ich habe diesen Monat gar keine Rechnung bekommen«, bemerkte Hobie. »Tatsache? Wir haben überhaupt keine Rechnungen gekriegt.« Hobie schüttelte den Kopf. »Ist das nicht verrückt? Ich sollte ja nichts Schlechtes über den neuen Postboten sagen - er fängt gerade erst an und muss noch lernen, wie das hier läuft -, aber ich glaube, mit dem Typen stimmt was nicht. Normalerweise kriege ich jeden Tag eine Tonne Briefe. In letzter Zeit sind es höchstens zwei oder drei, an manchen Tagen überhaupt keine.« Doug stieg ins Auto und schlug die Tür zu; dann grub er aus dem Schlitz zwischen den Sitzen den Sicherheitsgurt hervor. »Es kommen keine Rechnungen und keine Reklame, stimmt's?« »Ja, genau.« Hobie schien überrascht zu sein. »Bei euch auch nicht? Vielleicht sollte ich mal zu Howard gehen und ihm sagen, dass er sich mal um die Sache kümmern soll.« Er ließ den Motor an, setzte aus der Einfahrt zurück, wendete und fuhr auf die Straße. Hinter ihnen spritzte der Kies hoch, als Hobie beschleunigte. Doug stützte sich mit einer Hand am Armaturenbrett ab. Obwohl Hobie Fahrstunden gab, war er ein grauenhafter Fahrer. Während sie zur Stadt fuhren, erzählte Doug vom Picknick am Clear Creek und den am Ufer verstreuten Briefen. Zwar sagte er nicht, dass er den neuen Postboten verdächtigte, die Briefe gestohlen und weggeworfen zu haben, doch die Andeutung war unmissverständlich. Während Doug sprach, wurde Hobies Gesicht immer ernster. Als sie am Wohnwagenpark vorbeifuhren und nach links auf den Highway einbogen, sagte Hobie: »Offenbar passieren in letzter Zeit viele merkwürdige Dinge. Sehr merkwürdige Dinge.« Doug fragte ihn, was er damit meinte und ob er irgendetwas Ungewöhnliches im Zusammenhang mit der Post erlebt hatte, doch Hobie runzelte nur die Stirn, schüttelte den Kopf und wollte nicht antworten. Beide schwiegen, während sie durch die Stadt fuhren und sich der Schule näherten. Die Willis Highschool wurde von Eichen, Akazien und Ponderosa-Kiefern umschlossen und befand sich neben dem Edward G. Willis Memorial Park. Das Footballfeld war an einem Ende einer natürlichen Wiese angelegt worden. Das Schwimmbad, das Schule und Park sich teilten, befand sich am anderen Ende. Als sie eintrafen, hatte sich eine Menschenmenge angesammelt, die neben der offenen Tür der Sporthalle stand. Auf dem Schulparkplatz standen zwei Streifenwagen sowie ein Rettungswagen mit flackernden Lichtern, obwohl Doug und Hobie den ganzen Morgen keine Sirenen gehört hatten. Doug warf seinem Freund einen fragenden Blick zu und schaute dann aus dem Fenster auf die Szene vor ihnen. Ein seltsames Gefühl erfasste ihn: Er war angespannt und wie betäubt zugleich, als er die Menge betrachtete. Er wusste, es würde schlimm werden. »Da ist was passiert«, sagte er. Hobie fuhr den Wagen unter einen Baum, damit er im Schatten stand; dann stiegen sie aus und eilten zur Sporthalle. Mehrere andere Lehrer waren dort, außerdem Anwohner aus der Nachbarschaft sowie ein Mitglied des Schulvorstandes. Doug ging zu Jim Maxwell, der in der neunten Klasse Sozialkunde unterrichtete. »Was ist denn los?« »Bernie Rogers hat sich in der Sporthalle aufgehängt.« »Was!« Doug sah Hobie schockiert an. Er hatte das Gefühl, als hätte jemand ihm in den Magen getreten. Er wusste zwar nicht, was er eigentlich erwartet hatte, aber das bestimmt nicht. Bernie Rogers, ein Schüler der Oberstufe, der das Jahr mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, war sowohl in den akademischen Fächern als auch sportlich sehr begabt. Er war Star-Stürmer des Basketballteams und zugleich der beste Oberstufenschüler in Englisch und Geschichte. Außerdem war er der Einzige, der sowohl an Dougs Kurs für amerikanische Literatur als auch an Hobies Autokurs für Fortgeschrittene teilgenommen hatte, beide Male mit hervorragenden Leistungen. »Lass mich sehen«, sagte Hobie und schob sich durch die Menge zur Tür durch. Doug folgte ihm und schlängelte sich an den Leuten vorbei, bis er durch die Tür und in der Sporthalle war. Bernie war nackt, sein Körper aufgedunsen. Seine Augen waren geöffnet, starrten ins Leere und wirkten gespenstisch weiß im Kontrast zur dunkel verfärbten Haut. Auf Bernies Brust war ein Zettel befestigt; die Nadeln waren unter die Haut geschoben. Blut war über das Blatt gelaufen und hatte verdeckt, was immer dort geschrieben stand. Der Junge hatte sich die Schlinge offensichtlich selbst um den Hals gelegt und war von der Tribüne gesprungen. Doug fragte sich allerdings, wie Bernie ohne Leiter das Ende des Seils am Dachbalken befestigt haben konnte. Zwei Polizisten, ein Fotograf und ein Gerichtsmediziner standen neben der Leiche und sprachen miteinander. Zwei Rettungssanitäter hatten sich an der hinteren Wand postiert und warteten. Ein weiterer Polizist hielt die Menge davon ab, zu nahe zu kommen. »Du lieber Himmel«, stieß Hobie hervor. Die übliche Prahlerei und Aggressivität waren aus seiner Stimme verschwunden, und sein Gesicht war aschfahl. Er trat zur Seite, als sich zwei weitere Polizisten - der eine mit einer Gartenschere, der andere mit einer ausziehbaren Trittleiter - durch die Sporthallentür hinter ihm schoben. »Ich kannte Bernie«, sagte Hobie. »Er war ein guter Junge.« Doug nickte. Er sah schweigend zu, als die Polizisten die Leiter aufstellten und die Leiche abschnitten. Offenbar hatte der Fotograf seine Bilder bereits gemacht, bevor sie angekommen waren. Bernies Körper war steif, Arme und Beine erstarrt. Die Männer legten ihn vorsichtig auf eine weiße Kunststoffplane, die einer der Rettungssanitäter auf dem Boden ausgebreitet hatte. Der Gerichtsmediziner kam nach vorn, um sich den Leichnam anzusehen, ging auf ein Knie und öffnete seine schwarze Tasche. »Ich habe erst letzte Woche mit ihm gesprochen«, erklang eine Männerstimme. »Nachdem die Schule zu Ende war.« Doug blickte nach rechts und sah Ed Montgomery, den Trainer. Er schüttelte langsam den Kopf. »Er sagte, dass er diesen Sommer einen Teilzeitjob im Postamt bekommen würde. Davon wollte er im Herbst die Kosten für die Schule bezahlen. Sein Stipendium reichte nicht für die Bücher und das Essen, nur für die Studiengebühren.« Doug spürte, wie es ihm eiskalt den Rücken herunterlief. »Wo sollte er einen Job kriegen?«, fragte er den Trainer. Ed sah ihn verständnislos an. »Im Postamt. Er hatte es schon mit Howard abgesprochen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, warum der Junge so etwas Schreckliches getan hat. Es lief doch alles gut für ihn!« Der Trainer blickte Doug fragend an. »Glaubst du, es könnte Mord gewesen sein?« »Ich weiß nicht«, antwortete Doug. Und er wusste es wirklich nicht. Plötzlich wollte er unbedingt sehen, was auf dem Zettel stand, der an Bernies Brust steckte. Er trat einen Schritt vor. »Bleiben Sie bitte zurück«, warnte ihn der Polizist. »Ich war Bernies Lehrer und ...« »Nur offizielles Personal und Familienmitglieder dürfen in die Nähe der Leiche.« »Nur für eine Sekunde.« »Tut mir leid«, entgegnete der Polizist. Doug drehte sich um und ging aus der Sporthalle hinaus an die frische Luft. Er brauchte Platz, Raum zum Atmen. In seinen Schläfen pochte das Blut. Bernie Rogers hatte einen Teilzeitjob im Postamt übernehmen wollen. Das Postamt. Es ergab zwar keinen Sinn, doch auf irgendeine verdrehte Weise passte es - und das machte Doug eine Heidenangst. Er drängte sich durch die Menschenmenge, lehnte sich gegen einen Baum und atmete gierig die frische Luft ein. Als er ein Fahrzeug hörte, blickte er zur Straße. Durch die Kiefern hindurch glaubte er zu sehen, wie ein roter Wagen vom Park in Richtung Stadtzentrum fuhr. 14. Trish saß allein auf der Veranda. Sie war deprimiert, was untypisch für sie war. Doug und Billy waren nicht da: Doug war bei seinem Meeting und Billy irgendwo mit Lane unterwegs. Trish war ganz allein. Normalerweise war sie gerne für sich. Sie hatte nur noch so selten Zeit für sich selbst, dass sie dankbar war, wenn sich die Gelegenheit bot. Aber heute hatte sie ein seltsames Gefühl. Der Kassettenrecorder stand neben ihr auf den Holzdielen der Veranda. Als sie ihn vorhin eingeschaltet hatte, hatte das Band sich viel zu langsam gedreht, aber sie hatte drei Batterien aus einem von Billys alten, ferngesteuerten Autos stibitzt und eine vierte in einer Küchenschublade gefunden, und jetzt spielte das Gerät perfekt. Sie hatte die Lautstärke aufgedreht. George Winston. Normalerweise wählte sie etwas aus, das zu ihrer Stimmung passte, aber heute erschien ihr die Musik völlig ungeeignet. Sie passte zwar zum blauen Sommerhimmel und dem grünen Wald, doch nicht zu Trishs Innerem. Sie fühlte sich hoffnungslos aus dem Takt. Trish starrte in die Bäume, ohne sie wahrzunehmen. Ihr Bewusstsein war weit weg. Trish dachte an etwas ganz anderes. Sie dachte an den Postboten. Sie hatte Doug nicht erzählt, dass sie den Mann in der vergangenen Nacht gesehen hatte, und auch nichts von dem Albtraum danach, auch wenn sie sich nicht sicher war, warum sie es verschwieg. Es war eigentlich nicht ihre Art, Doug etwas vorzuenthalten. Sie hatten immer eine enge und ehrliche Beziehung gehabt, hatten einander alles anvertraut, hatten ihre Hoffnungen geteilt, ihre Ängste, Gedanken und Meinungen. Doch aus irgendeinem Grund brachte Trish es nicht fertig, mit Doug über den Postboten zu reden. Die Wahrheit war, dass sie nicht mit Doug reden und ihm nicht sagen wollte, was passiert war. Trish hatte sich noch nie so gefühlt, hatte noch nie so etwas erlebt, und es machte ihr mehr Angst, als sie sich einzugestehen bereit war. Doug hatte an diesem Morgen nicht die Post geholt, ehe er gegangen war, und Trish selbst war zu verängstigt gewesen, um zum Briefkasten zu gehen. Also hatte sie Billy geschickt und ihn von der Veranda aus beobachtet, um sicherzugehen, dass nichts passierte. Billy kam mit drei Briefen zurück: zwei für Doug und einer für sie. Der Brief lag jetzt rechts neben ihr auf dem kleinen Tisch, auf den sie ihren Eistee gestellt hatte. Sie hatte den Umschlag nicht gleich öffnen wollen, obwohl er von Howard kam und sie eigentlich nichts Schlimmes erwartete, und hatte ihn erst einmal beiseitegelegt. Nun nahm sie den Brief in die Hand und riss ihn auf. Er war an sie adressiert, doch in der ersten Zeile stand »Liebe Ellen«. Trish runzelte die Stirn. Das war seltsam. Andererseits hatte Howard in letzter Zeit eine Menge Stress gehabt. Das musste sich schließlich irgendwie zeigen. Sie las weiter: Liebe Ellen, es tut mir leid, dass ich am Samstag nicht kommen konnte, aber ich musste zu einem Dinner zu den Albins. Was für ein schrecklicher Abend. Das Essen war schrecklich, das Kind ist ein verzogenes Balg, und Albin und seine Frau sind so stinklangweilig wie immer. Trish, diese scheinheilige Ziege ... Sie las nicht weiter. Sie fühlte sich, als ob man ihr alle Luft aus den Lungen gesogen hätte und als hätte sie plötzlich ein Loch in der Magengrube. Sie blickte wieder auf den Brief, doch die Worte verschwammen vor ihren Augen, in denen Tränen standen. Trish war überrascht von der Heftigkeit ihrer Reaktion. Sie war kein allzu empfindlicher Mensch, wenn es um sie selbst oder ihre Kochkunst ging, und sie hatte nichts gegen konstruktive Kritik einzuwenden. Doch diese Art von Verrat ihrer Familie gegenüber - und das von einem Freund wie Howard - schmerzte heftig. Verdammt heftig. Wütend wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht, faltete den Brief zusammen und steckte ihn in den Umschlag zurück. Howard hatte offensichtlich vorgehabt, sowohl ihr als auch Ellen Ronda einen Brief zu schicken, und unbedacht die Briefe in die falschen Umschläge gesteckt. Ellen las jetzt zweifellos von dem netten Abend und dem wunderbaren Abendessen, das Howard gehabt hatte. Normalerweise war Trish nicht so emotional und leicht zu verletzen, aber, verdammt noch mal, sie hatte versucht, Howard durch eine schwere Zeit zu helfen, und dieser hinterhältige Dolchstoß traf sie tief. Sie und Doug hatten Howard stets für einen Freund gehalten. Vielleicht kein enger Freund, aber ein guter Bekannter, mit dem sie beide gerne zusammen waren. Warum tat er so etwas? Wie konnte er so heuchlerisch sein? Howard war nie ein hinterlistiger oder doppelzüngiger Mann gewesen. Ehrlichkeit war immer seine größte Stärke und zugleich seine größte Schwäche gewesen. Er hatte nie gezögert auszusprechen, was er dachte, ungeachtet der Folgen. Es wäre eine Sache gewesen, hätte Howard offen gesagt, dass er nicht zum Abendessen kommen wollte oder nicht gerne mit ihnen zusammen war oder dass ihm das Essen nicht schmeckte, aber dazusitzen und sie anzulügen ... Das Telefon klingelte. Trish ließ den Brief auf das Tischchen fallen, erhob sich von ihrem Butterfly Chair und eilte über die Veranda ins Haus zurück. Beim fünften Klingeln erwischte sie den Telefonhörer und räusperte sich, um die Gefühle aus ihrer Stimme zu vertreiben. »Hallo?« »Er ist hinter mir her.« Das Flüstern am anderen Ende der Leitung war voller Panik, an der Grenze zur Hysterie, und zuerst erkannte Trish die Stimme nicht. »Er ist jetzt hier ...« »Wie bitte?«, fragte Trish verwirrt. »Ich glaube, er ist jetzt im Haus«, flüsterte die Frau. Jetzt erkannte Trish die Stimme. Ellen Ronda. Trish war schockiert, wie anders Bobs Witwe mit einem Mal klang. Verschwunden war die kühle Stimme, die Trish gehört hatte, solange sie zurückdenken konnte, verschwunden auch die schmerzerfüllte Verzweiflung am Tag des Begräbnisses. An ihre Stelle war nun Furcht getreten. Panische Angst. »Wer ist hinter Ihnen her?«, fragte Trish. »Er hält sich für schlau. Aber ich kann seine Schritte hören.« »Verlassen Sie das Haus. Rasch!«, sagte Trish. »Gehen Sie irgendwohin, und rufen Sie die Polizei.« »Die Polizei habe ich schon angerufen. Sie wollten mir nicht helfen. Sie haben gesagt ...« Ellens Stimme wurde abrupt abgeschnitten, und der tiefe Bariton eines Mannes erklang. »Hallo?« Trish schlug das Herz bis zum Hals. Sie brauchte all ihren Mut, ihre ganze innere Stärke, um nicht aufzulegen. »Wer ist da?«, fragte sie mit der einschüchterndsten Stimme, die sie zustande brachte. »Hier ist Doktor Roberts. Wer sind Sie?« »Oh, Sie, Doktor!« Trish entspannte sich und atmete erleichtert auf. Im Hintergrund konnte sie hören, wie eine männliche und eine weibliche Stimme miteinander sprachen. »Hier ist Trish Albin.« »Hallo, Trish. Ich habe den Rest Ihres Gesprächs mitgehört. Ellen hat Ihnen gesagt, dass sie verfolgt wird, stimmt das?« »Ja.« »Tut mir leid, dass Sie sie gestört hat. Ihre Söhne haben versucht, ein Auge auf sie zu halten, aber sie können Ellen nicht vierundzwanzig Stunden am Tag beobachten, und in letzter Zeit erzählt sie jedes Mal, wenn sich die Gelegenheit bietet, dass sie verfolgt wird.« Er atmete tief ein, und das Atmen kam schwer und rau durchs Telefon. »Ich weiß noch nicht, was wir unternehmen werden. Die Jungs wollen nicht einmal darüber nachdenken, aber ich habe ihnen gesagt, dass ihre Mutter professionelle Hilfe braucht. Ich kann sie nicht einfach nur mit Medikamenten vollpumpen. Und ihre emotionale Situation ist bei weitem zu schlecht, als dass ich als Arzt damit fertig werden könnte. Sie braucht einen Psychologen. Vielleicht muss sie sogar für einige Zeit in eine Klinik. Wer weiß? Ich bin mit Sicherheit kein Experte für diese Dinge.« »Was ist mit ihr passiert?«, fragte Trish. »Trauer und Schmerz. Unterdrückte, aufgestaute Gefühle, die plötzlich ein Ventil finden. Wie ich schon sagte, ich bin kein Experte, aber es ist klar, dass Bobs Selbstmo ... äh, sein Tod der Auslöser ist und wie ein Katalysator gewirkt hat.« Der Streit im Hintergrund wurde lauter, hitziger. »Tut mir leid, aber Sie müssen mich jetzt entschuldigen. Ich glaube, hier entwickelt sich gerade ein Notfall. Vielen Dank für Ihre Geduld und Unterstützung. Wir bleiben in Kontakt.« Er unterbrach das Gespräch, ehe Trish sich verabschieden konnte. Langsam legte sie den Hörer auf. Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich schuldig, als hätte sie irgendwie Ellens Vertrauen missbraucht. Es war ein merkwürdiger Gedanke, völlig unlogisch - andererseits war das ganze Gespräch mehr als nur ein wenig seltsam gewesen. Trish war erleichtert gewesen, als der Arzt sich gemeldet hatte, und dankbar die Zügel der Verantwortung weiterreichen zu können, aber sie war nicht in der Lage gewesen, dies aus vollem Herzen oder mit reinem Gewissen zu tun, obwohl sie dem Arzt völlig vertraute. Trish verließ das Haus, ging auf die Veranda zurück und setzte sich benommen wieder auf ihren Stuhl. Ellen hatte offensichtlich ernste emotionale oder psychische Probleme, doch für einen Augenblick, bevor der Arzt sich gemeldet hatte, hatte Trish tatsächlich geglaubt, dass jemand hinter Ellen her sei ... dass jemand in ihrem Haus gewesen sei ... Und sie wusste genau, wer dieser Jemand war. »Wow, jetzt guck dir mal die Titten von der da an.« Lane grinste breit. Billy lächelte schwach. Sie saßen auf dem Boden im Fort und blätterten die Playboys durch. Normalerweise wäre Billy von der Lektüre genauso gefesselt gewesen wie Lane, aber heute war es anders. Er fühlte sich ruhelos, unbehaglich, gelangweilt. Er starrte auf das Magazin auf seinem Schoß, auf das Foto der Frau mit der Postbotenmütze. Sie war ohne Zweifel die schönste und perfekteste Frau in all den Playboys, aber heute empfand Billy keine Erregung, wenn er sie betrachtete. Er fühlte sich nicht wohl. War da etwas Vertrautes in ihren Augen? Sah ihr Mund aus wie ... seiner? Hör damit auf, sagte er sich. Er zwang sich, ihre braunrosa Brustwarzen und die perfekt geformten Brüste anzuschauen. An ihrem Busen war nichts, was ihn an den Postboten erinnerte oder was auch nur eine Spur ungewöhnlich oder maskulin gewesen wäre. Es waren schöne, erregende Frauenbrüste. Und doch ... »Weißt du was?«, sagte Lane. Seine Stimme klang beiläufig, gleichgültig, aber es war keine echte Gleichgültigkeit. Billy kannte Lane fast sein Leben lang und konnte schon am Klang seiner Stimme erkennen, wann sein Freund log, und manchmal sogar, was er dachte. Deshalb wusste Billy, dass Lanes Gleichgültigkeit nur gespielt war. »Was?«, fragte Billy ebenso cool. Lane blickte sich langsam um, als wollte er sichergehen, dass niemand von draußen in das Hauptquartier spähte. Dann zog er einen zerknitterten, gefalteten Umschlag aus der Hosentasche und reichte ihn Billy. »Sieh dir das mal an.« Billy besah sich die Außenseite des Umschlags. Er war an Lane adressiert; der Absender in der oberen linken Ecke lautete »Tama Barnes«. »Guck rein«, drängte Lane. Billy nahm das gefaltete Papier heraus. Es war ein Brief, offensichtlich in weiblicher Handschrift. Er drehte den Brief um. Unter den geschwungenen Buchstaben war die kopierte Fotografie einer nackten Hispano-Frau. Sie lächelte. Ihre Hände hatte sie um die Brüste gelegt, die Beine waren weit gespreizt. Das fotokopierte Bild war zu verwaschen, dunkel und verschwommen, um Details zu erkennen, doch Billy hatte jede Menge Details in den Magazinen auf dem Boden gesehen, und sein Gedächtnis ergänzte, was seine Augen nicht sehen konnten. »Lies den Brief«, sagte Lane und grinste. Billy drehte den Brief um und las. Das Schreiben begann mit einer normalen Begrüßung, kam dann aber rasch auf die sexuellen Freuden zu sprechen, die Tama Lane bereiten wollte, all die Techniken, in denen sie Expertin war. Billy musste grinsen, als er las, was Tama mit Lanes »Liebespumpe« machen wollte. »Worüber lachst du?«, fragte Lane. »Ich wette, sie weiß nicht, dass du erst elf bist.« »Ich bin alt genug«, verteidigte er sich. »Und außerdem hab ich ihr schon einen Brief zurückgeschickt.« »Du hast was?« Billy starrte ihn an. »Lies das Ende.« Billy drehte den Brief um. Sein Blick huschte zum letzten Absatz: ... Vielleicht könnten wir uns mal treffen. Ich glaube, wir würden viel Spaß miteinander haben. Wenn du mir zehn Dollar schickst, schicke ich dir ein paar scharfe Fotos von mir und meiner Schwester, zusammen mit unserer Adresse. Ich hoffe, bald von dir zu hören. Ich würde mich sehr freuen, wenn du kommst und mich besuchst. Billy schüttelte den Kopf und blickte von dem Brief hoch. »Was bist du für ein Trottel. Siehst du denn nicht, dass das nur ein Trick ist, um an dein Geld zu kommen?« Billy zeigte auf das fotokopierte Bild. »Das haben sie wahrscheinlich aus einem Magazin ausgeschnitten.« »Ach ja?« »Ja. Außerdem ... sieh mal, wo dieses Postfach ist. New York. Selbst wenn sie dir wirklich ihre echte Adresse schickt, was wirst du dann machen? Nach New York fahren?« Er gab Lane den Brief. »Du hast keine zehn Dollar geschickt, oder?« Lane nickte. »Doch«, gab er zu. »Blödmann«, sagte Billy und blickte seinen Freund neugierig an. »Woher hast du eigentlich das Geld?« Lane sah zur Seite. »Von meinem Alten.« »Du hast es geklaut?« Billy war entsetzt. »Was sollte ich denn machen? Ihm erzählen, dass ich zehn Dollar brauche, um sie Tama Barnes zu schicken, damit ich ihre Bilder und ihre Adresse kriege?« »Du hättest das Geld nicht klauen sollen.« »Ach, du kannst mich mal. Mein Alter hat massenweise Knete. Er hat nicht mal gemerkt, dass es weg war.« Billy blickte auf die Zeitschrift, die aufgeschlagen auf seinem Schoß lag, und sagte nichts. Er und Lane stritten sich öfters, beleidigten sich manchmal sogar, aber jetzt lag in der Stimme seines Freundes etwas anderes - eine Härte, eine Streitlust, eine Drohung, die besagte, dass dies kein Thema für einen Streit war, zumindest nicht für ihre übliche, spielerische Art der Auseinandersetzung. Eine Zeitlang waren sie still. Das einzige Geräusch im Fort war das leise Rascheln beim Umblättern der Seiten. »Wahrscheinlich hast du recht«, sagte Lane schließlich. »Wahrscheinlich kriege ich gar nichts. Wahrscheinlich bekomme ich nicht mal meine Bilder. Aber wer weiß?« »Ja«, sagte Billy. »Aber ich wette, sie hat eine hübsche Muschi.« Lanes Stimme war wieder normal, doch unter der Oberfläche hatte sich etwas verändert, etwas, was sich nicht wieder zurücknehmen ließ, und irgendwie wusste Billy, dass dieser Augenblick ein Wendepunkt in ihrer Beziehung war. Er und Lane würden sich vielleicht nie wieder so nahe stehen wie zuvor, oder auch nur wie in diesem Augenblick. Es war eine traurige Erkenntnis, eine deprimierende Entdeckung, und obwohl Lane bald keine Lust mehr hatte, die Playboys anzuschauen und stattdessen zur Ausgrabungsstätte fahren und sehen wollte, was da vor sich ging, überzeugte Billy ihn, im Fort zu bleiben. Als ob er so die Veränderung zwischen ihnen verhindern könnte ... Die beiden blieben für den Rest des Morgens im Fort und redeten, sahen sich die Bilder an, lasen laut die Partywitze, waren die Freunde, die sie immer gewesen waren und - so hatten sie zumindest geglaubt - immer bleiben würden. 15. Die ganze Stadt redete über »Die Selbstmorde«, denn dafür wurden sie jetzt gehalten. Die Selbstmorde. Mit großen Buchstaben. Nach dem Begräbnis und der überwältigenden öffentlichen Anteilnahme für Bob Rondas Familie war es leicht gewesen, sich auf das Leben des ehemaligen Postboten zu konzentrieren anstatt auf seinen Tod und bei seinen guten Eigenschaften zu verweilen. Doch es blieb die Tatsache, dass er sich selbst getötet hatte. Er hatte sich mit einer doppelläufigen Schrotflinte das Gehirn weggeblasen, hatte dabei seine Frau in den Wahnsinn getrieben und eine ganze Stadt im Stich gelassen, die ihn gemocht hatte, sich um ihn gesorgt hatte, an ihn geglaubt hatte. Und jetzt hatte auch Bernie Rogers sich umgebracht. Im Lebensmittelladen hörten Doug und Trish nichts anderes. Die Selbstmorde. Es hatte schon früher Selbstmorde in Willis gegeben - Texacala Armstrong hatte sich im letzten Jahr erschossen, kurz nachdem ihr Ehemann an Krebs gestorben war -, aber diese Todesfälle waren vereinzelt und in gewisser Weise nachvollziehbar gewesen: Menschen, die unheilbar krank waren; Menschen, die vor kurzem einen geliebten Menschen verloren hatten; Menschen ohne Hoffnung. Niemand konnte sich erinnern, dass es jemals zwei Selbstmorde innerhalb von nur zwei Wochen gegeben hatte. Und von scheinbar normalen Menschen ohne ersichtlichen Grund. So vermischten sich Schock und Schmerz mit morbider Neugier und abergläubischer Furcht, während die Leute mit gedämpfter Flüsterstimme über die Geschehnisse redeten. Selbst die schlimmsten Klatschmäuler der Stadt schienen sich dem Thema mit Ehrfurcht zu nähern, als wäre Selbstmord eine ansteckende Krankheit und als könnten sie sich irgendwie dagegen schützen, wenn sie die Todesfälle nicht ins Belanglose zerrten oder aufbauschten. Nachdem Doug am Nachmittag zuvor von der Konferenz zurückgekehrt war, hatte er Trish von Bernie Rogers erzählt und dass er die Leiche des Schülers mit eigenen Augen gesehen hatte und von seinem Verdacht. Trish ihrerseits hatte ihm von Ellen Rondas Anruf und von Howards Brief berichtet, auch wenn sie es aus irgendeinem Grund immer noch nicht fertig brachte, ihm von dem nächtlichen Erlebnis mit dem Postboten zu erzählen. Doug wollte unverzüglich zur Polizei gehen und erklären, dass der Postbote irgendwie hinter beiden Todesfällen steckte oder zumindest indirekt dafür verantwortlich war. Doch Trish überzeugte ihn nach einem hitzigen Streit mit vielen Flüchen und Beschimpfungen, dass er es sich als Lehrer und geachtetes Mitglied der Gemeinschaft nicht leisten konnte, seine Glaubwürdigkeit zu beschädigen, indem er wilde Verdächtigungen vorbrachte. Doug hatte immer noch die Umschläge, die sie vom Bachufer gerettet hatten, doch ihm wurde klar, dass alle seine Mutmaßungen nicht nur einen ungeheuren Vertrauensvorschuss verlangten, sondern auch einen Glauben an ... ja, an was? An das Übernatürliche? Vielleicht war er verrückt, aber er glaubte immer noch, dass er zur Polizei gehen und ihnen berichten sollte, was er wusste und welchen Verdacht er hegte, doch Trish zuliebe war er bereit, sich zurückzuhalten. Sie hatte recht. Neuigkeiten verbreiteten sich schnell in einer kleinen Stadt, und falls er sich irrte, falls der Postbote ein normaler Mensch mit blasser Haut und rotem Haar war, wäre er selbst für ewig und alle Zeiten als hohle Nuss abgestempelt. In seinem Hinterkopf jedoch nagte der Gedanke, dass noch jemand in Gefahr sein könnte, dass vielleicht noch etwas Schreckliches geschah, wenn er still und passiv blieb, und so war er fest entschlossen, Augen und Ohren offen zu halten und auf alles Ungewöhnliche zu achten. Sie schritten an den Regalen im Laden vorbei. Trish ging ihre Einkaufsliste durch und las einzelne Artikel vor, und Doug nahm sie aus den Regalen und legte sie in den Einkaufswagen. »Mister Albin!« Doug, der gerade eine Packung Cornflakes in den Wagen legte, blickte auf. Eine sonnengebräunte junge Frau, die enge Shorts, ein enges T-Shirt und keinen BH trug, winkte ihm vom Ende des Ganges zu. Sie lächelte, und strahlend weiße Zähne leuchteten in ihrem hübschen Gesicht. Er wusste, dass sie eine frühere Schülerin war, obwohl er sie nicht gleich unterbringen konnte, und so versuchte er verzweifelt, ihr Gesicht mit einem Namen zu verbinden, während sie durch den Gang auf ihn zukam. »Giselle Brennan«, sagte sie. »Kreatives Schreiben. Vor zwei Jahren. Wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht mehr ...« »Natürlich erinnere ich mich an Sie«, entgegnete er, und das stimmte tatsächlich, obwohl Doug von sich selbst überrascht war: Giselle war eine von jenen Schülerinnen gewesen, die nur dann im Unterricht erschienen waren, wenn ihnen danach war, und die am Ende des Schulhalbjahres mit Mühe und Not den Abschluss geschafft hatten. Nicht die Art von Schülern, an die Doug sich für gewöhnlich erinnerte. »Wie geht es Ihnen denn so?« »Gut«, antwortete sie. »Ich habe Sie schon eine ganze Weile nicht mehr hier gesehen.« »Ja, stimmt, ich bin nach Los Angeles gezogen und habe als Aushilfe in einer Anwaltskanzlei gearbeitet, während ich nebenher zur Schule gegangen bin. Aber es hat mir nicht sehr gefallen. Los Angeles, meine ich. Zu viele Menschen, zu viel Smog, zu viel von allem. Zurzeit bin ich hier, um meine Eltern zu besuchen.« Sie strahlte ihn an. »Der Ort scheint irgendwie durchgedreht zu sein.« War es so offensichtlich?, fragte sich Doug. Konnte sogar jemand von außerhalb es merken? Giselle deutete auf Trish. »Ist das Ihre Frau?« »Ja, das ist Trish.« Trish nickte höflich. »Hallo.« »Hi.« Giselle strahlte. »Wissen Sie, Ihr Mann ist ein wirklich guter Lehrer. Sie sind bestimmt stolz auf ihn. Ich habe Englisch nie besonders gemocht - ich war immer eher für Mathe -, aber seine Stunden haben mir echt Spaß gemacht.« »Aber haben Sie auch etwas gelernt?«, ulkte Doug. »Habe ich. Ja, wirklich. Ich habe den Unterschied zwischen ›das‹ und ›was‹ gelernt.« Doug kicherte. »Lachen Sie nicht. Ich meine das ernst. Bevor ich bei Ihnen Unterricht hatte, habe ich immer ›das Auto, was ich gekauft habe‹ gesagt, oder ›das Mädchen, was in den Laden ging‹. Oder sogar ›das Mädchen, das wo in den Laden ging‹. Aber seitdem Sie es uns beigebracht haben, sage ich immer ›das Auto, das ich gekauft habe‹ und ›das Mädchen, das in den Laden ging‹.« »Ich freue mich, dass ich wenigstens bei einer Schülerin gut angekommen bin.« »Sind Sie. Und das hat mir eine Menge geholfen. Jetzt bin ich in der Hinsicht ein richtiger Snob geworden, wirklich. Einmal bin ich zu einer Party gegangen, da war ein Kerl in wirklich trendy Klamotten, der den Intellektuellen spielte. Nur hat er dauernd ›was‹ gesagt, wenn er ›das‹ hätte sagen sollen. Ich habe mich so überlegen gefühlt! Wenn Sie die Wahrheit wissen wollen, habe ich mich sogar ein bisschen für ihn geschämt. Es war großartig!« Doug wusste nicht recht, was er sagen sollte. »Vielen Dank.« »Aber gern.« »Auf Ihr Lob wird er sich jetzt ganz schön etwas einbilden«, sagte Trish. »Jetzt wird es noch unmöglicher, mit ihm zu leben.« Giselle begriff den Scherz nicht. »Er ist der beste Lehrer, den ich je hatte«, sagte sie ernst. »Auch wenn er mir nur eine Vier gegeben hat.« Sie blickte zu ihrem Einkaufswagen am Ende des Ganges. »Tja, ich muss jetzt gehen. Ich bin aber noch eine Weile in der Stadt. Vielleicht laufen wir uns ja noch anderswo über den Weg.« Sie blickte scheu zur Seite. »Vielleicht kann man sich ja mal zum Mittagessen treffen oder so.« Doug nickte. »Vielleicht. Hat mich jedenfalls gefreut, Sie wiederzusehen.« Das Mädchen ging durch den Gang zum Einkaufswagen zurück. Trish zog die Augenbrauen hoch. »Ha«, sagte sie. »Was soll das heißen, ha?« »Du weißt genau, was das bedeutet.« »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.« »Schwindler!« Trish lachte und boxte ihm gegen die Schulter, und Doug fühlte sich ein wenig besser. Er legte einen Arm um ihre Taille. Sie gingen weiter den Gang hinunter und den nächsten wieder hinauf zur Obst- und Gemüseabteilung. Sie hörten kein einziges Wort über »Die Selbstmorde«. Doch als sie zu den Kassen kamen, hörte Doug Fetzen mehrerer Gespräche, und die Worte »hat sich umgebracht« und »Tod« schienen schrecklich oft darin vorzukommen. Dougs Blick ruhte auf der Willis Weekly, die am Stand neben der Kasse ausgelegt war, und er dachte an Ben Stockley, den Herausgeber der Zeitung. Doug fragte sich, warum er nicht schon eher an Stockley gedacht hatte: Wenn irgendjemand in der Stadt ihm richtig zuhören würde, ihm vielleicht sogar glaubte, dann war es Stockley. Er sagte nichts zu Trish, beschloss jedoch, Stockley später am Tag einen Besuch abzustatten. Sie rückten mit der Schlange zur Kasse vor. Der Bronco schien jeden Buckel und jedes Schlagloch auf dem Weg nach Hause mitzunehmen. Hinten im Wagen waren Eier und andere Lebensmittel verstaut, die man behutsam transportieren musste, und Doug versuchte, den Weg langsam und vorsichtig zu fahren. Sie überquerten den Bach, bogen um die Kurve und waren bereits auf dem geraden Stück nach Hause, als sie in der Ferne etwas sahen, was sich als zwei Personen entpuppte, die mitten auf der Straße knieten. Als sie näher kamen, erkannten sie Ron und Hannah Nelson, die vor dem leblosen Körper eines Schäferhundes kauerten. »O Gott«, sagte Trish. »Das ist Scooby. Halt an.« Doug fuhr den Wagen seitlich an den Graben und hielt direkt vor dem Paar. Aus dieser kurzen Entfernung konnten sie sehen, dass Hannah Tränen übers Gesicht liefen. Sie sprangen aus dem Wagen und liefen zu den Nelsons hinüber. Als sie näher kamen, stand Ron auf. »Was ist passiert?«, fragte Doug. »Scooby ist tot.« Rons Stimme war erstickt und stockend, und es schien, dass auch er gleich in Tränen ausbrechen würde. »Ich glaube, er wurde vergiftet. Es ist keine Verletzung zu sehen, aber ihm tropft roter Speichel aus dem Maul.« »Braucht ihr Hilfe? Kann ich etwas für euch tun?« »Nein, danke. Jetzt kann man sowieso nichts mehr machen.« Doug blickte auf den toten Hund. Die Augen des Tieres waren geöffnet; ein Ausdruck von Furcht und Schmerz lag darin. Der Speichel, der dem Tier in Fäden aus dem offenen Maul hing, hatte auf dem Boden eine kleine Pfütze gebildet, in der sich Schmutz und Blut mischten. Dougs Blick traf sich mit Trishs, und er sah Abscheu, Mitleid und Wut in ihren Augen. »Wer könnte ihn vergiftet haben?«, fragte sie. »Habt ihr eine Idee?« Ron schluckte heftig. »Nein. Aber gestern wurde der Hund der Wilkinsons vergiftet, und jemand hat mir gesagt, dass in den letzten paar Tagen noch zwei oder drei weitere Hunde in der Stadt an Gift verendet sind.« »Aber wie konnte jemand Scooby erwischen? Ich meine, ihr habt ihn doch immer angebunden.« »Ja, aber gestern hat er seine Kette zerrissen und ist weggelaufen«, sagte Hannah. Sie schloss die Augen und holte tief Luft. Offensichtlich wollte sie nicht weinen. »Wir haben ein paar Stunden gebraucht, bis wir ihn gefunden hatten.« »Er war schon weit an eurem Haus vorbei«, ergänzte Ron. Hannah begann wieder zu schluchzen und drehte sich weg. Doug legte tröstend den Arm um Trish. »Können wir wirklich nichts für euch tun?« Ron schüttelte den Kopf. »Trotzdem vielen Dank.« »Lasst uns wissen, was ihr herausfindet.« Trish trat vor und legte Hannah eine Hand auf die Schulter. »Ruf mich an.« Hannah nickte schweigend, und Doug und Trish machten sich auf den Rückweg zum Bronco. Doug steckte den Zündschlüssel ins Schloss und ließ den Motor an. Langsam fuhr er um die Nelsons herum. Als er in den Innenspiegel blickte, sah er, wie Ron den Hund hochhob und zur Auffahrt trug. Weder Doug noch Trish sagte ein Wort, als sie in ihre eigene Auffahrt einbogen. Doug parkte neben dem Haus und holte zwei große Tüten mit Lebensmitteln aus dem Gepäckraum des Fahrzeugs. Trish trug die dritte Tüte. Sie gingen ins Wohnzimmer. Wie üblich lag Billy auf der Couch und sah fern. Drei Jungen und drei Mädchen. Doug stellte seine Tüten auf der Küchentheke ab. Neben den Tüten lag die Post von diesem Morgen. Sie war schon vor dem Frühstück zugestellt worden, noch ehe sie alle aufgewacht waren, doch keiner von ihnen hatte den Mut aufgebracht, die Umschläge zu öffnen. Nun sah Doug die Post durch und legte drei Umschläge beiseite, die an ihn selbst adressiert waren. Als Trish ihre Tüte abstellte, öffnete er den ersten und entfaltete den Brief: »Lieber Tim ...« Tim? Doug runzelte die Stirn und las weiter: Du hast die Konferenz verpasst, also werde ich dich über die Einzelheiten informieren. Wir haben die Beschlüsse fünf bis neun einstimmig verabschiedet und den neuen Hausmeister eingestellt. Dieses Arschloch Albin hat uns eine rührselige Geschichte über Bücher erzählt, die er angeblich braucht, und wir haben ihm gesagt, dass wir die Mittel finden würden, nur damit er sein Maul hält. Aber um ehrlich zu sein, gibt es wichtigere Dinge, wofür wir das Geld ausgeben könnten. Ich möchte, dass du ihm einen Brief schreibst, in dem du ihm erklärst, dass unser Budget für dieses Steuerjahr keine neuen Ausgaben für Unterrichtsmittel mehr zulässt außer denen, die bereits genehmigt wurden, etc., etc. Dougs Blick huschte zum Ende des Briefes. Er war von William Young unterzeichnet, dem Vorsitzenden des Schulvorstands. »Tim« musste Tim Washburn sein, das einzige Vorstandsmitglied, das nicht an der Sitzung teilgenommen hatte. »Diese Scheißkerle«, fluchte Doug leise. »Was?« »Sie werden mir die Bücher nicht geben.« »Aber ich dachte, du hättest gesagt ...« »Sie haben mich angelogen.« Er reichte Trish den Brief. »Ich kann es nicht glauben.« »Ich schon.« Sie las den Brief und warf ihn auf die Theke. »Was ist so neu daran? Sie haben die Lehrer noch jedes Jahr beschissen, seit wir hier sind. Wieso sollte sich das ändern?« Doug nahm den zweiten Umschlag. Wie er vermutet hatte, war es ein offizieller Brief vom Schulvorstand, der sich dafür entschuldigte, dass der Etat zu gering sei, um die von ihm gewünschten Exemplare von Huckleberry Finn zu kaufen. Doug zerriss den Brief, öffnete die Schranktür unter der Spüle und warf die Papierschnipsel in den Müllsack. Trish wollte gerade die Lebensmitteltüten auspacken, aber Doug gab ihr den einen Umschlag, der an sie adressiert war. »Mach ihn auf«, sagte er. »Jetzt?« »Ich habe eine Theorie.« Trish nahm den Umschlag aus seiner Hand, öffnete ihn sorgfältig und las die kurze Nachricht. Nein, dachte sie, das kann nicht wahr sein. Sie las den Brief noch einmal: Was lässt dich eigentlich denken, dass ich mich mit dir treffen will? Du warst immer schon eine selbstgefällige, eingebildete Hexe, und ich habe keinen Grund anzunehmen, dass du dich geändert hast ... Selbstgefällige, eingebildete Hexe. Das war ein Ausdruck, den Paula oft benutzt hatte, um Frauen zu beschreiben, die sie nicht mochte; der Ausdruck verlieh dem Brief eine Authentizität, der im gestelzten Rest des Briefes nicht zu finden war. Plötzlich hatte Trish trockene Lippen. Natürlich hatte sie Doug nie von ihrem letzten Treffen mit Paula erzählt - oder davon, was auf beiden Seiten gesagt worden war. Sie hatte ihn glauben lassen, dass sie sich nach dem Umzug einfach auseinandergelebt hatten, und sie hatte den Schein der Freundschaft noch lange aufrechterhalten, nachdem die Verbindung abgebrochen war. Doch nach all den Jahren hatte Trish ehrlich geglaubt, dass Paula vielleicht wieder mit ihr zusammenkommen wollte. Sie hatte in den vergangenen Jahren oft an Paula gedacht und hatte bereut, was sie damals gesagt hatte. Sie waren die besten Freundinnen gewesen und hatten sich dann über eine so relativ unbedeutende Sache zerstritten, dass Trish überzeugt gewesen war, dass Paula sich tatsächlich mit ihr hatte treffen wollen. Selbstgefällige, eingebildete Hexe. »Was ist los?«, fragte Doug. Trish faltete den Brief rasch zusammen, denn sie wollte nicht, dass Doug ihn sah. »Paula kann leider nicht kommen«, sagte sie. »Sie ... äh, hat es sich anders überlegt.« »Don offenbar auch«, entgegnete Doug trocken. Er reichte ihr einen Brief von Don Jennings. Zwischen Grußformel und Unterschrift standen nur vier Worte: »Leck mich am Arsch.« Trish wollte ihren Augen nicht trauen. Sie konnte sich nicht erinnern, Don jemals fluchen gehört zu haben. Nicht einmal »Mist« oder »verdammt« oder »zum Kuckuck«. Sie blickte Doug an. »Das hört sich nicht nach Don an«, sagte sie. »Es sei denn, er hat sich gewaltig verändert.« »Ich glaube nicht, dass der Brief von Don kommt.« »Glaubst du ...« »Ich glaube, der erste Brief war auch nicht von ihm«, stellte er fest und ahnte ihre Frage voraus. »Ich glaube nicht, dass er einen Job in Phoenix hat. Ich glaube auch nicht, dass er nach Arizona zieht. Ich glaube nicht einmal, dass er mir überhaupt geschrieben hat.« Trish spürte, wie die Angst sie zittern ließ. »Das ist eine Menge Aufwand nur für einen Scherz«, sagte sie leise. »Der erste Brief war sehr detailliert. Wer immer ihn geschrieben hat, kannte entweder dich oder Don, weil Dinge darin standen, die ein Fremder unmöglich wissen konnte.« »Das war kein Scherz«, stellte Doug fest. »Ich weiß nicht, was es war, aber ein Scherz war es nicht.« Er streckte die Hand aus. »Lass mich mal deinen Brief sehen.« Trish wollte eigentlich nicht, dass er den Brief las, doch sie reichte ihn Doug trotzdem. Sie sah, wie seine Augen sich hin und her bewegten, als er die Zeilen überflog. »So was habe ich mir gedacht.« Einen Augenblick lang schwiegen sie. Trish blickte zu Billy hinüber, der so tat, als hätte er nicht gehört, worüber seine Eltern sprachen. Doch er hatte es gehört, das wusste Trish. Aber sie war froh, dass er vorgab, nichts mitbekommen zu haben. Sie wollte nicht mit ihm darüber sprechen, wollte nicht erklären müssen, was sie nicht erklären konnte. Sie wandte sich von Doug ab. Auch mit ihm wollte sie nicht darüber sprechen. Sie wollte überhaupt nicht darüber sprechen. Sie machte sich daran, die Lebensmittel auszupacken. 16. »Das ist eine sehr interessante Theorie«, sagte Stockley. »Sehr interessant.« Er brach einen Glückskeks durch, las seinen Schicksalsspruch, warf den Zettel fort und kaute langsam den Keks, während er über das nachdachte, was Doug ihm gerade erzählt hatte. Ben Stockley war ein ungepflegter, dickbäuchiger Mittfünfziger, der wie das Klischee eines Reporters aussah. Seine Hose war immer schwarz, sein Hemd immer weiß, und beide waren immer verknittert. Seine Haare waren dünn und grau, über seine Kopfhaut zurückgekämmt und sowohl für sein Alter als auch für die gegenwärtige Mode ein wenig zu lang. Stockleys Gesicht war rau und ledrig und ähnelte verblüffend dem von Broderick Crawford - dem Hollywood-Star, der fast immer zwielichtige Typen und Gauner spielte -, und er schien immer zu schwitzen, wie warm oder kalt es auch sein mochte. In seiner rechten unteren Schreibtischschublade bewahrte er stets eine Schachtel frivoler Glückskekse auf, die er bei einer bestimmten Firma in New York bestellte. Er kaufte diese Kekse, weil er sie liebte; aber es gefiel ihm auch, sie ahnungslosen Besuchern anzubieten und die Reaktion auf ihren Gesichtern zu beobachten, während sie ihre normalerweise obszöne Zukunft lasen. Ganz besonderen Spaß machte es ihm, die Kekse schüchternen jungen Frauen und prüden alten Damen anzubieten. »Also, was denken Sie wirklich?«, fragte Doug. »Sie werden den Postboten auch beschuldigen, Hunde zu vergiften?« Doug sank in seinem Sessel zusammen. »Sie glauben mir nicht.« »Das habe ich nicht gesagt.« Doug sah ihn hoffnungsvoll an. Der Herausgeber zerbrach einen weiteren Glückskeks. »Sind Sie schon zur Polizei gegangen?« »Ich habe der Polizei bisher nur von den Briefen berichtet, mit denen uns Wasser, Strom und Telefon abgedreht wurden, und hab denen Kopien gegeben. Aber sonst habe ich ihnen noch nichts erzählt.« »Vielleicht sollten Sie das tun.« Stockley hob die Hand. »Ich will damit nicht sagen, dass ich Ihnen glaube, aber wenn Sie recht haben, ist das definitiv eine Angelegenheit für die Polizei.« »Ich weiß auch nicht, ob ich recht habe. Deswegen bin ich zu Ihnen gekommen. Wenn ich der Polizei erzähle, was ich gerade Ihnen erzählt habe, halten die mich wahrscheinlich für verrückt.« Der Herausgeber kicherte. »Sie wollten kein Aufsehen, also sind Sie zu einer Zeitung gegangen. Der Witz ist gut.« Doug wollte etwas einwenden, doch Stockley schnitt ihm das Wort ab. »Ich weiß schon, was Sie versuchen wollen, aber das Problem ist, dass Zeitungen mit Fakten umgehen. Ich könnte ein Feature über Sie bringen, könnte Sie Ihre Ideen vorbringen lassen, aber dann würden Sie im Mittelpunkt stehen, und das wollen Sie doch sicher nicht.« »Eigentlich geht es mir nicht so sehr um einen Artikel, obwohl ich der Meinung bin, dass die Leute gewarnt werden müssten. Vor allem aber suche ich Bestätigung. Sie wissen ja, was in der Stadt vor sich geht. Wenn sich jemand den Zeh anstößt oder eine Erkältung einfängt, spricht sich das herum. Und wenn in letzter Zeit jemand etwas Ungewöhnliches bemerkt hätte, dann Sie. Habe ich recht?« Stockley schwieg und kaute. »Sagen Sie mir nur, was vor sich geht. Was haben Sie gehört?« Der Blick des Herausgebers war besorgt. »Das Verhältnis zwischen einem Journalisten und seiner Quelle ist heilig«, sagte er schließlich. »Es entspricht der Beziehung zwischen Anwalt und Mandant, Arzt und Patient, Priester und Beichtendem. Ich könnte lange darum herumreden, aber ich will ehrlich sein. Ja, ich habe einiges Gerede gehört. Nichts Spezielles wie das, was Sie mir erzählt haben ... nichts, was jemand zugeben würde, wenn man ihn danach fragt. Aber auch anderen Leuten ist in letzter Zeit aufgefallen, dass merkwürdige Dinge passieren. Und ich glaube, dass ihnen nach Bernie Rogers' Selbstmord noch mehr auffallen wird. Ich sollte objektiv und unparteiisch bleiben, aber ich werde Ihnen die Wahrheit sagen. Ja, ich glaube, dass hier etwas Merkwürdiges vor sich geht. Und ich glaube, dass alles mit diesem Postboten zu tun hat.« Doug spürte, wie ihn Erleichterung erfasste. Es war großartig, einen Verbündeten zu haben; es tat unendlich gut, einen unbeteiligten Dritten sagen zu hören, dass man nicht verrückt sei. Zugleich aber machte es alles noch Furcht erregender. Denn wenn das alles stimmte, war der Postbote im günstigsten Falle gefährlich labil und geistesgestört. Stockley hatte recht. Er, Doug, sollte zur Polizei gehen und alles erzählen. Der Herausgeber öffnete eine Schublade und holte einen Stapel Post heraus. »Zeitungen bekommen jede Menge Briefe, wie Sie sich vorstellen können. Darunter viel merkwürdige Post. Wir landen auf jeder bekloppten Adressenliste, die man sich vorstellen kann. Nazis wollen, dass wir ihnen kostenlos Öffentlichkeit verschaffen. Kommunisten möchten, dass wir über ihre Sache berichten. Religiöse Fanatiker sind scharf darauf, dass wir den Leuten erklären, wie der Antichrist die Regierung infiltriert hat. Zwei Wochen lang - in den zwei Wochen nach Bob Rondas Tod - haben wir nur positive Post bekommen, genau wie Sie sagten. Die Zahl der Abonnenten ist gestiegen. Es kamen massenweise lobende Briefe. Sogar die chronischen Spinner haben uns nicht mehr belästigt. Das allein war schon merkwürdig genug. Dann, seit ein paar Tagen, haben wir die hier gekriegt.« Er nahm den obersten Brief vom Stapel. »Lesen Sie mal.« Doug nahm den Brief und überflog ihn. Er beschrieb detailliert die sexuelle Folterung und Verstümmelung einer gewissen Cindy Howell. Er verzog das Gesicht. Die Beschreibung war so grausig und widerwärtig, dass er nicht zu Ende lesen konnte. »Wer ist Cindy Howell?«, fragte er. »Meine Tochter«, antwortete Stockley. Doug blickte entsetzt auf. »Es geht ihr gut. Ihr ist überhaupt nichts passiert. Sie lebt in Chicago. Ich habe sie sofort angerufen. Auch die Polizei in Chicago habe ich verständigt und denen eine Fotokopie des Briefes geschickt. Sie überwachen jetzt das Haus meiner Tochter.« »Ich wusste gar nicht, dass Sie eine Tochter haben.« »Weil ich es nie jemandem in der Stadt erzählt habe. Sie stammt aus meiner ersten Ehe, von der übrigens auch niemand etwas weiß.« »Was glauben Sie, wie der Postbote es herausgekriegt hat?« »Ich bin mir nicht sicher, dass es der Postbote ist. Schauen Sie sich den Poststempel an. Er ist aus Chicago. Der Brief könnte von Leuten kommen, die ich mir dort zu Feinden gemacht habe, oder von irgendeinem Verrückten, der hinter meiner Tochter her ist. Oder es könnte bloß die harmlose Drohung von irgendeinem Spinner sein. Beachten Sie, dass alles in der Vergangenheit geschrieben ist. Das sind alles Dinge, die schon passiert sein sollen.« »Aber Sie sagten doch, dass der Postbote ...« »Ich bin mir nicht sicher. Ich weiß eigentlich gar nichts mit Sicherheit.« Er hob den Stapel Briefe hoch. »Die sind sich alle ähnlich. Sie stammen aus Städten im ganzen Land und beziehen sich auf Menschen, die ich im Laufe meines Lebens gekannt habe. Sie sind nicht alle so offen sexuell wie dieser, aber sie sind alle gleich ... krank. Diese Briefe könnten alle Teil eines Versuchs sein, mich zu schikanieren und fertig zu machen, auch wenn ich kein Motiv dafür sehe. Es könnte aber auch ein unglaublicher, unwahrscheinlicher Zufall sein. Ich neige dazu, Ihnen bei dem Postboten zu glauben, weil ich in meiner Post dasselbe Muster entdeckt habe wie Sie und weil noch andere Leute mir gegenüber entsprechende Andeutungen gemacht haben. Ich weiß nicht genau, was hier vor sich geht, aber es scheint sich tatsächlich alles um die Post zu drehen, und es scheint tatsächlich angefangen zu haben, nachdem dieser John Smith den Job übernommen hat.« »Also kommen Sie dann mit zur Polizei? Uns beiden wird man glauben.« »Uns glauben? Uns glauben, dass ein einzelner Mann die Post durchsieht und umleitet, an alle Leute in der Stadt gefälschte Briefe schreibt, dazu noch gut recherchierte Briefe? Dass er für zwei Selbstmorde und Gott weiß was sonst noch verantwortlich ist? Ich weiß nicht einmal selbst, ob ich das glaube! Ich denke, dass dieser Postbote irgendwie in diese Sachen verwickelt ist, aber ich weiß nicht, wie die Verbindung aussieht.« »Sie meinen, ich sollte der Polizei erzählen, was ich weiß?« »Sie wissen doch gar nichts.« »Dann also, was ich denke.« »Ich bin mir nicht sicher, ob das zu diesem Zeitpunkt gut wäre, ohne jeden Beweis ...« »Ich habe die Briefe vom Clear Creek.« »Das stimmt.« Der Herausgeber lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Ja. Vielleicht sollten Sie wirklich mit der Polizei sprechen. Ich komme allerdings nicht mit Ihnen, weil meine Glaubwürdigkeit an die Zeitung gebunden ist, und ich will sie nicht gefährden. Sie kennen Mike Trenton?« »Er war vor ein paar Jahren ein Schüler von mir.« »Er ist ein guter Junge und ein guter Cop. Reden Sie mit ihm. Er ist offen für alles. Vielleicht hört er Ihnen zu. Und halten Sie sich fern von Catfield.« »Kann ich Mike Trenton von Ihren Briefen erzählen?« Stockley nickte. »Erzählen Sie es ihm.« Er seufzte, beugte sich vor und holte einen weiteren Glückskeks aus seiner Schublade. »Ich sollte mich aus dieser Sache heraushalten. Man erwartet von mir, Storys zu berichten, und nicht, Teil von ihnen zu sein. Aber um ehrlich zu sein, Sie haben mir verdammte Angst gemacht.« Doug lächelte schwach. »Ich habe schon seit einer Woche eine Heidenangst.« »Dann wird es Zeit, etwas zu unternehmen«, sagte der Herausgeber und biss in seinen Glückskeks. Doug saß auf dem niedrigen Kunstledersofa im Warteraum der Polizeiwache. Hinter der Theke telefonierten uniformierte Angestellte und Officers und füllten Formulare aus. Doug kam sich alt vor. Drei der fünf Angestellten in dem Büro waren irgendwann einmal seine Schüler gewesen. Das war nicht ungewöhnlich. In einer so kleinen Stadt wie Willis lief Doug ständig ehemaligen Schülern über den Weg. Doch als er jetzt Ex-Schüler, deren junge Gesichter mit dem Erwachsenwerden härtere Züge angenommen hatten, auf verantwortlichen Posten sah, kam er sich hoffnungslos alt vor. Mike Trenton kam aus einem der hinteren Räume und lächelte breit. Sein Haar war kürzer, als es in der Highschool gewesen war, aber davon abgesehen hatte er sich kaum verändert. Sein Gesicht war immer noch offen und ehrlich, fast naiv, und selbst in seiner dunkelblauen Uniform wirkte er jung. »Lange nicht gesehen, Mister Albin.« »Sagen Sie Doug zu mir.« »Doug.« Er schüttelte den Kopf. »Es ist ein komisches Gefühl, einen Lehrer beim Vornamen zu nennen.« Er kicherte. »Nun, Doug, was kann ich für Sie tun?« Doug ließ den Blick durch das belebte Büro schweifen. »Es ist ziemlich geschäftig hier. Könnten wie uns irgendwo ungestört unterhalten?« »Wenn es um Ihren Fall geht, müssten Sie mit Lieutenant Shipley sprechen. Er versucht, diese Briefe zurückzuverfolgen ...« »Na ja, es hat damit zu tun, aber nicht direkt.« Doug deutete in Richtung Flur. »Können wir in Ihrem Büro sprechen?« »Ich hab kein eigenes Büro, aber wir können den Verhörraum benutzen.« Mike winkte einem der Angestellten. »Ich bin im Verhörraum.« Der Angestellte nickte, und die beiden gingen durch eine Sicherheitsschranke in den Flur. Doug folgte Mike in ein kleines Zimmer, in dem es kaum genug Platz für zwei Stühle und einen Tisch gab. Nun, da er hier war, wusste Doug nicht recht, wo er anfangen sollte. Der Zeitplan, den er entwickelt hatte, die Argumente, die er sich zurechtgelegt hatte, verwelkten in der nüchternen Umgebung der Polizeiwache. Er hatte keine Beweise, nur einige merkwürdige Ereignisse und mögliche Zusammenhänge, an die zu glauben einiges an Fantasie erforderte. Die Zuversicht, die Doug beim Gespräch mit Stockley verspürt hatte, war verschwunden. Er hatte zwar nicht damit gerechnet, dass die Polizei seine Ideen so bereitwillig aufnehmen würde wie Stockley, doch er war nicht auf die mangelnde Bereitschaft der Beamten vorbereitet, seine Geschichte zu glauben. Es war dumm gewesen, überhaupt hierherzukommen. Dennoch: Als er nun über den kahlen Tisch hinweg Mike Trenton anschaute, sah er nicht Zynismus oder Desinteresse in den Augen des jungen Officer, sondern offene Bereitschaft, ihn anzuhören. Doug fing ganz von vorn an, mit Rondas unwahrscheinlichem Selbstmord und seinem ersten Eindruck von dem neuen Postboten bei der Beerdigung. Es drängte ihn, seine Geschichte kurz zu fassen, doch er zwang sich, sich Zeit zu nehmen, jedes noch so kleine Detail und jeden Gefühlseindruck sorgfältig zu beschreiben, weil er der Meinung war, dies würde seiner Theorie Glaubwürdigkeit verleihen. Mike stoppte seinen Redefluss, ehe er halb fertig war. »Es tut mir leid, Mister Albin. Nehmen Sie es nicht persönlich, aber wir hatten eine ziemlich hektische Woche hier. Dies ist keine Großstadt-Polizeiwache. Wir haben hier zwölf Cops, die in zwei Schichten arbeiten. Es gab mehrere vergiftete Hunde, einen Selbstmord, den wir noch untersuchen, und die üblichen Schlägereien in den Cowboy-Kneipen. Wir sind im Moment schwer unterbesetzt. Ich weiß, dass wir eine Menge Schwierigkeiten mit der Post haben, aber um ehrlich zu sein, sollten Sie darüber mit Howard Crowell sprechen ...« »Sie halten mich vielleicht für verrückt ...« »Ich halte Sie keineswegs für verrückt, Mister Albin.« »Doug.« »Doug.« »Ich weiß nicht genau, was hier los ist, aber es scheint mir, dass John Smith, falls das sein richtiger Name ist, die Fähigkeit hat, die Post ... die Post irgendwie so zu kanalisieren, wie er es will. Er kann persönliche Briefe von Rechnungen trennen, gute Briefe von schlechten. Er kann einen Brief von seinem beabsichtigten Empfänger zu der Person umleiten, um die es in dem Brief geht. Wir haben kürzlich einen Brief von Howard bekommen, der eigentlich für Ellen Ronda gedacht war. Aber der Umschlag war an uns adressiert. Und dasselbe ist auch anderen Leuten passiert.« »Sie wollen damit sagen, dass Mister Smith irgendwie all diese Umschläge öffnet, die Briefe liest und sie als eine Art schlechten Scherz umleitet?« »Ich weiß nicht, was ich damit sagen will.« »Einmal angenommen, dass er das wollte, wissen Sie, wie lange ein einzelner Mann dafür brauchen würde, selbst in einer so kleinen Stadt wie dieser?« »Ja. Aber ich weiß nicht, ob der Mann jemals schläft. Verdammt, ich bin mir nicht mal sicher, ob er überhaupt ein Mensch ist.« »Sie haben mich falsch verstanden, Mister Albin. Ich habe großen Respekt vor Ihnen, und ich gebe zu, dass in letzter Zeit merkwürdige Dinge mit der Post passiert sind, aber das klingt jetzt doch ein bisschen weit hergeholt.« Doug lächelte gequält. »Sie haben noch nicht alles gehört. Ich glaube außerdem, dass dieser Smith mit Bernie Rogers' und Bob Rondas Tod zu tun hat.« »Das ist ein Witz, oder?« »Kein Witz. Hören Sie mir einfach nur zu.« Doug berichtete von seiner Entdeckung am Creek und von der zunehmend bizarren Post, die sowohl er als auch die Zeitung bekommen hatten. Mike runzelte die Stirn. »Wie kommt es, dass Ben mir das nicht selbst gesagt hat?« »Er wollte nicht mal, dass ich es Ihnen erzähle.« »Und was ist mit Bob Ronda und Rogers?« Doug erklärte ihm, wie beide mit dem Postamt zu tun hatten und warum ihre Selbstmorde so unwahrscheinlich waren. »Wir haben uns gefragt, wie er das Seil festgemacht hat«, gab Mike zu. »Was stand denn auf dem Zettel, der an Bernies Brust befestigt war?« Der Polizist schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Vertraulich.« »Aber Sie glauben nicht, dass ich total verrückt bin?« Mike schaute ihn einen Augenblick schweigend an. »Nein, das glaube ich nicht«, sagte er schließlich. »Gott weiß warum, aber ich glaube es nicht. Ich glaube Ihnen nicht alles, aber es ist auch nicht so, dass ich Ihnen nichts glaube.« »Für den Moment ist das genug. Ich weiß, dass es keine Beweise gegen den Postboten gibt. Noch nicht. Vorerst möchte ich ja auch nur, dass Sie Augen und Ohren offen halten. Dass Sie die Sache im Blick behalten. Seien Sie einfach nur vorbereitet.« Der junge Officer schüttelte den Kopf und grinste. »Wenn irgendjemand das hier rauskriegt, bin ich tot. Aber okay.« Doug stand auf und schob seinen Stuhl zurück. Er sah den Polizisten neugierig an. »Da ist noch etwas, nicht wahr?«, fragte er. »Sie selbst haben seltsame Post bekommen, habe ich recht?« Mike starrte ihn an; dann nickte er langsam. »Ich konnte es spüren«, sagte Doug. »Ich habe einen Brief von meiner Verlobten in Phoenix bekommen«, erzählte Mike. »Sie schreibt, dass sie sich von mir trennen will. Ich habe sie angerufen, aber ihr Telefon hat nicht funktioniert. Also habe ich mich für einen Tag krank gemeldet und bin zur Arizona State University gefahren. Sie hatte mir noch nie einen Brief geschickt. Und das Telefon war an dem Tag, als ich versucht habe, sie anzurufen, zufällig nicht richtig aufgelegt.« Er kratzte sich an der Nase. »Vielleicht suche ich nur nach einer einfachen Erklärung, aber an dem, was Sie sagen, könnte etwas dran sein. Ich glaube, mit dem Postboten ist tatsächlich irgendwas faul. Ich kann Ihnen immer noch nicht ganz glauben, und ich hoffe, dass wir Mister Smith nicht zum Sündenbock für unsere Probleme machen, aber ich werde die Sache im Auge behalten.« »Das ist alles, worum ich Sie bitte. Ich lasse es Sie wissen, wenn es etwas Neues gibt.« »Und wir lassen es Sie wissen, wenn sich irgendetwas bei Ihren Strom-, Wasser- und Telefonbriefen ergibt.« Doug dankte Mike und ging wieder in den Flur. Der junge Polizist ließ ihn durch die Sicherheitsschranke in die Lobby. Als Doug hinaus zum Wagen ging, fühlte er sich so gut wie schon eine ganze Weile nicht mehr. Es tat gut, einen Teil der Last mit anderen teilen zu können. Er stieg in den Bronco und fuhr los. Auf dem Nachhauseweg kam er an dem Postboten vorbei, der gerade die Post aus dem Kasten vor dem Circle-K-Einkaufszentrum holte, die Umschläge sortierte und einige sorgfältig in seine Plastiktasche legte, während er andere in eine braune Papiertüte schob. Als Doug vorbeifuhr, winkte der Postbote ihm zu. 17. Am nächsten Tag war mit der Post alles in Ordnung. Sie war immer noch weit vor Tagesanbruch ausgetragen worden, aber die Briefsendungen selbst waren weder unnormal erfreulich noch unnatürlich schlecht. Da war eine Abonnementsmitteilung von Newsweek, eine Visa-Abrechnung und etwas Reklame. Nichts Außergewöhnliches, auch wenn eben das schon außergewöhnlich war. Doug versuchte, Stockley bei der Zeitung anzurufen, doch die Sekretärin ließ ihn wissen, dass er zurzeit keine Gespräche annähme. Er bat sie, Stockley seinen Namen zu nennen, und nach langer Überzeugungsarbeit erklärte sie sich dazu bereit. Doch als sie sich wieder meldete, informierte sie ihn, dass gerade das endgültige Layout für die neue Ausgabe gemacht würde und der Herausgeber von niemandem gestört werden wollte. Sie sagte, Stockley würde Doug zurückrufen, wenn er die Gelegenheit hätte. Auch am folgenden Tag war die Post so normal wie früher. In Doug wuchs immer mehr die Überzeugung, dass er voreilige Schlüsse gezogen und sich geirrt hatte. Trish sagte nichts, aber er konnte sehen, dass sie genauso dachte und ebenfalls erleichtert war. Am nächsten Morgen war der Briefkasten voller Post. Doug ging vor dem Frühstück zum Kasten, während Billy noch schlief und Trish ihren Garten wässerte. Doug stutzte: Insgesamt waren es zehn Umschläge. Allein die Menge wirkte irgendwie unheimlich und bedrohlich. Doug warf einen raschen Blick auf die Vorderseiten der Briefe und sah, dass er die meisten Absender nicht kannte. Er steckte sie in die hintere Tasche seiner Hose, sodass sein Hemd über die obere Hälfte des Stapels hing. Im Haus zerriss er einen Umschlag nach dem anderen, ohne sich den Inhalt anzusehen, und schob die Fetzen in einen leeren Milchkarton im Müll. Trish kam herein, als er gerade den Karton verschloss. »Irgendwelche Post?«, fragte sie, während sie sich die Hände an ihrer Jeans abwischte. »Keine«, log er. Am nächsten Tag gab es überhaupt keine Briefe, und auch nicht am darauf folgenden Tag. Es war beinahe so, als sollte Doug dafür bestraft werden, dass er die Post zerrissen hatte - als hätte er ein Angebot zurückgewiesen und bekäme zur Strafe nun kein neues mehr. Aber das war ein verrückter Gedanke. Dennoch war es genauso verstörend, überhaupt keine Post zu bekommen, wie mit Post überschüttet zu werden, und das machte Doug nervös. Wahrscheinlich hatte er zu viele Horrorfilme gesehen und zu viele unheimliche Bücher gelesen, aber er konnte nicht anders, als diesem zeitweiligen Ausbleiben von Post eine unnatürliche, böswillige Absicht zuzuschreiben. Es erschien ihm wie die Ruhe vor dem Sturm und als wartete er darauf, dass dieser Sturm losbrach. Er versuchte, die erste Wand des Schuppens fertig zu stellen, konnte sich aber nicht konzentrieren und gab nach nur einer Stunde Arbeit auf. Am Nachmittag im Laden fiel ihm auf, dass viele der Leute, mit denen er in Kontakt kam, angespannt und gereizt zu sein schienen. Todd Gold, Eigentümer des Feinkostgeschäfts, erwiderte nicht einmal seinen Gruß. Als Doug ihm zuwinkte und »Hi« rief, drehte Gold sich nur kurz um und zog sich in seinen Laden zurück. Doug erzählte Trish nichts davon. Sie schien viel glücklicher zu sein, seitdem keine Post mehr kam, und obwohl diese »Aus den Augen, aus dem Sinn«-Mentalität überhaupt nicht zu ihr passte, wollte er sie nicht in etwas hineinziehen, das er sich möglicherweise nur einbildete. Vielleicht war ja gar nichts Merkwürdiges, nichts Ungewöhnliches passiert. Vielleicht hatte seine Fantasie auf eine bizarre Aufeinanderfolge von scheinbar miteinander verbundenen Vorkommnissen überreagiert, die in Wirklichkeit gar nichts miteinander zu tun hatten. Vielleicht. Aber das glaubte er nicht. 18. Trish fühlte sich ein bisschen besser. Drei Tage nacheinander hatten sie keine Post bekommen, und aus irgendeinem Grunde hob das ihre Stimmung. Die alte »Keine Nachrichten sind gute Nachrichten«-Theorie. Außerdem würde sie Irene Hill treffen, und ein Besuch bei der alten Dame verschaffte ihr immer gute Laune. Sie fuhr vom Highway ab und die Pine Street entlang. Sie kam am Willis Women's Club vorbei und bekam ein schlechtes Gewissen. Sie hatte versprochen, dort sechs Monate lang jeden Nachmittag am Treffen der Weight Watchers teilzunehmen, war aber seit dem dritten Treffen nicht mehr aufgetaucht. Zwei Wochen lang hatte sie sich an die strenge Diät gehalten und zweieinhalb Kilo abgenommen - halb so viel, wie sie sich vorgenommen hatte -, aber der Druck war dann doch zu groß gewesen. Die Motivationsgespräche, die Vorträge, die Tagebücher hatten ihr das Gefühl gegeben, eingezwängt zu sein. Außerdem hatte sie immer noch eine gute Figur, auch wenn sie durchaus ein wenig an den Hüften abnehmen konnte. Doch sie wusste, dass sie verdammt viel besser aussah als einige Frauen in der Stadt, die sich gar nicht bei den Weight Watchers eingeschrieben hatten. Nun sah sie, wie eine der Frauen, Beth Johnson, vom Parkplatz des Postamts fuhr. Beth winkte ihr mit einem falschen Plastiklächeln auf dem Gesicht zu, und Trish winkte zurück. Trish fuhr weiter die Pine Street entlang und bog dann auf den ungepflasterten Weg kurz vor dem Golfplatz ein. Sie umrundete den Hügel, bis sie zu der kleinen Häusergruppe neben der alten Rangerstation kam, und bog in Irenes Auffahrt ein. Sie hatte Irene Hill kennen gelernt, als sie beide vor ein paar Jahren als ehrenamtliche Helferinnen beim jährlichen Bücherverkauf der Bibliothek gearbeitet hatten. Irene war eine der Gründerinnen der Bibliothek gewesen; selbst nachdem sie in Rente gegangen war, hatte sie die Verbindung zur Bibliothek aufrechterhalten, war die treibende Kraft bei Spendensammlungen, nahm an Kampagnen für die Anschaffung neuer Bücher teil und engagierte sich bei der Anwerbung von Fördermitgliedern und bei Buch- und Zeitschriftenverkäufen. Tatsächlich war es Irene gewesen, die zuerst Trish angerufen und um ihre Hilfe gebeten hatte. Die beiden Frauen waren sich auf Anhieb sympathisch gewesen. Zwar gehörten sie unterschiedlichen Generationen an, doch Irene war über alle politischen und kulturellen Ereignisse auf dem Laufenden, und mit ihrer Kontaktfreudigkeit und ihrer unbegrenzten Begeisterung für alles und jedes schien sie mehr mit Trish gemeinsam zu haben als mit den Ehrenamtlichen ihres Alters. Trish stieg aus dem Wagen und ging die ausgeblichenen Holzstufen zur abgeschirmten Veranda hinauf. Sie klopfte. Irenes Stimme erklang aus der Küche: »Komm rein, die Tür ist auf.« Irenes Haus war mit Antiquitäten eingerichtet, die noch keine Antiquitäten gewesen waren, als sie sie gekauft hatte. Das Foyer wurde von einer großen Flurgarderobe beherrscht, und im Wohnzimmer standen nicht nur antike Bücher- und Geschirrschränke, sondern auch ein tadellos erhaltenes Victrola-Grammophon und ein schöner Stutzflügel. Kleine Porzellanfigürchen, gesammelt im Laufe des letzten halben Jahrhunderts, säumten die Regale an den Wänden. Das Haus war warm und behaglich, voller gesunder Pflanzen, und Trish fühlte sich hier jedes Mal wohl, wie in einer Art Heiligtum, das sie vor der Welt draußen beschützte. Irene war in der Küche und zupfte Blätter aus einem Bündel getrockneter Pflanzen. Sie bereitete sich oft ihren eigenen Tee aus einer Mischung von Minze und Blüten, die sie im Garten zog, ein wunderbares Getränk, von dem sowohl Doug als auch Billy behaupteten, dass es wie Dreck schmeckte. Als Trish den Raum betrat, drehte die alte Frau sich um, während ihre Finger weiterarbeiteten. »Wie ist es dir ergangen, Liebes?«, fragte sie. »Ich habe dich bestimmt schon zwei Wochen nicht gesehen. Oder waren es drei?« Trish lächelte. Außer Irene kannte sie niemanden, der Wörter wie »Liebes« oder »Schätzchen« sagen konnte, ohne dass es süßlich oder herablassend klang. »Es geht mir gut«, sagte sie. »Du klingst aber nicht so. Du hörst dich müde an. Und du siehst auch ein bisschen abgespannt aus.« »Stress«, sagte Trish. Die alte Frau hörte mit dem Blätterzupfen auf und benutzte eine Ecke ihrer Schürze, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. »Doug?« »Nein, nichts dergleichen. Es ist nur ...« Ihre Stimme wurde leiser. »Ich weiß nicht, was es ist.« »Ich habe heute Morgen deine Postkarte bekommen.« »Meine Karte?« Trish spürte, wie in ihrem Kopf eine Warnleuchte aufflammte. Sie hatte Irene keine Karte geschickt. »Ja. Sie hat mich zum Lachen gebracht. Aber ich weiß nicht, warum du sie mir geschickt hast. Ich bin doch gar nicht krank.« Trish spürte, wie die innere Festigkeit, die sie in den letzten Tagen zurückgewonnen hatte, zerbröckelte. Die altvertraute Angst wallte in ihr auf. Sie ließ den Blick durch die Küche schweifen. Plötzlich kam der Raum ihr fremd vor, und das Licht, das durch die Fenster fiel, erschien ihr unnatürlich. »Ich habe dir keine Karte geschickt«, sagte sie. Das Gesicht der alten Frau verdüsterte sich. Einen Augenblick lang war sie still, nur ihre Finger arbeiteten weiter. »Das hatte ich befürchtet.« In ihrer Stimme lag kein Erstaunen. Es war eine Feststellung. Trish ging zur Frühstücksecke und setzte sich. »Du weißt auch Bescheid.« »Worüber?« »Über den Postboten.« Irene setzte sich Trish gegenüber an den Tisch. »Ich habe den Mann zwar nicht gesehen, aber mit der Post sind seltsame Dinge geschehen. Ich habe Briefe von Leuten bekommen, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen habe. Seit Jahrzehnten sogar. Leute, von denen ich dachte, dass sie tot sind. Ich habe einen Brief von Sue aus der Bibliothek bekommen, den sie nie abgeschickt hat.« Trish nickte. »So etwas ist allen passiert.« »Na ja, aber niemand hat mit mir darüber gesprochen. Kürzlich habe ich Howard angerufen, um mich zu beschweren, aber er schien sehr zerstreut zu sein und hat mir nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Ich bin am selben Nachmittag ins Postamt gegangen, aber da war nur dieser Neue, und der hat mir gesagt, dass Howard krank sei und nach Hause gegangen wäre.« Irene schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nie erlebt, dass Howard Crowell krank ist.« »Ich auch nicht«, bestätigte Trish. »In den letzten paar Tagen bekomme ich dauernd Genesungsgrüße von den Leuten.« Irene seufzte. »Zuerst hielt ich es für einen dummen Scherz, aber es war keiner. Freunde schickten mir Karten und wünschten mir gute Besserung nach meinem Herzinfarkt. Ich habe sie angerufen und ihnen gesagt, dass es mir gut geht - und sie sagten mir ganz erstaunt, dass sie mir gar keine Karten geschickt hätten.« Irene blickte aus dem Fenster. Draußen schwirrte ein Kolibri für einen Augenblick vor einem Geißblattzweig; dann sauste der winzige Vogel davon. »Ich habe beschlossen, es einfach zu ignorieren. Hoffentlich geht das alles bald vorbei.« Trish runzelte die Stirn. Es sah Irene nicht ähnlich, einfach zu »hoffen«, dass etwas vorbeiging. Sie war nie der passive Typ gewesen. »Hast du seitdem mit Howard gesprochen?« »Nein«, sagte Irene. »Und du?« Trish schüttelte den Kopf. Es war für sie nun offensichtlich, dass nicht Howard ihr den gemeinen Brief geschickt hatte, in dem er über sie, Doug und das Abendessen gelästert hatte. Trish beschloss, auf dem Nachhauseweg bei Howard vorbeizuschauen. »Lass uns über etwas anderes reden«, sagte Irene und stand auf. »Wir haben eine ganze Menge nachzuholen.« Das sah Irene gar nicht ähnlich. Trish blickte ihrer Freundin ins Gesicht und sah eine Frau, die sie nicht kannte. Eine Frau, die Angst hatte. Das Warnlicht blinkte jetzt ganz hell und wurde vom Heulen einer Sirene begleitet. »Hast du es jemandem erzählt?«, fragte Trish. »Lass uns über etwas anderes reden«, sagte Irene mit Bestimmtheit. Trish fuhr zweimal um den Block, dann hatte sie genug Mut gefasst, um auf den Parkplatz des Postamts einzubiegen. Der Parkplatz war praktisch verwaist; nur ein Pick-up und ein anderer Wagen standen in den Parklücken neben ihr. Das war für diese Tageszeit zwar ungewöhnlich, doch es war schon vorgekommen. Wirklich merkwürdig war allerdings, dass niemand auf den Bänken vor dem Gebäude saß. Die alten Männer, die normalerweise ihre Zeit vor dem Postamt totschlugen, waren nirgends zu sehen. Trish stieg aus und ging hinein. Hinter dem Schalter stand der Postbote und half einem älteren Mann mit weißem Schnurrbart. Aus so kurzer Entfernung hatte sein grell rotes Haar etwas Bedrohliches. Howard war nirgends zu sehen. Trish versuchte, einen Blick in den Raum hinter den Schalterbereich zu erhaschen, um festzustellen, ob Howard dort arbeitete, doch von ihrem Blickwinkel aus konnte sie nichts sehen. Trish schaute sich in der Halle um. Sie war seit mehreren Wochen nicht hier gewesen, und es hatte sich einiges verändert. Anstelle des Plakats, das gut sichtbar an einer Wand gehangen hatte und um Nachwuchs für den Postdienst warb, hing dort jetzt ein Poster mit dem grimmig dreinschauenden, verschwitzten Kopf eines hässlichen Marines, über dessen Bild mit aggressiven Worten gefordert wurde, dass alle männlichen Jugendlichen sich mit Erreichen des achtzehnten Geburtstages registrieren lassen sollten. Der ganze Charakter des Postamts war anders geworden. Selbst die Plakate mit den Briefmarken an den Wänden hatten sich verändert: Wo früher die neuesten Marken mit Sammlermotiven aus der Tierwelt angeboten wurden, hingen nun drei identische Anzeigen für eine neue Briefmarke, die den Jahrestag der Erfindung der Wasserstoffbombe feierte. Der Raum schien sehr heiß zu sein, beinahe erdrückend. Der Tag war nicht warm oder gar schwül, sondern ungewöhnlich kalt für die Jahreszeit, doch im Innern des Postamts war es wie im Backofen. Der Mann am Schalter war fertig und ging, und Trish bemerkte, dass sie nun die einzige Kundin im Postamt war. Furcht stieg in ihr auf. Auch sie drehte sich rasch um, doch die glatte, professionelle Stimme des Postboten hielt sie zurück. »Mrs. Albin?« Trish drehte sich wieder um. Der Postbote lächelte sie freundlich an. Eine Sekunde lang dachte Trish, dass sie und Doug sich irrten, dass sie beide an Verfolgungswahn litten und dass an dem Postboten gar nichts Ungewöhnliches war. Dann aber sah sie die Härte seines Mundes, die Kälte seines Blicks und erinnerte sich an den Clear Creek, an die Briefe. Und an die nächtliche Postzustellung. Der Postbote lächelte sie weiter an, auch wenn es eher ein süffisantes Grinsen als ein Lächeln war. »Kann ich Ihnen helfen?« Trish war entschlossen, stark und selbstbewusst zu bleiben und ihre Angst nicht zu zeigen. »Ich möchte mit Howard sprechen.« »Es tut mir leid«, antwortete der Postbote. »Howard ist heute krank und zu Hause geblieben. Kann ich irgendetwas für Sie tun?« Seine Worte klangen völlig harmlos, doch die Art, wie er sie sagte, hatte etwas an sich, dass es Trish kalt über den Rücken lief. Sie schüttelte den Kopf und wich langsam vom Schalter zurück, um das Postamt zu verlassen. »Nein, danke, schon gut. Ich komme dann später mal wieder, wenn Howard da ist.« »Das könnte eine Weile dauern«, entgegnete der Postbote. Jetzt hatten sowohl seine Worte als auch sein Verhalten einen bedrohlichen Zug angenommen, obwohl er weiterhin sein künstliches Plastiklächeln zeigte. Trish drehte sich um. Sie wollte gehen. Ihre Haut prickelte vor Kälte trotz der erdrückend warmen Luft. »Sie sind hübsch«, sagte der Postbote, und seine Stimme nahm einen zweideutigen Tonfall an. Trish wirbelte herum. Sie spürte, wie ihr zugleich Wut als auch Angst durch die Adern schossen. »Bleiben Sie mir vom Leib, Sie schleimiger Mistkerl, oder ich sorge dafür, dass Sie so schnell im Knast landen, dass Sie nicht wissen, wo Ihnen der Kopf steht.« Das Lächeln des Postboten wurde breiter. »Billy ist auch hübsch.« Unfähig, etwas zu erwidern, starrte Trish ihn an, und die Worte hallten im Rhythmus ihres wild pochenden Herzens in ihrem Kopf wider: Billy ist auch hübsch, Billy ist auch hübsch, Billy ist auch hübsch ... Die Angst, die sie nun nicht mehr zurückhalten konnte, brach jetzt aus ihr heraus und übernahm die Kontrolle. Am liebsten wollte sie aus dem Gebäude laufen, in ihren Wagen steigen und wegfahren, doch irgendeine innere Kraftreserve eilte zu ihrer Rettung, und sie sagte kalt: »Sie können mich mal. Ich gehe zur Polizei.« Mit langsamen, selbstbewussten Schritten verließ sie das Gebäude und stieg in den Bronco. Aber Trish ging nicht zur Polizei. Und sie war schon ein ganzes Stück vom Highway herunter und hatte fast die erste Kreuzung erreicht, als sie an den Straßenrand fahren und den Wagen anhalten musste, bis sie nicht mehr so sehr zitterte und weiterfahren konnte. 19. Billy saß vor dem Fernseher, als Lane herüberkam. Eigentlich sah Billy gar nicht fern: Das Gerät lief, und Billy blickte auf den Bildschirm, nahm die Bilder aber gar nicht wahr. Er dachte über Lane nach. Seit jenem Tag kürzlich im Fort schien sein Freund sich verändert zu haben, schien ein anderer zu sein. Billy hätte nicht sagen können, was genau es war. Es war keine Veränderung in Lanes Verhalten oder seiner äußeren Erscheinung, nein, die Verwandlung ging tiefer und war beunruhigender als der Riss, den er gespürt hatte, als Lane und er sich über den Brief gestritten hatten. Gestern waren Lane und er zur Ausgrabungsstätte gegangen und hatten geholfen, mehrere sehr gut erhaltene Küchenutensilien auszugraben, und Lane hatte sich genauso verhalten wie immer. Doch in seiner Art lag seit neuestem eine Geheimnistuerei, die Billy schrecklich nervös machte. Lane erinnerte ihn an einen Mann, den er in einem Film gesehen hatte: Der Mann hatte jahrelang kleine Kinder umgebracht, ihre Leichen im Keller begraben und geduldig auf den richtigen Augenblick gewartet, um der Welt stolz seine Taten zu verkünden. Aber das war dumm. Es war unmöglich, dass Lane ein schreckliches Geheimnis verbergen konnte. Trotzdem schien er sich auf eine Weise verändert zu haben, die Billy einfach nicht erklären konnte. Lane erinnerte ihn an den Postboten. Eigentlich lief es genau darauf hinaus. Es gab überhaupt keine Ähnlichkeiten, weder im Handeln noch sonst wie, doch Billys Bauchgefühl hatte die Verbindung hergestellt, und es passte. Billy machte sich nicht bloß Sorgen um seinen Freund - er hatte Angst vor ihm. Als er Lanes vertrautes lautes Klopfen hörte, rief Billy ihn herein. Lane trug alte Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Sein Haar hatte er anders gekämmt als sonst. Er hatte es in der Mitte gescheitelt, und das ließ ihn älter und härter aussehen. »Hi«, grüßte Billy seinen Freund und nickte ihm zu. Lane setzte sich auf die Couch. Er grinste breit - ein Grinsen, das Billy aus irgendeinem Grund unnatürlich erschien -, und er blickte zum hinteren Teil des Hauses. »Ist deine Mom da?« Billy schüttelte den Kopf. »Zu blöd.« Billy versuchte, seine Überraschung nicht zu zeigen. Wann hatte Lane jemals seine Enttäuschung darüber ausgedrückt, dass ein Elternteil nicht da war? An der Schwelle zum Teenageralter, begierig zu zeigen, wie erwachsen sie schon waren, versuchten beide Jungen für gewöhnlich, ihren Eltern so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen. Beide starrten eine Weile schweigend auf den Bildschirm. Schließlich schwang Billy die Füße vom Couchtisch und stand auf. »Also, was willst du machen?« Lane zuckte mit den Schultern, eine Geste, die irgendwie falsch wirkte. »Willst du zur Ausgrabung gehen und sehen, was da los ist?« »Warum gehen wir nicht zum Fort?«, schlug Lane vor. »Da gibt es etwas, das ich dir zeigen will.« Billy stimmte zu, obwohl er sich überhaupt nicht sicher war, dass er sich ansehen wollte, was sein Freund ihm zu zeigen hatte. Er ging hinaus und zur Seite des Hauses, wo sein Vater auf der Veranda saß und las. »Wir gehen jetzt«, verkündete er. Doug blickte von seinem Buch auf. »Wer ist ›wir‹? Und wo wollt ihr hin?« Billy, den dieser Hinweis auf seinen noch nicht unabhängigen Status in Verlegenheit brachte, wurde rot. »Ich und Lane«, sagte er. »Wir gehen zum Fort.« »Okay.« »Bis später, Mister Albin«, sagte Lane. Die beiden Jungen verließen die Veranda. Sie folgten dem Pfad durch den Grüngürtel, und schon bald war das Haus nicht mehr zu sehen. Kleine Zweige und trockene Kiefernnadeln knackten unter ihren Füßen. »Also, was ist es?«, fragte Billy. »Was willst du mir zeigen?« Lane lächelte rätselhaft. »Du wirst schon sehen.« Sie erreichten das Fort, hüpften leichtfüßig auf das Dach und ließen sich durch die Klapptür ins Innere gleiten. Lane schlenderte wie beiläufig in das Hauptquartier, setzte sich, nahm einen Playboy und begann ihn durchzublättern. Billy wurde sauer. Er wusste, dass sein Freund es absichtlich spannend machte. Er wollte, dass Billy ihn bat, ihm zu zeigen, was immer er ihm zeigen wollte. Doch Billy weigerte sich, Lane diese Befriedigung zu gönnen. Lane hatte als Erster genug von dem Spiel. Er legte die Zeitschrift hin und stand auf. »Ich habe einen Brief gekriegt«, sagte er. »Von dieser Frau?« Billy war überrascht. Lance lächelte - ein listiges, wissendes Lächeln, das verschwörerisch aussehen sollte, ohne es zu sein. »Willst du ihn sehen?« Billy wusste, dass er Nein sagen sollte. Der selbstgefällige Ausdruck auf dem Gesicht seines Freundes sah so wenig nach Lane aus, dass er ihm beinahe Angst machte, besonders im schummrigen Licht des Forts. Das Lächeln weckte in Billy ein wachsendes Gefühl der Bedrohung; trotzdem nickte er zustimmend. Grinsend gab Lane ihm den Umschlag. Billy nahm den Brief heraus und entfaltete ihn langsam. Lanes Blicke waren auf ihn gerichtet und nahmen hungrig jede Bewegung auf, musterten sein Gesicht, als wartete er auf eine Reaktion. Billy entfaltete den Brief und spürte, wie sein Magen sich verkrampfte, als wäre er von einem Softball getroffen worden. Auf einem Polaroid-Foto, das an dem Brief befestigt war, saß seine Mutter auf einem Sessel. Sie war völlig nackt und hatte die Beine in die Höhe gestreckt. Ihr Schambereich streckte sich ihm entgegen. Obwohl das Bild unscharf war, konnte er die Falten ihres Geschlechtsteiles und die kleine, runzelige Rosette ihres Afters sehen. Die Handschrift auf dem Brief war nicht die seiner Mutter, aber sein Blick konzentrierte sich dennoch auf einen unterstrichenen Satz in der Mitte der Seite: Ich liebe Schwänze. Billy bekam kaum noch Luft. Seine Lungen schienen nicht mehr richtig zu arbeiten. Er versuchte, Atem zu holen, doch sein Mund war so trocken, dass die eingeatmete Luft sich staubig und rau anfühlte und er sich beinahe übergeben musste. Das Papier in seiner bebenden Hand zitterte raschelnd, und er ließ es auf den Boden fallen. Er blickte zu Lane hoch. Sein Freund grinste breit, und sein Gesicht zeigte einen widerlichen Ausdruck von Selbstgefälligkeit. Und Wollust. Billy sagte nichts, sondern schlug zu. Seine Faust traf Lane mitten ins Gesicht, und der Junge fiel rückwärts zu Boden. Billy trat ihm in die Seite. Seine Augen brannten. Er konnte nicht klar sehen und brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass er weinte. Lane rappelte sich auf. Offensichtlich hatte er Schmerzen. Sein Gesicht war gerötet, seine Nase blutig, aber er grinste irr. »Sie hat gesagt, dass sie es will, und ich hab ihr zurückgeschrieben und gesagt, dass ich es ihr besorge. Ich werde sie so ficken, wie sie es will.« Billy schlug wieder zu, aber diesmal war Lane vorbereitet. Er hämmerte Billy die Faust in den Magen. Billy sackte zusammen, krümmte sich und hielt sich den Leib. Lane kletterte am Seil hinauf und stieg durch die Klapptür. »Das Foto werde ich jedem zeigen«, sagte er. »Vielleicht wollen andere Leute deine Mom ja auch mal ausprobieren.« Billy lag weinend am Boden, während er die Schritte seines Ex-Freundes hörte, der über Zweige und Laub nach Hause lief. 20. Doug hockte auf der Veranda und blickte durch das Teleskop auf die Bäume, die sich den Bergrücken entlangzogen. In dieser Nacht war Vollmond, und er hatte das Teleskop nach draußen gebracht, damit er die Mondkrater betrachten konnte. Sie hatten das Gerät letztes Jahr für Billy zu Weihnachten besorgt, und das Interesse des Jungen für Astronomie hatte seitdem im Rhythmus der Mondphasen zu- und abgenommen. Als Billy das Teleskop das letzte Mal benutzt hatte, war das Bild ein wenig unscharf gewesen, und er hatte Doug gebeten, es sich anzusehen, doch bis jetzt hatte Doug noch keine Gelegenheit gehabt. Er fokussierte das Okular, bis er die einzelnen Äste der Kiefern auf dem Bergrücken erkennen konnte. Billy hatte recht: Das vergrößerte Bild war ein wenig unscharf, aber sie würden die Mondkrater immer noch ziemlich deutlich sehen können. Doug schwenkte das Teleskop, bis er die Ridge Road im Blick hatte. Es war nach sieben, und die Sonne ging unter. Die ungepflasterte Straße, die sich bis zur Spitze des Kliffs hinaufwand, leuchtete orangefarben im verblassenden Licht. Doug wollte das Teleskop gerade auf etwas anderes richten, als er am unteren Rand seines Blickfelds eine Bewegung bemerkte. Ein roter Wagen, der langsam die Straße hinaufkroch. Dougs Herz setzte einen Schlag aus. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Die Ridge Road verlief parallel zum Highway durch den Ort, ehe sie sich zum Bergrücken hochschwang und dort auf einem öden Geländestück endete, das von Felsblöcken übersät war. Der Weg kreuzte die Oak Street gleich neben der Highschool und wurde von vielen Schülern als Liebesnest benutzt. Doch oben auf dem Hügelrücken wohnte niemand. Dort gab es keine Adresse, an die Post zuzustellen wäre. Der Wagen verschwand hinter dem Hügelrücken, und Doug blickte vom Teleskop hoch und stand auf. Selbst mit bloßem Auge konnte er von hier aus die Straße deutlich sehen: ein heller Schlitz, der sich durch die Dämmerung auf den Berg wand. Es würde kein Problem sein, einen Wagen zu erkennen, der hinauf- oder herunterfuhr. Er beobachtete, wartete. Wartete, beobachtete. Die Sonne im Westen sank tiefer. Die Flanke des Bergkammes lag nun im Schatten, sodass Doug Bäume, Fels und Straße nicht mehr auseinanderhalten konnte. Er würde keine Schwierigkeiten haben, den Wagen des Postboten den Berg herunterkommen zu sehen, wenn die Scheinwerfer eingeschaltet waren, doch bei ausgeschalteten Scheinwerfern hatte er keine Chance, das Fahrzeug zu entdecken. Doug hatte allerdings das unbestimmte Gefühl, dass der Postbote noch da oben auf dem Bergrücken war - und auch noch einige Zeit dort bleiben würde. Was machte er da? Doug öffnete rasch die Gittertür und schlüpfte ins Haus, ehe die Insekten, die in der Nähe der Verandaleuchte surrten, ihm folgen konnten. Trish stellte gerade das letzte Geschirr vom Abendessen weg, und Billy war schon nach oben gegangen. »Ich fahre noch mal zum Einkaufszentrum«, verkündete Doug. Trish schloss den Geschirrschrank. »Wozu?« Dougs Stimme zitterte nicht, als er sich spontan eine Erklärung einfallen ließ. »Ich hab einen Wahnsinnsappetit auf Schokoriegel. Willst du auch einen?« Trish schüttelte den Kopf. Ihr Gesichtsausdruck verriet Misstrauen, aber sie sagte nichts. »Aber ich!«, rief Billy von oben. »Okay.« Doug wandte sich wieder Trish zu. »Irgendwas anderes für dich? Einen Granola-Riegel vielleicht?« »Nein.« Sie schwieg einen Augenblick, schien etwas sagen zu wollen, blieb dann aber still. »In einer Viertelstunde bin ich wieder da.« Doug öffnete die Gittertür, ging hinaus und schloss sie hinter sich. Trish folgte ihm bis auf die Veranda. »Sei vorsichtig«, sagte sie leise. Doug drehte sich um und schaute sie an. Sie wusste oder spürte etwas. Er merkte, dass sie sich Sorgen machte. Er wollte mit ihr sprechen, wollte sie wissen lassen, was er vorhatte, doch irgendwie brachte er die Worte nicht über die Lippen. Ohne etwas zu sagen, nickte er und stieg die Stufen hinab zum Bronco. Sobald er außer Sicht- und Hörweite des Hauses war, fuhr er schneller, denn es drängte ihn, den Bergrücken zu erreichen, obwohl er das Gefühl hatte, dass der Postbote nirgendwo anders hingehen würde. Es war merkwürdig. Seines Wissens hatte noch niemand den Postboten dabei beobachtet, wie er einkaufte, tankte, aß oder irgendetwas tat, was nicht zu seinem offiziellen Postdienst gehörte. Doch in einer solch kleinen Stadt war es kaum möglich, ganz für sich zu bleiben. Selbst wenn jemand krankhaft ungesellig war, würden seine Nachbarn doch mitbekommen, wann er kam und ging, welche Gewohnheiten er hatte, und würden mit ihren Freunden darüber reden. Eine kleine Stadt war kein Ort für jemanden, der Anonymität und Ungestörtheit suchte, kein Ort für einen Einsiedler. Aber dem Postboten schien dieses Kunststück zu gelingen. Nun allerdings hatte Doug die Gelegenheit, ihn nach Dienstschluss zu beobachten. Und Doug hatte das Gefühl, dass der Mann etwas anderes tat, als für die Post zu arbeiten. Er bog auf den Highway ein und raste durch den Ort, wobei er vor der Radarfalle neben der Bank kurz die Geschwindigkeit drosselte. Dann bog er in die Oak Street ein und folgte ihr bis zur Ridge Road, wobei seine Hände am Lenkrad immer stärker schwitzten. Hier gab es keine Straßenbeleuchtung, und der Weg war dunkel. Doug bremste weiter ab und kroch bald nur noch, bis er schließlich den höchsten Punkt des Bergrückens erreichte. Er wollte sich nicht verraten, denn er wusste nicht, was er vorfinden würde. Das Gelände auf der Kuppe war flach, und überall ragten Felsblöcke unterschiedlicher Größe aus dem hohen Gras, doch es gab kaum Gebüsch, hinter dem man sich hätte verstecken können. Doug schaltete die Scheinwerfer aus, fuhr an den Straßenrand und stellte den Motor ab, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er hatte Angst, aber er musste jetzt da durch. Er kurbelte das Seitenfenster des Bronco herunter. Im Osten ging langsam der Mond auf und warf lange Schatten über die Hügelkuppe. Die Straße, das wusste Doug, endete knapp zwei Kilometer weiter; wenn der Postbote inzwischen nicht weggefahren war, befand er sich irgendwo zwischen diesen beiden Punkten. Doug blieb noch ein paar Sekunden im Wagen sitzen und nahm seinen Mut zusammen, während er seinen Augen Zeit gab, sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Es wehte eine ganz leichte Brise, ein dünner, kaum wahrnehmbarer Luftzug, der über die Grashalme strich, raschelte und wisperte. Nur ... nur war da außer dem Wispern des Windes noch ein anderes Geräusch. Ein leises, kaum hörbares Murmeln, das von weiter vorn kam und mit der Brise an- und abschwoll. Der Postbote. Doug bekam eine Gänsehaut. Vorsichtig öffnete er die Wagentür, stieg aus und drückte sie fast geräuschlos zu. Er ging los, wobei er sich am Rand der Straße hielt, dankbar, dass er dunkle Kleidung trug. Der Bergrücken war nicht vollkommen flach, sondern stieg unmerklich weiter an, gerade genug, um die Mitte des Rückens vor Blicken zu verbergen, wie Doug nun sah. Das Murmeln wurde ein wenig lauter. Doug ging weiter. Seine Schlüssel und das Kleingeld klimperten in seiner Hosentasche, und er legte die Hand darum, um das Geräusch zu dämpfen. Die Straße machte eine leichte Kurve. Das Gelände wurde jetzt eben. Doug blieb abrupt stehen, während das Herz in seiner Brust heftig pochte. Der Postbote war drei-, vierhundert Meter vor ihm, abseits der Straße mitten im Gelände. Selbst von hier aus konnte Doug den dünnen Körper wie verrückt zwischen den Steinen und Felsblöcken tanzen sehen, hingebungsvoll, mit wild rudernden Armen. Doug wollte nahe genug heran, um besser zu sehen, und er verließ die Straße und bewegte sich geduckt durchs Gras. Überall in seinem Körper war die Angst wie mit Händen zu greifen. Hinter ihm ging der Mond auf, voll und leuchtend, verwandelte den Bergrücken in ein phosphoreszierendes Relief und tauchte die Landschaft in weiches Licht. Leise bewegte Doug sich vorwärts. Das Geräusch wurde lauter. Der Postbote skandierte etwas. Zuerst klang es wie eine Fremdsprache, so merkwürdig und fremdartig waren Rhythmus und Tonfall. Doch als Doug genauer hinhörte, als er sich dem Postboten näherte, erkannte er, dass die Worte des Sprechgesangs Englisch waren. »Weder Regen noch Schnee, Eis oder Hagel ...« Er skandierte das Motto des US Postal Service. Doug spürte ein Kribbeln, als seine Nackenhärchen sich aufrichteten. Er kroch hinter einen großen, unregelmäßig geformten Felsblock und spähte aus dessen Deckung hervor. Der Postbote sprang in die Luft, wirbelte herum, tanzte wild und ausgelassen. Aus dieser kurzen Entfernung konnte Doug erkennen, dass der Mann die vollständige Uniform trug: Hose und Schuhe, Hemd und Mütze. Messingknöpfe glänzten im Mondlicht. Blauschwarz schimmerten seine auf Hochglanz geputzten Schuhe. Dougs Mund war trocken und wie aus Watte; sein Herz hämmerte so laut, dass er sicher war, der Postbote konnte es hören. Doug hatte gewusst, dass der Mann etwas Merkwürdiges, Fremdartiges, Böses an sich hatte. Aber nun wurde ihm klar, dass es viel mehr war als das: Der wahnsinnige Tanz des Postboten war spontan und konnte sehr gut etwas mit Zauberei oder Satanismus zu tun haben - mit etwas, das er nicht verstand und vielleicht nie verstehen würde. Der Postbote verstummte und grinste irre. Seine perfekten Zähne schienen im Mondschein zu leuchten, und er starrte selbstvergessen in den Himmel, während seine Beine sich in unmöglichen Schrittfolgen bewegten und seine Arme jede Bewegung der Füße nachahmten. Dann nahm er den Sprechgesang wieder auf. Das Motto des US Postal Service. Der Postbote hatte nun wenigstens fünf Minuten lang getanzt, unter Einsatz all seiner Kräfte, doch er zeigte keine Zeichen der Ermüdung. Er schien nicht einmal zu schwitzen. Doug hatte keinen Zweifel, dass der Mann bis zur Morgendämmerung so weitermachen konnte. Er zog sich auf demselben Weg zurück, den er gekommen war. Eine Sekunde lang hatte Doug das Gefühl, dass der Postbote ihn direkt ansah und lachte; dann rannte er und eilte durchs Gras und die Straße hinunter zu seinem Bronco. Ohne die Scheinwerfer einzuschalten, wendete er und jagte über die Ridge Road nach Hause. Er hatte Billys Schokoriegel und seine angebliche Fahrt zum Einkaufszentrum völlig vergessen, doch weder Trish noch Billy sagten irgendetwas, als er zurückkam, und er wusste, dass sie wussten, dass er gelogen hatte. In dieser Nacht starrte er in die Dunkelheit, als er im Bett lag, und lauschte Trishs tiefem, gleichmäßigem Atem und den Geräuschen der nächtlichen Natur. Irgendwo in der Nähe zirpte unermüdlich eine Grille, und aus den Bäumen hinter dem Haus kam immer wieder der klagende Schrei einer Eule. Normalerweise hatte Doug keine Schwierigkeiten einzuschlafen. In dieser Nacht aber lag er lange wach, und während er im Bett lag und in die Dunkelheit starrte, vermeinte er, in der leichten Brise den Klang weit entfernten Sprechgesangs zu hören. 21. Hobie wurde durch das Scheppern von Metall geweckt. Sein vom Schlaf umnebeltes Hirn brauchte einen Augenblick, um das Geräusch zu identifizieren. Seine Gedanken waren noch halb in seiner Traumwelt gefangen, ein wunderbarer Ort, wo es einen riesigen Swimmingpool gab, wo er der Bademeister war und wo alle Frauen nackt herumschwammen. Er hatte seine Badehose ausgezogen und wollte sich gerade zu einer hübschen Blonden aufs Badetuch legen, als der Lärm in seinen Schlaf eindrang und ihn in die reale Welt zurückholte. Das Geräusch wiederholte sich, ein metallisches Scheppern, und diesmal erkannte er es: der Deckel des Briefkastens. Hobie runzelte die Stirn und blickte auf den Wecker neben seinem Bett. Himmel, es war drei Uhr morgens. Warum zum Teufel wurde seine Post um drei Uhr morgens gebracht? Hobie schlug die Decke zurück und wollte aufstehen, hielt dann aber inne. Wie war es möglich, dass er das Öffnen und Schließen des Briefkastendeckels gehört hatte? Der Briefkasten befand sich am hinteren Ende des Wohnwagens, und das Geräusch, das er machte, konnte man nur hören, wenn man direkt daneben stand. Und wie hatte das Geräusch ihn wecken können? Er hatte einen tiefen Schlaf und schlief normalerweise die Nacht durch, ohne aufzuwachen. Selbst sein Wecker hatte es schwer, ihn aus seinen Träumen zu holen. Plötzlich wurde ihm kalt, und er stand rasch auf und zog seinen Bademantel an. Irgendetwas Merkwürdiges ging hier vor sich. Wenn der Postbote noch draußen war, würde er diesen seltsamen kleinen Mistkerl fragen ... Woher wusste er, dass es der Postbote war? Die Kälte wurde stärker und kroch seinen Rücken hinauf. Es war bizarr und beängstigend, dass er gewusst hatte, dass der Postbote mitten in der Nacht Briefe zustellte. Warum hatte er nicht an etwas Naheliegendes gedacht? Dass Vandalen sich an seinem Briefkasten zu schaffen machten? Dass Kinder Eier hineinwarfen? Hobie ging ins Wohnzimmer im vorderen Teil des Wohnwagens. Er war kein ängstlicher Typ, aber er musste sich zwingen, weiterzugehen. Am liebsten wäre er wieder ins Bett gegangen und hätte sich die Decke über den Kopf gezogen. Er öffnete die Tür. Die Straße war leer. Mondlicht fiel auf die Kühlerhauben seiner Autos vor dem Wohnwagen. Er griff in den Briefkasten und holte einen Umschlag heraus. Der Umschlag war dick und gepolstert. Hobie schloss die Tür hinter sich und verriegelte sie, schaltete dann die Lampe im Wohnzimmer ein und betrachtete den Umschlag. Es gab keinen Absender, aber der Poststempel war aus Vietnam. Vietnam? Er untersuchte den Poststempel genauer. Er war vom 4. Juni 1968. Am ganzen Körper brach ihm der Schweiß aus. Im Wohnwagen schien es gleichzeitig zu heiß und zu kalt zu sein. Hobie ließ sich schwer auf die Couch sinken und starrte den Umschlag in seiner Hand an, hatte aber nicht den Mut, ihn zu öffnen. Vietnam 1968. Das war nicht möglich. Ein Brief konnte nicht seit über zwanzig Jahren verloren sein und dann gefunden und zugestellt werden. Oder doch? Nervös spielte er mit den Fingern am Umschlag herum. Vielleicht hatte Doug recht. Vielleicht machte der Postbote alles selbst und schickte den Leuten gefälschte Briefe. Warum sonst sollte er sie mitten in der Nacht austragen? Aber warum sollte er so etwas überhaupt tun? Was konnte er dadurch zu gewinnen hoffen? Es war strafbar, sich an der Post zu schaffen zu machen. Wenn man ihn erwischte, würde er ins Gefängnis gehen. Hobie riss den Umschlag auf. Vier Fotos fielen heraus. Wie zuvor waren es Vorher-Nachher-Aufnahmen. Ein orientalisches Mädchen, vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, mit rasiertem Schädel und Schambereich, auf allen vieren in einem dunklen und schmutzigen Raum. Dasselbe Mädchen, die Beine amputiert, den Kopf gegen die Wand gelehnt, das schreiende Gesicht voll unerträglicher Schmerzen und Terror. Ein anderes Mädchen, vielleicht Asiatin, vielleicht weiß, mit ausgestreckten Armen und Beinen an Stöcke gefesselt, die im Dreck steckten, dahinter dunkelgrüner Dschungel. Dasselbe Mädchen, erstochen, die Augen weit aufgerissen und blicklos, der Mund erstarrt in einer Grimasse aus Folter und Schmerz. Hobie spürte, wie sich seine Eingeweide verkrampften. Die Angst in ihm war schier überwältigend. Seine Handflächen schwitzten, seine Hände zitterten, und das Papier zwischen seinen Fingern raschelte laut, doch er zwang sich, den Brief zu lesen. Bruderherz, hier wird es langsam haarig. Wir sind aus den Städten raus und in die Dörfer gegangen. Der verdammte Dschungel ist undurchdringlich, überall verdammtes Grün, soweit man sehen kann. Sogar der Himmel sieht langsam grünlich aus. Wir wissen nicht, wo der Vietkong ist oder wann er angreift. Die Lage ist gespannt. Alles hier macht einen nervös. Wir haben hier mit flatternden Nerven gewartet, dass etwas passiert, so wie man es uns gesagt hat, aber der Sergeant hat beschlossen, dass Angriff die beste Verteidigung ist, und vor ein paar Tagen wurden wir auf eigene Faust losgeschickt. Du kannst ja die Fotos sehen. Ein Typ namens Mac hat sie aufgenommen und entwickelt. Es war ein Vietkong-Dorf. Die Männer waren alle weg, doch ihre Frauen und Töchter waren da, und du kannst dir vorstellen, dass wir Jungs uns mit den Frauen vergnügt haben. Wir konnten sie allerdings nicht einfach zurücklassen. Sie hätten den anderen sagen können, wo wir hingegangen sind, und so haben wir sie zum Schweigen gebracht, nachdem wir mit ihnen fertig waren. Du kannst die Fotos sehen. Ich muss jetzt los. Du kannst es Dad erzählen, aber erzähle es nicht Mom. Ich schreib ihr einen Brief, wenn ich die Gelegenheit finde. Hobie starrte den Brief noch lange an, nachdem er ihn gelesen hatte. Er war von Dan. Daran gab es keinen Zweifel. Selbst nach all den Jahren erkannte er noch die Handschrift seines Bruders. Aber diese Härte, diese Gefühllosigkeit, sah Dan überhaupt nicht ähnlich. Hobie merkte, dass er aus irgendeinem Grund an eine Zeit dachte, als er acht oder neun gewesen war und einer seiner Freunde Salz auf eine Schnecke gestreut und zugesehen hatte, wie sie sich auflöste. Dan war in Tränen ausgebrochen, hatte um die Schnecke und ihre Familie geweint, und sowohl seine Mutter als auch sein Vater mussten ihn trösten. Und jetzt wollte Hobie weinen, aus Trauer um den Verlust seines Bruders und aus Traurigkeit wegen der Veränderung, die in dem Jungen vor seinem Tod vor sich gegangen war, eine Veränderung, die weder er noch seine Eltern je gesehen hatten. Wie wäre Dan gewesen, wäre er aus Vietnam zurückgekommen? Hobie legte den Brief hin und hob die Fotos auf. Sein Blick fiel auf das erstochene Mädchen. Die Angst, die sich einen Augenblick zurückgezogen hatte, kehrte mit voller Wucht zurück, und schnell streckte Hobie die Hand aus und schaltete die Lampe neben der Couch an und betätigte den Dimmer, bis die Lampe die höchste Wattzahl erreicht hatte. Das helle Licht vertrieb erfolgreich alle Schatten aus dem Raum, konnte jedoch nichts gegen die Schatten in Hobies Innerem tun. Er hatte genug. Doug hatte recht. Irgendetwas war hier verrückt. Morgen früh würde er sofort zum Postamt gehen und herausfinden, was es war. Herausfinden, warum er zwanzig Jahre alte Briefe und Fotos bekam und warum sie mitten in der verdammten Nacht ausgetragen wurden. Er würde von Howard verlangen, dass er etwas unternahm, und wenn der alte Mann das nicht wollte ... nun, dann sollte er lieber dafür sorgen, dass seine Versicherungsbeiträge bezahlt waren. Hobie faltete den Brief und steckte ihn zusammen mit den Fotos in den Umschlag zurück. Ein Teil von ihm wollte den Brief zerknüllen, die Fotos zerreißen und alles wegwerfen, doch ein anderer Teil drängte ihn, alles aufzuheben und diese letzte Erinnerung an Dan zu behalten. Hobie legte den Umschlag auf den Couchtisch. Er würde später darüber nachdenken und am Morgen entscheiden, was zu tun war. Hobie wollte gerade aufstehen, das Licht ausschalten und wieder ins Schlafzimmer gehen, als er vor der Tür Schritte hörte. Grelle Angst flammte in ihm auf, und bewegungslos blieb er sitzen. Er hatte sogar Angst zu atmen. Ein leises, metallisches Scheppern verriet ihm, dass der Briefkasten geöffnet und geschlossen worden war. Noch ein Brief. Hobie wusste, dass er aufspringen, nach draußen laufen und den hässlichen, mageren Bastard verprügeln sollte, aber er hatte zu viel Angst, um auch nur erkennen zu lassen, dass er da war. Mit angespannten Muskeln und innerlich zitternd, schloss er die Augen, bis er sich entfernende Schritte und das leiser werdende Geräusch eines Motors hörte. Hobie saß dort bis zur Morgendämmerung, aus Furcht, wieder ins Bett zu gehen, aus Furcht, in den Briefkasten zu sehen, aus Angst, sich zu bewegen. Erst das Klingeln seines Weckers um sechs Uhr zwang ihn, die Couch zu verlassen. 22. Doug saß auf dem Stuhl mit der harten Lehne und sah den Polizeichef wütend an. »Ich habe es gesehen!« »Okay, nehmen wir mal an, dass der Postbote im Dunkeln getanzt hat. Ja und? Das verstößt nicht gegen das Gesetz. Tanzen wird als eine legitime Form des Selbstausdrucks angesehen.« »Spielen Sie keine Spielchen mit mir. In dieser Stadt passieren ein paar verdammt seltsame Dinge, und Sie kommen hier mit diesem lächerlichen Scheiß.« Der Chief betrachtete ihn mit kühlem Blick. »Das Gesetz ist kein ›lächerlicher Scheiß‹, Mister Albin. Mir ist Ihre Meinung in dieser Angelegenheit wohl bewusst, und ich will ehrlich sein und Ihnen sagen, dass wir bei unseren Ermittlungen sämtlichen Hinweisen nachgehen.« Mike Trenton, der neben dem Chief saß, starrte stumm auf den Tisch. »Behandeln Sie mich nicht von oben herab wie ein zweitklassiger Film-Cop. Sie wissen so gut wie ich, dass hier etwas Merkwürdiges im Gange ist.« »Ich sage Ihnen nicht, wie Sie unterrichten sollen, also sagen Sie mir nicht, wie ich meinen Job tun soll.« Der Chief stand auf. »Ich würde es sehr schätzen, wenn Sie sich aus polizeilichen Angelegenheiten heraushielten. Wir sind absolut in der Lage, die Dinge ...« »Absolut in der Lage?« »Das war's dann, Mister Albin.« Der Chief legte die Hände auf den Tisch und beugte sich vor. »Ich habe genug Zeit damit verschwendet, mit Ihnen zu reden und mir Ihre Theorien anzuhören. Bitte belästigen Sie diese Polizeiwache nicht noch einmal, oder Sie werden sich wegen Behinderung der Justiz verantworten müssen. Habe ich mich klar ausgedrückt?« Doug sah zu Mike hinüber, aber der junge Cop starrte immer noch auf den Tisch und wich seinem Blick aus. »Perfekt«, sagte Doug. Doug verbrachte den Rest des Tages so, wie er den ganzen Sommer verbringen wollte: Er saß auf der Veranda und las. Aber so sehr er sich auch bemühte, er konnte sich nicht entspannen und seine Freizeit genießen. Er wusste, dass er die Sache auf dem Polizeirevier gewaltig in den Sand gesetzt hatte, und das Wissen, dass er die Position des Postboten in den Augen der Polizei gestärkt haben konnte, machte ihm zu schaffen. Er hätte es besser wissen müssen. Er hätte vorsichtiger sein müssen, hätte wenigstens den Anschein von Ruhe und Vernunft wahren müssen. Stattdessen hatte er herumgemeckert wie ein Fanatiker. Er legte sein Buch hin und starrte zu den Bäumen hinüber. War es möglich, dass er in die Ereignisse irgendwelche Bedeutungen hineinlas, die gar nicht existierten? Dass er unter irgendeiner Art von zwanghafter Einbildung litt? Nein. Er hatte den Beweis mit eigenen Augen gesehen. Ein Bluebird flitzte auf der Suche nach Nahrung von Baum zu Baum, und Doug beobachtete ihn gleichgültig. Er wusste, dass viele seiner Lehrerkollegen in ihrer eigenen kleinen, akademischen Welt lebten, völlig isoliert vom Leben um sie herum. Er konnte das nicht. Es wäre schön, wenn er es könnte, aber Gott sei Dank - oder leider - lebte er in der realen Welt. Er war betroffen von der Politik, von der Wirtschaft, vom Wetter. Vom Postboten. Eines hatte er in den letzten zwei Wochen gelernt: Wie sehr er von der Post betroffen war, wie sehr sie in alle Bereiche seines Lebens eindrang. »Doug!« Er blickte auf. Trish stand im Türrahmen und hielt die Gittertür auf. »Möchtest du auf der Veranda zu Mittag essen oder drinnen?« Unentschlossen zuckte er mit den Schultern und nahm das Buch von seinem Schoß. Im nächsten Augenblick spürte er Trishs Hand auf seinem Arm. »Warum fahren wir nicht für einen Tag nach Sedona und lassen das alles mal hinter uns? Wir lassen uns viel zu sehr davon beeinflussen.« Er nickte langsam. »Du hast recht.« »Es würde uns guttun, mal wegzufahren.« »Ja. Wir können den Oak Creek Canyon bis nach Flagstaff hinauffahren. Da gibt es ein richtiges Postamt. Vielleicht kann ich da mit ...« »Nein«, sagte Trish mit Bestimmtheit. »Gerade davon sollten wir wegkommen. Von all diesen Verrücktheiten. Es scheint, als ob das einzige Thema, an das wir noch denken oder worüber wir noch reden, die Post ist. Wir fahren mit Billy nach Sedona und machen einen schönen Tagesausflug, so wie früher. Wir gehen schön essen und ein bisschen shoppen. Wir sind typische Touristen. Wie hört sich das an?« »Hört sich gut an«, gab er zu. »Dann willst du es versuchen?« Doug nickte. »Also, willst du jetzt drinnen oder auf der Veranda essen?« »Auf der Veranda.« Trish ging zur offenen Tür zurück. »Das Essen ist unterwegs.« Sie fuhren früh am nächsten Morgen los und hielten zunächst bei der Bäckerei an, um Donuts, Kaffee und Schokoladenmilch zu kaufen. Trish hatte recht, dachte Doug, während er aus der Stadt fuhr. Vielleicht brauchten sie ein bisschen Erholung, mussten einmal raus aus der Mühle, um wieder klar zu werden. Während er mit der zugelassenen Höchstgeschwindigkeit dahinrollte, flitzten die Bäume an ihm vorbei. Schon fühlte Doug sich leichter, glücklicher, entspannter als in den Wochen zuvor. Es war, als hätte er den Mantel der Verantwortung, den er sich selbst umgelegt hatte, an der Stadtgrenze zurückgelassen. Obwohl er wusste, dass diese Verantwortung wieder auf ihn wartete, wenn er zurückkam, war er dankbar, sie wenigstens eine Zeitlang los zu sein, und er war entschlossen, den Tag zu genießen. Je weiter sie nach Norden fuhren, umso dichter wurde der Wald. Der schmale Highway wand sich zwischen Felsen und durch Schluchten und folgte dabei den Konturen der Landschaft. Sträucher und Baumschösslinge wuchsen im Schatten riesiger Ponderosa-Kiefern. Niedriges Gebüsch bedeckte jeden freien Flecken. Hier und da konnten sie die kargen, laublosen Skelette vom Blitz getroffener Bäume sehen, nackte Äste, die in schroffem Kontrast zum üppigen Laub der Umgebung standen. Einmal, an einem kleinen Teich, sahen sie einen Hirsch, der vor Schreck erstarrte, als er ihren Wagen sah. Dann ging der Wald allmählich in Wüste über, und nach einer weiteren Stunde traf die Straße auf den Black Canyon Highway. »Burger King«, sagte Billy, als sie an einem Schild vorbeikamen, auf dem stand, dass es noch fünfundsechzig Kilometer bis Sedona waren. Das war das Höchste an Interesse, was Billy den ganzen Tag über an irgendetwas gezeigt hatte, und Doug wollte schon sein Okay geben, doch Trish sagte entschlossen: »Nein, wir essen in Tlaquepaque.« »Och, nicht schon wieder«, stöhnte Billy. »Da sind wir über ein Jahr lang nicht gewesen«, erwiderte seine Mutter. »Nicht lange genug.« »Hör auf damit, Billy.« Danach waren sie alle still und lauschten dem Surren der Reifen und den Klängen der Countrymusik der Radiostation in Flagstaff. Fünfzehn Minuten, nachdem sie an der Abfahrt zu Montezuma's Castle, der über sechshundert Jahre alten Klippensiedlung der Sinagua-Indianer, vorbeigekommen waren, verließ Doug den Black Canyon Highway und folgte der zweispurigen Straße, die nach Sedona führte. Von den drei Anfahrten zur Stadt war diese die spektakulärste. Es gab keinen allmählichen Wechsel in den Farben der Felsen wie auf der Anfahrt von Camp Verde, und es gab keine den Blick verstellende Bäume wie längs der Straße durch den Oak Creek Canyon. Das Land hier war wie maßgeschneidert für Westernfilme: großartige, freie Flächen, die von dramatischen Felsformationen aus rotem Sandstein durchbrochen wurden. Die Farben waren lebhaft: blauer Himmel, weiße Wolken, grüne Bäume, rote Felsen - scharfe Kontraste, die keine Kamera einfangen konnte. Sie fuhren am Bell Rock und Frank Lloyd Wrights Heiligkreuz-Kirche vorbei, während die Straße sich immer dichter an den Creek und die Felsen schmiegte und die ersten Läden und kleinen Feriendomizile auftauchten. Sie gingen direkt zum Tlaquepaque Arts & Crafts Village, einem Gebäudekomplex im spanischen Stil mit Galerien, Läden und Boutiquen, der an einer bewaldeten Stelle am Ufer des Oak Creek lag. Sie schlenderten durch die Läden und ließen sich Zeit. Billy wurde es bald langweilig, und er lief voraus. Er schaute in die gekachelten Brunnen, die sich in jedem Innenhof befanden, und zählte die Münzen im Wasser, während er heimlich die Schaufensterpuppen in Badeanzügen in den Vitrinen der Läden musterte. Trish verliebte sich in einen Druck von Dan Namingha, den sie in einer der Galerien entdeckt hatte, und während sie und Billy weitergingen, kehrte Doug unter dem Vorwand zurück, zur Toilette zu gehen, kaufte den Druck und versteckte ihn unter einer Decke hinten im Wagen. Wie Trish es versprochen hatte, aßen sie im offenen Patio des kleinen mexikanischen Restaurants zu Mittag und lauschten dabei dem Murmeln des Bachs. Ihr Blick wurde durch die Bäume und die Wände des Hofes begrenzt, aber sie konnten immer noch Hügel aus rotem Sandstein sehen, deren Farbe durch den Kontrast mit dem grünen Laub noch leuchtender wirkte. Es war ein entspannendes Mittagessen; für eine Weile konnte Doug beinahe die Post vergessen und alles, was in letzter Zeit in Willis passiert war. Dann kam ein Kurier in blauer Uniform vorbei, die braune Tasche um die Schulter gehängt, und übergab dem Mädchen hinter der Kasse einen Stapel Umschläge. Der Postbote lächelte das Mädchen an, ganz normal und freundlich, doch für Doug war die Stimmung verdorben, und als er sein Chili Relleno aß, beobachtete er, wie der Postbote seine Runde durch alle Läden machte. Die Heimfahrt war ereignislos. Billy schlief auf dem Rücksitz, während Doug und Trish die vorbeiziehende Landschaft betrachteten und einer alten Kassette mit Musik von Emerson, Lake & Palmer lauschten. Kurz nach vier Uhr passierten sie das grüne Schild, das die Stadtgrenze von Willis markierte. Doug fuhr an Henrys Autowerkstatt und dem Maklerbüro Ponderosa Realty Office vorbei, doch gleich hinter der Texaco-Tankstelle wurde die Straße von zwei Streifenwagen mit flackerndem Blaulicht versperrt. Neben jedem Wagen stand ein einzelner Polizist, zusammen mit einer Gruppe von Autofahrern, denen es nicht erlaubt worden war, an der Sperre vorbeizufahren. In der Nähe lief eine Reihe von Anwohnern herum. Am Rand der Menschenmenge entdeckte Doug die braune Uniform eines Mitarbeiters des Sheriffs. Er hielt hinter einem verbeulten Jeep und sagte zu Trish und Billy, dass sie im Wagen warten sollten, während er ausstieg, um nachzuforschen, was los war. Als er sich der improvisierten Barrikade näherte, bemerkte er, dass einer der Polizisten Mike Trenton war. Rasch ging er zu dem jungen Cop hinüber. »Mike, was ist passiert?« »Bitte bleiben Sie zurück, Mr. Albin. Wir können Sie nicht durchlassen.« »Aber was ist denn passiert?« »Ben Stockley ist durchgedreht. Vor ungefähr einer Stunde hat er eine Pistole genommen, ist in die Bank gegangen und hat um sich geschossen.« »Mein Gott.« Doug atmete schwer. »Wurde jemand verletzt?« Das Gesicht des Officers war blass und angespannt. »Vierzehn Personen sind tot, Mr. Albin.« 23. Die Morde machten im ganzen Land Schlagzeilen. Alle drei Fernsehsender aus Phoenix schickten Übertragungswagen und Reporter nach Willis, und ihre Berichte wurden von den landesweiten Nachrichtensendungen am Abend übernommen. Channel 12 schien die beste Berichterstattung zu haben, und bevor Doug zu Bett ging, sah er sich noch einmal an, wie das Teleobjektiv des Kameramanns den weißen Mündungsblitz von Stockleys Waffe hinter dem Rauchglasfenster der Bank einfing, genau in dem Augenblick, in dem der Herausgeber sich selbst tötete. Der Selbstmord hatte live während der Fünf-Uhr-Nachrichten stattgefunden, und sogar dem Reporter hatte es die Stimme verschlagen, als der Schuss mit grimmiger Endgültigkeit widerhallte. Doug hatte sofort gewusst, dass Stockley tot war. Nun beobachtete er mit immer verschwommenerem Blick, wie die verbliebenen Geiseln aus dem Gebäude liefen und die Polizei hineinstürmte. Als die Werbung kam, weinte er hemmungslos. Er und Stockley waren nicht gerade Freunde gewesen, aber sie waren mehr als nur Bekannte, und Stockleys Tod hatte Doug tief getroffen. Er hatte den Herausgeber respektiert. Und er hatte ihn gemocht. Es war merkwürdig, dies alles im Fernsehen zu beobachten - Orte, die er kannte, Menschen, die er kannte - und in solch distanzierter und unpersönlicher Form zu sehen. Es deprimierte ihn zutiefst. Doug schaltete den Fernseher aus und ging durch den Flur zum Schlafzimmer, wo Trish bereits leise schnarchte. In einem Update, in dem gezeigt wurde, wie Stockleys zugedeckter Leichnam über den Parkplatz der Bank zu einem Rettungswagen gerollt wurde, sagte der Nachrichtensprecher, dass im Schreibtisch des Herausgebers eine Reihe von Briefen gefunden worden sei, von denen die Polizei annahm, dass sie ihnen Hinweise geben würden, weshalb Stockley Amok gelaufen war. Die Verbindung war so verdammt offensichtlich, dass sogar dieser Trottel von Polizeichef sie sehen musste. Aber nein, er erinnerte sich an Nachrichtensendungen über ähnliche Ereignisse, in denen Freunde und Nachbarn ausnahmslos wiederholten, dass sie nicht glauben konnten, dass die freundliche, normale Person, die sie kannten, solch schreckliche Taten vollbracht haben konnte. Der Mann, der plötzlich durchdrehte und unschuldige Passanten ermordete, wurde allmählich ein vertrauter Bestandteil der Abendnachrichten; es war nichts wirklich Ungewöhnliches mehr. Natürlich. Doug war selbst einer von diesen Menschen, die sich nicht vorstellen konnten, wie Stockley so etwas Schreckliches hatte tun können. Er hatte keinen Zweifel, dass der Postbote dahintersteckte, aber so sehr er sich auch bemühte, er konnte sich nichts vorstellen, was in einem verdammten Brief stehen und einen offensichtlich geistig gesunden Mann dazu bringen konnte, Unschuldige umzubringen. So sehr es ihm widerstrebte, es zuzugeben, so sehr ihn der Gedanke schmerzte: Mit Stockley musste schon vorher etwas nicht gestimmt haben - irgendeine Schwachstelle, die der Postbote kannte. Für Doug machte das die Sache nur noch Furcht erregender. Denn so, wie man sagte, dass jeder seinen Preis hatte, so hatte wahrscheinlich auch jeder einen Punkt, an dem er zusammenbrach. Vielleicht hatte er sich geirrt. Vielleicht hatte der Postbote Bob Ronda und Bernie Rogers gar nicht umgebracht. Vielleicht hatten sie sich wirklich selbst getötet, weil der Postbote genau gewusst hatte, was er tun musste, um sie so weit zu bringen und in den Abgrund zu treiben. Vielleicht wusste der Postbote bei jedem von ihnen, wo dieser Punkt war, bei allen Leuten in Willis. Auch bei ihm, Doug. Bei Trish. Bei Billy. Es war weit nach Mitternacht, als Doug endlich einschlief, und seine Träume waren voller weißer Gesichter und roter Haare und Briefumschläge. Der nächste Tag war heißer als üblich, der Himmel klar und ohne die Spur einer Wolke, die der Erde zeitweiligen Schatten gegen die höllisch sengende Sonne bieten konnte. Hobie kam kurz vor dem Mittagessen hereingeschneit. Er trug seine Bademeister-Kleidung, obwohl es Mittwoch und das Schwimmbad wegen Reinigungsarbeiten geschlossen war. Er kam auf die Veranda und nahm dankend den Eistee, den Doug ihm anbot. Hobie schien zerstreut und unruhig zu sein und konnte sich nicht konzentrieren. Doug sprach mit ihm über die Morde, doch obwohl sein Freund an den richtigen Stellen nickte und gelegentlich einen Kommentar abgab, schien er nicht wirklich zuzuhören. Offenbar ging das Gespräch bei Hobie zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Doug, der ihm gegenübersaß, bemerkte Essensflecken auf der schwarzen Badehose. Und auf die kurze Entfernung sah er, dass das T-Shirt seines Freundes zerknittert und nicht so weiß war, wie es hätte sein sollen, als hätte Hobie es seit Tagen getragen und würde sogar darin schlafen. Selbst Trish musste etwas an Hobie aufgefallen sein, denn sie war ihm gegenüber nicht so feindselig wie sonst. Als die drei auf der Veranda italienische Sandwiches aßen, schien Trish tatsächlich Sympathie für Hobie zu empfinden, und versuchte, ihn in die Unterhaltung einzubeziehen. Zum ersten Mal an diesem Tag entspannte Hobie sich ein wenig, auch wenn er keineswegs so gesprächig und dominant war wie sonst. Nach dem Essen kehrte Trish ins Haus zurück, während die beiden Männer auf der Veranda blieben. »Was ist eigentlich aus deinen Büchern geworden? Hast du jemals ein offizielles Nein von der Schulbehörde gekriegt?«, fragte Hobie. Doug nickte. »Ich habe ihnen allerdings einen Brief geschickt und mich beschwert.« »Und was haben sie gesagt?« »Nichts.« Doug lächelte gequält. »Ich wette, ihre Antwort ist in der Post verloren gegangen.« »Willard Young. Der ist doch nichts anderes als ein Schwanz mit Füßen.« »Falsche Körperseite. Ich würde ihn ein Arschloch nennen.« »Das auch.« Einen Augenblick lang schwiegen sie. Von drinnen war das gedämpfte Klirren von Porzellan zu hören, als Trish das Geschirr spülte. »In dieser Stadt geht irgendwas vor sich«, sagte Hobie schließlich. Seine Stimme war leise und ernst, das völlige Gegenteil seiner üblichen lauten Polterei, und Doug wurde bewusst, dass er zum ersten Mal einen Unterton von Angst bei seinem Freund hörte. Das Gefühl muss ansteckend sein, dachte er, denn plötzlich spürte auch Doug das kühle Prickeln von Gänsehaut auf seinen Armen und im Nacken. »Was ist los?«, fragte er. »Du weißt verdammt gut, was los ist.« Hobie blickte ihn an. »Der Postbote.« Doug lehnte sich im Stuhl zurück. »Ich wollte nur hören, dass du es sagst.« Hobie leckte sich über die Lippen und fuhr sich mit der Hand durch sein ohnehin zerzaustes Haar. »Ich habe Briefe von meinem Bruder bekommen«, sagte er. »Du hast mir nie erzählt, dass du einen Bruder hast.« »Er ist in Vietnam gefallen.« Hobie holte tief Luft, und als er weitersprach, war seine Stimme voller Bitterkeit. »Er war erst neunzehn Jahre alt. Dafür wird Richard Nixon in der Hölle schmoren. Da wird er Lyndon B. Johnson treffen, der schon da ist.« Er blickte Doug an. »Die Sache ist die ... Es sind Briefe, die Dan geschrieben hat, als er drüben war. In Vietnam. Es sind Briefe, die wir nie bekommen haben, die irgendwie verloren gegangen sind.« Doug wusste nicht, was er sagen sollte. Er räusperte sich. »Vielleicht sind die Briefe nicht echt«, sagte er. »Wir haben öfters gefälschte Briefe bekommen, die angeblich von unseren Freunden kamen, die der Postbote aber selbst geschrieben hat. Ich weiß nicht, wie er das macht oder warum, aber ...« »Die Briefe sind echt. Sie sind von Dan.« Hobie starrte schweigend zu den Bäumen hinüber, als ob er etwas beobachtete. Doug folgte dem Blick seines Freundes, konnte aber nichts entdecken. Als er Hobie wieder anschaute, sah er Tränen in dessen Augen. »Ich weiß nicht, wo der Postbote diese Briefe gefunden hat, aber sie tragen Dans Handschrift, und es stehen Dinge darin, die nur Dan wissen konnte. Die Sache ist nur ... Ich meine, ich bin kein religiöser Mensch, weißt du. Aber ich frage mich immer wieder, ob diese Briefe nicht verloren gehen sollten, ob wir sie nicht bekommen sollten, weil ...« Er schüttelte den Kopf und wischte sich die Augen. »Ich erfahre Dinge über meinen Bruder, die ich gar nicht wissen will. Er war ein völlig anderer Mensch, als meine Eltern und ich gedacht haben. Vielleicht hat er sich in Vietnam verändert, oder ...« Er blickte Doug an. »Weißt du, ich wünschte, ich hätte diese Briefe nie gesehen, aber jetzt, nachdem ich sie bekommen habe, muss ich sie immer wieder lesen. Kannst du das begreifen?« Doug nickte. »Wie viele hast du bekommen?« »Ich kriege einen pro Tag.« Hobie versuchte ein halbherziges Lächeln. »Oder einen pro Nacht. Sie kommen nachts.« Die beiden Männer schwiegen eine Weile. »Der Postbote ist für Stockleys Tod verantwortlich«, sagte Doug ruhig. »Ich weiß nicht, was er gemacht hat, und warum und wie er es getan hat, aber er hat es getan. Er hat Stockley zu den Morden getrieben. Irgendwie hat er ihn dazu gebracht, dass er in die Bank geht und um sich schießt. Es klingt verrückt, ich weiß. Aber es ist wahr.« Hobie sagte nichts. »Ich bin mir nicht sicher, ob Bernie Rogers sich selbst umgebracht hat, aber ich weiß bestimmt, dass er dazu getrieben wurde, falls er es getan hat. Dasselbe gilt für Ronda.« Er streckte den Arm aus und legte Hobie die Hand auf die Schulter. Die Geste war ungewöhnlich. In all den Jahren, die er Hobie kannte, war es das erste Mal, dass er seinen Freund berührte. »Ich mache mir Sorgen um dich«, sagte er. »Ich möchte, dass du auf dich aufpasst. Ich weiß nicht, was hier vor sich geht, aber es sieht so aus, als hätte der Postbote dich aus irgendeinem Grunde ausgeguckt und dass ...« »Dass was? Dass ich der Nächste sein werde?« Hobie schnaubte verächtlich, und für einen Augenblick schien er wieder der Alte zu sein. »Du glaubst wirklich, ich könnte mich umbringen? Da bist du schiefgewickelt.« Doug lächelte. »Ich bin froh, dass du das sagst.« »Ich gebe zu, diese Sache hat mich ein bisschen mitgenommen, aber ich bin nicht bereit, mich von irgendwelchen bescheuerten Briefen in den Wahnsinn treiben zu lassen.« »Okay.« »Aber wir müssen etwas gegen diesen Mistkerl unternehmen.« Hobies Stimme klang ernst und eindringlich. Er schaute Doug fest in die Augen - und was Doug dort sah, als er den Blick erwiderte, machte ihm Angst. Rasch sah er weg. »Du bist auf meiner Seite, oder? Ich meine, du bist der Erste, der etwas über ihn herausgefunden hat.« »Ja«, sagte Doug. »Aber ...« »Aber was?« »Mach bloß keine Dummheiten, okay? Wir werden ihn kriegen, aber tu nichts Gefährliches. Sei vorsichtig.« Hobie stand auf. »Ich muss jetzt weg. Ich muss wieder zum Schwimmbad.« »Das Schwimmbad ist heute geschlossen«, erinnerte Doug ihn freundlich. »Ja«, sagte Hobie. Geistesabwesend schüttelte er den Kopf, als er über die Veranda ging und die Stufen hinunterstieg. »In letzter Zeit vergesse ich dauernd etwas.« »Pass auf dich auf«, sagte Doug noch einmal, als sein Freund in seinen Wagen stieg. Trish kam auf die Veranda, stellte sich neben Doug und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. Sie winkten beide, als Hobie zurücksetzte und auf die Straße einbog. Hobie winkte nicht zurück. 24. Doug und Trish gingen gemeinsam zum Briefkasten. Es war merkwürdig, wie ein derart harmloses, unbelebtes Objekt aus verzinktem Blech innerhalb so kurzer Zeit einen solch bösartigen, bedrohlichen Charakter annehmen konnte. Sie gingen langsam über den knirschenden Kies, ernst und beklommen, als näherten sie sich einem Galgen oder einer Guillotine. Sie sagten nichts, hatten beinahe Angst, etwas zu sagen. Der Morgenhimmel war bedeckt, ungewöhnlich für Ende Juni, und Doug fragte sich, ob der Regen dieses Jahr vielleicht früher kommen würde. Irgendwie beunruhigte ihn dieser Gedanke. Es war durchaus schon vorgekommen, ja nicht einmal ungewöhnlich, aber dass all die fremdartigen Ereignisse vielleicht sogar mit einer Veränderung des Wetters einhergingen, verlieh der ganzen Situation eine größere, kosmische Qualität. Normalerweise hätte Doug diesen Gedanken als verrückt abgetan, aber dies waren keine normalen Zeiten. Sowohl Trish als auch Billy waren in den letzten Tagen sehr verschlossen und wenig mitteilsam gewesen, Billy sogar ausgesprochen missmutig. Doug vermutete, dass die Jungen etwas gesehen hatten, auch wenn keiner von beiden es zugeben würde. Das war Furcht erregend, fand Doug. Sie hatten als Familie immer alles miteinander geteilt, aber jetzt drifteten sie auseinander, wurden den anderen gegenüber zurückhaltender und verschlossener. Und er wusste nicht, was er dagegen tun sollte. Sie erreichten den Briefkasten. Doug öffnete ihn, und Trish nahm die Umschläge heraus. Es waren zwei Briefe, einer für jeden. Trish blickte Doug fragend an und reichte ihm seinen Umschlag. Doug riss ihn auf. Der Umschlag war leer. Trishs Gesicht war angespannt, als sie ihren Umschlag öffnete. Bei ihr war ein Brief darin, und sie nahm ihn heraus und faltete ihn auseinander. Mit ausdruckslosem Gesicht überflog sie die Zeilen und blickte dann zu ihm auf. »Wer ist Michelle?«, fragte sie. Doug war verwirrt. »Michelle?« Sie gab ihm den Brief, und er las ihn. Nachdem er auf der Hälfte der Seite war, wusste er, um welche Michelle es ging. Michelle Brunner, eine alte Freundin vom College; die einzige Frau außer Trish, mit der er jemals etwas gehabt hatte, das man zu Recht als sexuelle Beziehung bezeichnen konnte. Als er weiterlas, wurde seine Miene düster. Der Brief erweckte den Anschein, als hätten er und Michelle jahrelang eine heiße Affäre gehabt und würden sich noch heute heimlich treffen, wann immer sie konnten. Dabei hatte Doug sie in Wirklichkeit seit seinem ersten Jahr im College nicht mehr gesehen - zwei Semester, bevor er Trish kennen gelernt hatte. »Der Brief ist gefälscht«, sagte er und faltete ihn zusammen. »Wer ist Michelle?« »Michelle Brunner. Ich habe dir von ihr erzählt. Die Verrückte, du erinnerst dich?« »Die Schlampe?« Doug lächelte matt. »Ja, die.« »Die schreibt dir immer noch?« »Du weißt, wer das geschrieben hat«, entgegnete er, und sein Lächeln verschwand. »Michelle war es bestimmt nicht.« Trish nickte müde. »Was sollen wir tun? Es wird immer schlimmer.« »Wir müssen der Sache unbedingt einen Riegel vorschieben. Nach dem Frühstück rede ich mit Howard. Wenn ich ihn nicht dazu bringen kann, etwas zu unternehmen, rufe ich das Hauptpostamt in Phoenix an. Ich weiß gar nicht, warum ich das nicht schon gemacht habe. Ich hätte als Erstes da anrufen sollen. Ich hätte denen die Briefe schicken sollen, die wir am Clear Creek gefunden haben ...« »Sie wären da nie angekommen.« »Da hast du allerdings recht.« »Und wie willst du denen alles erzählen? Glaubst du, sie glauben dir? Sie werden dich für einen Spinner halten.« »Ich werde denen nicht alles erzählen. Aber ich werde ihnen von der Postverteilung berichten. Vielleicht versetzen die den Postboten dann.« »Und wenn er nicht gehen will?« Die Frage blieb unbeantwortet zwischen ihnen stehen. »Komm«, sagte Doug. »Lass uns frühstücken.« Die Schlange vor dem Postamt war lang, die Kundschaft wütend. Doug überquerte langsam den Parkplatz. Die Leute in der Schlange sahen anders aus als gewöhnlich. Schäbiger, ungepflegter. Sie trugen nicht die gute Kleidung, die sie normalerweise anzogen, wenn sie in die Stadt gingen, sondern ältere, abgetragene Sachen - fleckige Maler-Overalls, Arbeitskleidung, löchrige Unterhemden. Auf den Armen und Gesichtern einiger Männer war Schmierfett, und nur wenige Frauen hatten sich die Mühe gemacht, ihr Haar zu kämmen oder auch nur die Lockenwickler herauszudrehen. Eine alte Frau trug einen Bademantel und Hausschuhe. Selbst von hier konnte Doug den bedrohlichen Unterton aus dem Gemurmel der Menge heraushören. Die Leute in der Schlange plauderten nicht über Sport, das Wetter oder den neuesten Klatsch im Ort. Sie teilten auch keine Beschwerden oder Probleme miteinander. Sie machten ihrem Zorn Luft, indem sie immer wieder dieselben Ereignisse erzählten, was ihre Wut weiter anheizte. Sie sprachen von gekündigten Versicherungen, von angedrohten Prozessen wegen unbezahlter Rechnungen, von Problemen, die durch die Post verursacht worden waren. Anstatt sich vor dem Postamt in die Schlange zu stellen, ging Doug durch die zweite der Doppeltüren ins Gebäude. Er blickte sich um. Es hatte sich einiges verändert, seit er zuletzt hier gewesen war. Alles erschien ihm dunkler, schmutziger. Die Vorhänge vor den Fenstern waren zugezogen, und eine der Leuchtstoffröhren war durchgebrannt. Der Verdunstungskühler war wieder abgeschaltet; der Raum war wie eine Sauna, in der sich die schwüle Luft vor dem Gewitter mit dem säuerlichen Geruch von Schweiß und Atemluft mischte. Doug fiel auf, dass an den Wänden andere Plakate hingen. Das Briefmarkenposter mit dem »Love«-Motiv, das seit ewigen Zeiten über dem Tisch mit den Formularen gehangen hatte, war durch ein Poster für eine neue Fünfzig-Cent-Gedenkmarke mit einem makabren Motiv verdrängt worden. Das Plakat, weiß vor schwarzem Hintergrund, zeigte eine große Guillotine, deren Metallschneide glänzte, während sich Horden von boshaft aussehenden Gestalten um sie drängten. An der Seitenwand, an der Howard traditionell Anzeigen für neu erscheinende Briefmarken mit Berühmtheiten aufgehängt hatte, hing ein großes Poster mit einer Hitler-Briefmarke; daneben eine Sondermarke mit dem wahnsinnigen Gesicht von Charles Manson. Hinter dem Schalter stand der Postbote. Sein rotes Haar leuchtete im halbdunklen Raum. Dougs Nackenhaare stellten sich auf, doch er weigerte sich, dem Postboten seine Angst zu zeigen. Er ging bis zum Schalter vor. »Ich möchte mit Howard sprechen«, sagte er so bestimmt, wie er konnte. Der Postbote sah ihn kalt an. »Ich bediene gerade jemand anderen. Warten Sie bitte, bis Sie an der Reihe sind ...« »Sagen Sie mir einfach, ob Howard da ist oder nicht.« »Sie müssen warten, bis Sie dran sind.« »Ja«, riefen mehrere Leute in der Schlange. »Er ist nicht da«, sagte ein Mann in der Schlange. »Ich habe gehört, wie Mr. Smith zu jemandem gesagt hat, dass Howard nicht da ist.« Doug drehte sich um und schaute den Sprecher an. Es war ein Mann, den er nicht kannte, ein kleiner, schüchtern wirkender Bursche, der zwischen einer mürrischen Frau und einem Teenager mit ausdruckslosem Gesicht eingezwängt war. Der Mann war es offensichtlich nicht gewohnt, laut seine Meinung zu äußern, denn er hatte die verschüchterte Miene der ständig Ängstlichen, doch nun lag in seinem Gesicht Entschlossenheit, und er blickte Doug beinahe mit Heldenmut an. Der Mann war ein Verbündeter im Kampf gegen die Tyrannei des Postboten. »Ich danke Ihnen«, sagte Doug. Der kleine Mann grinste. »Kein Problem.« Der Postbote bediente wieder den Kunden in der Schlange und tat so, als wäre nichts geschehen. Doug verließ das Gebäude durch dieselbe Tür, durch die er gekommen war. Er überquerte den kleinen Parkplatz und nahm die Autoschlüssel aus der Tasche. Er würde zu Howard fahren und mit ihm sprechen. Für Doug war nun offensichtlich, dass der Postchef Angst vor seinem Untergebenen hatte, wie alle anderen auch. Aber vielleicht konnte Doug ihn dennoch überreden, etwas zu unternehmen. Es musste etwas getan werden. Doug öffnete die Wagentür und stieg ein. Von draußen hatte er es nicht bemerkt, aber nun sah er, dass seine Windschutzscheibe voller Spucke war. Der Speichel lief das Glas herunter. Wer hatte das getan? Doug schaute zu der Schlange vor dem Gebäude hinüber, doch niemand blickte in seine Richtung. Er betätigte den Scheibenwischer, setzte aus der Parklücke zurück und fuhr zu Howard. Der Postler wohnte auf einem flachen Hügel in einem der hübscheren Viertel der Stadt. Sein Haus stand in einer Siedlung nicht weit vom Postamt entfernt. Im Unterschied zu den Häusern in der Gegend, in der Hobie wohnte, waren die einstöckigen Gebäude in Howards Straße sehr gepflegt. Doug parkte den Wagen vor dem mit weißen Holzschindeln verkleideten Haus und stellte den Motor ab. Von Howards Wagen war nichts zu sehen, aber das hatte nichts zu bedeuten. Er konnte ebenso gut in der Garage abgestellt sein. Doug stieg aus und ging den Weg vor dem Haus entlang. Er bemerkte, dass das Gras gelblich braun war, nicht grün wie der Rasen vor den anderen Häusern. Das war seltsam: Wie viele ältere Leute war Howard geradezu fanatisch darauf bedacht gewesen, seinen Garten in Schuss zu halten. Doug stieg die Stufen zur Eingangstür hinauf, drückte auf den Knopf der Türglocke und lauschte auf das Klingeln. Nichts. Er klopfte an, wartete einen Augenblick und schlug noch einmal gegen die Tür. »Howard!«, rief er. »Sind Sie zu Hause?« Aus dem Innern des Hauses kam kein Laut. Drei weitere Versuche und zwei Minuten später stieg Doug die Stufen am Eingang hinunter und ging zu den großen Wohnzimmerfenstern. Die Vorhänge waren zugezogen, doch sie waren durchscheinend. Doug glaubte, drinnen etwas erkennen zu können, doch er irrte sich: Durch das Material war nichts zu sehen, und im Innern des Hauses war es zu dunkel, um einzelne Objekte unterscheiden zu können. Doug ging seitlich um das Haus herum zum Esszimmerfenster, dann zur Küche, dann zum hinteren Schlafzimmer auf der Rückseite. Er hoffte, dass wenigstens ein Vorhang einen Spalt offen stünde, damit er hineinblicken konnte, aber die Vorhänge waren alle sorgfältig zugezogen. Doug versuchte es an der Hintertür: Sie war abgeschlossen. »Howard!«, rief er und klopfte wieder. Er schaute zu den Nachbarhäusern, doch niemand war zu sehen. Überhaupt schien die ganze Gegend leer und verlassen zu sein. Doug überlief eine Gänsehaut. Er kam sich vor wie in einem dieser Filme, in denen irgendeine pseudo-wissenschaftliche Katastrophe stattgefunden hatte, sodass er der letzte lebende Mensch auf Erden war, der einsam und allein durch die perfekt erhaltenen Artefakte einer ansonsten unbelebten Welt wanderte. Ein paar Häuser weiter bellte ein Hund. Doug schreckte zusammen. Himmel, war er nervös. »Howard!«, rief er noch einmal. Keine Antwort. Entweder war der Postchef nicht da, oder er war krank, sodass er nicht zur Tür kommen konnte. Oder er versteckte sich. Doug beschloss, es noch einmal an der Haustür zu versuchen. Wenn Howard sich nicht meldete, würde er das Postamt in Phoenix anrufen. Er ging um das Haus herum zurück zur Vordertür und wollte ein letztes Mal anklopfen, als er auf der braunen Strohmatte zu seinen Füßen einen weißen Umschlag entdeckte. Der hatte vorher nicht dort gelegen, da war er ganz sicher. Er hob den Umschlag auf. Auf der Vorderseite stand sein Name, gekritzelt in einer zittrigen, kindlichen Handschrift. Er riss den Umschlag auf und zog den Zettel heraus, der darin steckte. Auf dem Zettel waren in derselben zittrigen Schrift drei Worte geschrieben: Gehen Sie weg! Doug hämmerte gegen die Tür. »Howard!«, rief er. »Lassen Sie mich rein. Ich weiß, was los ist. Howard!« Aber die Tür blieb hartnäckig verschlossen, die Vorhänge bewegungslos, und trotz all seiner Bemühungen hörte Doug aus dem Innern des Hauses keinen Laut. Doug bekam die Nummer des Hauptpostamts von der Auskunft und wählte sie vom Apparat im Schlafzimmer aus. Mit dem Fuß schob er die Tür zu. Billy war in der Küche bei Trish und half ihr beim Brotbacken, und Doug wollte nicht, dass der Junge das Gespräch hörte. Eine Frauenstimme meldete sich. »United States Postal Service, Information. Wohin darf ich Sie verbinden?« »Ich möchte mich über einen Ihrer Postboten beschweren.« »Einen Moment, bitte. Ich verbinde Sie mit unserer Personalabteilung.« Doug lauschte ein paar Sekunden lang der harmlosen Musikberieselung, bevor sich eine Männerstimme meldete. »Hallo. Sie sprechen mit Jim. Wie kann ich Ihnen helfen?« »Ich möchte mich über einen Ihrer Postboten beschweren.« »Darf ich um Ihren Namen und Ihre Postleitzahl bitten?« »Mein Name ist Doug Albin, und meine Postleitzahl ist 85432. Ich wohne in Willis.« »Willis. Es tut mir leid, Sir, aber wenn Sie Beschwerden haben, sollten Sie sie an den Postchef in Ihrem Postbezirk richten.« »Das ist ja das Problem. Ich kann ihn nicht erreichen. Außerdem sind die Zustellung der Post und der Postdienst im Allgemeinen hier so schlecht geworden, dass es Zeit wird, dass Sie davon erfahren.« »Ich verbinde Sie mit meinem Vorgesetzten.« »Ich würde ...«, setzte Doug an, doch es klickte nur. Weitere Musikberieselung. Beatles-Songs im Mantovani-Sound. Ungefähr eine Minute später meldete sich ein anderer Mann in der Leitung. »Chris Westwood.« »Wir haben hier zurzeit eine Menge Probleme mit unserer Post. Ich möchte, dass jemand etwas dagegen unternimmt.« »Sie sind in Willis?« »Das ist richtig.« »Was genau sind das für Schwierigkeiten?« »Unser Postbote lädt unsere Post an einem Bachufer ab, anstatt sie auszutragen.« Westwoods Stimme wurde besorgter. »Das ist eine schwere Anschuldigung, Mister ...« »Albin. Doug Albin.« »Mister Albin. Das klingt für mich nicht sehr wahrscheinlich ...« »Es ist mir egal, ob das wahrscheinlich ist oder nicht«, entgegnete Doug, und ein verzweifelter Unterton kroch in seine Stimme. »Das genau passiert hier. Es gibt Zeugen genug.« »Nun ja, also ... eigentlich kann ich da nichts machen, aber ich kann für Sie ein Beschwerdeformular ausfüllen, wenn Sie wollen. Sobald das bearbeitet ist, wird ein Ermittler geschickt, um das Problem zu untersuchen.« »Das ist gut«, sagte Doug. Westwood fragte nach seinem vollen Namen, Adresse, Beruf und anderen personenbezogenen Daten, die er anscheinend in das Beschwerdeformular eintrug. »Kennen Sie zufällig Namen und Personalnummer des Boten?« »Er heißt John Smith. Mehr weiß ich nicht.« »Smith ... John Smith ... Lassen Sie mich nachsehen.« Doug glaubte das leise Klicken einer Computertastatur zu hören. »Es tut mir leid, aber wir haben hier keinen John Smith, der in Willis arbeitet. Hier ist Howard Crowell als Postchef aufgeführt und Robert Ronda als Postbote.« »Ronda hat vor über einem Monat Selbstmord begangen.« »Das tut mir leid. Davon ist hier nichts vermerkt. Das ist nicht in unserem Computer aufgeführt.« »John Smith wurde von Phoenix hierher versetzt. Könnten Sie nachsehen, ob Sie einen John Smith finden, der im Bereich von Phoenix arbeitet?« »Einen Augenblick. Ich suche mal nach dem Namen anstatt der Postleitzahl.« Es entstand eine Pause. »Nein, Mister Albin. Es gibt in ganz Arizona keinen John Smith, der für die Post arbeitet.« Doug sagte nichts. »Haben Sie mich gehört, Mister Albin?« Er legte auf. 25. Die Stadt war ungewöhnlich ruhig für den vierten Juli. An diesem Nationalfeiertag kamen weniger als ein Drittel der Leute, die normalerweise am Picknick im Park teilnahmen, und selbst zu Jaycees Feuerwerk ließen sich nur wenige Besucher blicken. Doug bestand darauf, dass Trish und Billy sowohl bei den Feiern tagsüber als auch beim Feuerwerk dabei waren, obwohl keiner von beiden es wollte. Doug bemerkte eine deutliche Veränderung im Verhalten der Nachbarn und Bekannten, die zu den Festlichkeiten gekommen waren, und das machte ihn nervöser, als er zugeben wollte. Leute, die er seit Jahren kannte, selbst andere Lehrer und ehemalige Schüler, erschienen kalt und distanziert, beinahe feindselig. Niemand schien sich zu vergnügen. Er selbst fühlte sich auch nicht gut. Er war am Tag zuvor mit den neuen Informationen über den Postboten zur Polizei gegangen, aber dort hatte man ihn behandelt, als wäre er ein chronischer Querulant, der ständig mit falschen Informationen aufkreuzte, die seiner überdrehten Fantasie entsprangen. Auf dem Revier hatte er darum gebeten, mit Mike zu reden, aber man sagte ihm, dass Mike den ganzen Tag nicht da sei. Also erzählte Doug seine Geschichte Lieutenant Jack Shipley, der ihm mit jener herablassenden Nachsicht begegnete, die normalerweise für Betrunkene und Durchgedrehte reserviert war. So geduldig er konnte, legte Doug die Fakten dar und erklärte Shipley, dass es doch wohl eine Straftat sei, sich fälschlich als Postbediensteter auszugeben, und dass alles, was er gesagt hatte, durch einen Anruf beim Hauptpostamt in Phoenix bestätigt werden könne. Der Lieutenant hatte versprochen, der Information nachzugehen, die Doug ihm gegeben hatte, aber es war klar, dass er in Wahrheit gar nicht die Absicht hatte. Was konnte er tun, wenn die ganze Stadt den Bach runterging und die verdammte Polizei zu blind war, das zu sehen? Wenn sie zu dumm war, etwas zu unternehmen, selbst wenn man mit dem Finger darauf zeigte? Doug fragte sich, wie der Postbote wohl diesen Tag verbrachte. Was machte der Bursche am vierten Juli? Am Feiertag war keine Post auszutragen, aber Doug konnte sich einfach nicht vorstellen, dass John Smith Hotdogs und Apfelkuchen aß und an patriotischen Feierlichkeiten teilnahm. Der Tag war heiß und die Stimmung beim Softballspiel am Nachmittag gedrückt. Es waren kaum genug Männer da, um zwei Mannschaften zu bilden, und es war offensichtlich, dass die meisten sich nur aus Pflichtgefühl gemeldet hatten. Das Spiel war hart und unsauber; die Bälle wurden mit Vorsatz auf die Körper der Schlagmänner geworfen, und es wurde absichtlich auf die Werfer gezielt. Den Zuschauern schien die Gemeinheit des Spieles zu gefallen, und bald riefen sie nach Blut. In der Vergangenheit war das Match immer freundschaftlich verlaufen. Freunde und Nachbarn hatten gutmütig ihre Teams angefeuert. Aber heute war die Menge gnadenlos und wollte Gewalt sehen. Ein Faustkampf entbrannte zwischen zwei Spielern, und unter den Zuschauern kam es zu Schlägereien, doch niemand machte Anstalten, die Prügeleien zu unterbinden. Doug, Trish und Billy blieben nur eine Weile und gingen dann zum Barbecue. Das Essen war mies: die Hotdogs und Hamburger trocken und verbrannt, die Cola zu warm. Und der vertraute Anblick von Ben Stockley fehlte, der sich mit seiner Kamera in Familientreffen drängte und die Vertreter der Stadt mit Fragen bombardierte, die sie nicht beantworten konnten oder wollten. Das alles trug zu der mürrischen Stimmung an diesem vierten Juli bei. Wie immer tauchte am späten Nachmittag Irene auf, und Trish winkte sie herüber. Wenigstens die alte Frau schien gute Laune zu haben; sie munterte Trish, Doug und Billy auf, indem sie Geschichten von früheren Feiertagen erzählte, als sie alle an einem Picknicktisch unter den Kiefern saßen. An diesem Abend nach dem Feuerwerk gerieten auf dem Parkplatz Bill Simms und Ron Lazarus aneinander. Sie schrien sich an und prügelten dann aufeinander ein, während die Familien der beiden zuschauten. Die Männer wälzten sich auf dem Boden, traten und schlugen und brüllten Obszönitäten. Doug und zwei andere Männer waren nötig, um die beiden zu trennen. »Du hast meinen Hund umgebracht!«, schrie Simms. »Du Scheißkerl!« »Ich habe deinen verdammten Köter nie angefasst, du Arsch!« Lazarus versuchte, seinen Widersacher anzuspucken, doch der Speichel landete harmlos vor seinen Füßen. »Aber ich wünschte, ich hätte ihn abgemurkst!« Doug hielt Simms fest, als dieser versuchte, sich loszureißen. Ein anderer Mann hielt Lazarus gepackt. Eine der Frauen lief los, um einen Polizisten zu holen, und kam mit Mike Trenton zurück, der die beiden Streithähne warnte, dass sie im Knast landen würden, wenn sie nicht sofort mit diesem Unsinn aufhörten. Wütend stampften die beiden Männer zu ihren Autos. Die Menge zerstreute sich, und Doug und der junge Cop blieben stehen und sahen sich an. Mike konnte Doug nicht lange in die Augen sehen und blickte weg. »Ich nehme an, man hat Ihnen gesagt, dass ich auf dem Revier gewesen bin.« Mike nickte. »Ich habe heute Morgen versucht, Sie anzurufen, aber es hat sich niemand gemeldet.« »Ich war zu Hause. Wir alle waren zu Hause.« Der Polizist zuckte mit den Achseln. »Ich hab zweimal angerufen, aber keiner hat den Hörer abgenommen.« »Warum haben Sie angerufen?« »Ich wollte Ihnen sagen, dass ich Mister Smith befragt und in Phoenix angerufen habe.« »Und?« »Er hat alles geleugnet. Ich habe natürlich nicht Ihren Namen genannt. Ich ...« »Was ist mit der Poststelle in Phoenix? Was haben die gesagt?« »Sie konnten nichts nachprüfen. Die Computer waren ausgefallen. Sie rufen uns an, sobald sie wieder Zugang zu den Informationen haben.« »Und was denken Sie?« Mike zögerte nur kurz. »Ich glaube Ihnen.« »Aber der Chief nicht.« »Nein, der Chief nicht.« Doug blickte zu Trish und Billy hinüber. »Geht schon mal zum Auto, okay? Ich komme gleich nach.« »Die Schlüssel«, sagte Trish und streckte die Hand aus. Doug grub die Schlüssel aus der Hosentasche und warf sie ihr zu. Trish fing sie aus der Luft, legte Billy den Arm um die Schulter und ging zum Bronco. Doug wandte sich wieder dem Polizisten zu. »Er ist kein Mensch, Mike.« Unbehagliches Schweigen senkte sich herab. »Gestern habe ich einen weiteren Brief von meiner Verlobten bekommen«, sagte Mike dann leise. »Sie schreibt, dass sie sich wieder von mir trennen will.« »Der Brief ist gefälscht. Das wissen Sie.« »Ich habe sie angerufen, aber sie hat gleich wieder aufgelegt. Sie wollte nicht mal mit mir reden.« »Glauben Sie ...« »Ich glaube, dass der Kerl ihr Briefe schreibt.« Mike holte tief Luft. Um sie herum gingen die Leute zu ihren Wagen, um nach Hause zu fahren. »Ich weiß selbst nicht, ob ich versuchen soll, diesem Kerl aus dem Weg zu gehen, oder ob ich ihn rankriegen und dafür bezahlen lassen soll.« »Sie wissen schon, was richtig ist.« »Was richtig ist? Wollen Sie die Wahrheit wissen? Ich mache mir Sorgen, Janine nicht zu verlieren. Nur darum geht es mir. Alles andere ist mir egal.« »Das glaube ich nicht«, sagte Doug leise. »Und Sie auch nicht. Nur deshalb reden Sie jetzt überhaupt mit mir.« »Aber wir können nichts unternehmen! Wir haben nichts, womit wir ihn festnageln können. Wir haben keine Beweise. Ich würde dem Kerl zu gerne ein Bein stellen und ihn in den Knast bringen, aber ich kann nicht.« »Er macht sich an der Post zu schaffen. Kriegen Sie ihn dafür dran.« »Keine Beweise.« »Die wird es geben, wenn das Hauptpostamt Sie zurückruft.« »Und was, wenn es keine Beweise gibt?« »Hier sterben Leute, Mike. Wir müssen etwas tun!« »Ja? Was erwarten Sie denn von mir? Dass ich meine Dienstmarke an den Nagel hänge? Dass ich den Burschen abknalle?« »Natürlich nicht.« Doch eine kleine, Furcht erregende Stimme in Dougs Innerem sagte: Ja. Ja! »Ich halte weiterhin die Augen offen, wie ich es versprochen habe. Aber dass ich noch mehr tue, kann ich nicht garantieren.« Doug wusste, dass der junge Cop nach Bestätigung suchte, doch er konnte ihm keine geben. Älter zu sein bedeutete nicht notwendigerweise, auch klüger zu sein - nicht in einer Situation wie dieser. Doug hatte genauso viel Angst vor dem Postboten und tappte genauso sehr im Dunkeln, was zu tun war. Trotzdem nickte er. »Mehr verlange ich auch nicht.« »Ich muss wieder an die Arbeit. Heute Abend geht es ziemlich rau zu.« »Ja. Ich muss auch gehen.« Doug wollte sich umdrehen, schaute Mike dann aber noch einmal an. »Seien Sie vorsichtig, Mike. Wenn er Ihrer Verlobten Briefe schickt, weiß er über Sie Bescheid.« Der Polizist erwiderte nichts, sondern ging zwischen den Wagen zur Tribüne zurück. Schweigend ging Doug zum Bronco, wo Trish und Billy auf ihn warteten. Er fuhr langsam und vorsichtig nach Hause, auch wenn die Betrunkenen, mit denen er rechnete, nicht auftauchten. Tatsächlich waren sehr wenige Wagen auf der Straße, und die meisten Häuser, an denen sie auf ihrer Fahrt durch die Stadt vorbeikamen, waren dunkel. Doug blickte auf die Uhr am Armaturenbrett. Halb zehn. Das war seltsam. Die Leute waren selbst an einem gewöhnlichen Freitag später unterwegs, erst recht an einem Feiertag. Es war, als führen sie durch eine Geisterstadt. Obwohl Trish und Billy bei ihm im Wagen waren, verspürte Doug das leichte Prickeln von Angst. Willis veränderte sich. Weder am Samstag noch am Sonntag kam Post. Als Doug am Montag zum Einkaufen ging und den Postboten sah, der einen der Kästen leerte, stellte er mit Genugtuung fest, dass Smith blasser aussah als gewöhnlich. Außerdem schien er noch dünner geworden zu sein. Vielleicht ist er krank, dachte Doug. Vielleicht ist er krank und stirbt. Aber das war nur Wunschdenken. Das würde nicht passieren. Wie immer lächelte der Postbote und winkte Doug zu, als er vorbeiging. 26. Billy raste mit dem Mountainbike durchs Gebüsch. Die breiten GMX-Reifen rollten über Pflanzen und Steine, pflügten durch dünnes Gestrüpp. Er und Lane hatten sich beide vor Wochen für den Mountainbike-Wettbewerb angemeldet. Nun trainierte Billy verbissener denn je. Dabei kam es ihm gar nicht darauf an, ob er als Erster durchs Ziel fuhr oder nicht - er wollte nur Lane schlagen. Und zwar um Längen. Billy kurvte um einen großen Felsblock herum, den er ohne zu bremsen so scharf umrundete, wie er sich gerade noch traute. Lane und er waren an Fähigkeiten und Erfahrung etwa gleich stark; Billy wusste, dass viel Training und eiserner Wille erforderlich waren, um seinen Ex-Freund zu besiegen. Aber er würde ihn besiegen. Mit einem Mal stellte Billy fest, dass er den Hügel hinunter zur Ausgrabungsstätte fuhr, ohne dass sie sein Ziel gewesen wäre. Er war nicht mehr dort gewesen, seitdem er und Lane sich zerstritten hatten. Nun jagte er den Hügel hinunter ins enge Tal. Weiter vorn gab es einen kleinen, natürlichen Graben, der durch ablaufendes Wasser entstanden war. Billy riss die Lenkstange hoch, und das Rad flog darüber hinweg. Bei der harten Landung geriet er kurz ins Rutschen, behielt jedoch Geschwindigkeit und Gleichgewicht bei und trat wild in die Pedale. Der Boden ging in ebenes Gelände über. Billy fuhr langsamer, als er sich der Fundstätte näherte. Als er die Bäume im Umkreis der Grabung erreichte, sprang er vom Rad und ging den Rest des Weges zu Fuß. Es war niemand dort. Billy blickte sich um. Er wusste, die Universität hatte die Ausgrabungen nicht vor Ende August abschließen wollen; offensichtlich hatten sie nun doch beschlossen, eher zu gehen. Billys erster Gedanke war, dass alle sich einen Tag frei genommen hatten, um in die Stadt, zum See oder zu einem der Bäche zu gehen. Doch es war offensichtlich, dass sie alles eingepackt und ihre Arbeit beendet hatten und nach Hause gefahren waren. Es waren nur ein paar Markierungspfosten übrig, die im Boden steckten, und ein paar zerrissene Umschläge lagen auf der Erde verstreut. Billy runzelte die Stirn. Irgendetwas stimmte hier nicht. Im letzten Sommer war auf der Grabungsstätte kein Müll zurückgeblieben. Überhaupt nichts. Das Motto des Professors war »Pack es aus, pack es ein« gewesen, und er hatte dafür gesorgt, dass seine Studenten den Grabungsort so verließen, wie sie ihn vorgefunden hatten. Plötzlich hatte Billy Angst, und ihm wurde bewusst, dass er hier draußen vollkommen allein war. Das schreckliche Gefühl, von allem und jedem abgeschnitten zu sein, kam von einem Augenblick zum anderen über ihn. Rasch drehte er sein Rad um ... Und sah den Postboten. Er kam mit großen Schritten über die nackte Erde auf ihn zu. Sein Haar leuchtete feuerrot vor dem grünen Hintergrund. Er trug keinen Postsack auf dem Rücken und hatte keine Briefe in der Hand. Offenbar war er hierhergekommen, um etwas anderes zu tun, als Briefe auszutragen. Diese Feststellung jagte Billy mehr Angst ein als alles andere. Er sprang auf sein Rad und trat mit aller Kraft die Pedale. Dabei übersah er einen der ausgehobenen Gräben. Das Vorderrad rutschte weg, und er landete auf dem Boden. Sein Kopf schlug auf der harten Erde auf. Billy war benommen, aber nicht verletzt, und kam wieder auf die Beine. Als er den Blick hob, stand der Postbote direkt neben ihm und lächelte. »Billy«, sagte der Postbote Furcht erregend leise. Billy wollte weglaufen, konnte es aber nicht. Alle Kraft schien aus seinem Körper gewichen zu sein. Der Wald um die archäologische Stätte herum erschien ihm plötzlich so undurchdringlich wie ein tropischer Dschungel. Der Postbote legte eine Hand auf Billys Schulter. Seine Berührung war sanft wie die einer Frau. »Komm her«, sagte er. Mit bezwingender Kraft führte er Billy über die leere Grabungsstätte zu einer großen Grube am Ende der Lichtung. Billy konnte sich nicht erinnern, sie vorher schon einmal gesehen zu haben. Er verspannte sich, als sie sich der Grube näherten. Er wusste, dass er nicht sehen wollte, was der Postbote ihm nun zeigen würde. »Schau hin«, sagte der Postbote lächelnd. Die Grube war mit Leichen und Leichenteilen gefüllt: Augen, die in die Luft starrten; Hände, die schlaff über Rümpfe fielen. In dem Sekundenbruchteil, ehe Billy den Blick vor diesem Grauen verschloss, sah er ein wechselndes Farbmuster aus rosa Fleisch, rotem Blut und weißen Knochen, und für einen Augenblick hatte er das schreckliche Gefühl, irgendwo in diesem Gewirr aus Armen und Beinen, Fingern und Zehen die untere Gesichtshälfte des Professors gesehen zu haben. Billy erwachte schweißgebadet und mit trockenem Mund aus dem Albtraum. Eine Sekunde lang erschien ihm seine Umgebung fremd - die Möbel, die Poster an den Wänden. Dann wurde er vollends wach, und alles war genau dort, wo es hingehörte. Doch die Bilder aus dem Albtraum blieben. Allerdings nicht wie die Erinnerung an etwas Irreales, das niemals geschehen war, sondern wie eine Erinnerung an ein wirkliches Erlebnis. Und irgendetwas in seinem Innern sagte Billy, dass es mehr als bloß ein Traum gewesen war. 27. »Ich bin an einem Punkt angelangt«, sagte Irene, »wo ich Angst habe, die Post zu öffnen.« Trish, die auf dem antiken Zweiersofa saß, nickte. »Ich weiß, was du meinst. Als Erstes sehe ich mir jetzt immer den Absender an. Wenn er unbekannt ist, werfe ich den Brief weg.« »Ich werfe alle Briefe weg, selbst wenn sie von Leuten kommen, die ich seit Jahren kenne. Der letzte Brief, den ich aufgemacht habe, war von Bill Simms, der mir vorgeworfen hat, ich hätte seinen Hund vergiftet. Kannst du das glauben?« Die alte Frau leckte sich unruhig über die Lippen, und Trish wurde klar, dass ihre Freundin Angst hatte. Große Angst. Sie runzelte die Stirn. Irene war keine Frau, die sich leicht einschüchtern ließ, und allein schon, sie in diesem Zustand zu sehen, machte Trish nervös. Es musste mehr geben als ein paar hasserfüllte Briefe, die Irene so sehr verängstigt hatten. Trish stellte ihr Glas Eistee ab. »Was ist?«, fragte sie. »Was ist los? Da ist doch mehr als nur Bill Simms.« Irene schüttelte den Kopf. »Nein. Da ist nichts.« »Es ist nicht nichts, verdammt! Nun sag schon.« Überrascht von der Heftigkeit ihrer Reaktion, starrte Irene sie an. Dann nickte sie. »Okay. Du willst wissen, was es ist? Dann komm mit.« Ihre Stimme war leise, verschwörerisch und klang sehr ängstlich. Trish folgte ihr über den Flur in den verschlossenen Raum, der das Zimmer von Irenes Mann gewesen war. Es diente jetzt nur noch als Abstellkammer, voller Gegenstände und schmerzlicher Erinnerungen an die Vergangenheit - Dinge, die Irenes verstorbenem Ehemann gehört hatten. Trish schaute sich um. Sie war noch nie in diesem Zimmer gewesen. Nun sah sie, dass es von Bücherregalen beherrscht wurde, die an zwei gegenüberliegenden Wänden vom Boden bis zur Decke reichten. Kleidung und persönliche Gegenstände lagen aufgestapelt auf einem alten Esstisch aus Eiche, der in der Mitte des Zimmers neben anderen unbenutzten Möbeln stand. »Da«, sagte Irene. Ihre Stimme bebte. Trishs Blick folgte dem ausgestreckten Zeigefinger der Frau. Auf dem geöffneten Sekretär - neben einem Stapel alter, eingestaubter Taschenbuch-Western - lag eine kleine Schachtel, noch halb in das braune Packpapier gewickelt, in dem der Postbote sie zugestellt hatte. In der Staubschicht auf dem Schreibtisch war eine unregelmäßige, saubere Spur, wo die Schachtel über die Schreibplatte gerutscht war. Offensichtlich war sie hastig dorthingeworfen worden. Irene blieb an der Tür stehen und umklammerte fest den Messingknauf. »Das wurde mir gestern geschickt«, sagte sie und schluckte mit offensichtlicher Mühe. Ihre Hände zitterten, und Trish konnte in der Stille des Raumes ihren unregelmäßigen Atem hören. »Da ist ein Zeh drin.« »Was?« »Da ist ein Zeh in der Schachtel.« Trish ging langsam vorwärts. Ihr Herz schlug laut. Sie erreichte den Sekretär, nahm die Schachtel, öffnete sie. Sie wusste, worauf sie sich gefasst machen musste, aber es war trotzdem ein Schock. Auf dem Boden der Schachtel lag ein Zeh, ein menschlicher Zeh, der sich leuchtend weiß vom Braun der Pappe abhob. Es war ein kleines Ding, aber erschreckend wirklich. Trish konnte die glatte, abgerundete Spitze erkennen, die Hautfalten am Gelenk, einzelne Haare auf der glatten Haut unterhalb des rosafarbenen Nagels. Der Zeh war sauber abgetrennt worden, aber da war kein Blut, kein einziger Tropfen. Trish stellte die Schachtel hin. Ihr war leicht übel. Der Zeh rollte herum, und sie konnte das rote Fleisch, Adern und in der Mitte den runden weißen Knochen erkennen. Plötzlich erschien ihr der Raum zu klein, zu eng, und sie wich vom Sekretär zurück. »Jasper hat seinen großen Zeh 1954 bei einem Unfall beim Holzfällen verloren«, sagte Irene. Ausgestattet mit einer dokumentierten Vergangenheit, erschien Trish der abgetrennte Körperteil plötzlich noch unheimlicher. Sie sah ihre Freundin an. Irene war blass und voller Angst. Zum ersten Mal, seit Trish sie kannte, sah sie älter aus, als sie war. Sie verließen den Raum. Irene schloss die Tür, und sie gingen schweigend zurück ins Wohnzimmer. Noch ehe Irene sich aufs Sofa setzte, nahm sie ihr Glas Eistee. Die Eiswürfel klirrten im Glas. »Er war damals im Tonto National Forest beschäftigt«, erzählte sie, »in der Nähe von Payson, und arbeitete mit der Axt. Er wollte einen Ast vom Stamm eines gefällten Baumes abschlagen, hat sich stattdessen aber den großen Zeh abgehackt. Ich weiß nicht, wie Jasper den Zeh erwischt hat und die anderen nicht oder warum er sich nicht ein ganzes Stück vom Fuß abgehackt hat, aber er hat nur den Zeh erwischt. Er hat gesagt, er habe so laut geschrien, dass die Waldarbeiter es kilometerweit gehört haben. Das Blut sei nur so gespritzt, sagte er, und habe die grünen Kiefernnadeln um ihn herum rot gefärbt. Sie hatten immer jemanden dabei, der sich mit erster Hilfe auskannte, weil es solche Unfälle beim Holzschlagen öfters gab, und irgendwie haben sie es geschafft, die Blutung zu stoppen. Dann haben sie Jasper nach Payson ins Krankenhaus gebracht. Sie hatten damals noch nicht solche Operationsmethoden wie heute, und der Arzt sagte, er würde den Zeh nicht wieder annähen können, obwohl sie ihn gleich mitgebracht hatten. Er sagte, es wäre besser, die Wunde nur zu schließen und heilen zu lassen.« Irene schwieg einen Augenblick. »Was ist mit dem Zeh passiert?«, fragte Trish. »Jasper rief mich an und erzählte mir von dem Unfall, und ich ließ mich nach Payson bringen. Damals bin ich noch nicht selbst gefahren. Der Zeh war in einem Glasgefäß in seinem Krankenzimmer und schwamm in einer klaren Flüssigkeit. Jasper fragte mich, ob ich ihn aufbewahren wollte, aber ich konnte mir nichts Abscheulicheres vorstellen. Ich konnte es schon damals kaum ertragen, ihn anzusehen, und ich bat eine Krankenschwester, das Glas abzudecken, solange ich da war. Meine Güte, ich wollte doch keinen abgehackten Zeh im Haus haben! Also sagte ich Jasper, er solle das Krankenhaus mit dem Zeh machen lassen, was sie wollten.« Bei der Erinnerung schüttelte sie den Kopf. »Später habe ich herausgefunden, dass Jasper und seine Holzfällerkumpel sich besoffen, im Wald eine Art Beerdigung veranstaltet und den Zeh begraben haben.« Sie sah Trish mit gequältem Blick an. »Das ist sehr lange her. Es gibt nicht mehr viele, die die Geschichte kennen. Und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie der Postbote herausgefunden haben könnte, was damals passiert ist, geschweige denn, wie er den Zeh gefunden hat oder wie der Zeh in so gutem Zustand sein kann.« »Vielleicht ist es nicht ...« »Doch, ist es«, sagte Irene mit Bestimmtheit. »Hast du die Polizei angerufen?« »Wozu?« »Das ist gegen das Gesetz. Irgendein ...« Irene legte ihre Hand auf Trishs Arm. Die Finger der alten Frau fühlten sich trocken und kalt an. »Trish«, sagte sie, »das ist nichts für die Polizei. Das ist Privatsache.« »Nein, ist es nicht.« Trish beugte sich vor. »Du weißt, was in der Stadt vor sich geht. Und du weißt, dass es keine Möglichkeit gibt, den Postboten dranzukriegen. Wir haben keine Beweise, um eine unserer Behauptungen zu stützen.« Sie deutete zum Flur und dem Zimmer dahinter. »Jetzt haben wir einen Beweis.« »Wir haben gar nichts. Weißt du, was passieren wird? Dieser Kerl wird sagen, dass er die Post bloß zustellt und für den Inhalt nicht verantwortlich ist, und er wird leugnen, irgendwas davon gewusst zu haben. Das weißt du so gut wie ich.« Trish blickte ihrer Freundin in die Augen. Irene hatte recht, so sehr Trish hasste, es zugeben zu müssen. Irene wusste genau, was der Postbote tun würde. »Lass mich wenigstens Doug anrufen und es ihm erzählen. Er wird das Ding für dich wegschaffen. Du willst sicher nicht ...« »Nein«, widersprach Irene. »Ich will nicht, dass irgendjemand ihn anfasst. Und niemand außer dir wird ihn jemals zu Gesicht kriegen.« Sie senkte die Stimme, und Trish spürte, wie es ihr kalt den Rücken herunterlief. »Er ist böse.« Trish nickte. Sie täuschte um ihrer Freundin willen Verstehen vor, aber sie verstand gar nichts. Offenbar drehte Irene langsam durch. Das alles hatte sie gefährlich nahe an den Abgrund des Wahnsinns gebracht, und wenn noch etwas geschah, konnte es Irene in diesen Abgrund stürzen. Und genau das wollte der Postbote. Trish stand auf. »Ich muss gehen.« »Du kannst nicht zur Polizei gehen«, sagte Irene. »Ich finde, du solltest es jemandem erzählen. Das ist nicht in Ordnung, Irene!« »Nein.« Die Blicke der beiden Frauen trafen sich, und Trish seufzte. »Okay«, sagte sie. »Es ist deine Entscheidung.« Sie ging zur Tür und drehte sich noch einmal um, ehe sie das Fliegengitter öffnete. »Ruf mich an, wenn du irgendwas brauchst. Egal was. Doug und ich können sofort kommen, wenn Not am Mann ist.« »Danke«, sagte Irene. »Aber es wird mir schon gut gehen.« Sie lächelte. »Vielleicht mache ich meinen Briefkasten einfach nicht mehr auf.« »Das ist wahrscheinlich gar keine schlechte Idee.« Die alte Frau lachte, und für einen Moment klang sie beinahe normal. »Auf Wiedersehen, Schatz«, sagte sie. »Wir sehen uns.« Trish stieg langsam die Stufen der Veranda hinunter. Als sie zum Wagen ging, hörte sie, wie die Tür hinter ihr abgeschlossen und der Riegel vorgeschoben wurde. Beim Wegfahren winkte Trish, ohne nachzusehen, ob ihr Winken erwidert wurde. Sie bog auf die Straße ab und fuhr nach Hause. Sie hatte gewusst, dass der Postbote dafür verantwortlich war, dass es in der Stadt immer schlimmer wurde. Sie hatte gewusst, dass dieser Bastard für die unbezahlten Rechnungen, die fehlgeleitete Post, die Hassbriefe und wahrscheinlich auch für die Todesfälle verantwortlich war. Aber wie weit er zu gehen gewillt war, wie weit zu gehen er fähig war, war ihr noch nie mit solcher Wucht deutlich geworden wie in dem Augenblick, als sie in die Schachtel geblickt und den Zeh gesehen hatte. Solch willkürliche und zugleich wohl überlegte Bösartigkeit konnte sie einfach nicht begreifen. Was ihr sogar noch mehr Angst machte war die Erkenntnis, dass der Postbote die einzige Person in Willis war, die zu jedermann in der Stadt Zugang hatte und die täglich mit fast jedem Haushalt zu tun hatte. Trish war nie religiös gewesen; sie war sich nicht einmal sicher, ob sie an »das Gute« und »das Böse« glauben sollte. Aber nun glaubte sie daran. Und sie glaubte, dass das Böse eine perfekte Gestalt gewählt hatte, in der es sein Werk verrichten konnte. Wenn John Smith ein Prediger oder Lehrer oder Politiker gewesen wäre, hätte er bei weitem nicht so viele Menschen erreicht wie jetzt, und er wäre nicht in der Lage gewesen, sich so unmerklich, so mühelos in das Leben der Menschen einzuschleichen. Auch die Passivität der Stadt machte Trish Sorgen. Die Unwilligkeit der Leute, sich dem zu stellen, was vor sich ging, und etwas dagegen zu unternehmen. Auch sie selbst und Doug hatten wenig getan, um den Postboten zu stoppen und seinen Plänen ein Ende zu bereiten, obwohl sie viel davon gesprochen hatten. Es war, als warteten sie darauf, dass ein anderer die Verantwortung übernahm und das Problem löste. Aber was konnten sie überhaupt tun? Obwohl sie sich bewusst waren, was vor sich ging, und versucht hatten, sich wirkungsvoll dagegen zu wappnen, hatte der Postbote massiv in ihr Leben eingegriffen. Sie hatten dem Sirenengesang der Post widerstanden, hatten sich gegen die offensichtlichen psychologischen Attacken auf sie blind und taub gestellt, und doch hatte ihr Familienleben sich unmerklich verändert. Im Angesicht der Not waren sie einander nicht näher gerückt, sondern hatten sich in gewissem Sinne in sich selbst zurückgezogen. Es gab keine offensichtlichen Mauern oder Barrieren; ihre Beziehung war nicht gespannt oder belastet, doch die Frotzelei und Kameradschaft, die beispielsweise Doug und Billy geteilt hatten, war verschwunden und ersetzt worden durch ein freundliches, aber förmlicheres und weniger intimes Rollenverhalten. Trishs eigene Beziehung zu Doug und Billy hatte eine ähnliche Veränderung durchgemacht. Sie und Doug gingen distanzierter miteinander um. Selbst der Sex schien weniger ein Ausdruck der Liebe zu sein als vielmehr die Befriedigung selbstsüchtiger Bedürfnisse, auch wenn sich von außen überhaupt nichts verändert hatte. Außerdem hatte sie sich in letzter Zeit angewöhnt, Billy Standpauken zu halten - in einem autoritären Tonfall, den sie nie hatte annehmen wollen. Sie wusste, dass auch Doug diese Veränderungen bemerkt hatte, wenn auch keiner von beiden mit dem anderen darüber gesprochen hatte. Sie konnte es in seinen Augen sehen, an seinem Verhalten ablesen. Es drückte sich weniger durch das aus, was er sagte, als durch das, was er nicht sagte. Sie redeten immer noch über die aktuellen Ereignisse, über häusliche Angelegenheiten, versuchsweise sogar über den Postboten, doch ihre Gespräche besaßen eine gewisse Oberflächlichkeit. Mehr als einmal hatte Trish das Gefühl, dass sie mehr zueinander sprachen als miteinander. Und das war die Schuld des Postboten. Aber Trish wollte ihn nicht siegen lassen. Sie weigerte sich, ihre Familie von dieser Kreatur auseinanderreißen zu lassen. Es wäre einfach, zu kapitulieren und zuzusehen, wie der Bruch zwischen ihr und Doug größer wurde. Doch sie schwor sich, niemals zuzulassen, dass alles noch schlimmer wurde. Sie würde ihrem Mann und ihrem Sohn die Hand hinhalten. Sie würde der Lethargie der Gefühle ein Ende setzen, und sie würde die beiden zwingen, dasselbe zu tun. Am liebsten hätte Trish am Postamt angehalten und dem Postboten ins Gesicht gesagt, dass sie seine Versuche, sie zu zerstören, nicht mehr hinnehmen würde. Doch sie erinnerte sich an das letzte Mal, als sie versucht hatte, ihm gegenüberzutreten. Bei dem Gedanken bekam sie Gänsehaut auf ihren bloßen Armen, und die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. Sie war wütend, sie war entschlossen, aber sie war nicht dumm. Sie sind hübsch. Nie wieder würde sie allein zum Postamt gehen. Trish war fast schon an der Abzweigung, die zu ihrem Haus führte, als ihr einfiel, dass sie noch fürs Abendessen einkaufen musste. Sie war an diesem Nachmittag nicht nur in die Stadt gefahren, um Irene zu besuchen, sondern auch, um Lebensmittel einzukaufen. Sie waren seit Tagen nicht einkaufen gegangen und brauchten dringend Milch und Butter und andere Grundnahrungsmittel sowie etwas für das Abendessen. Trish wendete und fuhr zum Geschäft zurück. Normalerweise plante sie die Mahlzeiten für die Familie einen Tag im Voraus, aber ungefähr seit einer Woche war sie zu müde und zu unkonzentriert gewesen, um mehr zu tun, als in letzter Minute irgendetwas zusammenzurühren; ein Verhalten, das so sehr ihrem Charakter widersprach, dass sie sich fragte, warum es ihr nicht schon früher aufgefallen war. Diese Verrücktheit hatte nicht nur das Gefühlsleben ihrer Familie beeinflusst, sondern ihren Alltag. Trish beschloss, beim Feinkostgeschäft zu halten, um nach frischem Fisch zu fragen. Sie hatte Lust auf Forelle, und wenn es einen guten Fang gegeben hatte, würde sie welche für das Abendessen mitnehmen. Sie fuhr auf den Parkplatz des Einkaufszentrums. Obwohl sämtliche Parkplätze vor Bayless besetzt waren, entdeckte Trish zu ihrem Erstaunen, dass der Bereich vor dem Feinkostgeschäft fast leer war. Das war unheimlich. Todd hatte die feinste Auswahl an Käse und den besten frischen Fisch der Stadt, und wenn bei Bayless viel los war, war der Feinkostladen normalerweise sogar noch voller. Trish parkte in einer Lücke direkt vor dem Eingang und ging hinein. Sofort bemerkte sie, dass etwas anders war. Es war nichts, das sie sah, mehr ein Gefühl. Eine seltsame, bedrohliche Spannung lag in der Luft, ganz anders als die gewohnte Atmosphäre im Laden. Trish sah sich um. Abgesehen von ihr und Todd hinter der Theke war das Geschäft leer. Sie trat nach vorn und besah sich das Fleisch in der Fleischtheke. Dann lächelte sie den Ladenbesitzer an, aber der lächelte nicht zurück, und Trish beschloss, rasch ihre Einkäufe zu erledigen und zu verschwinden. Sie zeigte auf eine Auswahl filetierter Forellen auf Eis hinter der Theke. »Frisch gefangen?«, fragte sie. Todd nickte schweigend. Trishs Unbehagen wurde stärker, und rasch sagte sie: »Ich nehme drei große.« Der Ladenbesitzer öffnete die Rückseite der Theke, holte drei Forellen heraus und legte sie auf die Waage. »Sagen Sie Ihrem Mann, dass ich nicht schätze, was er macht«, sagte er. Trish runzelte die Stirn. »Wovon reden Sie? Was macht er denn?« »Sagen Sie ihm, dass ich es ganz und gar nicht schätze.« »Dass Sie was nicht schätzen?« Trish starrte ihn an. »Todd, sagen Sie mir, was hier los ist. Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« Todd ließ seine Reserviertheit fallen. Er lächelte Trish an, während er die Fische einwickelte, und in seinem Lächeln lag Traurigkeit. »Ich weiß, dass Sie es nicht wissen.« »Todd?« »Ich glaube Ihnen. Sonst wären Sie nicht hier.« Er deutete mit dem Arm in den leeren Laden. »Sie sind heute meine erste Kundin.« »Was ist denn los?«, fragte Trish. Sie beugte sich über die Theke vor. »Ist es die Post?« Todds Gesicht versteinerte und wurde kalt. »Das macht dann drei fünfzig.« »Todd?« »Drei fünfzig.« Trish bezahlte den Fisch und verließ das Geschäft. Als sie auf dem Parkplatz zurücksetzte, sah sie, wie er in der Tür stand und hinter ihr her starrte. Es sah aus, als ob er weinte. 28. Billy saß im abgedunkelten Wohnzimmer und sah fern. Der Dick Van Dyke Show folgte Matlock, dann kam Die Familie Feuerstein und schließlich Drei Mädchen und drei Jungen. Die vertrauten Charaktere der Leute im Fernsehen hatten etwas Tröstliches. Sie waren ein beruhigendes Element in den vertrauten Irrungen und Wirrungen der Shows. Draußen mochte alles seltsamer und chaotischer sein, doch im Fernsehen waren Mike und Carol Brady immer noch gutmütige, verständnisvolle Eltern, die versuchten, einen Krieg der Geschlechter zu ersticken, der sich zwischen ihren Kindern zusammenbraute. Es folgte ein Werbespot, und Billy stand auf, um sich etwas zu essen zu holen. Er hatte den größten Teil der letzten drei Tage vor dem Bildschirm geklebt, und obwohl er die Fernsehshows gerne sah, fühlte er sich langsam doch unruhig und einem Koller nahe. Auch hatte er irgendwie ein schlechtes Gewissen. Seine Eltern hatten ihn noch nie so viel fernsehen lassen wie jetzt, und nun hatte er das Gefühl, dass er etwas Falsches tat und seine Zeit nicht damit verschwenden sollte, vor der Glotze zu hocken. Doch seine Eltern schien es nicht zu interessieren. Sie waren zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. Sein Dad hatte nichts gesagt, als er vor ein paar Minuten durchs Haus ging; er schien nicht einmal gemerkt zu haben, dass Billy da war. Billy machte sich ein Sandwich mit Erdnussbutter und Marmelade; dann ging er ins Wohnzimmer zurück und setzte sich in seinen Sessel vors Fernsehgerät. In den vergangenen Tagen hatte er versucht, eine andere Beschäftigung zu finden, war aber spektakulär gescheitert. Er hatte jeden angerufen, den er kannte, und gefragt, ob er Lust hatte, Fahrrad zu fahren oder zu schwimmen oder zum Fort zu gehen, aber entweder waren seine Freunde nicht zu Hause, oder sie wollten nicht mit ihm reden. Billy war allein zum Hügel oberhalb der Grabung gefahren, doch auch ohne den Abhang hinunterzufahren wusste er, dass die Archäologiestudenten fort waren und die Ausgrabung beendet war. So schnell er konnte, hatte Billy in die Pedale getreten und war wieder nach Hause gefahren. Der Hügel flößte ihm Furcht ein. Er fragte sich, was Lane wohl machte. Ihm fiel auf, dass er in letzter Zeit viel über Lane nachdachte und sich fragte, wie es zu dem Riss zwischen ihnen beiden gekommen war. Billy war bewusst, dass Freundschaften oft schnell und bitter endeten. Er erinnerte sich, wie er und Frank Freeman, sein bester Freund aus der vierten Klasse, sich nach einem belanglosen Streit getrennt hatten. Er und Frank waren Feinde geworden, hingen mit rivalisierenden Schülergruppen herum und ließen keine Gelegenheit aus, einander so tief wie möglich zu verletzen. Und keiner wusste besser, wie man jemanden verletzen konnte, als ein Ex-Freund. Doch Billy und Lane waren lange Zeit Kumpel gewesen, hatten kleine und größere Gefechte überstanden und waren trotzdem Freunde geblieben. Es war schwer zu glauben, dass so etwas passieren konnte. Aber Lane hatte sich verändert. Viele Leute hatten sich verändert. Drei Mädchen und drei Jungen war zu Ende, und Billy schaltete auf den Sender aus Flagstaff, um sich Verliebt in eine Hexe anzuschauen. Er aß sein restliches Sandwich und wischte sich die Hände an der Hose ab. Er hätte nie gedacht, dass es möglich wäre, aber zum ersten Mal in seinem Leben freute er sich auf das Ende des Sommers. Er konnte es kaum erwarten, dass die Schule wieder anfing. Doug saß auf der Veranda und dachte über die Post nach. An diesem Morgen hatte er einen ganzen Packen Umschläge zurückerhalten, einige davon mit Schecks, die vor Wochen ausgestellt worden waren, und nun den Vermerk »Unzustellbar« trugen. Es war auch ein Brief an Trish dabei, geschrieben in blumiger Handschrift, nach Parfüm duftend, den er zerrissen und weggeworfen hatte, ohne ihn zu öffnen. Ihm wurde bewusst, dass der Gang zum Briefkasten ihm wirklich Angst machte. So sehr er es auch zu verbergen und zu leugnen versuchte, er war nervös, wenn er die Auffahrt entlangging, und er achtete aufmerksam auf die Büsche und Bäume am Weg zum Briefkasten, denn ihm war klar, dass man sie als Versteck benutzen konnte. Doug dachte daran, den Briefkasten an eine Stelle gleich neben der Tür zu versetzen, so wie die Briefkästen in der Stadt, aber diese Idee verwarf er gleich wieder. Er wollte nicht, dass der Postbote bis ans Haus kam, so nahe an Trish und Billy heran. Doug dachte auch daran, den Briefkasten ganz abzumontieren. Wenn sie keinen Briefkasten hatten, konnten sie auch keine Post bekommen. Aber das war nicht nur feige, es war verrückt. Warum zum Teufel sollte er sich vor der Post verstecken? Das Problem würde nicht verschwinden, wenn er es ignorierte oder ihm auszuweichen versuchte. Trish fuhr in die Auffahrt. Doug blickte weg und schaute zu den Bäumen. Er hörte das gedämpfte Knarren, als die Handbremse angezogen wurde, das Schlagen der Wagentür, gefolgt von Trishs Schritten auf den Holzdielen der Veranda. »Ich bin wieder da«, verkündete sie. Als er nicht reagierte, ging sie zu ihm. »Ich sagte, ich bin wieder da.« Doug blickte zu ihr hoch. »Willst du eine Medaille?« Trishs Miene wechselte von Wut über Kränkung zu Gleichgültigkeit. Doug bekam ein schlechtes Gewissen und sah weg. Er wusste nicht, warum er so gemein zu ihr war. Sie versuchte doch nur, freundlich zu sein. Doch ihre gute Laute und der Versuch, so zu tun, als wäre alles in Ordnung, machte ihn schier verrückt - so sehr, dass er sie verletzen wollte. In letzter Zeit war er oft wütend auf sie gewesen, auch wenn er selbst nicht wusste, warum das so war. »Heute Abend gibt's Fisch«, sagte Trish. »Gegrillte Forellen. Ich überlasse es dir, den Grill aufzubauen.« »Hast du Holzkohle und Grillanzünder mitgebracht? Die sind alle.« Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Na, dann brate ich sie eben in der Pfanne.« Doug stand auf. »Nein. Ich kaufe Kohle. Ich will sowieso eine Weile vom Haus weg.« Trish legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ist alles in Ordnung, Doug?« Überrascht starrte er auf ihre Hand. Es war Tage her, dass sie sich berührt hatten. Er blickte ihr in die Augen, und seine Stimme wurde sanft. Doug spürte, wie sich ein Teil seiner Feindseligkeit und Anspannung verflüchtigte. Er wusste, dass Trish sich sehr bemühte, nicht mit ihm zu streiten. »Ja«, sagte er. »Es geht mir gut.« »Okay.« Sie öffnete die Gittertür. »Du könntest auch tanken. Der Tank ist fast leer.« »Ja.« Während er von der Veranda und über den Kies zum Bronco ging, hörte er, wie der Fernseher ausgeschaltet wurde und Trish mit Billy sprach. Der Klang ihrer Stimme - nicht wütend, sondern besorgt - war auf vertraute Weise tröstlich, wie die Stimme eines alten Freundes, die er für eine Weile nicht gehört hatte, und plötzlich fühlte er sich besser. Der Tank des Bronco war tatsächlich fast leer, wie die Anzeige zeigte, und so hielt er als Erstes beim Circle K und tankte. Dann fuhr er zu Howards Haus. Doug hielt direkt vor dem niedrigen Bungalow, der nun eindeutig verlassen aussah. Der Rasen war braun; selbst das Unkraut war vertrocknet und tot. Nebenan ging gerade ein Mann zu seinem Pick-up, und Doug stieg rasch aus und winkte ihm zu. »He«, rief er. Der Mann warf ihm einen kurzen Blick zu und eilte ins Haus. Doug blieb stehen. Die ganze verdammte Stadt verhielt sich so nervös wie ein Eichhörnchen, wenn die Katze kommt. Er überlegte, ob er bei Howards Nachbarn auf der anderen Seite klopfen und sie fragen sollte, ob sie den Chef des Postamts gesehen hatten. Doch er hatte das Gefühl, dass er von ihnen nicht viel Hilfsbereitschaft erwarten durfte. Oder von sonst jemandem im Viertel. Ihm fiel auf, dass inzwischen auch mehrere andere Rasenflächen ungepflegt aussahen. Obwohl Doug wusste, dass er wahrscheinlich keine Antwort bekommen würde, ging er Howards Auffahrt hinauf und klopfte an die Tür. Hämmerte gegen die Tür. Brüllte, dass Howard herauskommen sollte. Doch seine Bitten wurden nicht erhört. Wieder inspizierte er den Vordereingang, den Hintereingang, die Fenster, aber wieder war alles fest verschlossen. Hinter den ursprünglichen Vorhängen schien ein dunklerer, dickerer Stoff aufgehängt worden zu sein, weil jetzt überhaupt nichts mehr im Haus zu erkennen war, nicht einmal ein Schatten. Doug fragte sich, ob er die Polizei anrufen sollte. Howards Haus zeigte eindeutige Zeichen der Vernachlässigung, und da niemand außer John Smith behaupten konnte, Howard in den letzten Wochen gesehen zu haben, gab es für Doug gute Gründe, ins Haus des Postchefs einzudringen und zu sehen, ob es ihm gut ging. Aber Doug wusste, dass es nicht viel Sinn hatte, die Polizei zu rufen. Er hatte ihnen das letzte Mal dieselbe Geschichte erzählt, und sie hatten sich einen Dreck darum gekümmert. Sie würden nicht einmal versuchen, in Howards Haus einzudringen, es sei denn, sie sahen den Postboten mit Howards blutigem Kopf in der Hand hinter der Tür herumlaufen. Doug seufzte. Wenn es etwas gab, was er an Arizona hasste, dann war es der beinahe fanatische Respekt vor Land und Grundbesitz. Hier herrschte noch die Mentalität des alten Westens, eine verschrobene Weltsicht, in der Eigentum wichtiger war als der Mensch. Er erinnerte sich, wie er und Billy einmal nach Deer Valley gewandert waren. Sie waren durch ein ausgetrocknetes Bachbett gelaufen und seinem Verlauf gefolgt, als sie in den Wäldern auf eine Hütte stießen. Sie machten auf der Stelle kehrt, als sie auch schon die Stimme eines Jungen rufen hörten: »Eindringlinge, Pa!« Etwa eine Minute später vernahmen sie das donnernde Echo eines Schrotflintenschusses. Doug war sich vorgekommen, als wäre er in einen verdammten Film geraten. Der Knall wiederholte sich nicht, doch Billy und er waren tief gebückt den Rest des Weges zum Wagen zurückgelaufen. Als sie der Polizei berichteten, was passiert war, hatte der Sergeant am Schalter nur gelächelt und ihnen gesagt, dass sie nicht unbefugt fremdes Eigentum hätten betreten sollen - als ob der Tod eine faire Bestrafung für jemanden wäre, der unwissentlich das Land eines anderen betrat. Trotzdem stieg Doug wieder in den Bronco und fuhr zur Polizeiwache. Es konnte nicht schaden, es zu versuchen. Der Chief war zum Glück nicht da, Mike aber leider auch nicht, und es endete damit, dass Doug seine Geschichte einer jungen Angestellten erzählte, die seine Aussage aufschrieb und versprach, sie persönlich dem zuständigen Lieutenant zu geben. Doug war nett zu ihr, kooperativ, lächelte sie an, dankte ihr für ihre Hilfe und verließ die Wache, wohl wissend, dass sie nichts unternehmen würden. Zum Teufel, vielleicht sollte er dort einbrechen und die Sache selbst in die Hand nehmen. Nein. Der Chief würde ihn festnehmen und ins Gefängnis stecken lassen. Er fuhr zu Bayless, um die Holzkohle und den flüssigen Grillanzünder zu kaufen. Ihm war bewusst, dass Trish sich wahrscheinlich schon Sorgen machte. Er war in die Stadt gefahren, um eben schnell etwas zu kaufen, und war nun schon seit über einer Stunde weg. Rasch betrat er den Laden, ging direkt zu dem Gang, in dem sich die Grillsachen befanden, und nahm, was er brauchte. Während Doug in der Schlange an der Kasse wartete, entdeckte er ein leeres Drahtgestell, in dem sonst die Zeitungen lagen. Das Gestell sah traurig und verloren aus, und er fragte sich, was wohl aus den frivolen Glückskeksen in Ben Stockleys Schreibtischschublade geworden war. Vor seinem inneren Auge konnte er den Herausgeber noch hinter seinem Schreibtisch sitzen sehen, aber dieses Bild verblasste nach und nach und wurde durch das Bild der von Kugeln durchlöcherten Leiche ersetzt, das er im Fernsehen gesehen hatte. Was war mit Stockley passiert? Doug hatte einen Kloß im Hals und zwang sich, von dem Gestell wegzublicken und sich die Sonderangebote anzusehen, die danebenlagen. Die Stadt war nun seit fast einem halben Monat ohne Zeitung. Der Weekly war im Grunde ein Ein-Mann-Unternehmen gewesen, und mit Stockleys Tod hatte das Blatt abrupt sein Erscheinen eingestellt. Doch Doug hatte keinen Zweifel, dass die Zeitung am Ende wieder auf die Beine kommen würde, sobald alles geklärt war. Es gab ein paar Teilzeit-Journalisten, die wahrscheinlich die Herausgeberpflichten übernehmen konnten, und die Sekretärin wusste ziemlich gut, wie der geschäftliche Teil des Unternehmens lief. Aber im Augenblick war die Presse lahmgelegt. Doug konnte nicht anders, als zu glauben, dass dies genau die Situation war, die der Postbote wollte. Kein unabhängiges Medium zur Verbreitung von Informationen. Keine offizielle Möglichkeit zu erfahren, was passierte. Doch natürlich verbreiteten sich Neuigkeiten noch immer über inoffizielle Kanäle, und das ziemlich gut. Dadurch, dass er in den vergangenen Minuten mehrere voneinander unabhängige Gespräche mitgehört hatte, wusste er zum Beispiel, dass einige weitere Hunde ermordet worden waren; diesmal nicht vergiftet, sondern geköpft, und die abgetrennten Köpfe waren gestohlen worden. In diesem Augenblick sah er, dass Giselle Brennan den Laden betrat. Sie entdeckte ihn im selben Augenblick und winkte. »Hi, Mister Albin.« Sie ging durch das Drehkreuz und um die Kasse herum zu ihm. Doug sah sofort, dass sie keinen BH trug. Ihre Brustwarzen waren durch das dünne Material ihres eng anliegenden T-Shirts zu erkennen. Ihre großen Brüste wippten, als sie auf ihn zukam. Sie war nun volljährig, dass wusste er. Eine Erwachsene, eine Frau, aber innerlich sah er sie immer noch als jungen Teenager, und er hatte ein merkwürdiges Gefühl, als er sie in einem so offensichtlich sexuellen Licht sah. Irgendwie beunruhigte es ihn, störte ihn sogar. Sie kam näher, und er lächelte misstrauisch. »Hi«, sagte er. »Wie geht's?« Er rückte mit der Schlange weiter vor. »Ich habe einen Job gefunden.« »Tatsächlich?«, sagte Doug. Er legte seine Ware auf das schwarze Fließband an der Kasse und schob automatisch einen Trennstab aus Gummi dahinter. »Wo denn?« Giselle grinste breit. »Im Postamt. Können Sie das glauben?« Das Glückwunschlächeln auf seinem Gesicht erstarrte. Ja, das konnte er glauben. »Ich wusste gar nicht, dass die Leute einstellen«, sagte er vorsichtig. »Es ist nur befristet. Ich glaube, ihre Sortiermaschine ist kaputtgegangen, und sie haben jemanden gesucht, der die Post von Hand sortiert.« Doug rückte weiter vor. »Wer hat Sie denn eingestellt? Howard?« »Nein, Mister Crowell war krank. Ich denke, das ist einer der Gründe, warum sie jemanden zusätzlich brauchen. Mister Smith hat mich eingestellt.« Doug zwang sich zu lächeln. »Was halten Sie von Mister Smith?« Für eine Sekunde verdunkelte sich Giselles Gesicht, und er dachte, sie würde irgendetwas Negatives über John Smith sagen; stattdessen zuckte sie die Schultern. »Ich weiß nicht.« Der Mann vor Doug bezahlte seine Lebensmittel. Doug legte seine Hand auf Giselles Schulter. Sie wich nicht zurück. »Ich weiß nicht, ob Sie da arbeiten sollten«, sagte er ernst. Giselle lachte. »Meine Mom hat dasselbe gesagt. Machen Sie sich keine Sorgen. Es wird mir schon nichts passieren.« »Passen Sie gut auf sich auf«, warnte Doug sie. Sie lächelte und machte einen Schritt zurück. »Na klar.« Sie winkte ihm zu, während sie zur Tiefkühlabteilung ging. »Bis dann.« Doug sah ihr nach, sah ihre engen Jeans, deren Stoff sich auf provokante Weise zwischen ihren Hinterbacken zusammenzog. »Zwei fünfundachtzig.« »Was?« Doug drehte sich um und blickte den Kassierer an. Der junge Mann lächelte vielsagend. »Zwei fünfundachtzig.« Doug holte seine Brieftasche heraus. Im Bett kuschelte Trish sich in dieser Nacht an ihn, legte einen Arm über seine Brust und drückte ihn an sich, wie sie es schon eine ganze Weile nicht mehr getan hatte. Das Abendessen war gut und - wichtiger noch - gesund gewesen. Forelle mit Reis und Spargel. Trish hatte wieder zu ihrem ernährungsbewussten Selbst gefunden, und aus irgendeinem Grund machte ihn das optimistischer, weniger sorgenvoll. Alles andere mochte zur Hölle fahren, aber wenigstens ihnen beiden würde es gut gehen. Ihr Kopf rutschte unter seine Achselhöhle, und sie blickte in sein Gesicht hinauf. »Liebst du mich noch?«, fragte sie. »Was für eine Frage ist das denn?« »Liebst du mich noch?« Ihre Stimme war ruhig; es lag eine Ernsthaftigkeit darin, von der er nicht recht wusste, wie er damit umgehen sollte. »Natürlich liebe ich dich.« »Du sagst es gar nicht mehr.« »Ich hätte nicht gedacht, dass ich es sagen muss.« Er lächelte. »He, wir sind jetzt seit fünfzehn Jahren verheiratet. Warum sonst sollte ich freiwillig durch diese Hölle gehen?« »Sei ernst.« »Hör mal, wenn ich dich nicht lieben würde, wäre ich nicht hier.« »So einfach ist das nicht. Außerdem würde ich es gerne von Zeit zu Zeit hören.« »Michelle«, sagte er. »Dieser Brief. Darum geht es eigentlich, nicht wahr?« Sie sagte nichts, hielt ihn nur noch fester. Er küsste sie auf den Kopf. »Ich habe Angst«, sagte sie schließlich. »Ich auch.« »Aber ich habe Angst um uns. Um unsere Beziehung. Ich meine, ich habe manchmal das Gefühl, dass du etwas von mir fernhältst, dass du Angst hast, mit mir zu reden. Oder dass du nicht mit mir reden willst.« »Das stimmt nicht«, widersprach er. »Du weißt, dass es stimmt.« Einen Augenblick lang schwiegen sie. »Du hast recht«, sagte Doug. »Wir haben uns voneinander entfernt. Ich weiß auch nicht warum. Ich würde ja gerne diesem Postboten an allem die Schuld geben, aber ich weiß, dass das nicht alles erklärt. Es ist auch mein eigener Fehler.« »Es ist unser Fehler«, entgegnete Trish. Und sie hielten einander fest, kuschelten sich noch dichter zusammen. Doug hatte das Gefühl, dass sie die Katastrophe abgewendet hatten, auf die sie zugetrieben waren, und dass sie erfolgreich die Pläne des Postboten durchkreuzt hatten. 29. Trish erwachte und fühlte sich nervös und unwohl; die emotionalen Überbleibsel eines Albtraums, an den sie sich leider erinnerte und in dem es natürlich um die Post gegangen war. Sie war jung gewesen, ein Kind noch, hatte aber in diesem Haus gewohnt, und sie war die Auffahrt zum Briefkasten hinuntergegangen. Es war ein prächtiger Tag, der Himmel war blau, die Sonne schien, und sie trug ihr rosa Lieblingskleid mit der kleinen Schürze. Sie öffnete den Briefkasten und holte einen Stapel Umschläge in leuchtenden Farben heraus, von denen der oberste mit einem tanzenden Teddybären geschmückt war. Vorsichtig, um nicht das schöne Papier zu zerreißen, öffnete sie die Lasche ... Und eine weiße Hand schoss aus dem Umschlag und umklammerte ihren Hals. Sie schrie und ließ die anderen Umschläge fallen, und diese öffneten sich, und aus jedem schoss eine Hand hervor. Eine der Hände zuckte zu ihrem Kleid hinauf und fasste ihr in den Schritt. Zwei weitere streckten sich nach oben, um ihre knospenden Brüste zu kneten und zu streicheln. Eine andere fuhr ihr direkt zwischen die Hinterbacken. Wieder andere ergriffen sie an Armen und Beinen. Sie schrie, doch eine letzte Hand verschloss ihr den Mund, und sie wurde zu Boden gezogen. Und dann wachte sie auf. Kein schöner Tagesanfang. Heute war sie an der Reihe, das Frühstück vorzubereiten; sie machte Muffins mit Kleie und presste die letzten Orangen aus, bevor sie hinausging, um nach ihrem Garten zu sehen. Sie fühlte sich müde und mehr als nur ein wenig unwohl in ihrer Haut, aber sie erinnerte sich an ihren Schwur von gestern, an ihre Versprechen an Doug, und sie versuchte, ihre negativen Gefühle beiseitezuschieben. Sie nahm den Wasserschlauch und drehte den Hahn auf. Sie hatte ihre Pflanzen zwar regelmäßig gegossen, aber eine ganze Weile den Garten nicht gejätet; sie hatte sich auch nicht die Zeit genommen, Schädlinge zu bekämpfen oder Pflanzen zu beschneiden. Daher war das Gemüse dieses Jahr das schlechteste, das sie jemals gezogen hatte. Auch das würde sich ändern, beschloss sie. Sie würde diesen Morgen damit verbringen, sich um ihren Garten zu kümmern. Es war Zeit, dass sie die Kontrolle über ihr eigenes Leben wiedererlangte und es nicht dem Postboten überließ. Trish dachte an Irene. Sie würde ihre Freundin heute noch anrufen und sich davon überzeugen, dass es ihr gut ging. Bald darauf erwachte Doug. Als sie das Duschwasser durch die Rohre laufen hörte, ging sie wieder ins Haus und weckte Billy. Heute Morgen würden sie alle gemeinsam frühstücken. So, wie es sein sollte. Nach dem Frühstück spülte Doug das Geschirr, und Billy trocknete ab. Als sie fertig waren, rekrutierte Trish die beiden, ihr im Garten zu helfen. Billy versuchte, sich zu drücken und zu erklären, warum fernzusehen wichtiger für ihn war, aber Trish und Doug zwangen ihn, die Auffahrt zu harken. Soweit sie sich erinnern konnten, war es das erste Mal seit einiger Zeit, dass Billy die Arbeit tatsächlich ohne größeres Nörgeln erledigte. Es schien ihm sogar ein wenig Spaß zu machen, und flüsternd wies Trish Doug darauf hin, worauf er erwiderte, dass es nichts Besseres als einen kleinen Aufenthalt in der Hölle gab, um zu bewirken, dass die Menschen sich sogar nach dem Nicht-Vergnügen des täglichen Lebens sehnten. Gemeinsam aßen sie auf der Veranda zu Mittag - Sandwiches mit Schinken, Salat und Tomaten. Danach beschlossen Doug und Billy, einen Ausflug zur alten Sutpen-Ranch zu machen. Trish füllte zwei Feldflaschen mit Wasser, packte für jeden ein Sandwich ein und sagte ihnen, dass sie um fünf wieder zurück sein sollten oder sie würde die Rangerstation anrufen. Winkend fuhren sie mit dem Bronco davon. Als sie weg waren, rief Trish Irene an. Sie hatte darüber nachgedacht, was sie ihr sagen sollte und welche zwingenden Argumente sie vorbringen konnte, damit die Freundin der Polizei sagte, was für grässliche Post sie erhalten hatte, oder damit sie wenigstens Trish erlaubte, es Doug zu erzählen. Doch als sie die verängstigte, gebrochene Stimme Irenes hörte, wusste sie sofort, dass kein logisches Argument sie würde umstimmen können. »Hallo?«, sagte Irene. »Hallo. Ich bin's, Trish.« »Ich wusste, dass du es bist. Sonst hätte ich den Hörer gar nicht abgenommen.« Trish holte tief Luft. »Hör mal«, sagte sie, »ich bin deine Freundin ...« »Nein, ich werde es niemandem sagen.« Trish war verblüfft, wie entschlossen die alte Frau klang. »Woher weißt du, dass ich dir das sagen wollte?« »Wir wissen doch beide, warum du anrufst«, sagte Irene. Sie hustete unsicher. »Ich muss damit auf meine Weise fertig werden. Hast du verstanden?« »Ja, aber ...« »Es gibt Dinge, die du nicht weißt«, sagte die alte Frau, und in ihrer Stimme war etwas, was Trish kalte Schauer über den Rücken sandte. »Ich hätte dir von vornherein nicht so viel erzählen sollen.« »Ich will dir nur helfen.« Irene hustete wieder. »Ich weiß.« Trish dachte einen Augenblick nach. »Versprich mir wenigstens, dass du mich anrufst, wenn etwas passiert. Ruf an, wenn du Hilfe brauchst.« »Ja, sicher.« »Okay.« Trish zögerte, aufzulegen, doch sie spürte, dass Irene im Moment wirklich nicht mit ihr reden wollte. »Du bist sicher, dass es dir gut geht?« »Es geht mir gut. Wir reden später, okay?« »Okay.« Die alte Frau legte ohne Abschiedsgruß auf. Doug irrt sich, dachte Trish, als sie den Hörer auflegte. Die Leute veränderten sich nicht völlig unabhängig von der Post. Direkt oder indirekt hing alles mit der Post zusammen. Die Ursache aller Geschehnisse in Willis, die Wurzel aller Feindseligkeit und Verrücktheiten war der Postbote. Trish ging nach draußen, wo sie die Post hingelegt hatte, die sie an diesem Morgen aus dem Kasten geholt hatte, bevor Doug und Billy aufgewacht waren. Es waren zwei Umschläge, beide an sie adressiert. Den ganzen Tag hatte sie mit sich gerungen, ob sie die Briefe öffnen sollte oder nicht. Nun nahm sie eine Schaufel und grub ein tiefes Loch auf der Waldseite des Gartens. Sie warf die Umschläge hinein und begrub sie ungeöffnet. Trish ging die Straße entlang zum Haus der Nelsons. Hannah hatte seit über zwei Wochen nicht mehr angerufen. Tatsächlich hatte Trish nicht mehr mit ihren Freunden gesprochen, seitdem Scooby vergiftet worden war. Das war ungewöhnlich. Normalerweise besuchten sie und Hannah sich wenigstens jeden zweiten Tag oder telefonierten miteinander. Im Laufe der vergangenen Woche hatte Trish mehr als einmal versucht, die Nummer der Nelsons zu wählen, aber immer ein Besetztzeichen bekommen, und als sie an diesem Morgen angerufen hatte, hatte eine Roboterstimme sie informiert, dass die Verbindung abgeschaltet worden war und nicht mehr angewählt werden konnte. Also hatte Trish beschlossen, hinüberzugehen. Es hatte leicht geregnet, gleich nachdem Doug und Billy weggefahren waren - ein kurzer Schauer aus einer einsamen Wolke, der weniger als zehn Minuten gedauert hatte -, und nun klebte der Straßenstaub am Boden. Trish war dankbar dafür. Normalerweise wirbelte sie mit jedem Schritt Staub auf und war verschmutzt, wenn sie Hannahs Haus erreichte. Trish bemerkte sofort, dass der Wagen der Nelsons in der Auffahrt stand; daher wusste sie, dass sie zu Hause waren. Sie ging am Wagen vorbei zum Haus, wobei der Kies laut unter ihren Schuhen knirschte. Ihre Blickte schweiften zu der Metallstange hinüber, an der Scoobys Kette befestigt gewesen war. Neben der Stange stand ein leerer Wassernapf aus Kunststoff. Es war merkwürdig, nicht das fröhliche Bellen des Hundes zu hören, als sie sich dem Haus näherte, und sie fühlte sich unbehaglich, als wäre sie zum falschen Ort gekommen. Trish stieg die Stufen der Veranda hinauf und klopfte an die äußere Gittertür. Sie konnte hören, dass sich im Haus jemand bewegte, doch die schwere Vordertür öffnete sich nicht. »Hannah!«, rief Trish. »Verschwinde von hier!«, erklang die wütende Stimme ihrer Freundin aus dem Innern des Hauses. »Ich bin's, Trish!« »Ich sagte, du sollst verschwinden, verdammt!« Hannah Nelson öffnete und stand hinter der Gittertür. Ihr Haar war zerzaust und ungekämmt, ihr Hauskleid schmutzig. Trish konnte sich nicht erinnern, ihre Freundin jemals anders als wie aus dem Ei gepellt gesehen zu haben, und der Anblick ihres unordentlichen Äußeren war ein Schock. »Hannah!« »Hau ab, du Hexe!« Trish starrte sie an, wusste nicht, was sie tun oder sagen sollte. »Hundemörderin!«, schrie Hannah. Sie spuckte Trish an. Der Speichel, aufgefangen von dem feinen Drahtgitter, tropfte in dicken Fäden herunter. Trish war fassungslos. »Wovon redest du?« »Wir haben den Brief bekommen. Wir wissen alles. Ron!« Sie drehte sich zum Wohnzimmer um und ließ Trish auf den herabtropfenden Speichel starren. Ron tauchte aus dem Halbdunkel des Wohnzimmers auf, öffnete die Gittertür und trat hinaus auf die Veranda. Er stellte sich vor Trish hin, die Beine leicht gespreizt, und blickte sie feindselig und drohend an. »Ich hätte nicht gedacht, dass du jemals den Mut findest, dich hier noch mal blicken zu lassen.« »Ich weiß nicht, was du ...« »Hau endlich ab!«, kreischte Hannah. Ron starrte Trish wütend an. »Du hast gehört, was meine Frau gesagt hat. Verschwinde! Und lass dich hier nie wieder blicken.« Jeden Schritt ertastend, wich Trish zurück. »Ich verstehe nicht ...« »Geh nach Hause, Miststück.« Ron spuckte vor ihr auf den Boden. »Und sag deinem Bengel, dass wir ihn hier nicht mehr sehen wollen. Ich weiß, dass er immer hierhergekommen ist und Zitronen geklaut hat. Wenn er nicht damit aufhört, riskiert er, sich eine Kugel im Arsch einzufangen. Hast du kapiert?« Trish fühlte, wie weiß glühende Wut in ihr aufwallte. »Mein Sohn hat noch nie etwas gestohlen! Er war die ganze letzte Woche zu Hause. Und wenn du nicht so ein dummer, ungebildeter Blödmann wärst, hättest du auch von selber darauf kommen können!« Mit ausgestreckter Faust kam Ron auf sie zu, und Trish lief davon. Am Ende der Auffahrt drehte sie sich um. »Und wenn du noch ein bisschen mehr nachdenken würdest, dann wüsstest du auch, dass wir Scooby niemals etwas antun würden!« Ron hob einen Stein auf und warf ihn nach Trish. Er flog weit, verfehlte sie jedoch, und herausfordernd streckte sie ihm einen erhobenen Mittelfinger entgegen, ehe sie mit Tränen in den Augen nach Hause lief. Als Doug und Billy eine Stunde später zurückkehrten, hatte Trish ihre Fassung zurückgewonnen. Sie erzählte Doug, was geschehen war, und gemeinsam gingen sie über die Straße zum Haus der Nelsons, nicht ohne Billy zuvor einzuschärfen, im Haus zu bleiben, solange sie weg waren. Obwohl der Wagen der Nelsons immer noch in der Auffahrt stand und Doug mehrere Male laut klopfte, kam niemand zur Tür. 30. Am Dienstagmorgen fiel während der zweiten Stunde der Today-Show der Strom aus. Wie beim ersten Mal ging der Fernseher einfach aus; gleichzeitig erlosch das Licht in der Küche. Als Doug schließlich durch die Mauer aus Besetztzeichen zum Stromlieferanten durchkam, versicherte ihm ein sehr unsicherer Mitarbeiter, dass alles getan würde, um das Problem zu identifizieren und zu beheben. »Wann wird das ungefähr sein?«, fragte Doug. Nervös räusperte sich der Mann. »Im Moment kann ich Ihnen das leider nicht sagen.« »Reden wir hier über Minuten oder Monate?« »Möglicherweise ist schon heute Abend alles wieder in Ordnung. Vielleicht auch erst morgen.« Doug legte auf und war so klug wie zuvor. Es war dumm und lächerlich, aber er hatte das seltsame Gefühl, dass die Rechnungen der Stromgesellschaft in der Post verloren gegangen waren und dass sie jetzt keine Elektrizität mehr hatten, weil die Rechnungen nicht bezahlt wurden. Oder irgendetwas in der Art. Etwas, das mit der Post zu tun hatte. Gegen fünf Uhr nachmittags fielen auch Wasser, Gas und das Telefon aus. 31. Merkwürdig, dachte Doug, dass sie nicht einmal in Betracht gezogen hatten, die Stadt zu verlassen und für ein paar Wochen seine Eltern zu besuchen oder bei Trishs Dad in Kalifornien vorbeizuschauen. Es gab nichts, was sie aufhalten konnte, keinen Grund, warum sie dieses Irrenhaus nicht für eine Weile hinter sich lassen sollten. Doch obwohl sie nicht darüber gesprochen hatten, wusste Doug, dass Trish sich genauso fühlte wie er: gefangen in Willis, in der Falle. Soweit er wusste, hatte niemand die Stadt verlassen. Die Menschen waren passiv und blieben, wo sie waren - wie Schafe, während unter ihnen ein Wolf umherstreifte. Warum?, fragte sich Doug. Was lähmte sie alle? Was zwang sie alle, hierzubleiben, wider alle Vernunft, gegen jeden natürlichen Instinkt? Irgendeine unlogische, idiotische Vorstellung von »Heimat«. Der Strom war auch nach drei Tagen noch ausgefallen, und Doug hatte kalte Bäder, stille Nächte und kalte Küche mächtig satt, aber wenigstens funktionierten Gas, Wasser und Telefon wieder. Dafür konnte man schon dankbar sein. Es schien Doug, dass der Ausfall von Strom und Wasser dafür gesorgt hatte, die Bindungen zwischen den Menschen der Stadt noch mehr zu zerstören als alles, was bisher geschehen war. Er selbst hatte seit einigen Tagen mit niemandem mehr gesprochen außer mit Trish und Billy, und als er Mike Trenton angerufen hatte, war dieser kühl und distanziert gewesen. Hobie hatte noch nicht einmal den Hörer abgenommen. Was der Grund dafür war, dass Doug jetzt zu ihm fuhr, um ihn zu besuchen. Unterwegs durchquerte Doug das Stadtzentrum. Es waren die Kleinigkeiten, die ihn beunruhigten: das ungemähte Gras im Park; das Unkraut, das sich auf dem Parkplatz vor der Bank durch die Ritzen im Asphalt zwängte; die Mülleimer, die die Straße säumten und nicht geleert wurden - oberflächlich unbedeutende Dinge, aber verräterische Anzeichen, dass irgendetwas ernsthaft aus den Fugen geraten war. Allein bei seiner Fahrt durch Willis bekam Doug den Eindruck, dass viele Menschen nicht mehr arbeiteten, dass sie an diesem Tag gar nicht das Haus verlassen hatten und ihre Arbeit nicht erledigt wurde. Es war fast unbegreiflich, wie ein einziges Individuum solche Wirkung auf eine ganze Stadt haben konnte, aber Doug hatte die Beweise vor Augen. Er blieb vor Hobies Wohnwagen stehen. Die Autos des Freundes waren alle auf ihrem Platz, also war er offensichtlich zu Hause. Hobie ging nirgendwohin zu Fuß, wenn er fahren konnte. Doug drückte auf den Klingelknopf. Einen Augenblick später öffnete Hobie die Tür. Er war offensichtlich aufgewühlt. Er trug ein schwarz-goldenes Willis-Warthoga-T-Shirt mit dem Wappen der Schule, und sein Gesicht sah blass aus; sogar seine Lippen hatten jede Farbe verloren. »Hi«, sagte er. »Lange nicht gesehen.« Doug lächelte, obwohl ihm überhaupt nicht danach zumute war. »Wie geht's dir so?« Hobie zuckte mit den Schultern. »Nicht besonders gut. Aber ich bin froh, dass du gekommen bist.« Er machte die Tür weiter auf und winkte Doug herein. Der Strom war auch bei ihm ausgefallen, aber anstatt Vorhänge und Fenster zu öffnen, hielt Hobie sie geschlossen und sorgte nur mit Kerzen für Beleuchtung. Der Wohnwagen roch nach brennendem Wachs und verdorbenem Essen, und als Dougs Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, sah er, dass der Kühlschrank offen stand und die Nahrungsmittel darin schlecht wurden. Müll und Kleidungsstücke waren überall verstreut, sowohl im Wohnraum als auch in der Küche. Doug blickte seinen Freund an. Hobie war vielleicht laut und polterig, aber er war immer sauber und ordentlich gewesen, und der Zustand im Innern des Wohnwagens machte Doug mehr Angst, als er sich eingestehen wollte. Hobies Gemütszustand hatte sich deutlich verschlechtert, seitdem sie zuletzt miteinander gesprochen hatten. »Ich habe noch einen Brief von Dan gekriegt«, sagte Hobie und setzte sich auf die schmutzige Couch. »Er hat ihn letzte Woche geschrieben.« Doug blickte ruckartig auf, doch es war offensichtlich, dass sein Freund keinen Witz machte. Er meinte es vollkommen ernst. Und er hatte eine Heidenangst. »Da. Lies.« Hobie gab ihm ein Blatt, auf dem in einer kräftigen, schwungvollen Handschrift eine Nachricht stand. Doug konnte die Schrift nicht lesen, und so stand er auf und zog den Vorhang auf, um Sonnenlicht hereinzulassen. Bei Tageslicht sah der Wohnwagen noch schlimmer aus als im Dunkeln. Es war abstoßend dreckig. »Er sagt, dass er mich besuchen kommt«, sagte Hobie ruhig. Doug las den Brief: Bruderherz, hab endlich Heimaturlaub bekommen. In ungefähr einer Woche komme ich dich besuchen, sobald ich einen Transport weg von hier erwische. Ich bring dir Frischfleisch mit, von dem keiner was weiß, sodass wir richtig Spaß haben können. Sie ist zwölf und noch Jungfrau. Das hat jedenfalls der Typ gesagt, der sie mir verkauft hat. Ich bringe auch meine Messer mit. Bis bald. Der Brief war mit »Dan« unterschrieben und trug das Datum der vergangenen Woche. Doug faltete das Blatt zusammen und schaute Hobie an. »Du weißt, dass das nicht echt ist«, sagte er. »Er macht das. Der Postbote. Er versucht ...« »Es ist Dan«, beharrte Hobie. »Ich kenne meinen Bruder.« Doug leckte sich die Lippen, die plötzlich ganz trocken geworden waren. »Was bedeutet das mit dieser Zwölfjährigen? Und was meint er damit, wenn er schreibt, dass er seine Messer mitbringt?« Hobie stand auf und ging nervös auf und ab. Sein Gang hatte etwas von einem Tier in einem Käfig. »Ich will ihn nicht sehen«, sagte er. »Was ist mit dem zwölfjährigen Mädchen und den Messern?« Hobie blieb stehen. »Das kann ich dir nicht sagen.« Mit angsterfülltem Blick sah er Doug an. »Ich will nicht, dass er hierherkommt. Er ist mein Bruder, und ich habe ihn nicht gesehen, seitdem ich sechzehn war, aber ... aber er ist tot. Er ist tot, Doug.« Hobie begann wieder herumzulaufen. »Ich will nicht, dass er hierherkommt. Ich will ihn nicht sehen.« Er atmete tief ein. »Ich habe Angst vor ihm.« Doug hörte die Panik in der Stimme seines Freundes, eine drohende Hysterie dicht unter der Oberfläche. Er stand auf, legte Hobie die Hände auf die Schultern und blickte ihm fest in die Augen. »Hör mal«, sagte er, »ich weiß, dass du die Handschrift deines Bruders erkennst. Ich weiß, dass in den Briefen Dinge stehen, die nur er wissen könnte. Aber hör mir genau zu: Es ist ein Trick. Der Postbote macht das. Du weißt genauso gut wie ich, was in der Stadt los ist, und wenn du logisch darüber nachdenkst, wirst du erkennen, dass mit dir dasselbe passiert. Du hast selbst gesagt, dass dein Bruder tot ist. Es tut mir leid, dass ich so direkt sein muss, aber glaubst du wirklich, dass seine verweste Leiche in einem Transportflugzeug von Vietnam kommt, in Phoenix landet und einen Bus oder ein Taxi nimmt, um nach Willis zu fahren? Ergibt das irgendeinen Sinn für dich?« Hobie schüttelte den Kopf. »Es ist der Postbote«, sagte Doug. Hobie sah Doug in die Augen, und zum ersten Mal, seitdem Doug den Wohnwagen betreten hatte, schien sein Freund sich wieder im Griff zu haben. »Ich weiß«, sagte er. »Ich weiß, dass der Postbote das macht. Die Briefe kommen nachts. Ich kann nicht mehr schlafen, weil ich wach bleibe und horche, bis ich sein Auto höre und das Klappern, wenn er die Briefe in den Kasten steckt. Ich würde am liebsten zum Postamt gehen und den Hurensohn windelweich prügeln, aber ich habe Angst vor ihm, weißt du? Vielleicht ... vielleicht trägt er wirklich Dans Briefe aus. Vielleicht kann er Dan von den Toten zurückholen.« »Er versucht nur, Druck auf dich auszuüben, bis du zusammenbrichst.« Hobie lachte nervös auf. »Er macht seine Arbeit verdammt gut.« Er wandte sich von Doug ab und ging in seine verwahrloste Küche, nahm eine Flasche Jack Daniels vom vollgestellten Regal und goss sich einen Schluck in ein schmutziges Glas. In einem raschen Zug stürzte er den Whisky hinunter. »Wenn er diese Briefe fälscht und selbst schreibt, dann weiß er viele Dinge, die nur Dan wissen konnte. Er war sogar fähig, seine Handschrift perfekt zu kopieren. Wie erklärst du das?« »Das kann ich nicht.« Hobie goss sich noch einen Schluck ein und trank ihn. »Da geht eine ganz beschissene, ganz böse Sache vor sich«, sagte er. »Eine ganz, ganz böse Sache.« Doug nickte. »Da hast du recht.« Hobie sah ihn an. »Er ist kein Mensch, oder?« »Ich glaube nicht«, gab Doug zu, und allein, dass er es laut aussprach, ließ ihn schaudern. »Aber ich weiß nicht, was er ist.« »Nun, was immer er ist, er kann die Toten zurückholen. Dan hat mir geschrieben. Und jetzt kommt er mich besuchen.« »Vielleicht sollten wir der Polizei erzählen ...« »Scheiß auf die Polizei!« Hobie knallte sein Glas auf den Tisch und vergoss dabei den Rest Whisky. Er schüttelte den Kopf, und seine Stimme war nun sanfter. »Keine Polizei.« »Warum?« »Darum.« »Sag schon, warum?« »Verdammt, wenn du so anfängst, dann verschwinde von hier, und geh nach Hause.« Beschwichtigend hielt Doug die Hände hoch. »Okay, okay.« Und er blieb schweigend da, während Hobie Glas für Glas die Flasche leerte. Er ging erst, nachdem Hobie auf der Couch eingeschlafen war. Fünfmal klingeln. Sechs. Sieben. Acht. Beim zehnten Klingeln legte Trish schließlich auf. Irgendwas stimmte nicht. Irene meldete sich immer bis zum dritten Klingeln. Es war möglich, dass sie nicht zu Hause war, aber nicht wahrscheinlich. In letzter Zeit schien sie nicht in der Stimmung gewesen zu sein, überhaupt noch das Haus zu verlassen. Vielleicht musste sie Lebensmittel kaufen. Nein, dachte Trish. Irgendetwas war geschehen. Sobald Doug zurück war, würden sie beide zu Irene fahren und nachsehen, ob es ihr gut ging. Wieder nahm sie den Hörer ab und wählte Irenes Nummer. Einmal Klingeln. Zweimal. Drei. Vier. Fünf. Sechs. Aus einem Impuls heraus hielt Doug gleich hinter der Kreuzung am Straßenrand. Der Nachmittag war halb vorbei, und die Zikaden waren in Hochform. Ihr tiefes Summen war der einzige Kontrapunkt zum gedämpften Geplätscher und Gemurmel des Bachs. Neben der Straße waren die Ufer schmal und felsig. Schösslinge und Jungpflanzen bildeten ein Labyrinth, das jeden Versuch vereitelte, dort entlangzugehen. Doug trug seine guten Tennisschuhe, und er wusste, dass er am Ufer bleiben sollte, doch er stieg trotzdem mitten in den Bach und wartete dort eine Weile, bis seine Füße sich an die Kälte des Wassers gewöhnt hatten, ehe er flussaufwärts ging. Er watete zu der Stelle, wo Billy die Post entdeckt hatte. Seit dem Picknick war er nicht mehr dort gewesen, obwohl er oft daran gedacht hatte. Er hatte nie davon gehört, dass die Polizei das Gelände untersucht hätte. Sie hatten die feuchten Briefumschläge an sich genommen, und Mike hatte John Smith damit konfrontiert, doch am Creek waren keine Nachforschungen angestellt worden. Die Einsamkeit des Ortes war Doug überdeutlich bewusst. Hohe Steilhänge erhoben sich auf beiden Seiten des Bachs, und es waren keinerlei menschliche Geräusche zu hören. Doug bewegte sich weiter vorwärts. Es war dumm gewesen, ganz allein hierherzukommen, ohne jemandem zu sagen, wo er war. Er hätte wenigstens Trish anrufen sollen. Wenn ihm etwas zustieß ... Doug kam an der Stelle neben dem Pfad vorbei, wo sie ihr Picknick gemacht hatten, und watete weiter durchs Wasser. Die Flussbiegung lag direkt vor ihm. Wie viele Briefe würden jetzt dort sein? Vielleicht wurde die Post dort nicht mehr einfach nur abgeladen. Vielleicht benutzte der Postbote die weggeworfene Post nun für bestimmte Zwecke. Vor seinem inneren Auge sah Doug eine Poststadt mit kleinen Hütten, die neben dem Bach aus Millionen von weggeworfenen Umschlägen gebaut worden waren - Briefe, die sorgfältig zu Fundamenten und Böden, Wänden und Dächern arrangiert worden waren. Das war verrückt. Aber was war in diesen Tagen nicht verrückt? Doug stand direkt vor der letzten Biegung und lauschte auf Geräusche, hörte aber nur das Wasser und die Zikaden. Langsam bewegte er sich vorwärts und spähte um die Biegung. Da war nichts. Die Post war verschwunden. Doug war beinahe erleichtert. Beinahe. Seine Genugtuung, dass er den Postboten gezwungen hatte, die Briefe woanders abzuladen, wurde durch die bittere Erkenntnis zunichte gemacht, dass John Smith erschreckend gründlich bei der Beseitigung der bereits weggeworfenen Post gewesen war. Tausende von Umschlägen hatte er aus dem Wasser, vom Boden, von den Bäumen und Büschen eingesammelt und weggebracht, Stück für Stück. Billy war oben, als Doug nach Hause kam, und saß vor seinem eigenen Fernseher, weil Trish im Wohnzimmer die Phil Donahue Show eingeschaltet hatte, ihre politische Lieblingstalkshow. Offenbar war die Stromversorgung endlich wiederhergestellt. Trish war in der Küche und schnippelte Gemüse. Doug sagte ihr, sie solle aufhören, zog sie hinter sich her ins Wohnzimmer und setzte sie auf die Couch. Er erzählte ihr, was Hobie passiert war. Trish wurde immer blasser, als sie schweigend dasaß und sich Dougs Geschichte anhörte. »Mit Irene macht er dasselbe«, sagte sie leise, als Doug geendet hatte. »Was ist denn mit ihr?« Trish zögerte keine Sekunde: Obwohl sie Irene versprochen hatte, weder Doug noch der Polizei zu erzählen, was geschehen war, war dieses Versprechen nicht mehr gültig. Ihre Freundin war möglicherweise in Gefahr, und es war wichtiger, ihr zu helfen, als irgendein lächerliches Versprechen zu halten. Trish erzählte Doug von dem Zeh und von Irenes Mann und seinem Unfall und berichtete ihm auch, dass sie selbst an diesem Nachmittag vier- oder fünfmal anzurufen versucht hatte, dass aber niemand ans Telefon gegangen war. »Du lieber Himmel! Warum hast du nicht die Polizei verständigt?« »Ich habe nicht gedacht ...« »Das stimmt. Du hast nicht gedacht.« Doug ging zum Telefon im Wohnzimmer und nahm den Hörer ab. Die Leitung war tot. »Mist!« Wütend knallte er den Hörer auf die Gabel und blickte zu Trish hinüber. »Komm, mach dich fertig. Wir sprechen mit der Polizei.« Er ging nach oben. Billy lag auf dem Bett und schaute Verliebt in eine Hexe an. »Wir fahren in die Stadt«, sagte Doug. »Zieh dir die Schuhe an.« Billy nahm den Blick nicht vom Fernseher. »Ich will die Sendung sehen.« »Sofort!« »Warum kann ich nicht hierbleiben?« »Weil ich es sage. Jetzt zieh dir die Schuhe an, oder der Fernseher bleibt auf Dauer aus.« Doug stieg wieder die Treppe hinunter und sah nach, ob die Hintertür abgeschlossen war. Trish kam aus dem Bad und kämmte sich das Haar zurück. Um die Schulter hatte sie ihre Tasche geschlungen. Auf der Treppe waren Billys wütend stampfende Schritte zu hören. »Gehen wir«, sagte Doug. Den ganzen Weg zur Stadt schwiegen sie. Trish saß besorgt neben Doug, und Billy hatte sich wütend, mit vor der Brust verschränkten Armen auf den Rücksitz gequetscht. Doug fuhr auf den Parkplatz des Polizeireviers und parkte neben einem verbeulten Buick. Er sagte zu Billy, dass er im Wagen warten solle; dann gingen er und Trish ins Gebäude. Der diensthabende Officer kam sofort nach vorn zum Empfang, als er die beiden sah. »Kann ich Ihnen helfen?« Doug ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Wo ist Mike?« »Welcher Mike?« »Mike Trenton.« »Es tut mir leid, aber Informationen über Schichten und Arbeitszeiten der Polizeibeamten sind vertraulich.« »Hören Sie, ich kenne Mike. Okay?« »Würden Sie ihn so gut kennen, müssten Sie nicht danach fragen, wo er ist«, erwiderte der Polizist. »Tut mir leid, aber aus Sicherheitsgründen darf ich Ihnen keine Informationen darüber geben. Kann ich Ihnen sonst irgendwie helfen?« »Das hoffe ich.« Doug erzählte dem Sergeant von Hobie und Irene. Zuerst ließ er die Einzelheiten aus und erklärte lediglich, dass ihre Freunde vom Postboten genötigt und belästigt würden, doch als der Sergeant zu einem belanglosen »Wir werden uns darum kümmern« ansetzte, beschloss Doug, alles zu berichten. »Hobie Beecham hat mehrmals Briefe von seinem toten Bruder bekommen«, sagte er. »Irene Hill wurde mit der Post ein abgetrennter Zeh geschickt. Hobie Beecham ist völlig verzweifelt. Im Moment liegt er sturzbetrunken auf seiner Couch und schläft. Und Irene geht gar nicht mehr ans Telefon. Also - glauben Sie, dass Sie in Ihrem engen Zeitplan ein paar Minuten abzweigen könnten, um der Angelegenheit nachzugehen?« Das Verhalten des Sergeants veränderte sich schlagartig. Plötzlich war er eifrig bemüht zu helfen, auch wenn er dabei eine seltsame, ängstliche Nervosität an den Tag legte. Er notierte Dougs und Trishs Namen und Adresse sowie die Anschriften von Hobie und Irene. Er weiß es, dachte Doug. Er hat selbst Briefe bekommen. »Ich schicke einen Officer, der Mister Beecham und Mrs. Hill befragt«, sagte der Sergeant. Doug warf einen Blick auf die Wanduhr: Es war beinahe vier; das Postamt würde noch eine Stunde geöffnet sein. »Was ist mit John Smith? Werden Sie auch jemanden zum Postamt schicken, um mit ihm zu reden?« »Natürlich.« »Ich komme mit.« Der Sergeant schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, aber Zivilpersonen ...« »Schon gut.« Doug lächelte dünn. »Dann gehe ich eben selbst zum Postamt und bin zufällig zur gleichen Zeit da wie Ihr Kollege.« Er sah Trish an. »Gehen wir.« Die beiden verließen die Polizeiwache, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Doug schwitzte; sein Körper war aufgeladen mit Adrenalin. Er hatte die Wagenschlüssel bei Billy gelassen, der das Autoradio eingeschaltet hatte. Die Laune des Jungen schien sich während der Abwesenheit seiner Eltern gebessert zu haben. Er war nicht mehr schweigsam und mürrisch, als sie in den Wagen stiegen. »Warum sind wir eigentlich hier?«, fragte er. »Wir ... nun ja«, druckste Trish herum. »Es geht um den Postboten, stimmt's?« Während Doug den Motor anließ, sah er seinen Sohn im Innenspiegel an. »Ja«, gab er zu. »Werden sie ihn kriegen?« Doug nickte. »Das hoffe ich doch.« Billy lehnte sich im Rücksitz zurück. »Ich glaub aber nicht, dass sie ihn kriegen.« Doug antwortete nicht. Er wartete einen Augenblick, bis er Tim Hibbard und zwei andere Officers aus dem Revier kommen sah. Tim winkte ihm, dass er ihm folgen sollte. Doug legte den Rückwärtsgang ein, fuhr den Bronco aus der Parklücke, setzte sich hinter den Streifenwagen und folgte ihm vom Parkplatz auf die Straße und zum Postamt. »Bleibt hier«, sagte Doug, als er aus dem Wagen stieg. Tim wartete schon neben dem Eingang des Gebäudes auf ihn. Trish löste ihren Sicherheitsgurt. »Auf keinen Fall. Ich komme mit.« »Ich auch«, sagte Billy. »Du bleibst auf jeden Fall hier, Billy«, widersprach Doug. »Ja«, pflichtete Trish ihm bei. »Warum konnte ich dann nicht gleich zu Hause bleiben und fernsehen?« Weil ich Angst hatte, dich allein zu lassen, antwortete Doug stumm, schüttelte nur den Kopf und sagte nichts. Er ließ die Schlüssel im Zündschloss stecken, stellte im Radio Billys Lieblingssender ein und schloss die Wagentür. Dann gingen er und Trish zu Tim hinüber, der auf sie wartete. Der Officer grinste, als sie näher kamen. »Der Chief wäre stocksauer, wenn er wüsste, dass Sie hier bei mir sind«, sagte er. »Er kann Sie nicht leiden, wissen Sie.« Doug tat, als wäre er überrascht. »Moi?« Tim lachte. Doug blickte zur Tür des Postamts. Die Nachmittagssonne wurde vom Glas reflektiert, sodass man nur mit Mühe ins Innere schauen konnte, doch es schienen keine Kunden im Gebäude zu sein. Er wandte sich an Tim. »Wo ist Mike?« »Sie wollen die Wahrheit wissen? Er wurde von diesem Fall abgezogen, weil der Chief glaubt, dass er zu nahe dran ist.« »Zu nahe an mir, meinen Sie.« »Stimmt.« »Und mit ›dieser Fall‹ meinen Sie den Postboten?« Wieder lächelte Tim. »Inoffiziell.« »Na, wenigstens tut sich etwas. Ich habe mir schon Sorgen um euch Polizisten gemacht.« »Der Chief glaubt immer noch, dass das alles bloß Quatsch ist, und wir haben immer noch nichts nachweisen können.« »Bis jetzt«, sagte Trish. »Wir werden sehen.« Tims Blick wanderte von Trish zu Doug. »Sind Sie bereit?« Doug nickte. »Packen wir's an.« Der Tag neigte sich dem Abend zu, die Luft wurde kühler, doch im Postamt war es heiß und schwül. Doug fiel sofort auf, dass das Innere sich wieder verändert hatte: Die Wände, früher im tristen Graugrün öffentlicher Gebäude gestrichen, waren nun tiefschwarz. Doug war noch nie die Farbe des Fußbodens aufgefallen - er war blutrot. Die Plakate an den Wänden zeigten Briefmarken, die es unmöglich geben konnte. Blutige Folterszenen. Widernatürlicher Sex. Hinter dem Schalter sah Doug seine ehemalige Schülerin Giselle. Sie sortierte Briefe. In ihrer neuen blauen Uniform, das Haar streng unter der Kappe zurückgekämmt, sah sie fremd aus, wie eine Nazibraut; ihr Anblick an diesem Ort ließ sie wie eine ganz andere Person erscheinen. Sie wirkte irgendwie beschmutzt, verdorben, weil sie nun die Kollegin des Postboten war - als hätte sie dadurch allen anderen in der Stadt, ihren Eltern und ihren alten Freunden, den Rücken zugewandt und sie verraten. Doug schoss der Gedanke durch den Kopf, dass es die ganze Zeit das Ziel des Postboten gewesen war, eine Art paramilitärische Organisation aufzubauen und dafür die Jugendlichen in Willis zu benutzen. Eine Jugendtruppe, die die Macht im Ort übernehmen würde. Aber diese Theorie war zu einfach. Es musste viel mehr dahinterstecken. Das wahre Ziel des Postboten, da war Doug sicher, war viel größer und schrecklicher. Hatte er überhaupt ein Ziel? War das alles nicht bloß ein irrsinniger Traum? Als Englischlehrer beschäftigte Doug sich ständig mit Themen und Motiven in der Literatur, und er neigte dazu, der Wirklichkeit ähnliche Strukturen zuzuschreiben. Aber dies hier war kein Roman, in dem die Handlung aus ganz bestimmten Gründen stattfindet: um einen Charakter zu beleuchten, eine Wahrheit zu enthüllen oder ein Ziel zu erreichen. Es war durchaus möglich, dass der Postbote nicht zu einem bestimmten Zweck in dieser Stadt war oder als Teil irgendeines großen, düsteren Planes, sondern nur zu seiner eigenen Unterhaltung, zum Privatvergnügen. Oder ohne besonderen Grund. Doug griff nach Trishs Hand und hielt sie fest. Tim räusperte sich und näherte sich dem Schalter. Auch er musste vom Zustand des Postamts überrascht worden sein, doch er ließ sich nichts anmerken. »Ich muss mit Mister Crowell und Mister Smith sprechen«, sagte er. Giselle blickte von ihrer Arbeit hoch und schaute von Tim zu Doug und Trish. Sie lächelte Doug an, und er bereute sofort, dass er sie so oberflächlich beurteilt hatte. Sie hatte sich also doch nicht verändert. Warum aber arbeitete sie dann für den Postboten? »Ist Howard da?«, fragte Doug. Giselle schüttelte den Kopf. »Er ist immer noch krank.« »Würden Sie Mr. Smith bitte ausrichten, dass ich ihn sprechen möchte?«, sagte Tim. Der Postbote kam aus dem hinteren Raum. Wie immer war er in seine makellose Uniform gekleidet. Doug fiel auf, dass sein Haar fast dieselbe leuchtend rote Farbe hatte wie der Boden. »Guten Tag, Gentlemen«, sagte er. Er lächelte Trish an und nickte. »Ladys.« Trish versuchte, sich hinter Doug zu verstecken. Sie mochte die Augen des Postboten nicht. Sie mochte das Lächeln des Postboten nicht. Sie sind hübsch. Seine Augen blieben auf Trish gerichtet und hielten ihren Blick fest, obwohl sie verzweifelt wegzuschauen versuchte. »Wie geht es Ihrem Sohn?« Die Frage wirkte ganz unschuldig und beiläufig, doch unter dem oberflächlichen Interesse lag eine tiefere, obszöne, Furcht einflößende Bedeutung. Billy ist auch hübsch. »Wir sind nicht hierhergekommen, um zu plaudern«, entgegnete Doug kühl. »Uns liegen Berichte vor, dass die Post manipuliert worden ist«, sagte Tim. Seine Stimme war ruhig und fest, aber Doug hörte einen Anflug von Angst darin. Er wusste, dass John Smith es ebenfalls hörte. »Zwei Einwohner haben sich beschwert, dass sie ziemlich ...«, er suchte nach dem richtigen Wort, »... bizarre Gegenstände zugestellt bekommen haben.« John Smith starrte den Polizisten ruhig an. »Was denn, zum Beispiel?« »Illegale Gegenstände.« Der Postbote lächelte geduldig und verständnisvoll. »Der Postal Service ist für den Inhalt der Sendungen, die er befördert, nicht verantwortlich, und kann nach den Gesetzen des Bundes nicht für Schäden haftbar gemacht werden, die als Ergebnis der Beförderung entstehen. Wir sind jedoch ebenso besorgt wie Sie über den Missbrauch des Postsystems und sind zur uneingeschränkten Zusammenarbeit bereit, wenn es darum geht, dieses Problem an der Wurzel zu packen.« Tim wusste nicht, wie er reagieren sollte, und blickte Doug Hilfe suchend an. »Sie selbst schicken Post«, stellte Doug fest. Der Blick des Postboten war unerschütterlich und unergründlich. »Natürlich«, entgegnete er. »Wir alle verschicken Post. Wollen Sie damit sagen, dass ich selbst keine Briefe und Päckchen verschicken darf, nur weil ich für die Post arbeite? Halten Sie das für eine Art Interessenkonflikt?« Er lachte. Es war ein falsches, künstliches Lachen, von dem Doug wusste, dass er es durchschauen sollte. Das Gespräch, erkannte Doug, funktionierte auf zwei Ebenen. Der Postbote drohte ihm. John Smith lächelte. »Ich muss genauso Porto bezahlen wie jeder andere. Ich bekomme nicht einmal Rabatt. Aber es gibt keine Begrenzung bei der Zahl von Briefen, die ich verschicken kann. Ich kann so viele Briefe, Pakete und Päckchen schicken, wie ich möchte.« »Haben Sie Drohbriefe verschickt?«, fragte Tim. »Haben Sie irgendwelche Körperteile verschickt?« Der Postbote tat nicht einmal so, als wäre er überrascht. »Mir gefallen Ihre Unterstellungen nicht«, entgegnete er. »Ich fürchte, ich werde dieses Postamt durchsuchen müssen.« »Ich fürchte, Sie werden sich einen Durchsuchungsbeschluss besorgen müssen«, entgegnete der Postbote. »Und ich fürchte, es wird ziemlich schwer für Sie sein, einen Beschluss zu bekommen, um ein Amtsgebäude der Bundesregierung zu durchsuchen.« Er blickte an Doug und Trish vorbei aus dem Fenster. »Wie geht es Billy heute?«, fragte er. »Lassen Sie Billy in Ruhe, Sie verdammter ...« Trish starrte ihn wütend an. John Smith kicherte. Doug bemerkte, dass Giselle hinter dem Schalter vom Postboten zurückwich. Sie sah verwirrt aus. »Ich fürchte, die Gentlemen«, der Postbote lächelte Trish an, »und Ladys werden mich entschuldigen müssen. Ich habe zu arbeiten.« »Ich bin noch nicht mit Ihnen fertig«, sagte Tim. »Aber ich mit Ihnen«, erwiderte der Postbote, und in seiner Stimme lag etwas, das die anderen verstummen ließ. Sie beobachteten, wie Smith sich in den hinteren Teil des Gebäudes zurückzog. Giselle versuchte, entschuldigend zu lächeln, doch ihr Lächeln geriet ziemlich daneben. »Sagen Sie Howard, er soll mich anrufen«, sagte Doug zu Giselle. »Wenn Sie ihn je zu Gesicht kriegen.« Giselle warf einen Blick hinter sich, um sicherzugehen, dass sie nicht beobachtet wurde; dann schüttelte sie leicht den Kopf. »Zur Hölle mit dem Durchsuchungsbeschluss«, sagte Tim wütend. »Ich werde einen Haftbefehl besorgen. Verschwinden wir von hier.« Sie verließen das heiße, dunkle Gebäude und gingen hinaus an die frische Luft. Hinter ihnen, irgendwoher tief in den Eingeweiden des Postamts, erklang das Lachen des Postboten. 32. Am nächsten Tag fiel wieder das Telefon aus, und Doug musste in die Stadt fahren, wo er erfuhr, dass die Polizei Hobie und Irene befragt hatte. Beide hatten geleugnet, ungewöhnliche Postsendungen erhalten zu haben. Doug hatte mit dem diensthabenden Sergeant gesprochen, da weder Mike noch Tim auf der Wache waren. Als er anschließend zu Hobie fuhr, weigerte sich sein Freund, die Tür zu öffnen, und tat so, als wäre er nicht zu Hause. Bei Irene war es genauso. 33. Billy wachte früh auf. Seine Nase war verstopft, seine Augen juckten und tränten, und er fühlte sich so unwohl, dass er den Albtraum, aus dem er erwacht war, beinahe sofort vergaß. Er nieste, nieste noch einmal und wischte sich die Nase am Bettlaken ab, da kein Taschentuch greifbar war. Es würde einer dieser Allergietage werden. Er hatte es im Gefühl. Mit offenen Augen lag Billy auf dem Kissen. Mehr als einmal hatten seine Eltern darüber gesprochen, mit ihm nach Flagstaff zu fahren, um eine Allergieuntersuchung machen zu lassen und herauszufinden, wogegen genau er allergisch war. Doch als Billy erfahren hatte, dass bei der Untersuchung Nadeln im Spiel waren, hatte er prompt sein Veto eingelegt. Er hasste nichts so sehr wie Nadeln. Die Allergie war scheußlich, aber zu ertragen, und sie dauerte normalerweise nicht länger als ein oder zwei Tage. Jedenfalls war sie unendlich viel angenehmer, als gepiekst und gekratzt und gestochen zu werden. Er nieste wieder. Eigentlich hatte er vorgehabt, Brad und Michael zum Fort mitzunehmen und sich die Playboys anzuschauen. Die Zwillinge hatten nie geglaubt, dass Billy und Lane wirklich so viele Magazine hatten, wie sie behaupteten, und hatten oft darum gebettelt - sogar Geld dafür geboten -, ins Fort gelassen zu werden. Lane hatte stets abgelehnt und darauf bestanden, dass es nur den ursprünglichen Erbauern gestattet war, das Innere des Forts zu sehen. Aber nun war Lane fort, und Billy hatte beschlossen, die Zwillinge zu sich einzuladen. Brad hatte ein wenig seltsam geklungen, als er am Telefon mit ihm gesprochen hatte, beinahe feindselig, als wäre er aus irgendeinem Grunde sauer. Aber da Billy sonst niemanden hatte, mit dem er sich herumtreiben konnte, durfte er nicht wählerisch sein. Außerdem wollte er mal wieder jemand anderen als seine Familie sehen. Und er wusste, dass die Playboy-Sammlung die Zwillinge schwer beeindrucken würde. Er zwang sich aufzustehen. Hinter seinen Augen fühlte sich alles dick und schwer an. Es war unvernünftig, durch den Wald zu gehen, wo seine Allergie so schlimm war; das wusste Billy. Die vielen Pflanzen würden seinen Zustand wahrscheinlich noch verschlimmern. Aber er wollte nicht den ganzen Tag im Bett verbringen. Während der Schulzeit war das okay, wenn er Mom überreden konnte, ihm Toast und Tee zu bringen, und wenn er bis zum Nachmittag im Pyjama im Bett lag und sich Zeichentrickfilme und Fernsehserien anschaute, aber wenn es Sommer war und er Pläne für den Tag hatte ... Billy stand auf und schlurfte durchs Zimmer zum Kleiderschrank, holte seinen Bademantel heraus und zog ihn an. In der Tasche des Mantels hatte sich ein altes Taschentuch verkrochen, und Billy benutzte es, um sich die Nase zu putzen. »Allergie?«, rief seine Mom von unten. Er antwortete nicht in der Hoffnung, dass sie mit dem weitermachte, was immer sie gerade tat, und ihn in Ruhe ließ. Er ging zum Fenster und schaute hinaus. Der Himmel war bedeckt und die Morgensonne ein verborgenes Licht, das im Osten einen kleinen Teil der Wolkendecke schwach leuchten ließ. Über der gezackten Silhouette der Kiefern konnte Billy einen einsamen Falken erkennen, der sich zur Kuppe des Hügels hinaufschraubte. Obwohl es nicht regnete, war der Boden nass und das Fenster beschlagen. Vielleicht würde er die Zwillinge doch nicht zum Fort bringen. Billy stieg die Treppe hinunter. Der Strom war wieder da, und sein Dad sah sich die Frühnachrichten an. Mom stand mit dem Rücken zu ihm in der Küche am Spülbecken und blickte aus dem Fenster zum Wald hinüber. Auf der Küchentheke standen mehrere Schachteln mit ballaststoffreichen Getreideflocken sowie frisch gepresster Orangensaft. Neben dem Toaster lag ein aufgeschnittener Laib Vollkornbrot. Es war alles wieder normal. Billy nieste und wischte sich die Nase am Ärmel des Bademantels ab. Er konnte kaum atmen, und sein Kopf pochte im Rhythmus seines Pulsschlags. Doch als Mom sich mit fragendem Blick zu ihm umdrehte, sagte er: »Es geht mir gut«, noch ehe sie ihn fragen konnte, wie er sich fühlte. »Du siehst aber nicht gut aus«, entgegnete sie, wobei sie zum Geschirrschrank ging. Sie nahm ein Glas heraus, goss Orangensaft hinein und reichte es Billy. »Du siehst krank aus.« »Allergie.« Trish nickte. »Das ist der Regen. Der wirbelt die Sporen auf. Trink deinen Saft, und nimm Vitamin C.« Billy setzte sich an die Theke und nippte am Glas. Er wählte die Frühstücksflocken aus, die am wenigsten mies schmeckten, schüttete seine Schale ungefähr halb voll und streute mehrere Löffel Zucker darüber. »Was tust du da?«, fragte Mom. »Ohne Zucker krieg ich das Zeug nicht runter.« »Einen Löffel. Mehr nicht.« Billy grinste sie an. »Zu spät.« Er goss Milch in die Schale. »Beeil dich, Billy«, sagte Doug, der in die Küche kam. »Wir fahren heute Morgen einkaufen, und ich möchte so schnell wie möglich damit fertig werden.« Billy schluckte die Frühstücksflocken herunter. »Ich will nicht mit.« »Du musst aber.« »Aber meine Allergie! Ich fühl mich krank. Ich glaube, ich bleib zu Hause.« »Ich dachte, es geht dir gut, du Schwindler.« Mom versuchte, es spielerisch klingen zu lassen, doch Billy konnte einen gespannten Unterton hören. In den Blicken, die Mom über seinen Kopf hinweg Dad zuwarf, sah er Besorgnis. »Warum willst du wirklich hierbleiben?« »Vielleicht kommen Brad und Michael rüber. Wir wollten im Fort spielen.« »Du kommst mit uns«, sagte Dad. »Ihr behandelt mich immer, als wäre ich ein Baby. Ich bin alt genug, um allein zu bleiben. Lanes Eltern haben ihn schon mal zwei Tage allein gelassen!« »Wann?«, fragte Mom. »Als du über Nacht bei ihm geblieben bist?« »Nein«, log Billy. »Wo ist Lane eigentlich? Ich habe ihn in letzter Zeit gar nicht gesehen. Habt ihr euch gestritten?« Billy sah Mom an und spürte, wie sein Magen sich zusammenzog. Nackt. »Jaa«, sagte er gedehnt, vergrub den Löffel in den Frühstücksflocken und konzentrierte sich auf seine Schale. Er wollte Mom nicht ansehen und nicht an Lane denken. Dad schüttete den letzten Schluck seines Kaffees ins Spülbecken und spülte die Tasse aus. »Du solltest heute besser mit uns kommen«, sagte er. Billy blickte zu seinem Vater. »Ich bin hier sicherer«, entgegnete er. Doug und Trish wechselten einen langen Blick. Obwohl niemand etwas gesagt hatte, war allen dreien die unausgesprochene Bedeutung klar, und offensichtlich hatte Billy mit dem Wort »sicherer« einen Nerv getroffen. Er wusste nicht, ob es stimmte, dass er zu Hause tatsächlich sicherer war, aber er hatte einfach keine Lust, in die Stadt zu fahren. Dad starrte ihn weiter an, doch Billy hielt dem Blick stand und sah, wie sich im Gesicht seines Vaters die gegensätzlichsten Gefühle spiegelten. Schließlich blickte Dad weg und stellte seine Kaffeetasse auf den Trockenständer. »Bist du sicher, dass du hier alleine klarkommst?«, fragte er. Billy nickte. »Du darfst das Haus nicht verlassen«, warnte Doug ihn. »Ich möchte nicht, dass du vor die Tür gehst, ehe wir zurück sind. Hast du verstanden?« »Ja.« »Wenn Brad und Michael kommen«, fügte er hinzu, »bleibst du mit ihnen hier drinnen, und ihr seht fern oder guckt euch ein Video an.« Billy nickte. »Geht klar.« Mom legte Dad eine Hand auf die Schulter. »Ich bin sicher, dass es Billy gut geht.« Sie beendeten schweigend ihr Frühstück. Dad ging wieder zum Fernseher und Mom ins Bad, um sich fertig zu machen. Irgendetwas hatte sich zwischen ihnen verändert, und beinahe wünschte Billy sich, er würde doch mit seinen Eltern zum Einkaufen fahren. Er nieste und wischte sich die Nase am Ärmel ab. Eine halbe Stunde später waren Doug und Trish startklar. Sie gaben Billy noch einen Schwung Verhaltensregeln, als würden sie zu einer wochenlangen Reise aufbrechen statt zu einer zehnminütigen Fahrt zum Supermarkt. Billy beobachtete, wie seine Eltern wegfuhren; dann warf er einen Blick in die Küche. Sie hatten sich um den größten Teil des Frühstücksgeschirrs gekümmert, ihm aber noch einiges übrig gelassen. Der Zucker, der Orangensaft und die Tüten mit den Frühstücksflocken standen noch auf der Theke und warteten darauf, dass er sie wegräumte. Das Fernsehgerät war schon ausgeschaltet, und Billy knipste nun auch das Licht aus. Das Haus wurde dunkel und glitt in einen künstlichen Zustand zwischen Tag und Nacht. Für einen Augenblick setzte Billy sich auf die Couch, um es zu genießen. Es war irgendwie cool, an einem Tag, der durch die Wolken verdunkelt war, im Haus zu bleiben. Besonders wenn er allein war. Es war ein merkwürdiges Gefühl - ganz anders als das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit, wenn er an einem verschneiten Wintertag warm im trockenen Haus saß. Ganz anders auch als das beengende Gefühl, an einem sonnigen Sommertag drinnen gefangen zu sein. Billy kam sich vor, als wäre er schon erwachsen, und als wäre das sein eigenes Haus. Draußen begann es zu regnen. Billy konnte deutlich das leise Prasseln der Regentropfen auf dem Dach hören. Er sah auf die Uhr. Es war fast halb zehn. Die Zwillinge wollten zwischen halb zehn und zehn kommen. Es war klar, dass sie nicht zum Fort gehen konnten, wenn es weiter so heftig regnete, aber sie konnten sich drinnen irgendwie beschäftigen, bis das Wetter besser wurde. Zuerst musste Billy allerdings die Sachen vom Frühstück wegräumen. Er stand auf und ging in die Küche, stellte den Orangensaft in den Kühlschrank und die Schachteln in den Schrank. Als er zum Toaster ging, warf er einen Blick auf die Theke. Neben dem Brotlaib lag ein länglicher weißer Umschlag. Ein Umschlag, der an ihn adressiert war. Wie ein eisiger Finger fuhr die Angst an seinem Rücken herunter. Er starrte auf das weiße Rechteck aus Papier. War der Umschlag vorher auch schon da gewesen? Das war unmöglich. Wäre er da gewesen, hätte er ihn gesehen. Billy wollte weggehen, aus der Küche nach oben, bis seine Eltern zurückkamen, aber der Umschlag zog ihn magisch an. Er starrte darauf, konnte den Blick einfach nicht abwenden. Schließlich griff er ganz langsam danach, als wäre eine Briefbombe darin, und hob ihn vorsichtig hoch. Er wollte den Umschlag nicht öffnen. Er hatte sogar Angst davor, ihn zu öffnen. Aber er musste einfach wissen, was darin war. Vorsichtig drückte er mit den Fingern gegen den Umschlag, um sicher zu sein, dass er keine Fotos enthielt. Seine Mutter, nackt. Billys Hand zitterte. Es waren keine Fotos darin; der Umschlag war biegsam, nicht steif, und mit einer einzigen, raschen Bewegung riss er ihn auf. Auf dem weißen Blatt waren nur vier Worte getippt: Komm raus und spiele. Komm raus und spiele. Für sich allein waren diese Worte völlig harmlos, sogar unschuldig, doch die Bedeutung dahinter war alles andere als das. Billy wusste ganz genau, wer die Botschaft geschickt hatte, obwohl es keinen Absender gab, und er wusste genau, was die Botschaft bedeutete. Komm raus und spiele. Billy ließ das Blatt auf den Boden fallen und trat einen Schritt zurück. Er hätte mit seinen Eltern fahren sollen. Er hätte niemals allein hierbleiben sollen. Was zum Teufel stimmte mit ihm nicht? Das abgedunkelte Haus, das ihm noch vor wenigen Minuten so wunderbar und besonders erschienen war, kam ihm nun unheimlich vor, bedrohlich, voller Schatten. Er streckte die Hand aus und drückte auf den Lichtschalter neben der Spüle. Nichts geschah. Der Strom war ausgefallen. Billy bekam es mit der Angst. Rasch lief er zum Telefon und nahm den Hörer ab. Die Leitung war tot. Draußen hörte er durch den prasselnden Regen das Geräusch eines Automotors. Billy lief zur Hintertür, um sich davon zu überzeugen, dass sie abgeschlossen und verriegelt war; dann schloss er die Vordertür ab. Er huschte zum nächsten Fenster und spähte hinaus. Durch die regennasse Scheibe konnte er am Ende der Auffahrt undeutlich eine Gestalt sehen. Eine Gestalt in blauer Uniform, mit weißem Gesicht und rotem Haar. Komm raus und spiele. Sofort wich Billy vom Fenster zurück und schloss die Vorhänge. Nachdem er auch den zweiten Vorhang zugezogen hatte, wurde ihm klar, wie dumm das gewesen war: Jetzt saß er hier drinnen in der Falle, hilflos, blind, und konnte nicht sehen, was draußen vor sich ging. Beinahe hätte er die Vorhänge wieder geöffnet, ließ die Kordel aber sofort wieder los. Was war, wenn der Postbote sich bis auf die Veranda geschlichen hatte? Wenn er nun direkt vor dem Fenster stand und auf ihn wartete, ihn angrinste? Was würde er tun? Was konnte er tun? In der Sekunde, ehe die Vorhänge sich schlossen, hatte Billy gesehen, dass der Postbote sich auf das Haus zu bewegte. Oder doch nicht? Er konnte sich nicht genau erinnern ... Sein Blick zuckte zum hinteren Teil des Hauses, zum Schlafzimmer seiner Eltern. Die Vorhänge dort waren offen, aber die Fenster gingen zum Wald hinaus. Er würde nichts sehen können außer Bäumen. Und den Postboten, falls er sich aus dieser Richtung näherte. Billy lief die Treppe hinauf. Es gab im Obergeschoss keine Tür am Ende der Treppe, aber da oben war sein Baseballschläger, und den konnte er benutzen, um sich zu schützen, falls nötig. Er nahm den Schläger und suchte nach etwas, das er dem Postboten notfalls an den hässlichen Schädel werfen konnte. Er fand mehrere schwere Spielzeuge, die er seit Jahren nicht mehr angefasst hatte, und nahm sie mit zum Bett. Er umklammerte fest den Schläger, wartete und lauschte auf jedes unvertraute Geräusch im Haus. Doch er hörte nur den unablässigen Regen. Als eine Stunde später seine Eltern in die Auffahrt einbogen, hatte Billy kein anderes Geräusch gehört. 34. Doug ging zum Briefkasten. Es war schon eine ganze Weile her, dass er nach der Post gesehen hatte, und er war neugierig, was für Briefe der Postbote in diesen Tagen schickte. Ungefähr seit einer Woche war Doug jeden Tag aufgestanden, bevor Trish oder Billy aufwachten, und hatte die Post direkt in den Mülleimer geworfen, wobei er darauf achtete, sie tief unter den Müllbeuteln aus der Küche und den Abfällen aus dem Badezimmer zu vergraben, damit sie nicht zufällig von einem hungrigen Hund, einem Skunk oder einem Waschbären aus der Tonne geholt wurden. Dennoch war er neugierig. Es war ein gutes Gefühl zu wissen, dass er der ständigen Versuchung durch den Postboten widerstand und so alle bösen Überraschungen durch Päckchen oder Briefe erfolgreich vereitelt worden waren. Doch er konnte nicht leugnen, dass etwas in ihm war - jenes widerspenstige Etwas, das ihn immer wieder dazu trieb, das Verbotene zu tun -, das ihn auch jetzt wieder reizte, die Post zu öffnen, obwohl er wusste, dass er unter den gegebenen Umständen gar nichts Dümmeres tun konnte. Er dachte an Hobie und Irene, die beide nicht mehr an die Tür oder ans Telefon gingen. Der Kies knirschte unter seinen Füßen. Er erreichte den Beginn der Auffahrt und öffnete den Briefkasten. Es war nur ein einziger Umschlag darin, der mit einem computererstellten Adressaufkleber »An den Hauseigentümer« versehen war. Doug holte den Umschlag heraus und schloss die Klappe. Er kämpfte noch mit sich, ob er den Brief wegwerfen oder lesen sollte, als seine Hand schon den Umschlag aufriss. Nacktfotos. Von Trish. Sein Mund wurde plötzlich trocken, seine Knie weich. Er drehte die Broschüre um und begann zu lesen. »Hi«, stand da. »Ich heiße Trish, und ich möchte deine ganz besondere Freundin sein. Als Einführung in den Ranch Club schicke ich dir zwei Fotos von mir, um dir zu zeigen, was du bekommst, wenn du unser Einführungsangebot nutzt. Nachts bin ich Ehefrau und Mutter, aber am Tag bin ich alles, was ich für dich sein soll. Deine heiße Schlampe. Deine Liebessklavin ...« Doug konnte nicht weiterlesen. Vor Wut und Abscheu heftig atmend und zitternd vor Angst, sah er sich die beiden Fotos an. Auf dem einen, eine Rückenansicht, beugte Trish sich über die Rückenlehne eines Sofas und bot der Kamera einen perfekten Blick auf ihren weißen, ungebräunten Hintern. Nur ... Nur dass es nicht Trish war. Der Po war zu fest und rund. Es war der knackige Hintern einer jungen Frau um die zwanzig. Doug sah genauer hin. Das kleine Muttermal, das Trish unten am Rücken hatte, fehlte ebenfalls. Er sah sich das andere Foto an, auf dem Trish in einem Rohrstuhl saß, die Beine gespreizt, die Augen geschlossen, während sie sich selbst befingerte. Doug bemerkte, dass die Brüste anders waren. Die Größe stimmte ungefähr, aber Trishs Brustwarzen waren viel dunkler und standen weiter vor. Doug zerriss die Fotos, zerriss die Broschüre, zerriss den Umschlag. Der Postbote hatte offensichtlich Fotos von Trishs Kopf auf den Körper einer anderen Frau kopiert, wenn Doug auch nicht wusste, wie oder wo der Postbote an Bilder von Trish gekommen war. Die Fotomontagen waren gut gemacht, ohne sichtbare Ränder und Übergänge, und sie würden wahrscheinlich jeden außer ihn selbst täuschen. Aber zu welchem Zweck hatte der Postbote diese Bilder angefertigt? Warum diese Mühe? Vielleicht war es nicht nur für ihn. Vielleicht hatte der Postbote dieselbe Broschüre, dieselben Fotos auch an andere Leute in der Stadt geschickt. Vielleicht starrten gerade jetzt, in diesem Moment, andere Männer den angeblichen Körper seiner Frau an, träumten von ihr, machten Pläne ... Als Doug zum Haus zurückging, schob er diesen Gedanken beiseite und warf die Papierfetzen in den Müll. Als sie neulich zum Einkaufen gefahren waren, schien die Stadt beinahe verlassen gewesen zu sein. Es waren kaum Wagen auf der Straße und nur sehr wenige Menschen zu sehen gewesen, und so war Doug überrascht, nun auf dem Parkplatz vor dem Feinkostgeschäft eine Menschenmenge versammelt zu sehen. Er hatte vorgehabt, zum Haushaltswarengeschäft zu gehen, um noch ein paar Taschenlampen und Batterien zu besorgen, ehe alle ausverkauft waren, doch als er all die Leute sah, fuhr er auf den Bayless-Parkplatz. Er parkte neben einem grauen Jeep Cherokee und stieg aus. Die Gruppe, die vor dem Feinkostgeschäft stand, war ziemlich ruhig, aber die Leute hatten etwas Bedrohliches an sich, wie sie im Halbkreis um Todd Golds Kombi standen. Doug ging weiter nach vorn. Er erkannte die Gesichter von mehreren Schülern und Erwachsenen. Sie schienen auf etwas zu warten. Todd kam aus seinem Laden und schleppte eine große, weiße Kiste. Er stellte sie hinten in den offenen Kombi neben mehrere andere Kisten, die schon dort verstaut waren. Dann schlug er die Hecktür zu. Doug drängte sich durch die Menge nach vorn, während der Feinkosthändler die Zuschauer durch wütende Gesten zu vertreiben versuchte. »Verdammt noch mal, verschwindet von hier. Habt ihr nicht schon genug angerichtet?« Die Menge stand stumm da und beobachtete, wie Todd in den Laden ging und bepackt mit mehreren Beuteln wieder herauskam. Dann stieß er die Tür zum ausgeräumten Feinkostladen zu und schloss ab. »Haut endlich ab!«, rief er wieder. Als er die Wagenschlüssel aus der Tasche fischte, ließ er einen der Beutel fallen. Doug erreichte den Mann, kurz bevor er die Fahrertür öffnete. »Was ist los, Todd? Was ist passiert? Was tun Sie da?« Der Feinkosthändler funkelte Doug wütend an. »Wenigstens von Ihnen hätte ich was Besseres erwartet. Bei einigen dieser Vollidioten«, mit einer abschätzigen Handbewegung deutete er auf die Menge, »kann ich das verstehen. Die haben noch nie einen Juden gesehen, wissen nicht, was sie tun oder wie sie damit umgehen sollen. Aber Sie ...« Doug starrte ihn verdutzt an. Der Mann faselte wirres Zeug. »Wovon reden Sie?« »Wovon ich rede? Was zum Teufel glauben Sie denn, wovon ich rede?« Der Ladenbesitzer stellte einen Beutel voller Briefe auf den Sitz und durchwühlte ihn hektisch, nahm Briefe in die Hand und warf sie wieder beiseite, bis er fand, was er suchte. Er hielt einen Brief hoch. »Kommt Ihnen der Wisch bekannt vor?« Doug schüttelte den Kopf. »Nein.« »Nein?« Todd las den Brief laut vor. »›Du Jesus-mordender Jude, wir haben es satt, dass deine schmierigen Finger unseren Fisch, unser Fleisch und unsere Nahrungsmittel berühren. Wie würde es deiner Frau gefallen, von einem schönen weißen Schwanz gevögelt zu werden?‹« Doug starrte ihn fassungslos an. »Sie glauben doch nicht, dass ich ...« »Wollen Sie mir weismachen, dass Sie das nicht waren?« »Natürlich war ich das nicht!« Todd blickte auf das Papier und las vor: »›Ich gebe deiner Frau mal eine richtige Schweinsknackwurst zu schmecken.«« »Todd, ich ...«, sagte Doug hilflos. Der Feinkosthändler spuckte Doug vor die Füße. Sein Gesicht war hasserfüllt, und Doug wusste, dass er nichts sagen oder tun konnte, was den angerichteten Schaden wiedergutmachen oder den Ladenbesitzer davon überzeugen konnte, dass er nichts mit dem Brief zu tun hatte. »Schlappschwanz!«, rief jemand in der Menge. »Heulsuse!« Doug blickte hoch, um zu sehen, wer diesen Kommentar abgegeben hatte, doch die Gesichter schienen alle ineinander zu verschwimmen. Jetzt bemerkte er, dass die Leute, auch wenn sie schwiegen, keineswegs passive Zuschauer waren. In mehreren Gesichtern spiegelte sich Wut, gepaart mit dem hässlichen Schatten der Intoleranz. »Juden raus aus Willis!«, rief ein Mann hasserfüllt. »Geht dahin, wo ihr hergekommen seid«, keifte eine Frau. Todd warf den Brief auf den Rücksitz und stieg in den Wagen. Er ließ den Motor an, legte den Sicherheitsgurt um und blickte Doug ins Gesicht. »Von Ihnen hätte ich etwas Besseres erwartet«, sagte er. »Ich hoffe, Sie sind jetzt zufrieden.« »Ich bin auf Ihrer Seite, verdammt!«, erwiderte Doug, aber Todd setzte den Wagen bereits zurück und wendete. Irgendjemand aus der Menge warf einen Stein und traf die hintere Stoßstange des Kombis. Der Wagen fuhr auf die Straße, bog um die Ecke und war verschwunden. Doug blickte in den leeren Laden und sah nur das Bild der Menge im Spiegel. Er sah Gesichter, die er nicht kannte - von Menschen, die er kannte. Er sah Menschen, die er auf keinen Fall kennen wollte. Er drehte sich um. »Sie sind auf seiner Seite?«, fragte ein Mann herausfordernd. Doug zeigte ihm den erhobenen Mittelfinger. »Verpiss dich.« Langsam ging er zu seinem Wagen zurück. 35. Trish starrte im Dunkeln an die Decke. Sie musste dringend ins Badezimmer, hatte aber Angst, das Bett zu verlassen. Sie wusste, er war da draußen. Irgendwo in der Nähe. Sie hatte das leise, gleichmäßige Geräusch seines näher kommenden Wagens gehört, der dann verstummt war. Doch Trish hatte nicht gehört, dass er den Motor wieder angelassen hatte. Also war er wohl noch da. Sie wusste, dass sie Doug wecken sollte, aber er war in letzter Zeit sehr angespannt und hatte große Probleme mit dem Einschlafen gehabt. Sie wollte ihn nicht stören. Oben hatte Billys Bett geknarrt, als der Junge sich im Schlaf ruhelos hin und her wälzte. Er war die letzten beiden Tage nervös und ängstlich gewesen, seitdem sie und Doug zum Einkaufen gefahren waren und ihn allein gelassen hatten. Trish machte sich Sorgen um ihn. Er wurde immer verschlossener. Wieder einmal beschäftigte Billy etwas, was er nicht mit ihnen bereden wollte, und obwohl Trish versuchte, geduldig und verständnisvoll zu sein, war es schwer, von Billys mangelndem Vertrauen nicht enttäuscht zu sein. Der Druck in ihrem Unterbauch wurde stärker. Sie würde bald ins Bad gehen müssen, daran führte kein Weg vorbei. Und sie würde sich entscheiden müssen, ob sie Doug wecken sollte oder nicht. Er schnarchte leise neben ihr; sein Atem ging rau und unregelmäßig, und aus irgendeinem Grund musste Trish an Schlafapnoe denken, eine Krankheit, bei der das schlafende Hirn vergisst, die unwillkürlichen Körperfunktionen zu steuern, sodass die Gefahr bestand, dass der Betreffende zu atmen aufhört und sein Herz stehen blieb. Hör damit auf, sagte sie sich. Du machst dich nur verrückt. Der Druck wurde immer stärker. Sie erinnerte sich mit Furcht einflößender Deutlichkeit an den Traum, den sie in der letzten Nacht gehabt hatte. In diesem Traum hatte sie ein Bad genommen und sich in das warme, schaumige, entspannende Wasser gelegt, als sie plötzlich bemerkte, dass der Körper des Postboten unter ihr lag. Eine Hand war aus dem Schaum hervorgeschossen und hatte ihren Schrei erstickt, während sein brennendes Glied von hinten in sie eindrang. Trish streckte den Arm aus und stupste vorsichtig ihren Mann an. »Doug?«, sagte sie leise. »Was?« Er schreckte aus dem Schlaf, sofort in Alarmbereitschaft. »Ich habe Angst, allein ins Badezimmer zu gehen«, sagte sie schüchtern. »Würdest du mitkommen?« Doug nickte, und selbst in der Dunkelheit konnte sie die Ringe unter seinen Augen erkennen. Er stieg taumelnd aus dem Bett und zog seinen Morgenmantel an, und zusammen gingen sie zum Bad. Aus der Küche kam das leise Brummen des Kühlschranks. Trish tastete um die Ecke, fand den Lichtschalter und knipste die Badezimmerlampen ein. Auf dem Toilettendeckel lag ein weißer Umschlag. »Oh, den habe ich da vergessen«, sagte Doug rasch, nahm den Umschlag und steckte ihn ein. Doch Trish begriff im selben Augenblick, dass er den Umschlag noch nie gesehen hatte. Sie war die Letzte gewesen, die das Bad benutzt hatte, und da war noch keine Post im Badezimmer gewesen. Er war im Haus. »Sieh nach Billy«, stieß sie hervor und lief den Flur entlang durch die Küche. Sie war in Panik, rang nach Atem. Im Geiste sah sie das leere Bett ihres Sohnes vor sich, die Bettdecke weggezerrt, auf dem Kopfkissen ein Umschlag, der eine Lösegeldforderung enthielt ... oder Schlimmeres. Billy ist auch hübsch. Billy ist auch hübsch ... Doug folgte Trish die Treppe zum Loft hinauf. Wo Billy fest schlief. Trish hatte nie verstanden, was ein »Seufzer der Erleichterung« war, obwohl sie diese Worte oft in Romanen gelesen hatte. Jetzt seufzte sie selbst erleichtert und stieß die Luft aus, die sie angehalten hatte, als sie auf das Schlimmste gefasst gewesen war. Doug stand neben ihr. Ihre Blicke trafen sich, und beide machten sich schweigend daran, das Loft zu durchsuchen, um sicherzugehen, dass der Postbote sich nirgends versteckte. Das Loft war leer. Sie durchkämmten auch den Rest des Hauses und schauten gründlich in den Kleiderschränken, Küchenschränken und unter den Betten nach. Doug überprüfte die Fenster und die Schlösser an den Türen, aber alles war so, wie es sein sollte. Schließlich kehrten sie ins Bad zurück. Doug legte Trish zur Beruhigung die Hand auf die Schulter. »Was ist nur los mit dir, verdammt noch mal!«, stieß sie hervor und schob seine Hand weg, wobei sie sich zu ihm umdrehte. Überrascht von ihrer plötzlichen Wut, wich er einen Schritt zurück. »Was?« »Ich habe gefragt, was mit dir los ist. Du bist ganz wild darauf, zur Polizei zu gehen, damit sie etwas gegen den Postboten unternimmt, aber wenn er in unser Haus eindringt, während wir schlafen, und einen Brief auf der Toilette zurücklässt, tust du so, als hättest du ihn da vergessen und alles wäre in Ordnung.« »Ich habe nicht so getan, als wäre alles in Ordnung!« »So? Was hast du dann getan?« »Ich wollte dir nur keine Angst machen.« »Du wolltest mir keine Angst machen? Hast du überhaupt nicht an unseren Sohn gedacht? Was, wenn der Postbote noch im Haus gewesen wäre? Er hätte uns alle umbringen können.« »Ich hab nicht richtig nachgedacht, okay.« »Nein, das ist nicht okay. Du hättest uns alle in Gefahr bringen können. Du wolltest mir keine Angst machen? Ich habe schon Angst. Ich habe schon den ganzen Sommer Angst! Aber ich bin kein hilfloser Dummkopf. Verdammt, Doug, behandle mich wie eine Erwachsene!« »Du weckst Billy«, sagte Doug. »Dieser verfluchte Postbote war in unserem Haus!«, schrie Trish. »Was erwartest du denn von mir? Dass ich flüstere?« »Wir wissen nicht, ob er hier war. Die Türen sind verriegelt, die Fenster sind alle geschlossen ...« Trish schlug die Badezimmertür zu und traf beinahe Dougs Nase. Er stand im Flur, wütend auf sie, und wollte nichts mehr, als ins Schlafzimmer gehen, ins Bett kriechen und Trish in dem verdammten Badezimmer allein lassen. Das würde ihr genug Angst machen, um ihr eine Lektion zu erteilen. Aber so wütend er auch war, seine Furcht war größer. Sie hatte recht. Sie waren in Gefahr. Der Postbote war im Haus gewesen, wo sie sich bislang immer sicher gefühlt hatten. Er hatte ihre Festung gegen die Welt draußen gestürmt. Doug stand da und drückte das Ohr an die Badezimmertür. Er hörte nur Trish. Die Toilettenspülung wurde betätigt, und kurz daraufkam sie heraus. »Lass mich den Brief sehen«, verlangte sie. Doug zog ihn aus der Tasche seines Morgenmantels. »Vielleicht sollten wir ihn nicht anfassen«, meinte er. »Er könnte ein Beweismittel sein ...« Trish riss den Umschlag auf. Er war an sie adressiert, und es lag ein Blatt weißes Papier darin, auf dem in einer blumigen, weiblichen Handschrift ein einziges Wort stand: Hallo Trish zerriss das Blatt in kleine Fetzen. »He«, sagte Doug. »Tu das nicht! Wir brauchen ...« »Wir brauchen was?«, schrie sie ihn an. »Das?« Sie zerriss den Brief in winzige Schnipsel. »Weißt du denn nicht, wie dieser Irre vorgeht? Verstehst du es denn immer noch nicht? Bist du wirklich so dumm? Er ist nicht zu fassen! Die Polizei wird kommen, und da werden keine Fingerabdrücke sein, keine Anzeichen für gewaltsames Eindringen, keine Beweise für gar nichts. Nichts, womit sie weitermachen können!« Doug starrte sie schweigend an. »Er weiß genau, was er tut. Selbst dieser Brief bedeutet absolut gar nichts, es sei denn, die Fingerabdrücke des Postboten sind darauf, oder wir können beweisen, dass es seine Handschrift ist.« Trish hatte recht, und Doug wusste es, und dieses Wissen machte ihn wütend und hilflos zugleich. Trish zerriss das Papier in immer kleinere Schnipsel. Ihre Hände bewegten sich schnell, hastig, während ihr Tränen über die Wangen liefen. Doug wollte ihre Hände nehmen und festhalten, doch Trish drehte sich von ihm weg. »Fass mich nicht an!« Doug kam noch näher, legte die Arme um sie und zog sie an sich. Sie wehrte sich. »Fass mich nicht an«, wiederholte sie. Doch ihre Gegenwehr wurde immer schwächer, ihr Protest halbherzig, und bald schluchzte sie in seinen Armen. Der Bronco jagte am Circle-K-Einkaufszentrum, an der Bank und am Kindergarten vorbei. Es war noch keine acht Uhr, aber Doug wusste, dass das Postamt geöffnet hatte. Er wusste, dass der Postbote da sein würde - falls er von seiner nächtlichen Runde zurück war. Nachdem Trish und Doug letzte Nacht wieder zu Bett gegangen waren, hatten sie nicht geschlafen, sondern geredet, hatten mit Flüsterstimme über ihre Ängste und Gefühle gesprochen, über ihre Gedanken und Theorien. Nichts hatte sich aufgeklärt, keine Frage war beantwortet worden, doch beide hatten sich danach besser gefühlt. Dougs Wut aber loderte so heiß wie zuvor. Am Morgen hatte er geduscht, rasch gefrühstückt und Trish gesagt, sie solle zu Hause bleiben und auf Billy aufpassen. Er selbst würde den Postboten zur Rede stellen, solange er noch wütend genug war, keine Angst zu haben. Trish hatte seinen Zorn und seine Entschlossenheit gespürt und gar nicht erst mit ihm diskutiert. Sie hatte einfach genickt und ihn gebeten, vorsichtig zu sein. Doug fuhr auf den Parkplatz des Postamts. Das einzige andere Fahrzeug in Sichtweite war der rote Wagen des Postboten. Doug parkte direkt daneben, stieg aus dem Bronco und ging auf die gläserne Doppeltür zu. Trish, Billy und er selbst waren das Ziel dieses Irren, auch wenn Doug nicht wusste warum. Alles andere jedoch passte wenigstens zusammen und ergab auf perverse Weise einen Sinn: Ronda und Bernie waren umgebracht worden, weil sie Rivalen waren. Stockley war beseitigt worden, um ihn zum Schweigen zu bringen. Die Hunde waren getötet worden, weil - wie jeder weiß - Postboten Hunde hassen. Doch es ließen sich keine solchen Erklärungen für die unablässige Verfolgung Dougs und seiner Familie und Freunde durch den Postboten finden. Natürlich waren auch andere Leute belästigt worden, aber nicht so subtil, so vorsätzlich. Doug wusste, was sich abspielte - und der Postbote wusste, dass Doug es wusste, und trieb seine Spielchen mit ihm. Das Grauen nahm immer mehr zu und bewegte sich in konzentrischen Kreisen auf Doug, Billy und Trish zu. Die Tür war offen, und Doug betrat das Postamt. Die Kühle des Morgens war nicht ins Gebäude eingedrungen. Die abgestandene, feuchtheiße Luft war unerträglich. Doug ging direkt zum Schalter, ohne die perversen und abstoßenden Plakate an den Wänden zu betrachten. Der Boden unter seinen Füßen fühlte sich klebrig an. Der Postbote kam aus dem Hintergrund. Er lächelte. Wie immer trug er Uniform, und wie immer war seine Stimme glatt und aufgesetzt. »Was kann ich für Sie tun, Mister Albin?« »Lassen Sie den Quatsch«, sagte Doug. »Wir wissen beide, warum ich hier bin.« »Ach ja? Warum denn?« Das Lächeln des Postboten wurde breiter. Doug beugte sich vor. »Weil Sie meine Familie bedrohen. Weil Sie letzte Nacht in mein Haus gekommen sind und uns eine Notiz hinterlassen haben.« »Was für eine Notiz?« »Das wissen Sie verdammt gut. In der Notiz stand ›Hallo‹.« Der Postbote kicherte. »Das ist ja schrecklich bedrohlich.« Doug ballte die Faust und hielt sie drohend hoch. »Spielen Sie nicht das Unschuldslamm! Es ist niemand hier außer Ihnen und mir, und wir wissen beide, dass Sie letzte Nacht in mein Haus eingebrochen sind.« »Ich habe nichts dergleichen getan. Ich war den ganzen Abend daheim, zusammen mit Mister Crowell.« Der Ausdruck auf dem Gesicht des Postboten war eine Parodie verletzter Unschuld. »Und wo ist Mister Crowell?« Der Postbote grinste. »Leider ist er heute krank.« »Verdammt, hören Sie damit auf!«, stieß Doug hervor. »Aufhören? Womit?« »Mit allem. Hauen Sie ab aus Willis, oder ich schwöre bei Gott, dass ich dafür sorgen werde, dass Sie verschwinden.« Der Postbote lachte. Diesmal lag Härte unter der Fassade falscher Freundlichkeit. Seine Augen, blau und tot, blickten kalt, und seine Stimme hatte nichts mehr von der gewohnten berechnen den Höflichkeit. »Sie können mich zu gar nichts zwingen«, sagte er. Sein Ton ließ Doug das Blut in den Adern gefrieren. Er wich einen Schritt zurück. Er begriff, dass er zum ersten Mal das wahre Gesicht des Postboten sah, und musste dem instinktiven Verlangen widerstehen, panisch die Flucht zu ergreifen. Die Tatsache, dass er Smith so weit aus der Reserve gelockt hatte, dass dieser seine Tarnung fallen ließ, machte ihm sehr viel mehr Angst, als er gedacht hatte. Er hätte nicht alleine hierherkommen sollen. Er hätte Mike oder Tim oder einen anderen Polizisten mitbringen sollen. Doch Doug wollte den Postboten seine Angst nicht spüren lassen. »Warum verfolgen Sie meine Familie?«, fragte er, und seine Stimme klang fest. »Warum haben Sie gerade mich ausgesucht?« »Weil Sie es wissen«, antwortete der Postbote. »Ich weiß gar nichts.« »Weil Sie sich beschwert haben.« »Viele Leute haben sich beschwert.« »Weil mir danach ist«, sagte der Postbote, und Doug begriff schlagartig, dass der Irrsinn dieses Eingeständnisses, das völlige Fehlen von Gründen und Erklärungen tatsächlich der Wahrheit entsprach. Er starrte in die kalten Augen und sah nichts. Keine Leidenschaft, kein Gefühl - nichts. Der Postbote lächelte, und seine Stimme hatte einen hässlichen Unterton, in dem bedrohliche Sexualität lag. »Wie geht es der kleinen Frau und dem kleinen Mann?« »Sie Bastard!« Doug schlug nach dem Postboten, aber dieser wich leichtfüßig zurück. Doug verlor das Gleichgewicht und taumelte gegen den Schalter. Der Postbote kicherte; dann setzte er wieder seine übliche, harmlose Maske auf. »Es tut mir leid, Mister Albin. Das Postamt ist noch nicht geöffnet, aber wenn Sie ein Briefmarkenheftchen kaufen möchten ...« »Lassen Sie uns in Ruhe!«, brüllte Doug und richtete sich auf. »Es ist meine Aufgabe, die Post zuzustellen, und ich werde meine Pflicht erfüllen, so gut ich kann.« »Warum? Es liest sowieso keiner die verdammte Post.« »Jeder liest seine Post.« »Ich nicht. Ich habe schon vor Wochen aufgehört, die Post zu lesen.« Smith starrte ihn an und blinzelte. »Sie müssen Ihre Post lesen.« »Ich muss gar nichts. Ich bringe meine Post direkt vom Briefkasten zum Mülleimer, ohne Zwischenstopp.« Zum ersten Mal hatte Doug den Eindruck, dass der Postbote nach Worten suchte. Er schüttelte den Kopf, als hätte er Doug nicht verstanden. »Aber Sie müssen Ihre Post lesen«, wiederholte er. Doug lächelte. Ihm wurde klar, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. »Ich lese meine Post nicht. Meine Frau liest ihre Post nicht. Wir schauen sie gar nicht erst an. Wir sehen nicht einmal nach, von wem sie kommt oder an wen sie adressiert ist. Wir werfen sie einfach weg. Also hören Sie auf, Ihre Zeit zu verschwenden, und lassen Sie uns in Ruhe.« »Aber Sie müssen Ihre Post lesen.« Aus dem hinteren Teil des Gebäudes kam Giselle in die Schalterhalle. »Lassen Sie uns einfach in Ruhe«, sagte Doug zu dem Postboten. Er drehte sich um und verließ mit langen Schritten das Gebäude. Er zitterte am ganzen Leib. Doug glaubte, den Postboten irgendetwas sagen zu hören, als er zu seinem Wagen ging, doch er hatte nicht verstanden. Und er war nicht sicher, ob er es überhaupt wissen wollte. 36. Doug fuhr ohne Hemd durch die Nacht, das Haar noch ungekämmt, nur mit seiner Levis und einem Paar Tennisschuhen bekleidet. Er war diese Strecke tausendmal gefahren, aber nun schien er sich in Zeitlupe zu bewegen, und der Bronco fuhr mit einer jämmerlich unangemessenen Geschwindigkeit. Wütend auf den Wagen und auf sich selbst schlug Doug auf das Lenkrad, so fest er konnte. Die Hupe ertönte, und beinahe wäre er gegen einen Baum gefahren, als er eine Kurve zu scharf nahm, doch kaum hatte er den Wagen wieder unter Kontrolle, trat er das Gaspedal wieder herunter. Er hatte in letzter Zeit viel Angst gehabt und geglaubt, die Grenze des Schreckens erreicht zu haben, doch als das Klingeln des Telefons ihn aus tiefem Schlaf gerissen hatte und er Hobie mit panischer, schriller Stimme etwas von Blut und Jungfrauen kreischen hörte, während im Hintergrund ein Polizeifunkgerät rauschte und knackte, da wusste Doug, dass Angst keine Grenzen hatte. Sie war bodenlos, und er versank immer tiefer darin. Schon von weitem sah er am Ende der Straße die Lichter der Polizeifahrzeuge - ein rotblaues Flackern vor den Bäumen und Häusern des Viertels. Die Streifenwagen und die Ambulanz standen direkt vor Hobies Wohnwagen, sodass Doug ein gutes Stück entfernt parken musste. Er warf die Tür ins Schloss und rannte über den schmutzigen Bürgersteig. Eine Gruppe von Männern und Frauen in Morgenmänteln - offenbar Hobies Nachbarn - stand hinter dem gelben Band, mit dem Hobies Wohnwagen abgesperrt worden war. Doug schob sich zwischen den Leuten durch zur Auffahrt. »He!«, schrie ein Polizist ihn an. »Was haben Sie vor?« »Ich möchte Hobie sehen«, rief Doug. »Tut mir leid.« Der Polizist trat ihm in den Weg. »Sie dürfen nicht hinter die Absperrung.« »Ich habe ihn angerufen«, rief Hobie von der Tür her. »Gottverdammt! Lasst ihn rein!« Doug blickte zu seinem Freund hinüber. Hobies Augen waren weit aufgerissen. Sein Blick war irre, und sein kurzes Haar stand in wirren Büscheln in allen Richtungen vom Kopf ab. Er trug nur Boxershorts und ein T-Shirt, und Doug sah mit Entsetzen, dass beide Kleidungsstücke mit Blut beschmiert waren. »Lasst ihn durch«, befahl Tim Hibbard, der hinter Hobie stand. Doug duckte sich unter das Absperrband und überquerte den Hof. Versiegelte Kunststoffbehälter und Kartons mit der Aufschrift »Willis Police Departement« waren neben dem Bürgersteig abgestellt worden, und aus dem Innern des Wohnwagens erklang das Rauschen von Funkgeräten, das Piepen elektronischer Geräte und raue Stimmen, in denen Angst und Abscheu mitschwangen. »Das war ich nicht, Doug.« Hobies Stimme war hoch und voller Angst. »Ich ...« Doug ging bis zur Tür. »Sag nichts, bis du einen Anwalt hast«, sagte er. »Ich habe ...« »Sag nichts.« Beruhigend legte Doug seinem Freund die Hand auf die Schulter und hoffte, dass er selbst ruhiger wirkte, als er sich fühlte. Etwas Furchtbares war hier passiert - irgendetwas, das Hobie in dieses verängstigte, bibbernde Geschöpf verwandelt hatte. Einen grausamen Augenblick lang wünschte Doug sich, er hätte Hobie nie kennen gelernt und wäre bloß einer von Hunderten anderer Menschen in Willis, die jetzt schliefen und nicht ahnten, was hier vor sich ging. Aber dann sah Doug den Ausdruck unendlicher Not auf dem Gesicht seines Freundes, und es tat ihm leid, dass ihm solch ein Gedanke überhaupt in den Sinn gekommen war. Er wandte sich an den Polizisten, der am nächsten bei ihm stand, ein Mann mittleren Alters mit Schnurrbart. »Was ist hier eigentlich passiert?« Der Polizist musterte ihn voller Verachtung. »Sie wollen wissen, was hier passiert ist? Sie wollen sehen, was Ihr Kumpel getan hat? Kommen Sie mit ins Schlafzimmer.« »Ich war es nicht«, jammerte Hobie. »Ich schwöre ...« »Halt den Mund«, unterbrach ihn Doug. »Sag überhaupt nichts.« Er folgte dem uniformierten Officer ins Schlafzimmer, wo eine andere Gruppe von Polizisten den Kleiderschrank durchsuchte. Sofort schlug Doug der Geruch entgegen: Ein intensiver, süß-säuerlicher Gestank, der ihm Übelkeit verursachte, sodass er würgen musste. Blut. »O Gott«, flüsterte Doug. Die Leiche des Mädchens lag auf dem Bett. Neben den Messern. Sie war nackt und lag auf dem Bauch, das Gesicht abgewandt. Durch das blutige Loch in ihrer Kopfhaut war der hintere Teil ihres Schädels sichtbar. Der Knochen war an mehreren Stellen abgesplittert, sodass die blassen Windungen des Gehirns sichtbar wurden. Ihr Rücken war mit Dutzenden von Stichen und Schnitten übersät, und die Haut ihrer Hinterbacken war abgezogen worden, sodass der Muskel darunter freigelegt war. Blut tränkte das Bettlaken. Doug konnte den Anblick nicht ertragen und blickte hoch. An der Wand über dem Bett waren Schnappschüsse anderer nackter Mädchen an die Wandverkleidung geklebt worden. Dutzende von Fotos. Alle Mädchen waren verstümmelt - mit Messern, die denen glichen, die auf dem Bett lagen. »Ich habe das nicht getan!«, rief Hobie. »Ich schwöre bei Gott, ich habe das nicht getan! Ich bin nach Hause gekommen und fand sie ...« Die Männer beim Kleiderschrank drehten sich um. Chief Catfields Augen weiteten sich, als er Doug sah. »Bringt ihn hier raus!«, brüllte er. »Aber ... Ich wollte nur, dass er sieht, was sein Freund getan hat«, stammelte der schnurrbärtige Polizist. »Es ist mir scheißegal, was Sie wollten!« Doug stolperte rückwärts aus dem Raum und rang nach Luft; man brauchte ihm gar nicht zu sagen, dass er verschwinden sollte. Er konnte immer noch den schweren, Übelkeit erregenden Geruch von frischem Blut riechen und hatte seinen abstoßend salzigen Moschusgeschmack im Mund. Einen Augenblick stand er keuchend da, die Hände auf die Knie gestützt, und versuchte, das Würgen zu unterdrücken. »Ich war das nicht«, sagte Hobie. »Das war der Postbote!« Er packte Doug bei den Schultern, und Doug konnte kleine Blutspritzer auf Hobies Wangen sehen. »Er hat mir eine Falle gestellt!« »Sag nichts, bevor du einen Anwalt hast«, sagte Doug und starrte seinen Freund an. Hobie blickte unterwürfig zur Seite. »Wir haben dich am Wickel, Hobie, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche«, sagte der schnurrbärtige Polizist. »Du bist erledigt.« »Ich war es nicht ...« »Halt die Schnauze!«, rief Doug. »Wir sind es, die hier bestimmen, wer die Schnauze hält.« Der Chief kam aus dem Schlafzimmer. »Was haben Sie überhaupt hier zu suchen?« Doug versuchte immer noch, den Geschmack auf der Zunge und den Geruch in der Nase loszuwerden. »Hobie hat mich angerufen.« »Sind Sie sein Anwalt?« »Nein. Ich bin sein Freund.« »Und wer hat Sie durchgelassen? Freunde sind normalerweise an Tatorten nicht zugelassen.« Doug hob die Hände. »Wenn Sie wollen, dass ich gehen soll, dann gehe ich.« »Nein!«, protestierte Hobie. »Ich besorg dir einen Anwalt«, versprach Doug. »Ich beschaffe dir alles, was du brauchst. Mach dir keine Sorgen. Hier kann ich sowieso nichts für dich tun.« »Ich war es nicht ...«, schluchzte Hobie. Tränen liefen ihm über die Wangen und färbten sich rosa, als sie sich mit den Blutspritzern auf seiner Haut vermischten. »Ich weiß, dass du es nicht warst. Und wir werden dich hier rausholen.« »Nein, das werden Sie nicht«, widersprach der Chief. »Aber du wirst ein paar Tage im Gefängnis bleiben müssen, bis alles geklärt ist. Soll ich jemanden für dich anrufen? Deine Eltern?« »Nein!« »Okay. Ich werde tun, was ich kann. Wir sehen uns am Morgen.« »Jeff!« Catfield winkte den schnauzbärtigen Polizisten zu sich. »Begleiten Sie Mister Albin zur Straße.« Der Polizist nickte. »Ja, Sir.« »Wir werden dich rausholen, Hobie«, versprach Doug. Auf der Straße redeten die Nachbarn laut und aufgebracht über das, was ihrer Meinung nach in Hobies Wohnwagen geschehen war. Eine stämmige, hässliche Frau mit Lockenwicklern rief, sie habe schon seit Jahren gewusst, dass Hobie praktizierender Satanist sei. Doug ging langsam zu seinem Wagen. Am liebsten wäre er losgerannt, so heiß brodelte das Adrenalin in seinen Adern, doch er zwang sich, bewusst langsam zu gehen und die gegensätzlichen Gefühle, die in seinem Innern tobten, unter Kontrolle zu halten. Es gab jetzt viel zu tun. Er musste einen Anwalt suchen, einen guten Anwalt, und herausfinden, welche Rechte Hobie hatte und ob er in Willis bleiben, ins County-Gefängnis oder ins Staatsgefängnis in Florence gebracht würde. Aber bis zum Morgen konnte er nichts tun. Doug ließ den Motor des Bronco an und setzte zurück. Ihm wurde klar, dass er nichts erreicht und seinem Freund in keiner Weise geholfen hatte. Es war ihm höchstens gelungen, Hobie dazu zu bringen, keine Aussage zu machen, bis er einen Anwalt hatte. Am wichtigsten war jetzt, den Postboten festzunageln und zu beweisen, dass er den Mord begangen hatte. Aber das war sehr schwierig. Es hatte keine Zeugen gegeben, und Hobie selbst war bereits zu weit in den Wahnsinn abgedriftet, als dass ihm noch irgendjemand glaubte. Doug ging um eine Hausecke und erstarrte, als er auf der anderen Straßenseite den Wagen des Postboten sah. Er beobachtete, wie die blasse Hand des Mannes den Briefkasten vor einem Haus öffnete und einen Stapel Briefe hineinlegte. Die Hand erhob sich über das Wagendach und winkte träge, ehe der Wagen davonglitt. 37. Yard Stevens, der Anwalt, den Doug für Hobie engagiert hatte, war ein Südstaaten-Gentleman der alten Schule, der erst in fortgeschrittenem Lebensalter nach Arizona ausgewandert war und noch immer viel von dem manierierten Gehabe des Südens beibehalten hatte. Er lebte und praktizierte in Phoenix, hatte aber ein Ferienhaus in Willis, wo er den Sommer verbrachte, um der Hitze zu entgehen. Er war bekannt dafür, Mordfälle zu übernehmen und auch zu gewinnen, auf die sich die sensationsgeile Boulevardpresse stürzte. Als Doug ihm Hobies Situation beschrieb, erklärte Stevens sich bereit, den Fall zu übernehmen, auch wenn das bedeutete, dass er seine Ferien abbrechen musste. Stevens' Honorar war so astronomisch, dass es kaum zu glauben war, doch ein Vertreter des Schulbezirks versicherte, dass Hobies Versicherung die Kosten übernehmen würde. »Wissen Sie«, sagte der Anwalt in seinem Südstaaten-Singsang, als sie in einem großen weißen Lincoln zur Polizeiwache fuhren, »ich hatte in diesem Sommer selbst Probleme mit der Post. Ich habe mehrmals versucht, mit dem Postchef darüber zu sprechen, aber wenn ich angerufen habe, war er nie da.« Doug hatte hin und her überlegt, ob er Stevens alles erzählen sollte, war jedoch zu dem Schluss gekommen, dass es für Hobie besser war, wenn er es nicht tat. Wenigstens jetzt noch nicht. Er wollte nicht, dass der Anwalt sie beide für übergeschnappt hielt. Doch wenn Stevens im Zuge seiner Recherchen entdeckte, was tatsächlich vor sich ging - nun, dann hätten sie einen weiteren Verbündeten auf ihrer Seite. Wenn Stevens nichts entdeckte, konnte Doug ihn später immer noch über die Einzelheiten informieren. »Ich hatte auch Schwierigkeiten«, gab Doug zu. »Wenn es ein Problem der ganzen Stadt ist, wie ich vermute, könnten wir das vielleicht zu unserem Vorteil nutzen.« Doug lächelte. »Das wollen wir hoffen.« Der Anwalt sah ihn an. »Glauben Sie, dass Ihr Freund unschuldig ist? Sagen Sie mir die Wahrheit. Ich bin an die anwaltliche Schweigepflicht gebunden, und nichts wird diesen Wagen verlassen.« Doug überraschte die Direktheit der Frage. »Er ist unschuldig«, sagte er. »Das höre ich gern.« »Und was glauben Sie?« Stevens lachte, ein dunkles, melodisches, beinahe tröstliches Geräusch. »Das entscheide ich, nachdem ich mit meinem Mandanten gesprochen habe.« In der Polizeiwache wurden sie durchsucht und dann in einen kleinen Raum geführt, der leer war bis auf einen Tisch und drei Stühle, die am Boden festgeschraubt waren. Hobie wurde in Handschellen hereingeführt und sagte nichts, bis der Wächter den Raum verließ. Er sah noch schlechter, noch wahnsinniger aus als in der Nacht zuvor, und Doug hatte ein unbehagliches Gefühl in der Magengrube. Eigentlich hatte er gehofft, dass Hobie einen guten Eindruck auf den Anwalt machen würde. »Okay«, sagte Doug. »Jetzt können wir reden.« Hobie blickte sich verstohlen um. Er schaute unter den Tisch und tastete unter dem Stuhl, als suchte er nach elektronischen Abhörgeräten. Unter anderen Umständen wäre Hobies paranoide Reaktion witzig gewesen. Aber jetzt erschien nichts mehr witzig. »Hier sind keine Wanzen«, sagte Doug. »Unsere Polizei kann sich keine leisten.« »Und selbst wenn dort welche wären«, ergänzte Stevens, »wären Beweise, die durch ihren Gebrauch gesammelt wurden, vor Gericht nicht zulässig.« »Das ist dein Anwalt«, sagte Doug. »Yard Stevens.« Der Anwalt streckte Hobie eine dicke, rosafarbene Hand entgegen. »Wie geht es Ihnen?« »Was glauben Sie? Ich sitze wegen Mordes im Gefängnis.« »Haben Sie es getan?« »Zum Teufel, nein.« Doug fühlte sich etwas besser. Hobie sah immer noch schrecklich aus, doch der Schock und die Verwirrtheit der letzten Nacht schienen verschwunden zu sein. Er wirkte nun zuversichtlicher, wieder mehr wie der raubeinige Typ, der er sonst war. »Doug?« Stevens wandte sich ihm zu. »Ich würde gerne mit meinem Mandanten allein sprechen. Vielleicht brauche ich Ihre Zeugenaussage vor Gericht, und ich möchte deren Rechtsgültigkeit nicht gefährden, indem ich Ihnen Zugang zu vertraulichen Informationen verschaffe.« Doug nickte. »Okay. Ich warte draußen.« »Gut.« »Danke«, sagte Hobie. »Ich komme dich später besuchen.« Doug klopfte an die geschlossene Tür, die von außen geöffnet wurde, und ging über den Flur zum vorderen Büroraum, als er hinter sich eine vertraute Stimme hörte. »Mr. Albin? Könnte ich Sie mal kurz sprechen?« Er drehte sich um und sah Mike Trenton, der ihm von der Tür eines Büros aus ein Zeichen machte. »Doug. Ich hatte Ihnen gesagt, dass Sie mich Doug nennen können.« Er folgte Mike in ein kleines Zimmer, das von einem riesigen Tisch beherrscht wurde. Zwei Wände waren vom Boden bis zur Decke mit Lehrbüchern und gebundenen Fallstudien bedeckt. »Das war mal die Polizeibibliothek«, erklärte Mike, der Dougs Blick bemerkt hatte. »Na ja, eigentlich ist sie es immer noch, aber jetzt ist sie auch mein Büro.« »Worüber wollten Sie mit mir sprechen?« »Über Mister Beecham.« »Ich dachte, Sie wären aus allen Postbotenfällen raus.« Mike zuckte mit den Schultern. »Willis hat ein kleines Polizeirevier. Und hier ist eine Menge passiert. Wir sind knapp an Personal. Außerdem ist es kein ›Postbotenfall‹.« »Doch, das ist es, und Sie wissen das.« »Ich wollte Ihnen nur ein paar Fragen zu Mister Beecham stellen.« Doug erhob sich und ging auf und ab. »Ach, kommen Sie, Mike. Sie wissen verdammt gut, dass Hobie das Mädchen nicht getötet hat.« »Ich weiß gar nichts. Ich würde Ihnen gerne helfen, wirklich, aber Mister Beechams Fingerabdrücke - blutige Abdrücke, sollte ich hinzufügen - wurden auf der Mordwaffe und überall im Raum gefunden. Und diese Fotos an der Wand ...« Er schüttelte den Kopf. »Sie beweisen gar nichts, sind aber auf jeden Fall ein Indiz für ein krankes Hirn ...« »Diese Fotos wurden Hobie Beecham von seinem Bruder geschickt.« »Von seinem toten Bruder?« »Was ist los mit Ihnen, Mike? Was ist passiert? Vor einer Woche standen Sie der Sache noch offen gegenüber, und jetzt ...« Doug suchte nach den richtigen Worten. »Jetzt stelle ich mich den Fakten«, beendete der Polizist den Satz für ihn. »Nein, jetzt verstecken Sie sich«, entgegnete Doug. »Sie greifen nach jeder Antwort, die in Ihre Polizeilogik passt, die kategorisiert und katalogisiert und in einer Akte abgelegt und vergessen werden kann. Ich weiß, dass Sie Angst haben. Zum Teufel, wir alle haben Angst. Aber Sie suchen eine logische Erklärung, und die werden Sie nicht finden. Sie würden gern glauben, dass wir verrückt sind, dass das alles gar nicht passiert, dass das Leben normal weitergeht. Aber es wird nicht normal weitergehen. Hier sterben Menschen, Mike. Vielleicht wollen Sie es sich nicht eingestehen, aber jeder weiß es - Ich weiß es, Sie wissen es, jeder in der Stadt weiß es. Es sterben Menschen wegen dieses verdammten Postboten. Nennen Sie es übernatürlich, nennen Sie es, wie Sie wollen, aber es passiert wirklich.« »Hobie Beechams Fingerabdrücke waren auf den Messern«, wiederholte Mike müde. »Nehmen Sie mich ernst, Mike. Reden wir auf Augenhöhe miteinander. Verschonen Sie mich mit diesem offiziellen Gefasel.« »Es ist ein glasklarer Fall ...« »Ach, hören Sie auf. Ich bin nicht Ihr Feind, Mike. Himmel, wenn wir alle nur ein bisschen mehr Zeit dafür verwenden würden, zusammenzuarbeiten, würden wir viel mehr erreichen.« Der Polizist lächelte leicht. »Sie waren immer ein guter Redner. Deshalb waren Sie auch einer meiner Lieblingslehrer.« »Ich rede hier nicht nur so herum.« »Wir haben Beweise, Mister Albin. Hobies Fingerabdrücke sind auf den Messern. Unter seinen Fingernägeln wurde Blut gefunden, auf seiner Kleidung, in seinem Haar.« Doug öffnete die Tür. »Fein«, sagte er und wies mit dem Zeigefinger anklagend auf den jungen Polizisten. »Halten Sie sich an Ihre Vorschriften, stecken Sie den Kopf in den Sand. Aber der nächste Kopf, auf den gezielt wird, ist Ihrer. Sie hätten etwas dagegen tun können. Sie wollen mit mir über Hobie reden? Dann besorgen Sie sich eine Vorladung.« Doug schlug die Tür hinter sich zu und verließ das Polizeirevier. Als er im Freien stand, atmete er tief durch und versuchte, sich zu beruhigen. Die warme Morgenluft füllte seine Lunge; sie schmeckte sauber und frisch und erinnerte ihn an glücklichere Sommer. Doug ließ den Blick über den kleinen Parkplatz schweifen und entdeckte den glänzenden Briefkasten aus Metall, der auf einem Pfahl neben dem niedrigen Lattenzaun stand, dort, wo der Parkplatz an die Straße grenzte. Das Sonnenlicht wurde von der gebogenen Oberseite des Kastens reflektiert. Er hasste diese verdammten Aluminiumdinger. Er ging zum Wagen und wartete auf Stevens. 38. »Lass mich rein! Lass mich rein, verdammt noch mal!« Trish stand auf Irenes Veranda. Abwechselnd klingelte sie und hämmerte gegen die Tür. Sie wusste, dass die alte Frau zu Hause war: Der Wagen stand in der Auffahrt, und hinter den großen Vorhängen hatte Trish Bewegung gesehen. Irene wollte einfach nicht mit ihr reden. Das kühlere Wetter der vergangenen Tage war vorbei, und die heiße Nachmittagssonne knallte auf ihre Schultern. Trish schwitzte und starb beinahe vor Durst. Das brachte sie auf eine andere Idee. »Lass mich nur für einen Moment rein, Irene«, rief sie durch die geschlossene Eingangstür. »Ich möchte bloß ein Glas Eistee, dann bist du mich endgültig los.« Sie wartete einen Augenblick. Nichts tat sich. Sie wollte gerade wieder gegen die Tür hämmern, als sie das metallische Klirren der Kette hörte, die innen geöffnet wurde, und das Geräusch des Riegels, den jemand zurückschob. Langsam wurde die Tür geöffnet. Trish erschrak. Sie erkannte ihre Freundin kaum wieder. Irene schien geschrumpft zu sein und wenigstens fünf Kilo abgenommen zu haben. Sie war nie eine große Frau gewesen, aber jetzt erschien sie noch kleiner. Ihr dünnes, drahtiges Haar war ungekämmt und stand in zerzausten Strähnen von ihrem Kopf ab. Ihr Gesicht wirkte erschreckend hager, und sie trug einen schmuddeligen Pyjama. Anklagend starrte sie Trish an. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst es keinem erzählen.« »Tut mir leid«, entschuldigte sich Trish. »Aber ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Ich wusste, was vor sich ging, und wollte dir helfen ...« »Du hast es nur schlimmer gemacht«, entgegnete die alte Frau. Plötzlich zuckte sie mit einem Schreckensschrei zusammen, wirbelte herum und blickte hinter sich, als suchte sie jemanden. Doch da war niemand. Nervös und mit gehetztem Blick drehte sie sich wieder zu Trish um. »Lass mich in Ruhe«, sagte sie. »Bitte.« »Ich bin deine Freundin«, sagte Trish. »Ich mache mir Sorgen.« Irene schloss die Augen und seufzte. Dann trat sie zur Seite und öffnete die Tür ganz. Trish betrat das Haus. Es herrschte ein wüstes Durcheinander. Schranktüren standen offen, der Inhalt lag mitten im Wohnzimmer auf einem Haufen, umgekippte Pappschachteln stapelten sich auf dem Orientteppich. Durch den Durchgang zur Küche waren zerbrochene Gläser zu sehen. Irene, deren Wangen eingesunken waren und deren starre Augen tief in den Höhlen lagen, wich rasch von der Tür zurück und knetete nervös ihre Hände. Trish musste schlucken und fühlte Schmerz und Trauer in der Brust, als sie die bemitleidenswerte, verängstigte Frau vor sich betrachtete. Noch vor einem Monat hätte sie so etwas für unmöglich gehalten. Erst der Tod, hätte Trish behauptet, und nur der Tod allein kann Irene zerbrechen, und selbst dann wird sie sich mit Händen und Füßen wehren. Doch der Postbote hatte offensichtlich ganze Arbeit geleistet. Leise fragte Trish: »Irene, was ist passiert?« Die alte Frau wurde sichtlich blass. Sie zuckte zusammen, als würde sie angeschrien oder als fürchtete sie sich, geschlagen zu werden. Plötzlich neigte sie den Kopf, als ob sie auf ein Geräusch horchte, das es nicht gab; dann ging sie auf die Knie, drehte eine Schachtel richtig herum und warf ein paar kleine Gegenstände hinein, die auf dem Teppich lagen. Trish kniete sich neben sie. »Irene?«, fragte sie leise. Die alte Frau hielt inne und begann zu weinen. Ihre Stimme war dünn und quäkend. Trish streckte die Arme aus und drückte ihre Freundin an sich. Zuerst versteifte Irene sich, als rechnete sie damit, angegriffen zu werden, doch sie wehrte Trish nicht ab, und langsam entspannten sich ihre Muskeln. Irene schluchzte. Die Tränen schienen endlos zu fließen, während Trish sie geduldig im Arm hielt und ihr tröstende Worte ins Ohr flüsterte. Als die Tränen schließlich versiegten, löste Irene sich aus Trishs Armen und blickte sie an. »Komm mit«, sagte sie und stand auf. »Was ist denn?« »Komm mit.« Trish folgte Irene durch den Flur zum Zimmer ihres Mannes. Sie versuchte, nicht an den abgetrennten Zeh zu denken, der in der Schachtel lag, als Irene die Tür öffnete. Trish spähte über die Schulter ihrer Freundin. Das Zimmer war voll mit Schachteln in allen Größen und Formen. Sie waren achtlos ins Zimmer geworfen und einfach liegen gelassen worden - richtig herum, falsch herum, auf dem Kopf, auf der Seite. Alle waren in braunes Packpapier gewickelt. Trish ging um Irene herum ins Zimmer. »Fass sie nicht an!«, kreischte Irene. Trish schreckte zusammen. Sie drehte sich um. Sie hatte gar nicht vorgehabt, irgendetwas anzufassen. »Was ist da drin?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort schon kannte. »Jasper.« »Dein Mann?« »Teile seines Körpers.« Plötzlich wurde Trish kalt bis ins Mark. Sie wich von der offenen Tür zurück. »Keines von den Päckchen ist offen«, flüsterte sie. »Vielleicht irrst du dich ...« »Ich brauche sie nicht zu öffnen.« Irene deutete auf einen quadratischen Karton, der groß genug war, um einen Stapel gebundener Bücher aufzunehmen. »Ich glaube, da ist sein Kopf drin.« Trish schloss die Tür und zog ihre Freundin ein Stück zurück. »Du musst hier weg«, sagte sie. »Warum kommst du nicht mit zu mir?« »Nein!« Die Stimme der alten Frau klang überraschend scharf. »Sag wenigstens der Polizei Bescheid. Lass sie die Pakete abholen. So kann es doch nicht bleiben!« Irenes Gesicht verdüsterte sich. »Es tut mir leid, ich habe keinen Tee. Du musst jetzt gehen, weil ...« Sie zuckte zusammen, schrie auf und starrte auf den Boden hinter sich, aber da war nichts. »Bitte«, flehte Trish sie an. »Es ist mein Haus. Ich will, dass du gehst.« »Ich bin deine Freundin.« »Du warst meine Freundin.« »Ich werde die Polizei anrufen und ihr sagen, was ich gesehen habe. Dann kommen sie sowieso her.« »Tu, was du tun musst.« Trish hätte am liebsten losgeheult. Sie schrie ihre Freundin an: »Siehst du denn nicht, was hier los ist? Siehst du nicht, was der Postbote macht?« »Ich sehe besser als du. Geh jetzt, bitte.« Trish ließ sich aus der Tür schieben. Sie verharrte noch eine Zeitlang auf der Veranda, nachdem die Tür zugeschlagen worden war und sie gehört hatte, wie das Türschloss abgeschlossen, der Riegel vorgeschoben und die Kette eingeklinkt wurde. Sie dachte über die Päckchen in dem Zimmer nach. Vielleicht versuchte der Postbote einfach nur, Irene Angst einzujagen. Vielleicht enthielten die Pakete gar keine Körperteile. Vielleicht aber doch. Was sollten sie tun, sie und Doug? Sie konnten nicht einfach herumsitzen und warten, bis alle tot oder in den Wahnsinn getrieben worden waren. Irgendetwas musste passieren. Aber was? Die Polizei war keine Hilfe. Die Führungsebene des Postal Service offenbar auch nicht. Vielleicht sollte jemand ihn umbringen. Der Gedanke kam ungebeten, und obwohl Trish ihn beiseitezuschieben versuchte und sich sagte, dass es falsch und unmoralisch und ungesetzlich sei, blieb der Gedanke in ihrem Kopf. Und als sie zu Hause ankam, hörte die Idee sich bereits ziemlich gut an. 39. Das Telefon klingelte. Doug war auf der Stelle wach. Er griff über Trishs schlafenden Körper hinweg und nahm den Hörer mitten im zweiten Klingeln ab. Das Gefühl einer bösen Vorahnung war mit ihm erwacht, und er warf einen Blick auf den Wecker auf der Frisierkommode, während er den Hörer ans Ohr drückte. Viertel nach zwei. »Hallo?« Dougs Stimme klang müde und ein wenig genervt, doch es lag auch eine leichte Schärfe darin, da er sich auf schlechte Neuigkeiten gefasst machte. Niemand rief nachts um Viertel nach zwei an, wenn es keine schlechten Neuigkeiten gab. »Mister Albin?« Es war Mike Trenton. Dougs Kehle schnürte sich zu, die Brust wurde ihm eng, und er musste sich zwingen zu schlucken. Der Polizist klang fremd. Nicht angstvoll, doch es kam dem sehr nahe. »Was ist passiert?«, fragte Doug. »Es geht um Mister Beecham. Er ... äh, er ist tot.« Doug schloss die Augen, ließ den Kopf aufs Kissen sinken. »Wir haben ihn auf dem Fußboden seiner Zelle gefunden«, fuhr Mike fort. »Seine Stirn ist vollständig eingedrückt, und an der Wand und auf dem Boden ist überall Blut. Es ist schwer zu sagen, aber es sieht so aus, als hätte er den Kopf so lange gegen die Wand gerammt, bis er ihn sich eingeschlagen hat. Als wir ihn eingewiesen haben, haben wir ihm die Kleidung und Schnürsenkel weggenommen, aber er schien nicht gefährlich zu sein, weder für sich selbst noch für andere, und wir hielten es nicht für nötig, ihn zu fesseln oder ...« Doug streckte den Arm über Trish hinweg und legte den Hörer auf. »Was ist los?«, fragte Trish schlaftrunken. Doug sagte nichts, starrte nur ins Leere, und einen Augenblick später war Trish wieder eingeschlafen. Doug schlief bis zum Morgen nicht mehr ein. 40. Das Begräbnis war kurz und spärlich besucht. Hobie Beecham war auch zu seinen besten Zeiten nicht der beliebteste Mann in Willis gewesen, und die erfolgreiche Verleumdung Hobies durch den Postboten hatte ein Übriges getan. Während Doug am offenen Grab stand, ertappte er sich bei dem Gedanken, ob wohl mehr Leute gekommen wären, wäre der Mord nicht geschehen. Der ständige psychische Angriff des Postboten auf die Stadt schien den Menschen viel Energie entzogen zu haben, hatte sie weniger gesellig und weniger vertrauensvoll gemacht. Er fragte sich, ob Bob Rondas Tod heute noch dieselbe Menschenmenge anziehen könnte wie vor einem Monat. Es war makaber, ein Begräbnis als einen Beliebtheitswettbewerb zu betrachten, bei dem das abschließende Urteil über das Leben eines Menschen durch die Zahl der Trauergäste gefällt wurde. Doch es war auch auf merkwürdige Weise angemessen, denn viele Menschen bemaßen den Wert eines anderen nach der Zahl seiner gesellschaftlichen Beziehungen. Besonders in einer kleinen Stadt wie Willis. Ein Mann konnte reich, berühmt, erfolgreich sein, aber wenn er in Willis lebte und nicht verheiratet war, wenn er am Freitagabend allein zu Haus blieb, anstatt mit Freunden oder Familie auszugehen, dann stimmte definitiv etwas nicht mit ihm. Und mit Hobie hatte schon immer etwas nicht gestimmt. Er hatte es selbst oft zugegeben. Sich Freunde zu machen, wie er immer gerne sagte, war nicht sein wichtigstes Ziel im Leben. Doug ertappte sich dabei, dass er lächelte, auch wenn seine Augen feucht waren. Hobie war laut gewesen, anstößig und leidenschaftlich unabhängig. Er war so, wie er war, und wenn es jemandem nicht gefiel, war es dessen Problem. Hobie war überdies ein guter Freund und ein verdammt guter Lehrer gewesen. Der Friedhof wäre voll gewesen, wären all die Schüler gekommen, die Hobie im Lauf der Jahre unterrichtet hatte, denen er behilflich gewesen war, die er unterstützt und beraten hatte. Doug blickte zu Trish hinüber. Zwischen Hobie und ihr war wirklich keine Liebe verloren gegangen, aber nun weinte sie, und mehr als der Sarg in der Grube, mehr als die Trauergemeinde, mehr als der Grabstein machten ihre Tränen ihm bewusst, dass sein Freund sie wirklich und wahrhaftig verlassen hatte. Doug blickte zum Himmel, während auch ihm die Tränen über die Wangen liefen, und versuchte, an etwas anderes zu denken, damit er nicht zu schluchzen begann. Billy nahm es schwer. Diesmal hatten Doug und Trish sich mit ihm zusammen hingesetzt, hatten alles besprochen und es ihm überlassen, ob er an der Beerdigung teilnehmen wollte oder nicht. Er hatte beinahe Ja gesagt, weil er sich verpflichtet fühlte und seine Betroffenheit zeigen wollte. Doch Trish hatte ihm versichert, dass sie nicht von ihm erwarte, mit zur Beerdigung zu gehen, und dass Hobie, wo immer er jetzt sei, das verstehen würde. Und so hatte Billy es vorgezogen, zu Hause zu bleiben. Diesmal gab es niemanden, der auf ihn aufpasste; deshalb machten Trish und Doug sich Sorgen, ihn allein zurückzulassen. Doch Billy hatte versprochen, alle Türen abzuschließen, die Fenster zu verriegeln und im oberen Stock zu bleiben, bis sie zurückkehrten. Doug sagte ihm, dass es in Ordnung sei, wenn er unten fernsah oder sich in der Küche etwas zu essen machte, doch Billy erklärte mit einer Unerbittlichkeit, die seine Eltern überraschte, dass er nicht nach unten gehen würde, bis sie zurück wären. Passenderweise war der Himmel an diesem Morgen bedeckt, begräbnisgrau. Die Sturmsaison stand bevor, und von jetzt bis zum Herbst würde das Wetter durch die sich abwechselnden Extreme von trockener Hitze und kaltem Regen bestimmt. Doug sprach ein paar Worte am Sarg, ebenso wie mehrere andere Lehrer, und dann begann der Grabredner, der keiner Glaubensgemeinschaft angehörte, mit seiner Lobpreisung und Totenweihe. Noch ehe er geendet hatte, fiel bereits leichter Regen, der sich rasch in einen regelrechten Platzregen verwandelte. Niemand hatte einen Schirm mitgebracht, und so rannten alle über den Friedhof zu ihren Wagen. Doug dachte an die Autos und Fahrzeugteile auf Hobies Grundstück und fragte sich, was wohl damit geschehen würde. Er und Trish verließen als Letzte den Friedhof und gingen langsam zwischen den Grabsteinen entlang, obwohl der Regen heftig auf sie niederprasselte. Sie sahen, wie Yard Stevens' Lincoln den Parkplatz verließ und der kurzen Reihe von Fahrzeugen folgte, die die Straße entlangfuhren. Hobies Eltern waren nicht gekommen, obwohl Mike gesagt hatte, dass sie benachrichtigt worden waren und sich um alle Arrangements gekümmert hatten. Doug ertappte sich bei der Frage, ob sie vielleicht das Begräbnis ihres Sohnes verpasst hatten, weil ihre Post manipuliert worden war. Es war gut möglich, dass sie einen Brief von der Friedhofsverwaltung bekommen hatten, in denen ihnen mitgeteilt wurde, dass Hobies Begräbnis auf Grund von Terminschwierigkeiten um einen Tag verschoben werden müsste. Vielleicht kamen sie erst morgen - nur um festzustellen, dass ihr Sohn bereits beerdigt und das Begräbnis vorbei war. »Er hat ihn umgebracht«, sagte Doug laut. »So sicher, als hätte er ihm eine Kugel in den Kopf gejagt.« »Ich weiß«, sagte Trish und drückte seine Hand. Doug schwieg eine Zeitlang, während sie weitergingen. Seine Schuhe sanken im Matsch ein. »Lass uns von hier weggehen«, sagte er. »Lass uns diese verdammte Stadt verlassen.« Er blickte Trish an. »Lass uns abhauen.« »Auf Dauer oder für einen Urlaub?« »Beides.« »Ich weiß nicht«, sagte sie zögernd. »Es kommt mir nicht richtig vor, alle hier im Stich zu lassen.« »Im Stich lassen? Wen?« »Alle. Unsere Freunde.« »Diejenigen, die tot sind? Die verrückt geworden sind? Oder die, die verschwunden sind?« Trish drehte sich zu ihm um. »Was ist los mit dir?« »Nichts ist los mit mir. Ich will nur von hier weg, damit wir unser Leben zurückbekommen, solange wir noch ein Leben haben.« »Und wer wird diesen Irren aufhalten?« »Wer wird ihn denn aufhalten, wenn wir hier sind?« Doug fuhr sich mit der Hand durch das nasse Haar. »Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest - wir haben ihn nicht dazu gebracht, seine Sachen zu packen. Zum Teufel, wir haben keinen einzigen Punkt gegen ihn herausgespielt. Wir haben absolut nichts erreicht. Vielleicht beruhigt sich alles, wenn wir gehen.« »Und wer wird ihn bekämpfen?« Sie starrten sich durch den Regen an. Doug blickte den Hügel hinunter zum Postamt und sah, dass die Flagge wie zum Hohn auf Halbmast hing. »Wir können nicht gehen«, sagte Trish. »Wir haben hier eine Verantwortung.« »Ich habe genug von der Verantwortung.« Der Regen hörte abrupt auf, als wäre im Himmel ein Hahn zugedreht worden, aber Doug liefen immer noch Rinnsale übers Gesicht, und ihm wurde bewusst, dass er weinte. Trish streckte zögernd die Hand aus, berührte seine Wange, seine Stirn, sein Kinn. Sie trat auf ihn zu, legte die Arme um ihn und zog ihn zu sich heran. Sie hielt ihn fest, und sie blieben lange, lange Zeit so stehen. Zum Abendessen gab es Tortillas mit Hühnchen - ein Gericht, das sie alle drei mochten. Trish hatte den größten Teil des Nachmittags mit der Zubereitung verbracht, doch keiner schien großen Appetit zu haben, und sie stocherten schweigend in ihrem Essen herum, jeder in seine Gedanken versunken. Mitten in der Mahlzeit fiel wieder der Strom aus, und Trish nahm die Streichhölzer und zündete die Kerzen an, die sie auf den Tisch gestellt hatte. Der Strom war in letzter Zeit so oft ausgefallen, dass sie jetzt als Ersatzbeleuchtung in jedem Zimmer Kerzen und Taschenlampen aufbewahrten. Es wurde langsam zu einer Selbstverständlichkeit. Wenn dieses Martyrium sie etwas lehrte, dann war es Genügsamkeit und die Einsicht, dass sie all die Annehmlichkeiten, von denen sie bisher gedacht hatten, dass sie zum Überleben notwendig seien, eigentlich nicht brauchten. Trish fragte sich, wie einige der älteren Leute in der Stadt zurechtkamen. Der Grund für die ständigen Stromausfälle war offensichtlich: Der Postbote wollte ihren Widerstand brechen, wollte sichergehen, dass sie wussten, dass sie sich auf nichts verlassen konnten. Wie er die Stromausfälle zuwege brachte, wie er die Einwohner der Stadt von Wasser, Gas und Telefonanschluss abschnitt, wusste noch immer niemand. Trish und Doug hatten inzwischen oft mit den Büros der jeweiligen Versorger gesprochen, doch die Antworten, die sie bekamen, waren vage und wenig aufschlussreich und hatten meist etwas mit Bußgeldern, gesetzlichen Strafen und Korrespondenz zu tun. Papiere, die von der Post durcheinandergebracht worden waren. Einem Vertreter der städtischen Gas- und E-Werke zufolge konnten sie ihre Dienste nicht leisten, weil ihnen selbst das Wasser und die Elektrizität vom Erzeuger - dem Salt River Project in Phoenix - abgestellt worden waren. Das Project hatte abwechselnd gesagt, dass die Stadt Willis ihre Rechnungen nicht bezahlt habe oder dass ihre Quote bereits geliefert worden sei. Als Beweis wurde auf Rechnungen verwiesen, die sie mit der Post bekommen hätten. Doch der Vertreter versicherte Doug und Trish, dass die Probleme bald gelöst und die Wasser- und Stromversorgung wiederhergestellt würden. Ironischerweise wohnten diejenigen, die wohl die geringsten Schwierigkeiten hatten, sich an die neuen Umstände anzupassen, in den Außenbezirken der Stadt; es waren die Leute, die ohnehin unter einfachen Bedingungen lebten. Mit ihren Brunnen, Abwassertanks und den mit Butan betriebenen Generatoren ging ihr Leben weiter wie bisher, während die anderen Einwohner sich an kalte Küche, kalte Duschen und Kerzenlicht gewöhnen mussten. »Ich hoffe, das geht jetzt nicht die ganze Nacht so«, sagte Trish. Doug biss in seine Tortilla. »Wahrscheinlich schon.« Billy ließ seine Gabel fallen, und sie schepperte laut auf den Teller. Er hatte kaum etwas gegessen, hatte die Tortilla nur klein geschnitten und damit herumgespielt. Trish warf ihm einen strengen Blick zu. »Iss auf«, sagte sie. Billy stöhnte. »Ich will ...« Ein Stein krachte durchs Fenster. Das Glas zersplitterte explosionsartig, ohne durch die geschlossenen Vorhänge gedämpft zu werden. Mit dumpfem Knall traf ein zweiter Stein gegen die Außenwand. »Scheißkerl!«, schrie jemand wütend. Es war die Stimme eines erwachsenen Mannes, nicht die eines Teenagers. Sofort schob Doug den Stuhl zurück und warf ihn um, als er um den Tisch herum zur Vordertür rannte. »Lass es!«, rief Trish. Ihr Gesicht war weiß vor Angst. Auch Billy sah verängstigt aus. Doug spürte, wie sein Herz hämmerte, doch er stürzte trotzdem zur Tür. Wieder krachte ein Stein gegen die Wand. Wieder die Stimme: »Scheißkerl!« Und dann das Geräusch von aufspritzendem Kies und dem aufheulenden Motor eines Pick-up, der davonraste. Doug riss die Tür auf und kam noch rechtzeitig auf die Veranda, um die Rücklichter des Kleinlasters zu sehen, der zwischen den Bäumen verschwand. Über der Auffahrt schwebte noch eine Wolke aus Staub und Auspuffgasen. Doug blickte auf den Boden. Auf der Veranda zu seinen Füßen lagen mehrere Steine, die ungefähr die Größe von Softbällen hatten. Sie waren mit solcher Wucht geworfen worden, dass sie splittrige Dellen in die Holzwand des Hauses geschlagen hatten. Wie zum Teufel hatte jemand dicht genug an das Haus heranfahren können, um Steine dieser Größe zu werfen, ohne gehört zu werden? Weiter die Straße hinunter, im stillen Wald, hörte Doug triumphierendes Geheul und Geschrei, das leiser wurde, während der Pick-up sich entfernte. »Was war das?« Trish stand in der Tür, zitternd, die Hände auf Billys Schultern. »Ich weiß es nicht.« »Warum wirft jemand Steine gegen unser Haus?« »Warum glauben die Nelsons, dass wir ihren Hund getötet haben? Warum hat Todd geglaubt, dass ich ihn verfolge?« Doug blickte seinen Sohn an. »Du weißt nicht, wer das war, oder?« Billy, noch immer voller Angst, schüttelte den Kopf. »Ich habe auch nicht damit gerechnet. Kommt, gehen wir rein.« Doug ließ Trish und Billy ins Haus gehen; dann schloss er die Tür hinter sich und verriegelte sie. Morgen würde er jemanden suchen müssen, der das Fenster ersetzte. Er schaute sich im vorderen Teil des Wohnzimmers um. Im Kerzenlicht glitzerten Glasscherben und Splitter auf dem Stuhl und einem Teil der Couch. Für den Fall, dass so etwas noch einmal geschah, würden sie die Möbel umstellen müssen. Sonst bestand die Gefahr, dass Trish, Billy oder er selbst von einem Stein getroffen oder von herumfliegenden Glasstücken verletzt wurden. Dougs Muskeln waren angespannt. Obwohl er wissen wollte, wer die Steine geworfen und in dem Pick-up gesessen hatte, erkannte er verwundert, dass er nicht allzu wütend auf die Angreifer war. Er betrachtete die Einwohner von Willis immer mehr als Opfer des Postboten oder als Marionetten, die von seinem Willen gelenkt wurden. Es war der Postbote, den Doug für alles verantwortlich machte - vom Tod der Menschen und Hunde über die rassistischen Angriffe bis zum Ausfall der Strom-, Wasser- und Gasversorgung und des Telefons. Oder litt er bereits unter Verfolgungswahn? Nein, so weit hergeholt es auch klingen mochte - Doug wusste, dass es die Wahrheit war. Er schrieb dem Postboten keine Allmacht zu; er erkannte nur eine gegebene Situation an. Er wäre kein bisschen überrascht gewesen, hätte er erfahren, dass der Postbote alle Ereignisse so hatte ablaufen lassen, dass sie in ihm genau jene Art von Zweifeln weckten, die er jetzt verspürte. Doug schüttelte den Kopf. Er sah wirklich schon Gespenster. Trish räumte bereits das Abendessen ab. Sie hatten noch nicht zu Ende gegessen, doch ihnen war der Appetit vergangen. Doug ging zu ihr, um ihr zu helfen. Sogar Billy brachte seinen Teller in die Küche, obwohl es ihm sonst nicht im Traum eingefallen wäre, sich freiwillig an irgendwelcher Schwerstarbeit für die Familie zu beteiligen. Auf der Straße fuhr ein Wagen mit voll aufgedrehter Stereoanlage vorbei, und alle drei verspannten sich, als sie warteten, ob er in ihre Auffahrt einbog. Der Wagen fuhr weiter, der Lärm der Musikanlage und des Motors wurde leiser. Schweigend blickten die drei sich an; dann räumten sie weiter das Geschirr ab. Der leichte Nachtwind blies den Vorhang vor dem zerbrochenen Fenster ins Zimmer. 41. Nach dem Frühstück machte Doug mehrere Anrufe und versuchte, jemanden zu finden, der das Fenster ersetzte. Die Firma Harmons brachte das Glas, doch es stand niemand zur Verfügung, der es einsetzen konnte. Hobie hätte gewusst, wie das geht, aber Doug selbst würde nicht einmal den Versuch unternehmen. Abgesehen von den einfachsten und notwendigsten Handgriffen im Haushalt war er für solche Arbeiten völlig ungeeignet. Der Geräteschuppen war eine Sache - er war für Leute wie ihn gedacht und wurde mit einer einfachen Bauanleitung geliefert -, aber das Fenster war etwas anderes. Doug rief mehrere Handwerker an, die im Telefonbuch aufgelistet waren, aber zwei meldeten sich nicht, und einer lehnte den Auftrag ab. Der Einzige, der in Betracht zog, den Job zu erledigen, ließ Doug wissen, dass die Arbeit über hundertfünfzig Dollar kosten würde und dass er in den nächsten zwei Wochen sowieso nicht dazu kommen würde. Doug war versucht, das Loch einfach mit Brettern zu vernageln und das Bild eines Fensters davorzuhängen. Er machte noch ein paar Anrufe und kehrte dann zu dem ursprünglichen Handwerker zurück, dessen Preis nun auf hundertfünfundsiebzig Dollar gestiegen war, offensichtlich als Strafe dafür, dass Doug sich umgehört und jemand anderen zu finden versucht hatte. Doug legte auf und spürte Trishs Hand auf seiner Schulter. »Hast du die Schlüssel?« »Wo willst du denn hin?« »Zu Irene. Ich mache mir wirklich Sorgen. Ständig versuche ich, sie anzurufen, aber sie geht nicht ran, und nach dem, was mit Hobie geschehen ist ...« Ihre Stimme verlor sich; sie brauchte den Satz nicht zu beenden. Doug holte die Schlüssel aus der Hosentasche. »Ich fahre mit.« »Ich glaube, es ist besser, wenn ich allein hingehe. Ich weiß nicht mal, ob Irene mich sehen will. Bleib du lieber hier bei Billy.« Doug blickte ihr in die Augen und sah tiefe Besorgnis darin. »Es ist gefährlich da draußen.« »Ich weiß. Ich pass schon auf.« »Ich könnte dich doch bei Irene absetzen und unten an der Straße parken ...« »Nein«, entgegnete Trish entschlossen und nahm ihm die Schlüssel aus der Hand. »Ist schon okay. Ich sehe nur nach ihr und komme sofort wieder zurück. Du wirst nicht mal merken, dass ich weg bin.« »Warum lässt du nicht die Polizei nach ihr sehen? Irene ist eine alte, gebrechliche Frau. Sag ihnen, sie könnte in der Badewanne ausgerutscht sein und sich etwas gebrochen haben, dann schicken die einen Streifenwagen hin.« »Nein«, sagte Trish und gab ihm einen raschen Kuss. »In zwanzig Minuten bin ich wieder da.« »Der Tank ist fast leer, aber bis zu Irene und zurück reicht es noch. Geh nicht tanken. Das mach ich später.« »Okay«, sagte sie. Mit ungutem Gefühl beobachtete Doug, wie Trish in den Wagen stieg, auf die Auffahrt zurücksetzte und zwischen den Bäumen hindurch zur Stadt fuhr. Irgendetwas stimmte nicht. Trish spürte es im selben Augenblick, als sie aus dem Wagen stieg. Die Atmosphäre war auf merkwürdige, undefinierbare Weise anders. Die Luft war absolut reglos, sogar die Vögel und Insekten waren verstummt, als wäre eine Art riesiger Lärmschutz über das Grundstück gestülpt worden. Das Haus selbst erschien leer und verlassen, obwohl sich äußerlich nichts verändert hatte. Trish wusste es so sicher, wie sie wusste, dass heute Dienstag war. Doch sie verdrängte den Gedanken. Das war dumm und abergläubisch. Trish zwang sich, zur Haustür zu gehen. Als sie durch den Spitzenvorhang spähte, konnte sie keinerlei Bewegung erkennen. Sie klopfte an die Tür. »Irene?« Ihre Stimme verhallte, ohne die geringste Spur eines Echos. Immer noch keine Bewegung im Innern. Irgendetwas war definitiv nicht in Ordnung. Trish klopfte stärker an die Tür, klingelte. »Irene!« Was, wenn die alte Frau wirklich hingefallen war, sich etwas gebrochen hatte und sich nicht bewegen konnte? Wenn sie einen Herzinfarkt erlitten hatte oder einen Schlaganfall? Was, wenn der Postbote sie hatte? »Irene!« Trish rüttelte am Türknauf, doch es war abgeschlossen, wie üblich. Voller Sorge ging sie um das Haus herum zur Hintertür, wobei Unkraut ihre nackten Fußknöchel zerkratzte. Die Hintertür war nicht verschlossen, und Trish drückte sie vorsichtig auf. Ein schlechtes Zeichen. Irene schloss immer beide Türen ab. Vielleicht war er im Haus. Der Postbote. »Irene ...?« Totenstille. Trishs Herz schlug wie verrückt in einem angsterfüllten Rhythmus, den sie in Bauch und Hals spürte und im Kopf hören konnte. Sie sollte von hier verschwinden, und zwar schnell. Sie sollte geradewegs zur Polizeiwache fahren und jemanden holen. Auf gar keinen Fall aber sollte sie die Lage auf eigene Faust weiter erkunden. Doch ihre Füße trugen sie vorwärts in die Küche. Der Fußboden war übersät mit Töpfen und Pfannen und zerbrochenem Porzellan. Vorsichtig setzte Trish ihre Schritte zwischen die Scherben. Auf der Arbeitsfläche sah sie einen Laib selbstgebackenes Brot, der von grünem Schimmel überzogen war. Irenes Pflanzen vor dem Fenster hatten wild ausgetrieben, ehe sie aus Wassermangel vertrocknet waren. Der Raum war erfüllt von einem Gemisch verschiedenster Gerüche: Gewürze und Kräuter, Verfall und Verwesung. »Irene!«, rief Trish. Keine Antwort. Sie ging weiter durch die Tür ins Wohnzimmer, warf einen Blick auf die aufgeschlitzten Polster der antiken Möbel, sah den umgestürzten Fernseher und begriff, dass Irene nicht hier war. Trish erinnerte sich an die Päckchen in Jaspers Zimmer - und plötzlich glaubte sie zu wissen, in welchem Raum sie ihre Freundin finden würde. Sie spürte in der Magengrube, wie sie der Mut verließ. »Irene!«, rief sie noch einmal. Keine Antwort. Trish wusste, sie hätte verschwinden oder wenigstens die Polizei rufen sollen, doch sie ging weiter, tiefer ins Haus hinein. Zuerst würde sie in die anderen Räume schauen. Wenn Irene in keinem dieser Räume war, stand fest, dass sie sich in Jaspers Zimmer aufhielt - und dann würde Trish die Polizei rufen. Langsam ging sie über den Flur und blickte ins Schlafzimmer. Die Kopfkissen waren aufgerissen. Überall lagen Federn herum, aber nirgends gab es eine Spur von Irene. Trish sah ihr eigenes Spiegelbild in der gesprungenen Spiegeltür des aufgebrochenen Kleiderschranks. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, wie viel Angst sie wirklich hatte, bis sie den Ausdruck auf ihrem blassen Gesicht sah. Sie ging über den Flur bis zum Badezimmer. Der Fliesenboden war mit zerrissenem Packpapier, Paketschnüren und geöffneten Schachteln übersät. Irene lag in der Wanne, mit aufgeschlitzten Handgelenken. Trish starrte auf ihre Freundin. Irene lag offensichtlich schon einige Zeit dort. Die Haut ihres Körpers war weiß, faltig und vom Wasser aufgequollen, ihre leeren Augen wie vom grauen Star weiß eingetrübt. Um sie herum trieben Körperteile ihres Mannes. Arme. Beine. Hände. Der Kopf. Die Teile waren weiß und blutleer und dümpelten dicht an dicht im Wasser. Trish wollte wegsehen, aber sie konnte es nicht. Ihr Blick war starr auf die Badewanne gerichtet. Ihr war nicht bewusst, dass sie schrie, bis ihre Kehle schmerzte. 42. Doug bereitete das Mittagessen vor. Während er Senf auf die Hotdogs strich, blickte er durch das Fenster auf Trish. Sie arbeitete in ihrem Garten und versuchte wieder einmal, dort so etwas wie Ordnung zu schaffen. Doug machte sich große Sorgen um sie. Nach dem ersten Schock, als sie Irene gefunden hatte, war sie schnell wieder zur Normalität zurückgekehrt. Nur zwei Tage nach dem Auffinden des Leichnams war sie wie immer. Sie war nicht verstört, nicht verängstigt, nicht in sich gekehrt. Da stimmte etwas nicht. Das war nicht normal. Doug selbst hatte Hobies Tod noch nicht ganz verdaut, und dabei hatte er nicht einmal die Leiche seines Freundes gesehen. Trish hatte Irene in der Badewanne gefunden, mit aufgeschnittenen Pulsadern, umgeben von Leichenteilen, und doch verhielt sie sich, als wäre nichts Ungewöhnliches vorgefallen. Doug hatte nicht mit ihr darüber gesprochen, hatte das Thema Irene gar nicht erst angeschnitten, aus Angst, Trish unnötig aufzuregen. Er hatte angenommen, sie selbst würde darüber reden, sobald sie dazu bereit war. Aber bis jetzt hatte sie das nicht getan, was überhaupt nicht ihrem Charakter entsprach. Doug beobachtete durchs Fenster, wie sie Unkraut jätete, und fragte sich, ob sie nicht eines Tages wohl unerwartet durchdrehen und all die aufgestauten Gefühle in ihr explodieren würden. Wie üblich war der Postbote völlig ungeschoren davongekommen. Die Polizei hatte ihn verhört, aber er hatte ihnen wieder den alten, dummen Spruch »Der Postal Service ist für den Inhalt der Sendungen nicht verantwortlich« aufgetischt, und wie üblich konnte man nicht das Geringste dagegen tun. Nichts, absolut nichts brachte den Postboten eindeutig mit dem Inhalt der Pakete in Verbindung, die Irene geschickt worden waren. Jedenfalls nichts, was sich beweisen ließe. Der Postbote versprach, eine gründliche Untersuchung durch den Postal Service zu veranlassen, um zu ermitteln, woher die Päckchen mit den Leichenteilen stammten. Eine gründliche Untersuchung durch den Postal Service ... Einen Dreck! Die Würstchen waren fertig. Doug bat Billy, seine Mutter zu holen. Es war Zeit fürs Mittagessen. »Kleinen Moment noch«, sagte Billy. »Gleich kommt Werbung.« »Du hast die Sendung schon tausendmal gesehen. Geh schon und hol deine Mutter. Jetzt sofort.« »Ja, gleich.« Doug seufzte und schüttelte den Kopf. Er öffnete das Fenster und ließ einen Schwall warmer Sommerluft herein. »Essen ist fertig«, rief er. Trish blickte auf, blinzelte in die Sonne und winkte. »Komme gleich.« Doug beobachtete, wie sie den Pflanzenheber hinlegte, sich Hände und Knie abklopfte und zur Veranda ging. Sie hätten von hier verschwinden sollen, überlegte Doug. Sie hätten Willis schon verlassen sollen, als alles angefangen hatte. Jetzt war es zu spät. Sie saßen fest. Die Tankstellen am Ort hatten kein Benzin mehr, und neue Lieferungen waren nicht vorgesehen, weil keine der Tankstellen, nicht einmal die der großen Marken, ihre Rechnungen bezahlt hatten. Die Schecks waren in der Post verloren gegangen. Doug schaltete den Herd aus, fischte mit einer Gabel die Würstchen aus dem Wasser und legte sie in die aufgeklappten Brötchen. Er wusste, dass der Benzinmangel nur vorübergehend sein würde, doch während der nächsten drei oder vier Tage konnte niemand Willis verlassen, es sei denn, man hatte noch einen vollen Tank. Der Tank des Broncos war nur noch halb voll. Doug konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass die Lage sich zuspitzte und der Postbote nicht mehr als drei oder vier Tage brauchen würde, um zu vollenden, was immer er sich vorgenommen hatte. Trish kam herein. Sie schwitzte und wischte sich die Stirn ab. »Puh, ist das heiß draußen. Ich hoffe, wir kriegen heute Nachmittag ein bisschen Regen, damit es sich abkühlt. Hat heute schon einer von euch den Wetterbericht gehört?« Doug schüttelte den Kopf. Billy, der sich die Dick Van Dyke Show anschaute, hatte nicht einmal die Frage gehört. Trish wusch sich im Badezimmer Gesicht und Hände. Dankbar nahm sie den Teller mit den Hotdogs, auch wenn sich ihr Gesicht eine Sekunde lang verdüsterte, als Doug ihr ein Glas Eistee reichte. Sie ging mit dem Essen auf die Veranda. Doug nahm ebenfalls seinen Teller und folgte ihr nach draußen. Sie setzten sich nebeneinander an den Tisch. Trish biss in ihren Hotdog. »Was hast du heute Nachmittag vor?«, fragte sie. »Was ich vorhabe? Ich habe nichts ...« »Gut. Ich möchte, dass du den Manzanitastrauch neben dem Haus ausgräbst. Ich möchte meinen Garten vergrößern.« »Hör mal ...« »Haben Sie etwas Wichtigeres zu tun, Herr Lehrer?« Er schaute Trish an, und die Besorgnis musste in seinen Augen zu sehen gewesen sein, denn sie blickte zur Seite. »Nein«, sagte Doug, »ich habe nichts anderes zu tun. Ich helfe dir im Garten.« »Danke.« Sie biss noch einmal in den Hotdog. Das Telefon klingelte. Doug schob den Stuhl zurück und stand auf. »Ich gehe schon«, sagte er, eilte ins Haus und nahm den Hörer ab. »Hallo?« Eine Frauenstimme rief: »Hilfe! Um Himmels willen, helfen Sie mir! O Gott! Ich bin hier ganz allein!« Doug überlief eine Gänsehaut. »Wer ist denn da?« »Trish? Helfen Sie mir!« »Hier ist nicht Trish, hier ist ...« »O Gott, ich höre ihn schon!« »Was ist denn los? Ich ...« »Trish!«, kreischte die Frau. »Trish!«, brüllte Doug. »Komm her, schnell!« Sie stürzte ins Haus und riss Doug den Hörer aus der Hand. »Hallo?« »Er ist wieder da!« Trish erkannte die Stimme. Ellen Ronda. Sie hatte nicht mehr angerufen, seitdem Trish allein in dem Haus gewesen war. Nun war die Hysterie in ihre Stimme gekrochen, hatte sie völlig verändert, sodass Ellen vollkommen fremd klang. Die Frau am anderen Ende der Leitung war wahnsinnig geworden - eine bibbernde Verrückte, eine stammelnde Idiotin. »Was ist?«, fragte Trish aufgeregt. »Er verfolgt mich!«, schrie Ellen. »Mit einem Baseballschläger!« »Beruhigen Sie sich«, sagte Trish. »Bleiben Sie ...« Dann hörte sie das Klirren von zersplitterndem Glas. Dann das dumpfe Geräusch eines Baseballschlägers, der gegen eine Wand hämmerte. »Kommen Sie! Bitte!«, kreischte Ellen. »Bringen Sie die Polizei mit. Er ...« Es knackte laut, und die Leitung war tot. Trish ließ den Hörer fallen und ergriff Dougs Hand. »Komm schnell!« »Was ist denn?« »Ellen wird überfallen! In diesem Augenblick!« »Lass uns die ...« »Dafür ist keine Zeit!« Trish riss die Tür auf. »Du bleibst hier«, rief sie Billy zu. »Schließ die Türen ab! Bleib im Haus!« Sie zerrte Doug über die Veranda zum Wagen. »Nun fahr schon!« Doug fuhr so schnell er konnte, aber das Haus der Rondas war auf der anderen Seite der Stadt, und es gab keine Abkürzung. Der Bronco raste durch den Bach, dass das Wasser hoch aufspritzte, und rumpelte durch die ausgefahrene Spur. Als sie durch die Stadt rasten, weit über der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, schien die Straße verlassen zu sein. Als sie am Postamt vorbeikamen, warf Doug einen raschen Blick hinüber. Der Parkplatz war leer. Selbst der Wagen des Postboten war verschwunden. Die Vordertür zu Rondas Haus stand weit offen. Doug brachte den Wagen rasch in der Auffahrt zum Stehen und rannte ins Haus, ohne auf Trish zu warten. Er hatte nichts in der Hand und verfluchte sich nun selbst, weil er keinen Wagenheber oder etwas anderes mitgenommen hatte, das man als Waffe benutzen konnte. Er lief durch das verwüstete Wohnzimmer, durchs Esszimmer ... Ellen lag auf dem Küchenfußboden. Nackt. Tot. Mit einer Hand umklammerte sie ein Messer. Sie war mit offenem Mund gestorben, hatte geschrien oder zu schreien versucht. Ihr Gesicht war zu einer Fratze des Terrors erstarrt. Aber es war nicht die obere Hälfte ihres Körpers, die Dougs Aufmerksamkeit auf sich zog. Er starrte fassungslos auf Ellens Leiche, als hinter ihm Trish hereinkam. Die Beine der alten Frau waren gebrochen, die Fußknöchel in einem unmöglichen Winkel verdreht. Ihr Bauch war aufgeschlitzt, und überall war Blut - auf ihren Beinen, auf dem Boden, auf dem Küchentisch, dick und dunkelrot. »Mein Gott!«, sagte Trish. »O Gott.« Sie stürzte ins Freie und musste sich übergeben. Doug versuchte, seine vibrierenden Nerven zu bezwingen, und rief die Polizei. Sie saßen in Bob Rondas Wohnzimmer und hörten die Geräusche der Polizisten und des Gerichtsmediziners. Doug ertappte sich dabei, wie er auf ein Foto von Bob Rondas, seiner Frau und den beiden Jungs starrte, das auf dem Sims des großen gemauerten Kamins stand. Neben Doug saß eine schweigende Trish. Doug hielt ihre Hand und drückte sie immer wieder, aber sie sagte nichts, und ihre Hand reagierte nicht. Hinter sich hörte er, wie jemand aus der Küche kam. »Wir kriegen ihn«, sagte Mike. »Diesmal kriegen wir ihn.« »Ist ein bisschen spät, finden Sie nicht?« Doug stand auf und drehte sich zu dem Polizisten um, doch seine Wut verflog, als er den Ausdruck tiefer Erschütterung auf dem Gesicht des jungen Officers sah. Mike schloss die Augen und hielt den Atem an. »Ja, das ist es«, sagte er dann. »Viel zu spät.« Der Gerichtsmediziner kam aus der Tür hinter ihm. Er war ein hagerer, sehniger Mann mit scharfer Adlernase. Er schien der Einzige zu sein, der nicht erschüttert war von dem, was er gesehen hatte. Er reichte Mike ein Klemmbrett mit mehreren Formularen. »Was war die Ursache?«, fragte Doug. Der Gerichtsmediziner sah ihn an. »Die Todesursache? Die offizielle Version wird sein, dass sie vergewaltigt und ermordet wurde.« »Und was ist die inoffizielle Version? Die wahre Geschichte?« »Die wahre Geschichte? Sie haben es selbst gesehen. Ihr Darm ist zerrissen, ihre Leber und Nieren zerquetscht und ihre Gallenblase zerfetzt. Und das hat irgendein Irrer mit einem stumpfen Gegenstand von der Größe eine Baseballschlägers angerichtet. Ich werde eine Autopsie durchführen und sie gründlicher untersuchen müssen, bevor ich bestimmen kann, wie groß das Ausmaß der Verletzungen ist und welches Organversagen genau ihren Tod verursacht hat.« Mike überflog die Formulare, unterschrieb das oberste und gab das Klemmbrett dann dem Gerichtsmediziner zurück, der in die Küche zurückkehrte. Mike folgte ihm. Durch den Türrahmen sah Doug zwei Männer in weißen Schutzanzügen, die einen Leichensack aus Kunststoff ausrollten. Doug setzte sich wieder auf die Couch und ergriff Trishs schlaffe Hand. Einen Augenblick später kam Mike mit Chief Catfield aus der Küche. »Mister Albin«, sagte der Chief und nickte zum Gruß. Doug funkelte ihn wütend an und wies mit ausgestrecktem Arm in Richtung Küche. »Also, sagen Sie mir, Chief, hat sie sich auch selbst umgebracht?« »Das ist nicht witzig, Mister Albin.« »Sie haben verdammt recht, das ist überhaupt nicht witzig. Ich habe euch Hampelmännern schon vor Wochen von dem Postboten erzählt. Ich habe euch gesagt, dass so etwas passieren wird! Ich habe euch gewarnt! Glauben Sie mir wenigstens jetzt?« Wütend schlug er mit der Handfläche auf die Tischplatte vor sich. »Verdammt!« »So, wie es aussieht, glaube ich Ihnen, Mister Albin. Aber es ist nicht so einfach, wie Sie denken. Selbstverständlich werden wir Mister Smith verhören. Aber wenn wir keine Fingerabdrücke oder Textilfasern oder andere Beweismittel finden oder einen Zeugen, der ihn am Tatort gesehen hat, gibt es nicht die geringste Möglichkeit, ihn für länger als einen halben Tag festzuhalten.« »Ellen hat meiner Frau gesagt, dass es passieren würde! Sie hat gesagt, dass der Postbote sie umbringt! Ist das nicht Beweis genug? Zählt das denn nicht?« Der Chief wandte sich an Trish. »Was genau hat sie gesagt, Mrs. Albin?« Trish starrte ihn einen Augenblick benommen an; dann schüttelte sie den Kopf, als wollte sie ihn auf diese Weise klar bekommen. Als sie schließlich sprach, klang ihre Stimme vernünftig und klar. Sie blickte von Doug zu Mike und dann zum Chief. »Genau genommen hat sie den Namen des Mannes, der sie verfolgt hat, nicht genannt. Sie sagte immer nur ›er‹, obwohl ich sofort wusste, von wem sie sprach.« Aufgebracht fuhr Doug sich mit der Hand durchs Haar. »Können Sie nicht die Bundesbehörden einschalten?« »Wie denn?«, fragte Mike. »Es geht hier weder um Menschenhandel noch um internationalen Terrorismus noch um sonst etwas, bei dem die Bundesbehörden normalerweise ermitteln.« »Was ist mit der Staatspolizei?« »Wir würden es vorziehen, selbst damit fertig zu werden«, erklärte Catfield. »Das ist eine örtliche Angelegenheit, und wir können ohne Einmischung von außen besser damit umgehen.« »Ja, das sehe ich. Sie machen einen verdammt guten Job.« »Zu Ihrer Information, Mister Albin: Selbst wenn wir uns wirklich Hilfe von außen holen wollten, braucht es mehr als nur einen Telefonanruf, bevor die staatlichen Behörden sich in eine Sache einschalten, die eindeutig in die Zuständigkeit der örtlichen Polizei fällt. Es müssen Dokumente vorgelegt und Formulare ausgefüllt werden ...« »Die alle mit der Post verschickt werden«, sagte Mike. »Das gibt es doch gar nicht!« Doug sprang auf. »Wir müssen doch irgendetwas tun können!« Der Chief wandte sich wieder in Richtung der Küche. »Wir werden alles versuchen.« Der Strom war wieder da. Billy war oben und schaute sich seine üblichen Donnerstagabend-Shows an. Der Fernseher im Wohnzimmer war aus, und sowohl Trish als auch Doug lasen - er einen alten Roman von John Fowles, sie ein Buch von Joseph Wambaugh. Sie hatten Billy mit schlichten Worten erzählt, was passiert war, aber seitdem hatten sie kein Wort mehr über den grauenhaften Nachmittag verloren, und das Abendessen verlief größtenteils schweigend, nur unterbrochen von ein paar unwichtigen Bemerkungen. Das Telefon klingelte, und Trish stand auf, um das Gespräch anzunehmen. »Hallo?« Sie drehte sich um und hielt Doug den Hörer hin. »Für dich.« Er legte das Buch hin, stand auf und nahm Trish den Hörer aus der Hand. »Wer ist da?« »Mike Trenton.« Doug hielt sich den Hörer ans Ohr. »Hallo?« »Doug? Mike hier. Wir haben den Baseballschläger gefunden. Er lag in einem Graben ein Stück die Straße runter.« Einen Herzschlag lang herrschte Schweigen. »Er war mit blutigen Fingerabdrücken übersät.« Doug runzelte die Stirn. Die Neuigkeit war gut, genau das, was sie brauchten, wonach sie gesucht hatten, worauf sie gehofft hatten. Doch die Stimme des Polizisten klang weder aufgeregt noch freudig, sondern flach und emotionslos. Irgendetwas stimmte nicht. Die Dinge hatten sich nicht so entwickelt, wie es hätte sein sollen. »Was ist los, Mike?« »Die Abdrücke stammen von Giselle Brennan.« Doug schwieg. »Sind Sie noch da?« »Ja, ich bin da.« »Wir haben Smith festgenommen und aufs Revier gebracht, aber wir konnten nichts machen. Wir mussten ihn laufen lassen.« »Er war es, Mike.« »Ich weiß«, sagte der Polizist. Einen Augenblick schwieg er, und als er wieder sprach, war seine Stimme leise, verschwörerisch. »Ist es okay, wenn ich bei Ihnen vorbeikomme? Ich möchte Ihnen etwas zeigen.« »Klar. Wann wollen Sie hier sein?« »Ist es Ihnen recht, wenn ich sofort komme?« »In Ordnung.« »Wir sehen uns in ein paar Minuten.« Doug legte den Hörer auf und drehte sich zu Trish um. »Sie haben den Schläger gefunden, mit dem Ellen ermordet wurde. Die Fingerabdrücke darauf sind von Giselle Brennan.« »Mein Gott.« Doug nickte. »Sie werden Giselle ins Gefängnis stecken. Mike kommt gleich vorbei. Er sagt, dass er uns etwas zeigen will.« Trish klappte das Buch zu und ließ es neben sich auf den Boden fallen. »Wann wird das alles aufhören?« »Bald, hoffe ich.« Trish war für einen Moment still. »Was wäre, wenn jemand ihn umbringt?« »Was sagst du da?« Doug war geschockt. »Ich habe schon eine ganze Weile darüber nachgedacht.« Erregt stand sie auf. »Was, wenn jemand die Bremsleitung seines Wagens durchschneidet oder ihn erschießt oder ...« »Trish!« »Warum denn nicht? Nenne mir ein Argument, das dagegen spricht.« »Es ist falsch!« »Das ist nicht besonders überzeugend.« »Mord kommt nicht in Frage«, sagte Doug. »Dann wären wir nicht besser als er. Ich will nicht mehr darüber reden.« »Gut.« Trish hob ihr Buch vom Boden auf, schlug die Seite auf, die sie markiert hatte, und las weiter. Doug starrte sie an, doch in ihrem Gesicht lag keine Wut, kein Trotz, keine Resignation, nur Gleichgültigkeit. Ihm wurde bewusst, dass er Angst um sie hatte und sich Sorgen darüber machte, was sie vielleicht versuchen würde. Er traute ihr nicht mehr. Von nun an würde er sie sehr genau beobachten müssen. Wie er es versprochen hatte, fuhr fünfzehn Minuten später Mike in die Auffahrt. Er trug keine Uniform, sondern Straßenkleidung, und unter seinem linken Arm klemmte ein großes Fotoalbum. Doug erwartete ihn auf der Veranda. »Hallo.« Mike ließ den Blick schweifen. »So wohnen Sie also. Ich habe mich immer schon gefragt, wie das Haus eines Lehrers aussieht.« »Genauso wie die Häuser aller anderen.« Doug deutete auf das vernagelte Fenster und die splittrigen Dellen in der Wand. »Freundliche Grüße von den Steine werfenden Freunden des Postboten.« »Haben Sie das zur Anzeige gebracht?« Doug schüttelte den Kopf. »Welchen Sinn hätte das?« »Nun, wenn wir jemals eine Möglichkeit finden, das alles in Verbindung zu bringen, können wir den Mistkerl ein für alle Mal festnageln und für immer einlochen.« Doug lächelte gequält. »Ja, klar, natürlich.« Er öffnete die Tür. »Kommen Sie rein.« Mike folgte ihm ins Haus. »Sie haben also die Tatwaffe gefunden.« »Ja.« »Was hat Giselle dazu gesagt?« Mike schüttelte den Kopf. »Das wissen wir nicht.« »Was meinen Sie damit - Sie wissen es nicht? Haben Sie das Mädchen nicht verhaftet?« »Wir können sie nicht finden«, gab der Polizist zu. »Ihre Mutter sagt, dass sie seit drei Tagen nicht nach Hause gekommen ist. Und Smith behauptet, sie seit dem Nachmittag des Mordes nicht mehr gesehen zu haben.« »Glauben Sie, dass er sie umgebracht hat?« »Wer weiß.« »Warum verhaften Sie ihn nicht wegen Mordverdachts?« »Ohne Leiche?« »Dann eben wegen Entführung.« Mike zuckte mit den Schultern. »Wir tun, was wir können.« »Das habe ich schon mal gehört.« Trish stand auf, und Mike nickte ihr zu. »Hallo, Mrs. Albin.« Trish lächelte. »Hallo.« Sie blickte Doug an. »Ich gehe ins Bett. Ihr braucht mich hier doch nicht mehr, oder?« Doug warf einen Blick auf die Uhr. »Es ist erst halb neun.« »Ich hatte einen anstrengenden Tag.« »Ja«, sagte Doug. »Den hatten wir alle.« »Wir sehen uns später«. Sie winkte Mike zu. »Gute Nacht, Mister Trenton.« »Gute Nacht.« Doug zog einen Stuhl an den Couchtisch heran und bedeutete Mike, auf der Couch Platz zu nehmen. Der junge Polizist setzte sich müde hin und legte das Fotoalbum vor sich auf den Tisch. »Wussten Sie, dass Mrs. Ronda gemalt hat?« »Wie bitte?« »Sie hat gemalt. Sie wissen schon, Kunst. Sie war eine Art Amateurmalerin.« Doug schüttelte verwirrt den Kopf. »Nein, das wusste ich nicht. Aber was hat das mit dieser Sache zu tun?« Der junge Polizist griff nach dem Fotoalbum. »Wir haben ein paar Bilder in ihrem Schrank gefunden. Sie hatte sie versteckt.« Er öffnete das Buch, und plötzlich wusste Doug, was als Nächstes kommen würde. »Eigentlich darf ich Ihnen das gar nicht zeigen. Das ist Beweismaterial der Polizei. Der Chief sagt, dass diese Bilder nichts bedeuten, dass sie lediglich der Ausdruck eines gestörten Verstandes sind, wenn überhaupt ...« Er blickte Doug an und schob das geöffnete Album über den Tisch. Die Bilder waren beunruhigend, gemalt in leuchtenden, grellen Farben, ausgeführt in einem eckigen, expressionistischen Stil. Doug starrte auf das Foto der ersten Leinwand. Ein Mann in einer blauen Uniform, der einen schartigen Baseballschläger hielt, lief über ein Feld aus entsetzten, schreienden Gesichtern. Der Himmel war in einem apokalyptischen Rot gehalten, im selben Ton wie das feurige Haar des Mannes. Das Gesicht des Uniformierten war ein grinsender weißer Schädel. Das nächste Bild zeigte ein Ungeheuer, ein abscheuliches Geschöpf mit einem Maul voll scharfer Fangzähne, das gut die Hälfte des deformierten Gesichts einnahm. In seinen obszön verdrehten Klauen hielt das Monstrum einen weißen Brief. Die Kreatur bewegte sich eine Straße entlang, an der sich vollkommen identische Häuser reihten, die wie Briefkästen aussahen. Sämtliche Bilder waren Variationen desselben Themas, ganz eigene und äußerst persönliche Abbildungen eines schrecklichen Postboten. Auf dem letzten, unvollendeten Gemälde war der Postbote als Sensenmann gekleidet. Die Schneide seiner Sense hatte mehrere Frauen zwischen den Beinen verstümmelt. »Sie hat es gewusst«, sagte Mike. Doug klappte das Album zu. »Ja und? Wer wusste es nicht?« »Aber sie wusste, dass es ihr passieren würde. Haben Sie diese Frauen gesehen? Haben Sie den Baseballschläger gesehen?« »Ja.« »Wenn sie es wusste, wissen andere es wahrscheinlich auch. Wir müssen sie nur finden. Das wird ein hartes Stück Arbeit. Die Leute sind zurzeit nicht besonders kooperativ. Aber wenn wir das nächste potenzielle Opfer des Postboten finden, können wir ihn - oder sie - beschatten und Smith gezielt eine Falle stellen.« Das klang gut, aber Doug glaubte nicht, dass der Postbote ein Mörder war, der methodisch Leute in der Stadt umbrachte. Er war etwas sehr viel Schlimmeres als das. Mord war nur eines der Werkzeuge, die er benutzte, um zu bekommen, was er wollte. Soweit sie wussten, hatte er all die Menschen ermordet, die er umbringen musste. Nun kümmerte er sich um etwas anderes. Vielleicht würde er als Nächste ihn, Trish und Billy umbringen. »Ich finde, das ist eine gute Idee«, sagte Doug. »Ich hoffe nur, es funktioniert.« Mike runzelte die Stirn. »Aber ich brauche Ihre Hilfe. Ich hatte gehofft, Sie ...« »Tut mir leid. Ich glaube nicht, dass ich Ihnen da irgendwie helfen kann.« »Bestimmt können Sie das ...« »Wollen Sie meine Meinung hören?« Der Polizist nickte. »Natürlich.« »Warten Sie nicht darauf, dass er noch einmal zuschlägt. Schnappen Sie ihn jetzt. Jetzt gleich. Legen Sie ihm irgendetwas zur Last, egal was. Wenn nichts an ihm hängen bleibt, auch gut. Aber wenigstens hätten Sie ihn dann für eine Weile aus dem Verkehr gezogen. Und inzwischen - während der Verhöre und dem Gefängnisaufenthalt - vergibt der Postal Service die Stelle vielleicht an jemand anderen, und wir sind Smith für immer los.« »Das ist Ihr Plan?« Doug beugte sich vor. »Der Kerl ist ein Betrüger. Ich habe beim Hauptpostamt in Phoenix angerufen. Die haben den Burschen nirgendwo in den Akten. Als dann Sie da angerufen haben, war seltsamerweise der Computer ausgefallen, und meine Geschichte konnte nicht bestätigt werden. Aber Smith ist kein echter Postbote. Wenn ihr einen Postinspektor hierher holen könnt, sind wir wahrscheinlich in Sicherheit. Das Problem ist, dass Sie per Post oder Telefon nicht durchkommen. Sie müssen persönlich nach Phoenix fahren.« »Kein Benzin«, erinnerte ihn Mike. »Deswegen sollen Sie den Mistkerl ja ins Gefängnis stecken. Ziehen Sie ihn für eine Weile aus dem Verkehr.« »Ich weiß nicht ...« »Na gut, dann stecken Sie ihn eben nicht ins Gefängnis. Aber versuchen Sie wenigstens, einen Vertreter des Postamts aus Phoenix zu holen. Smith ist kein echter Postbote, aber die Autorität des US Postal Service erkennt er an. Zum Teufel - die Post ist überhaupt die einzige Autorität, die er anerkennt!« »Wie kommen Sie darauf?« Doug überlief eine Gänsehaut, als er an den irren Tanz des Postboten auf dem Hügel dachte. »Ich weiß es einfach.« »Ich will ihn trotzdem überwachen.« »Dann überwachen Sie ihn. Hängen Sie sich an ihn dran. Folgen Sie ihm, wo immer er hingeht. Vielleicht können Sie ihn auf diese Weise erwischen.« »Aber Sie glauben es nicht?« »Nein, ich glaube es nicht.« Mike nahm das Fotoalbum und stand auf. »Ich bin bei der Sache auf mich allein gestellt. Das Polizeirevier steht nicht hinter mir. Der Chief würde explodieren, wenn er wüsste, dass ich mit Ihnen rede.« »Warum?« »Ich weiß es nicht genau. Aber ein paar Kollegen sind auf meiner Seite. Tim natürlich. Und Jack und Jeff. Wir wissen alle, was los ist.« »Ich denke, Sie sollten ihn sich jetzt schnappen.« Mike ging zur Tür. »Ich denke darüber nach.« Auf der Veranda drehte er sich um. »Es könnte mich allerdings den Job kosten.« »Es könnte Sie oder mich das Leben kosten, wenn Sie es nicht tun.« »Vielleicht verschwindet er irgendwann von hier.« Doug lächelte grimmig. »Nein. Das habe ich auch gehofft. Aber das wird er ganz sicher nicht tun. Er wird niemals von hier weggehen.« Mike ging zu seinem Wagen, stieg ein und fuhr die Auffahrt entlang. Doug blieb auf der Veranda stehen, bis die Rücklichter verschwunden waren und sich das Geräusch des Motors in der Stille der Nacht verlor. 43. Doug hatte sich geirrt. Der Postbote verschwand tatsächlich. Am nächsten Tag war er nicht mehr da. Als Doug am Nachmittag am Postamt vorbeifuhr, hatte es geschlossen. Im Polizeirevier sagte ihm Mike, dass ein Officer, der bei der Radarfalle am Stadtrand Dienst tat, John Smiths Wagen in Richtung Phoenix hatte fahren sehen. Der nächste Tag verging, und der übernächste, und es war immer noch nichts vom Postboten zu sehen. Als das Wochenende verstrichen war, der Montag kam und das Postamt immer noch geschlossen blieb, fiel allmählich die Anspannung von Doug ab. Es schien vorbei zu sein. Der Postbote war verschwunden. 44. Der Morgen war klar, kühl und sonnig. Es war der erste August. Doug wachte früh auf, duschte, rasierte sich und ging hinaus, um in den Briefkasten zu sehen. Erleichtert stellte er fest, dass dieser leer war. Als er zum Haus zurückkam, war Trish aufgestanden. Sie machte Kaffee. Als Doug »Guten Morgen« sagte, lag Verärgerung in ihrer Miene, und als er den Gruß wiederholte, gab sie als Antwort nur ein unverständliches Grunzen von sich. Doug schaltete den Fernseher ein. News at Sunrise, die vertraute, allmorgendliche Nachrichtensendung von NBC, erschien auf dem Bildschirm. Seitdem der Postbote verschwunden war, hatte es keine Probleme mit der Elektrizität gegeben, und auch Gas, Wasser und Telefon hatten ohne Unterbrechungen funktioniert. Das Leben, so schien es, kehrte langsam zur Normalität zurück. Billy schlief noch. Trish trug Doug auf, ihn zu wecken und zum Frühstück herunterzuholen; sie weigerte sich, ihre kulinarischen Bemühungen zu unterbrechen, ehe Billy nicht auftauchte. Trish machte Tortillas für alle und verwendete dazu Gemüse, das sie in ihrem Garten gezogen hatte. Sie frühstückten zusammen, und Trish kündigte an, dass sie an diesem Morgen zum Supermarkt fahren und ausgiebig einkaufen würden. Der Küchenschrank war nahezu leer, ebenso der Kühlschrank, und Trish hatte einen Stapel von Rabattcoupons, deren Verfallsdatum beinahe erreicht war. Sie machte sich daran, eine Einkaufsliste zu erstellen, während Doug das Geschirr abwusch und Billy abtrocknete. »Okay«, sagte sie schließlich. »Fertig.« »Ich will nicht mit«, sagte Billy. »Du musst aber.« »Warum?« Trish blickte ihren Sohn an. Billy war reif für sein Alter, intelligent und kräftig, doch in den vergangenen zwei Monaten hatte er mit Dingen klarkommen müssen, mit denen die meisten Erwachsenen es nie zu tun bekamen. Trish spürte, wie eine seltsame Traurigkeit sie überkam, während sie in Billys müdes Gesicht blickte. Sie hatte immer gewollt, dass Billy so lange wie möglich Kind blieb und nicht zu schnell erwachsen wurde. Die Kindheit war eine besondere, eine magische Zeit, die man nur einmal erlebte. Zugleich war Trish der Ansicht, dass man Kinder nicht vor der Wirklichkeit abschirmen sollte. Ob es ihnen gefiel oder nicht, am Ende mussten sie in der realen Welt leben, und sie konnten sich besser in diese Welt hineinfinden, wenn sie angemessen darauf vorbereitet wurden. Dieser Sommer jedoch - das war nicht die reale Welt gewesen. Die entsetzlichen Ereignisse der letzten zwei Monate würden Billy nicht auf die Zukunft vorbereiten. Nichts Vergleichbares würde jemals wieder geschehen. Trish starrte Billy an, sah das Flehen in seinen müden Augen. Ihre Stimme wurde weich. »Okay«, sagte sie. »Du musst nicht mitfahren.« Billy lächelte erleichtert, auch wenn in seinen Augen noch etwas anderes, Lauerndes lag. Die furchtbaren Geschehnisse hatten bei ihm wahrscheinlich Narben hinterlassen, von denen sie niemals erfahren würde. »Danke«, sagte er. »Aber du musst im Haus bleiben«, warnte sie ihn. »Schließ alle Türen ab, und lass niemanden rein, bis wir zurück sind. Verstanden?« Billy nickte. »Okay.« Sie blickte zu Doug hinüber und sah sein zustimmendes Lächeln. Es schadete nie, vorsichtig zu sein. Billy zog sich an und stand auf der Veranda, als seine Eltern in den Wagen stiegen und die Auffahrt hinunterfuhren. Er ging ins Haus zurück und schloss die Tür ab. Sein Blick wurde auf die Sperrholzplatte gezogen, die immer noch das zerbrochene Fenster abdeckte. Er hoffte, dass bald dieser Typ kommen und das Fenster reparieren würde. Die Platte half beim Fernsehen am Nachmittag, weil sie das blendende Sonnenlicht nahezu völlig aussperrte, aber sie machte das Haus auch dunkel. Dunkelheit mochte er nicht. Billy wusste noch nicht, was er unternehmen würde, wenn seine Eltern zurück waren. Er überlegte, ob er die Zwillinge anrufen sollte, kam dann aber zu dem Schluss, dass er sie eigentlich nicht sehen wollte. Viel lieber wollte er etwas mit Lane unternehmen, aber er hatte Angst, seinen alten Freund anzurufen. Nachdem der Postbote weg und alles vorbei war, war Lane vielleicht wieder normal ... Aber vielleicht auch nicht, und Billy war nicht mutig genug, das herauszufinden. Jetzt musste er erst einmal zur Toilette. Er ging durch die Küche in den Flur, betrat das Badezimmer und öffnete seinen Gürtel. Dann erstarrte er. Auf dem Rand des Waschbeckens stand ein Umschlag. Ein zweiter lag auf dem geschlossenen Toilettendeckel. Am liebsten hätte Billy losgeschrien, aber er wusste, dass niemand ihn hören würde. Seine Schreie würden nur alarmieren, wer immer da draußen war. Der Postbote ...? Oder hier drinnen. Billy zog sich in das Schlafzimmer seiner Eltern zurück. Auf der Frisierkommode sah er einen verschlossenen Umschlag, einen anderen auf dem Bett. Das Haus erschien ihm plötzlich unheimlich und Furcht erregend. Langsam, schweigend, ging er in das vordere Zimmer. Er merkte, dass die Platte vor dem Fenster fast den halben Raum ins Dunkel tauchte und schattige Ecken erzeugte, in denen sich jemand verstecken konnte. Dann entdeckte Billy eine Spur aus Umschlägen, die die Treppe hinauf in sein Schlafzimmer führte. Vorsichtig hob er den Hörer des Telefonapparats neben dem Fernseher ab. Die Leitung war tot. Von oben hörte er ein Rascheln. Er musste hier raus! Aber wohin konnte er gehen? Es gab nicht viele Häuser in der Nähe. Er konnte mit Sicherheit nicht zu den Nelsons gehen. Er konnte auch nicht zu Lanes Haus. Das Fort! Ja, das Fort. Er konnte zum Fort gehen und dort warten, bis seine Eltern nach Hause kamen. Er würde sich dort verstecken können und wäre in Sicherheit. So leise er konnte öffnete Billy die Vordertür und ging auf die Veranda. Die Holzdielen knarrten unter seinen Füßen. Er blieb bewegungslos stehen und horchte, ob sich oben irgendetwas tat, bereit, sofort loszurennen. Doch er hörte nichts. Billy war sich vorher nie bewusst gewesen, wie viele Geräusche die Veranda tatsächlich machte, und es schien eine quietschende und knarrende Ewigkeit zu dauern, ehe er die Stufen erreichte und sie hastig hinunterstieg. Der Kies unter seinen Füßen knirschte laut wie Donner, doch er ignorierte es und rannte so schnell er konnte den Weg zum Fort entlang. Er sprang über die vertrauten Felsbrocken und Baumstämme, machte einen Bogen um die berüchtigten Mesquitebüsche mit ihren langen Dornen. Mit einem Sprung war er auf dem getarnten Dach des Forts. Dann ließ er sich hineinfallen, schloss und verriegelte die Klapptür. Einen Augenblick lang lag er am Boden, nach Atem ringend, versuchte die Luft anzuhalten und horchte, ob jemand ihn verfolgte. Doch das einzige Geräusch, das er hörte, war das abscheuliche Krächzen eines Eichelhähers in einem weit entfernten Baum. Er war in Sicherheit. Billy stand auf und betete, dass seine Eltern bald nach Hause kommen würden. Dass er bald das Geräusch ihres Wagens hören würde. Wieder horchte er auf jedes fremde Geräusch, doch es war still. Billy schaute sich im Hauptraum um. Jetzt, da Lane weg war, wirkte das Fort verlassen. Wenn er sonst ohne Lane hierhergekommen war, war es auch merkwürdig gewesen, aber es war immer noch ihr Fort gewesen. Jetzt wusste Billy nicht genau, wem es eigentlich gehörte. Das Fort befand sich im Grüngürtel nahe dem Haus seiner Eltern, aber das Baumaterial stammte von Lanes Vater, und sie hatten die ganze Arbeit gemeinsam erledigt. Es war seltsam ohne Lane. Langsam bewegte Billy sich durch den Raum wie ein Fremder, berührte Gegenstände, die ihm einst vertraut gewesen waren, von denen er sich nun jedoch unglaublich weit entfernt fühlte. Alles kam ihm fremd vor, unheimlich, als gehörte es ihm nicht mehr. So musste ein Haus auf Leute wirken, die sich hatten scheiden lassen. Immer wieder blieb er stehen, verharrte, horchte, ob es draußen irgendwelche Geräusche gab. Aber da war nur Stille. Billy ging ins Hauptquartier und blickte auf den Stapel Zeitschriften auf dem Boden. Sogar die Playboys schienen ihm nicht mehr zu gehören - und ebenso wenig Lane. Die Zeitschriften schienen irgendwo in einer zeitlosen Zwischenwelt gefangen zu sein, ohne Eigentümer. Billy nahm eines der Hefte in die Hand. Es klappte »Girls in Uniform« auf und sah den nackten Körper der Briefträgerin. »Billy Albin«, sagte eine Stimme. Er bewegte sich nicht, hielt den Atem an und versuchte, kein Geräusch zu machen. Sein Herz hämmerte wild. »Billy Albin.« Der Postbote war direkt vor dem Fort. Irgendwie hatte er Billy aufgespürt und war ihm gefolgt. Billy war zu entsetzt, um sich zu bewegen. Unfähig, noch länger den Atem anzuhalten, versuchte er, leise auszuatmen, doch in der Stille klang das Geräusch wie ein Hurrikan. Die Schritte draußen verstummten. »Billy.« Er rührte sich nicht. »Billy.« Nun kam die Stimme von der anderen Seite, obwohl Billy keine Schritte gehört hatte, kein raschelndes Laub, überhaupt kein Geräusch. »Billy.« Wieder war da die Stimme - ein leises, beharrliches Wispern. Er wollte schreien, wagte es aber nicht. Der Postbote wusste offensichtlich, wo er war, doch Billy wollte es ihm nicht auch noch bestätigen. Vielleicht, wenn er sich ganz ruhig verhielt und abwartete, vielleicht würde der Postbote dann weggehen ...? »Billy.« Nein. Er würde bestimmt nicht weggehen. Billy stand starr vor Angst da und überlegte verzweifelt, was er tun konnte. Es gab nur einen Eingang zum Fort und damit keine Möglichkeit, hier herauszukommen, ohne dass der Postbote ihn sah. Lane und Billy hatten oft darüber geredet, einen Notausgang zu bauen, indem sie einen Tunnel unter der Erde gruben, aber sie hatten es nie getan. Billy zitterte jetzt am ganzen Körper. Welche Möglichkeiten hatte er? Nur eine: Wenn er es zum Dach schaffte, durch die Klapptür, ohne dass der Postbote ihn sah oder hörte ... »Billy.« ... dann konnte er springen und sich in Sicherheit bringen. Auf Zehenspitzen ging er in den Hauptraum zurück. »Billy.« Diesmal war die Stimme näher. Ganz nahe. Über ihm. Billy sah nach oben. Grinsend starrte der Postbote durch die offene Klapptür auf ihn herunter. Lüsternheit lag in diesem Grinsen, und eine verrückte Grausamkeit funkelte in den kalten blauen Augen. »Willst du ein bisschen Spaß haben?«, fragte der Postbote. Billy wich ins Hauptquartier zurück. Dabei fiel sein Blick auf den Stapel Playboys. Aber es waren keine Playboys. Es waren Playgirls. »Billy«, sagte der Postbote wieder. Er war jetzt in Panik. Wild trat er gegen die Rückwand des Hauptquartiers und versuchte, eines der Bretter loszutreten, sodass er nach draußen kriechen konnte. Er trat, so fest er konnte, legte in jeden Tritt die Kraft der Verzweiflung. Doch Lane und er hatten das Fort zu stabil gebaut. Die Bretter wollten nicht nachgeben. Billy hörte, wie der Postbote sich durch die Klapptür auf den Boden des Hauptraums fallen ließ. »Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht, Billy«, sagte der Postbote. »Hilfe!«, schrie Billy so laut er konnte. Panisch trat er gegen die Wand. »Mom! Dad!« »Möchtest du ein bisschen Spaß haben, Billy?« Billy drehte den Kopf und sah über seine Schulter den Postboten, der lächelte und sein Geschenk darbot. Als Trish und Doug vom Supermarkt zurückkamen, war Billy nicht zu Hause. Als er auch eine Stunde später noch nicht zurück war, geriet Trish in Panik. Sie bat Doug, Mike im Polizeirevier anzurufen. Dieser versprach, die Stadt zu durchkämmen, angefangen beim Postamt. Trish selbst rief der Reihe nach Billys Freunde an. Sie wählte die Nummer der Chapmans. Lane nahm den Hörer ab. »Hallo, Lane«, sagte Trish. »Mrs. Albin hier. Ist Billy bei euch?« »Nein.« Lanes Stimme klang kalt, beinahe wie die des Postboten, und Trishs Furcht wuchs. »Hast du ihn heute schon gesehen?« »Nein.« Lane machte eine kleine Pause. »Aber ich habe Sie gesehen.« Es klickte in der Leitung, als die Verbindung abgebrochen wurde. Trish legte den Hörer auf. Was hatte das zu bedeuten? Sie wusste es nicht, und sie war nicht sicher, ob sie es überhaupt wissen wollte. Sie wollte gerade die Nummer der Zwillinge wählen, als sie Doug durch die Hintertür hereinkommen hörte. »Er ist nicht vor dem Haus oder bei der Wäscheleine«, sagte er und versuchte, die Besorgnis in seiner Stimme zu verbergen, doch es gelang ihm nicht. »Sein Rad ist noch da. Ich gehe jetzt hinter dem Haus und beim Grüngürtel suchen.« »Okay«, sagte Trish. »Ich rufe weiter an.« Doug ging zur Vordertür hinaus. O Gott, betete sie stumm, bitte mach, dass es ihm gut geht. Doug ging die gesamte Länge des Grundstücks ab und sah auf beiden Seiten im Grünstreifen nach. Er suchte unter jedem Strauch, blickte hinter jeden Baum, rief den Namen seines Sohnes. »Billy! Billy!« Eidechsen huschten erschreckt davon. »Billy!« Er arbeitete sich weiter vor zum Hügel hinter ihrem Haus, bis er das getarnte Äußere des Forts vor sich sah. »Billy!«, rief er. Keine Antwort. Doug starrte auf das Fort, von dem etwas Düsteres, Unheilvolles auszugehen schien. Er hatte das Fort nie als bedrohlich empfunden, doch als er es jetzt betrachtete, kam es ihm dunkel und beängstigend verschlossen vor. Ihm wurde bewusst, dass das Gefühl, das der Anblick des Forts ihm bereitete, auf schreckliche Weise den Empfindungen ähnelte, die ihn beim Anblick von Ellen Rondas Haus beschlichen hatten, in dem Ellen auf so bestialische Weise ermordet worden war. Zögernd machte er einen Schritt vorwärts. »Billy?« Er drückte ein Ohr an die Holzwand. Aus dem Innern des Forts hörte er leises Wimmern. »Billy!«, rief er. Hektisch suchte er nach einem Schwachpunkt in der Außenwand, wo er ein Brett abreißen und ins Innere kommen konnte, doch es gab keine vorstehenden Ecken oder Kanten oder andere erkennbare Schwachstellen. Verzweifelt klammerte Doug sich an den Dachrand und versuchte, sich hinaufzuziehen. Er war erschreckend außer Form und stöhnte vor Anstrengung. Er zog sich einen Splitter in die Handfläche, und sein rechter Ringfinger schrammte über den Kopf eines rostigen Nagels, doch indem er die Füße an die Seitenwand drückte, schaffte er es aufs Dach. Dort sah Doug die offene Klapptür, die ins Fort führte. Er spähte hinein, konnte aber nichts erkennen. Rasch ließ er sich durch die Öffnung fallen und prallte hart auf. Das Wimmern war jetzt lauter. Doug fuhr herum. »Billy?« Sein Sohn kauerte in fötaler Haltung, die Knie bis unter das Kinn angezogen, in einer dunklen Ecke. Sein Hemd war zerfetzt und verdreckt. Sein Gesicht war ausdruckslos. Er trug keine Hose. »Billy!« Doug stürzte zu ihm, fiel auf die Knie und nahm seinen Sohn in den Arm. Die Wut, die Angst und der Schmerz hatten sich zu einem einzigen, alles verzehrenden Gefühl des Hasses vereint. Tränen strömten ihm übers Gesicht, als er Billy fest an sich drückte. »Nein«, wiederholte Billy immer wieder. »Nein. Nein. Nein ...« Doug lehnte sich ein wenig zurück, ohne seinen Sohn loszulassen. Durch einen Schleier aus Tränen blickte er Billy ins Gesicht. Die Augen des Jungen waren weit aufgerissen, voller Angst und namenlosem Grauen. »Nein. Nein. Nein ...« Auf der Erde neben Billy lag ein verschmutztes Hochzeitskleid. Und blutige Unterwäsche. Und mehrere frankierte und gestempelte Päckchen und Umschläge. Der Schmerz traf Doug wie ein Schlag in den Magen. Einen Augenblick lang richtete Billys leerer Blick sich auf ihn. »Das zieh ich nicht an!«, kreischte er. »Sie können mich nicht zwingen!« Er zitterte am ganzen Körper. Doug zog ihn an sich. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Billys Haut heiß und fiebrig war. Er zwang sich, logisch zu handeln, auch wenn der bittere Hass, der sein Inneres erfüllte, gegen jede Vernunft rebellierte. Er stand auf und wollte Billy hochheben, als er die Ecke eines Umschlags bemerkte, die unter einer der Falten des schmutzigen Kleides hervorlugte. Doug nahm den Umschlag, sah seinen Namen auf der Vorderseite und riss das Schreiben auf. Auf dem ansonsten leeren Blatt standen nur fünf Worte und ein Ausrufungszeichen: Deine Frau gefällt mir auch! »Nein!«, schrie Doug. Es war ein Schrei aus tiefster Seele, der sich an jemanden richtete, der ihn nicht hören konnte. »Nein«, wiederholte Billy. »Nein. Nein. Nein ...« Ohne nachzudenken, hob Doug seinen Sohn hoch und schob ihn durch die Klapptür, drückte den schlaffen Körper von der Öffnung weg und zog sich dann selbst hoch. Seine Muskeln schmerzten, sein gequältes Inneres brannte. Doch er hatte keine Wahl. Er musste nach Hause zu Trish. Mit schweißnassen Handflächen, von fiebriger Angst erfüllt, legte Trish den Hörer auf. Sie ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Erst da sah sie den Umschlag auf der Theke neben der Mikrowelle. Stirnrunzelnd nahm sie ihn in die Hand. Sie konnte sich nicht erinnern, den Umschlag vorher schon gesehen zu haben. Außerdem hatte sie heute noch gar nicht in den Briefkasten gesehen, und sie war sich ziemlich sicher, dass weder Doug noch Billy es getan hatten. Trish blickte auf die Vorderseite des Umschlags. Er war an sie adressiert, doch es gab keinen Absender. Es geht wieder los, dachte sie. Und Billy ist weg. Sie öffnete den Umschlag und zog das Blatt heraus, das darin steckte. Ich bin im Schlafzimmer. Die Worte sprangen sie förmlich an und trafen sie wie ein Keulenschlag. Er war wieder da. Es war noch nicht vorbei. Er war wieder da - und er war hinter ihr her. Mit zitternden Händen öffnete sie die oberste Schublade gleich neben der Spüle. Sie holte ein Tranchiermesser heraus, umklammerte es fest und hielt es vor sich, während sie über den Flur zum Schlafzimmer ging, bereit, bei der geringsten Bewegung zuzustechen. Sie wusste, wie dumm und lächerlich der Versuch war, es allein mit dem Postboten aufzunehmen - sie sollte zu einem Nachbarhaus laufen und die Polizei rufen -, aber er war zu weit gegangen. Trish hatte ihre Grenze erreicht, und sie wollte verdammt sein, wenn sie es zuließ, dass dieses Ungeheuer sie alle noch weiter terrorisierte. Wenn er hier war, würde sie ihn umbringen. Sie würde ihm seine verdammte Kehle durchschneiden. Er war nicht im Schlafzimmer. Das Messer in der Hand und bereit, jederzeit zuzustoßen, sah Trish im Schrank nach und schaute unter das Bett. Nichts. Sie steckte den Kopf ins Badezimmer. Alles leer. Sie wusste, dass er weder in der Küche noch im Wohnzimmer war, weil sie in beiden Räumen gewesen war. Blieb nur das Loft. Trish glaubte, oben einen Schritt knarren zu hören. Lauf weg, schrie ein Teil ihres Verstandes - der vernünftige Teil. Sieh zu, dass du hier rauskommst. Doch sie umklammerte das Messer noch fester und ging durch die Küche und das Wohnzimmer zur Treppe. Es war Tag, aber der obere Teil der Treppe lag wie immer im Schatten. Trish schlich nach oben, so leise sie konnte; ihre Fingerknöchel am Messergriff waren weiß. Sie hatte beinahe den oberen Treppenabsatz erreicht und den Kopf eingezogen, damit er nicht sehen konnte, dass sie sich näherte, als sie den Fuß auf eine lose Treppenstufe setzte. Die Stufe knarzte. Trish erstarrte und hielt den Atem an, doch aus dem Loft kam kein Geräusch. Sie hielt das Messer vor sich und sprang die letzten fünf Stufen hinauf. Das Loft war verlassen. Es war niemand dort. Immer noch das Messer in der Hand, durchsuchte sie rasch den Kleiderschrank und den Bereich hinter Billys Bett, aber der Raum war leer. Er war weg. Es war niemand im Haus. Trish ging wieder nach unten. Im Wohnzimmer spähte sie aus dem Fenster und suchte nach irgendetwas Auffälligem auf der Auffahrt und in den Sträuchern und Bäumen in der Umgebung, doch die Ruhe auf dem Grundstück wurde nur von zwei Eichelhähern gestört, die sich zankten. Sonst war kein Geräusch zu hören, keine Bewegung zu sehen. Noch einmal überprüfte Trish die Vordertür, dann die Hintertür. Nachdem sie festgestellt hatte, dass beide abgeschlossen waren, entspannte sie sich ein wenig. Erst jetzt spürte sie den Druck auf ihrer Blase, und sie ging ins Bad, wobei sie immer noch das Messer in der Hand hielt. Sie würde kein Risiko eingehen - vielleicht hatte sie den Postboten bei ihrem eher oberflächlichen Blick nach draußen übersehen. Er hätte sich unter einem Strauch oder hinter einem Baum verstecken können, weil er wusste, dass sie nicht aus dem Haus kommen würde, um ihn zu suchen. Vielleicht horchte er gerade jetzt an der Tür, wartete auf einen Augenblick wie diesen, um hereinzukommen und anzugreifen. Trish ließ die Badezimmertür offen, zog rasch ihren Slip herunter und setzte sich auf die Toilette. Der Postbote trat aus der Dusche. Trish schrie in Panik auf, ließ das Messer fallen und griff dann hastig nach unten, um es wieder aufzuheben. Der Postbote trat auf die Klinge. Sein glänzender schwarzer Schuh verdeckte die Schneide vollständig. Er trug seine frisch gebügelte Postuniform, doch Trish konnte die Ausbeulung vorn an seiner Hose sehen, als er direkt vor ihr stand. Mit einer Hand bedeckte sie ihren Schoß und hielt die andere zitternd vor sich, um ihn wegzuschieben. Sie hatte nicht zu schreien aufgehört, aber das schien ihn nicht zu stören. Er grinste sie an. »Hübsche Muschi«, sagte er, und die Derbheit seiner Worte, gepaart mit der glatten Sanftheit seiner Stimme, ließ Trish erschaudern. Warum hatte sie die Dusche nicht überprüft? Er bückte sich, um das Messer aufzuheben, und instinktiv sprang Trish von der Toilette auf und flüchtete kreischend aus dem Badezimmer. In dem engen Raum vor der Tür prallte ihr Körper gegen seinen, und für einen Übelkeit erregenden Augenblick, als sie an ihm vorbeihuschte, spürte Trish, wie sein hartes Glied sich durch den Stoff gegen ihre nackte Haut presste. Sie hastete über den Flur ins Schlafzimmer und knallte die Tür ins Schloss. Ihr Blick huschte durch den Raum, als sie nach irgendetwas suchte, das sie als Waffe benutzen konnte. Draußen im Flur hörte sie ein Klappern, als der Postbote das Messer über den Flur in die Küche schleuderte. Offensichtlich wollte er sie nicht umbringen. Was wollte er dann? Trish drückte die Schulter gegen die Schlafzimmertür und stieß unwillkürlich einen Laut animalischer Angst aus. Sie hatte zu viel Angst, das Zimmer zu durchqueren und zum Telefon zu gehen. Das Türschloss war billig und schwach. Wenn sie nur eine Sekunde lang den Druck verringerte, wäre er im Zimmer. Bei ihr. Trish knirschte mit den Zähnen. Sie war entschlossen, sich nicht von ihrer Angst überwältigen zu lassen. »Verschwinden Sie aus meinem Haus«, befahl sie, doch ihre Stimme bebte und war kraftlos. »Verschwinden Sie. Sofort.« »Du willst es doch auch«, sagte er kühl und gelassen. »Du weißt, dass du es willst.« »Verdammt, hauen Sie ab!«, schrie Trish. »Ich rufe die Polizei.« Seine Stimme fiel um eine Oktave und hatte nun einen vieldeutigen, intimen Tonfall. »Soll ich deine Post an der Hintertür zustellen ...?« »Hilfe!«, schrie Trish mit aller Kraft, die ihre Lunge aufbrachte. Sie wollte, dass ihr Schrei laut und durchdringend klang, ein Schrei schierer Panik und greller Wut, doch er war beinahe ein Schluchzen, das von Verzweiflung verzehrt wurde. Trish verstummte augenblicklich. Sie wollte nicht, dass der Postbote ihre Schwäche spürte; sie wollte diesem Monstrum vor der Tür keinen Zentimeter nachgeben. »Magst du Blut?«, fragte der Postbote mit derselben tiefen, intimen Stimme. Er war direkt hinter dem Türspalt, und sie konnte das Geräusch seiner trockenen Lippen hören, die er beim Sprechen aufeinanderpresste. »Magst du warmes, dickes, salziges Blut?« »Hilfe!« Diesmal war Trishs Stimme kaum mehr als ein Schluchzen. Als Antwort hörte sie das tiefe Kichern des Postboten. Und das Geräusch eines Reißverschlusses, der heruntergezogen wurde. »Du weißt, dass du es willst«, wiederholte er. Trish hielt den Atem an. Sie hörte ein leises, klatschendes Geräusch. Er spielte an sich selbst herum. »Billy bekommt seine Post gerne im Obergeschoss und an der Hintertür zugestellt.« Diese Worte gaben Trish die Kraft, die ihr bisher gefehlt hatte. Grelle Wut loderte in ihr auf. »Du Hurensohn!«, schrie sie. »Wag es ja nicht, ihn anzufassen!« Von außerhalb des Hauses, von der Rückseite, hörte sie Dougs Stimme. »Trish!« Dann noch einmal: »Trish!« Seine Stimme wurde schnell lauter: Er rannte, und Trish hörte Furcht und Wut in seiner Stimme. Irgendetwas war geschehen. Doch Trish war dankbar, überhaupt Dougs Stimme zu hören. Sie war gerettet. Was immer sonst passiert war - Doug war da und würde sie retten. »Hier drinnen!«, rief sie so laut sie konnte. »Ich bin im Schlafzimmer!« Sie hatte nicht gehört, wie der Postbote gegangen war, doch die Stille auf der anderen Seite der Tür verriet ihr, dass er verschwunden war. Auf der Veranda waren schnelle, schwere Schritte zu hören. »Trish!«, rief Doug voller Panik. Die Gittertür fiel krachend zu. »Ich bin hier! Hier drin!« Ungeschickt öffnete sie die Schlafzimmertür und stürzte schluchzend aus dem Zimmer. »Ich ...« Ihr Schluchzen versiegte, als sie sah, dass Doug Billy ins Wohnzimmer trug. Ihr stockte der Atem. Die Zeit stand still. Der regungslose Körper des Jungen hing schlaff in den Armen seines Vaters, und eine schreckliche Sekunde lang musste sie verrückterweise an eine Szene aus Frankenstein denken. Dann war der Moment vorüber, und sie lief zu Doug und drückte ein Ohr auf Billys Brust. »Was ist passiert?«, fragte sie atemlos. »Ich habe Billy im Fort gefunden.« Dougs Stimme klang vor Schock beinahe emotionslos. »Der Postbote hat ihn zuerst gefunden.« Jetzt erst bemerkte Trish, dass Billy keine Hose trug. Vorsichtig legte Doug seinen Sohn auf die Couch. Billys Haut war grau und blass. Seine Lippen bewegten sich stumm in fiebrigen Sätzen. Trish konnte nicht verstehen, was er sagte. »Wenn wir im Krankenhaus sind, rufe ich die Polizei an«, sagte Doug mit derselben tonlosen Stimme. »Wenn die das Ungeheuer nicht jagen wollen, tue ich es selbst.« Mit zitternder Hand fühlte Trish die Temperatur an Billys Stirn. »Was ist passiert?« »Ich weiß es nicht. Er hat so im Fort gelegen. Er hatte keine Hose an, und seine Unterwäsche war blutig, und da lag ein ... ein Hochzeitskleid neben ihm.« Trish schlug die Hand vor den Mund. »Mein Gott.« Doug spürte die heißen Tränen, die ihm übers Gesicht liefen. Seine Stimme brach. »Ich glaube, er wurde vergewaltigt.« »Wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen. Ich rufe den Rettungswagen.« »Nein. Wir haben keine Zeit.« Trish barg den Kopf ihres Sohnes in ihren Armen. »Nein«, stöhnte Billy. »Nein, ich will nicht. Nein. Nein. Nein ...« »Fahren wir«, sagte Trish. Die Gedanken, die Doug durch den Kopf schossen, als der Bronco über die unbefestigte Straße jagte, waren bruchstückhaft und unzusammenhängend: Was hätte er tun sollen? Was hätte er tun können? Was hatte er falsch gemacht? Was würde er noch einmal genauso machen, wenn er die Gelegenheit dazu bekäme? Billy stöhnte auf dem Rücksitz, ein gedämpftes, gequältes Geräusch, dem sofort Trishs sanfter Trost folgte. Doug fluchte, dass er nicht näher am Krankenhaus wohnte. Sie fuhren am Wohnwagenpark vorbei und kamen auf die gepflasterte Straße. Der Schock war ebenso rasch von Doug abgefallen, wie er gekommen war, und von brodelnder, grenzenloser Wut verdrängt worden, die nur durch Rache gestillt werden konnte. Sobald Billy in ärztlichen Händen war, würde er zur Polizei gehen. Und wenn die Polizei sich weigerte, etwas zu unternehmen, würde er den Postboten selbst verfolgen. Der Kerl würde auf keinen Fall ungeschoren davonkommen. Das Willis Community Hospital war ein flaches Gebäude aus weißen Ziegeln im Stadtzentrum abseits der Hauptstraße. Es lag zwischen der Presbyterianer-Kirche und einer kleinen Reihe von Siedlungshäusern, den Modellhäusern für eines der fehlgeschlagenen Bebauungsprojekte der Stadt. Obwohl das Krankenhaus die neueste und am besten ausgestattete medizinische Einrichtung des Countys war - es hatte sogar einen eigenen Hubschrauberlandeplatz, um schwere Fälle nach Phoenix oder Flagstaff zu transportieren -, erschien es Doug nun klein, heruntergekommen und hoffnungslos veraltet. Er wünschte sich, sie würden in einer Großstadt leben, mit Zugang zur modernsten Medizintechnik. Sie fuhren zum Eingang der Notaufnahme, und Doug lief um den Bronco herum, um die Beifahrertür zu öffnen. Er ließ Trish aussteigen, und sie rannte ins Krankenhaus, um Bescheid zu sagen, was geschehen war, während Doug seinen Sohn vorsichtig vom Rücksitz hob und ins Gebäude trug. Ein Arzt, ein Pfleger und zwei Krankenschwestern kamen ihm bereits mit einem Rollbett entgegen, und Doug legte Billy vorsichtig auf das knisternde Papier, das die dünne Matratze bedeckte. Der Arzt, Ken Maxwell, stellte eine Frage nach der anderen, als sie durch die Doppeltür und über den Flur eilten, sodass Doug und Trish kaum die Chance hatten, angemessen zu antworten. Eine Frau mit verkniffenem Gesicht saß am Empfangsschalter und verlangte, dass jemand dablieb und die Anmeldeformulare ausfüllte. Doch der Arzt sagte ihr kurz angebunden, dass sie den Mund halten das später erledigen solle, während er dem Pfleger folgte, der das Rollbett über den Korridor schob. Die beiden Schwestern waren schon vorausgeeilt, um das Untersuchungszimmer vorzubereiten. Das Bett wurde neben einen Operationstisch in der Mitte des Raumes geschoben, und der Arzt half dem Pfleger, Billy auf den hochgefahrenen Tisch zu heben. Mit einem Stethoskop horchte er Billys Brustkorb ab und untersuchte seine Augen mit einer kleinen Taschenlampe. Seine Hände drückten und tasteten geübt den Körper des Jungen ab, der auf dem Rücken lag, doch Billy bekam nichts davon mit. Er bewegte sich nicht, zuckte nicht einmal zusammen. Er sagte nur immer wieder leise und beharrlich die Worte, die er wiederholte, seitdem Doug ihn gefunden hatte. Doug leckte sich über die trockenen Lippen. Der Arzt war beschäftigt. Jetzt wäre ein guter Moment, die Polizei anzurufen. Dougs Blick traf sich mit dem des Pflegers. »Wo ist hier ein Telefon?«, fragte er. »Ich muss die Cops anrufen und denen sagen, was passiert ist.« »Da ist eins im Wartebereich.« Der Arzt beendete die äußere Untersuchung von Billys Körper und sagte etwas zu der Krankenschwester, die neben ihm stand. Dann blickte er Doug und Trish an. »Ich muss ihn gründlich untersuchen«, sagte er. »Und ich muss ihn röntgen und ein paar Standardtests machen.« Die Schwester reichte ihm ein Paar durchsichtige Gummihandschuhe, die sie aus einer frisch geöffneten Verpackung genommen hatte. »Da Sie die Eltern sind, können Sie hierbleiben, aber es könnte ein bisschen grob auf Sie wirken.« Er zog die Gummihandschuhe an und nahm seine Taschenlampe. Die beiden Schwestern rollten Billy vorsichtig auf den Bauch. Doug sah den Schmutz auf den Hinterbacken seines Sohnes und drehte sich weg. »Ich bleibe hier«, sagte Trish und drückte leicht seine Hand. »Geh du nur, und mach deinen Telefonanruf.« Doug nickte zögernd. Er musste tatsächlich die Polizei anrufen, war aber dankbar, diese Entschuldigung zu haben, und hatte deswegen ein schlechtes Gewissen. Er wusste, dass er für Billy da sein sollte, konnte aber nicht dabei zuschauen, wie der Arzt seinen Sohn untersuchte. Trish wusste es - und auf diese Weise gab sie Doug zu verstehen, dass es in Ordnung sei. Doug fühlte sich trotzdem schrecklich. Doch so war er immer schon gewesen. Er hatte schon nicht bei der Geburt seines Sohnes dabei sein wollen, und es würde ihn alle Überwindung kosten, beispielsweise bei einer Operation dabei zu sein. Doug blickte auf seinen Sohn. »Nein«, stöhnte Billy. »Nein. Nein. Nein ...« »Geh jetzt«, drängte ihn Trish. Der Arzt beugte sich über Billys Körper. Doug drückte Trishs Hand und verließ rasch den Raum. Er war wütend auf sich selbst und zuckte zusammen, als Billys Gemurmel mit einem scharfen Einatmen verstummte. Die Türflügel schlossen sich hinter ihm, und Doug war im Korridor. Auf demselben Weg, auf dem er gekommen war, eilte Doug zurück. Er war dem Arzt für sein rasches Handeln dankbar, und trotz seiner anfänglichen Befürchtungen war er nun zuversichtlich, dass Billy die bestmögliche medizinische Versorgung bekam. Was Billys Psyche betraf, war allerdings ein hoher Preis zu zahlen. Was dem Jungen passiert war, würde für den Rest seines Lebens Narben auf seiner Seele hinterlassen. Zorn loderte in Doug hoch, wenn er daran dachte. Er und Trish würden lange suchen müssen, um jemanden zu finden, der Billy psychologische Hilfe geben konnte. Aber jetzt war es Zeit, dass der Postbote bezahlte. Die Frau mit dem verkniffenen Gesicht funkelte Doug vom Empfang aus an, als er an ihr vorbei zum Münztelefon im Wartebereich ging. Er beachtete sie gar nicht und wählte die Nummer des Polizeireviers. Er schloss die Augen. Das Telefon klingelte einmal, zweimal, dreimal ... Eine unbekannte Stimme meldete sich: »Polizeirevier Willis.« Doug räusperte sich. »Ich würde gerne mit Mike Trenton sprechen.« Er hörte sich wie ein Fremder an, sogar in den eigenen Ohren. Die Stimme am anderen Ende war vorsichtig. »Wer spricht da bitte?« »Doug Albin.« Es entstand eine Pause; dann kam Mike an den Apparat. Doug umklammerte fest den Hörer und hielt sich nicht mit Belanglosigkeiten auf. »Der Postbote ist wieder da.« »Ich weiß.« »Er hat meinen Jungen angegriffen, Mike, und er hat meine Frau bedroht. Ich werde ihn verfolgen.« »Das werden wir ebenfalls tun. Er hat den Chief umgebracht.« Es dauerte einen Augenblick, bis die Information zu Doug durchgedrungen war. Ihm wurde plötzlich kalt, und er bekam Angst. Der Postbote trieb jetzt keine Spielchen mehr. Er versteckte sich nicht mehr hinter Bestimmungen und Regeln, beschränkte sich nicht mehr auf Briefe. Jetzt mordete er. Doch so höllisch Dougs Angst auch war - sie verblasste neben seiner unermesslichen Wut. »Gerade vor ein paar Minuten haben wir die Leiche des Chiefs gefunden«, fuhr Mike fort. »Wie geht es Ihrem Sohn? Kommt er wieder in Ordnung?« »Wir wissen es nicht.« »Wir versammeln uns alle hier. In zehn Minuten gehen wir los.« »Moment mal, Mike.« Doug bekam ein flaues Gefühl. Er sah, wie Trish den Flur entlang auf ihn zulief und dabei fast auf den rutschigen Fliesen stolperte. Sie weinte, schluchzte, und mit einem Gefühl tiefer Mutlosigkeit dachte Doug eine Sekunde lang, dass Billy tot war. Dann kam Trish näher, und Doug sah, dass sie Tränen der Erleichterung vergoss. »Er ist okay«, rief sie. »Es geht ihm gut.« »Bitte bleiben Sie dran, Mike«, sagte Doug in den Hörer. Er ließ den Hörer hängen, während er Trishs Hand nahm und über den Flur zum Untersuchungsraum lief. Der Arzt schwenkte gerade einen großen Röntgenapparat über Billys Rücken. »Wie geht es ihm?«, fragte Doug. »Billy leidet unter einem traumatischen Schock«, erklärte ihm der Arzt, »aber er scheint keine ernsten körperlichen Verletzungen erlitten zu haben. Es gibt ein paar Kratzer und blaue Flecken, aber ich denke, er ist weitgehend unverletzt.« »Aber das Blut auf seiner Unterwäsche ...?« »Das ist nicht Billys Blut.« Eine Woge der Erleichterung erfasste Doug, und er nahm die immer noch schluchzende Trish in den Arm. Der Arzt lächelte die beiden aufmunternd an; dann brachte er das Röntgengerät in Position. Wenig später war Doug wieder im Warteraum. Er nahm den Hörer. »Mike? Sind Sie noch da?« Am anderen Ende der Leitung war es still. »Mike!« Doug hörte ein leises Poltern, als offenbar jemand den Hörer von dem Platz aufhob, an dem er gelegen hatte. »Mike?« »Ja?« »Es geht ihm gut.« »Gott sei Dank.« »Ich will bei der Aktion mitmachen«, sagte Doug. »Wie schnell können Sie hierher zum Revier kommen?« »Ich werde mich beeilen. Warten Sie auf mich.« »Wir wollen ihn erwischen, bevor er die Stadt verlässt. Sie haben fünf Minuten.« »Verdammt noch mal, Mike!« »Schon gut«, gab der Polizist nach. »Wir warten. Aber machen Sie schnell.« »Ich bin in zehn Minuten da.« »Dann treffen wir uns hier.« Mike legte auf, und Doug kehrte in den Untersuchungsraum zurück, wo der Arzt gerade eine Spritze zur Seite legte. Eine der Schwestern deckte Billy mit einer Decke zu. »Bringt ihn auf die Station«, ordnete der Arzt an; dann richtete er den Blick auf Doug und Trish. »Billy wird jetzt eine Weile schlafen. Ich würde Ihnen vorschlagen, sich auch ein bisschen auszuruhen. Billy wird vor dem Morgen wieder aufwachen, und dann wird er Sie bei sich haben wollen.« »Ich bleibe hier«, sagte Trish. Der Arzt nickte. »Wir können einen Stuhl in sein Zimmer stellen. Oder ein Klappbett, wenn Sie wollen.« Trish blickte Doug an, der seine Arme um sie legte. »Haben sie ihn erwischt?« Er schüttelte den Kopf. »Wir werden ihn verfolgen.« »Wir?« »Die Polizei und ich.« Der Arzt, der Pfleger und die Schwestern arbeiteten geschäftig an Billys Bett. Doug drückte Trish ganz fest. »Pass gut auf ihn auf«, sagte er. »Kümmere dich um ihn.« Fröstelnd rieb sie sich die Arme, als er sie losließ. »Wo gehst du hin? Was hast du vor?« »Ich treffe mich mit Mike im Revier. Dann gehen wir zum Postamt.« Sie folgten beide dem Krankenhausteam, als der nun schlafende Billy in sein Zimmer gerollt wurde, ein großes Privatzimmer mit einem Farbfernseher unter der Decke und zwei nebeneinander stehenden Betten. Doug gab Trish die Versicherungsnummer und erforderlichen Papiere aus seiner Brieftasche, und Trish versprach, sich um alles zu kümmern. Sie folgte ihm bis zum Wartebereich. »Sei vorsichtig!«, rief sie ihm nach, als er durch die gläsernen Flügel der automatischen Schiebetür ging. 45. Doug betrat die Polizeiwache. Ihm fiel sofort der Unterschied auf. Niemand arbeitete oder redete. Es war still und ruhig im Raum. Die Polizisten standen im vorderen Bürobereich, sichtlich nervös und unschlüssig, was zu tun war. Mike schien die Leitung übernommen zu haben, obwohl es ein oder zwei Polizisten gab, die einen höheren Rang hatten als er. Doch nur Mike schien noch klar und vernünftig zu denken. Er telefonierte gerade; offenbar sprach er mit jemand Wichtigem in Phoenix. Doug fiel auf, dass auf jedem der Schreibtische Stapel ungeöffneter Briefe lagen. Die Briefe waren unberührt, als hätten alle Angst, sich ihnen auch nur zu nähern. Mike beendete das Telefongespräch, sah Doug und eilte zu ihm. »Endlich«, sagte er. »Wie geht es Ihrem Jungen?« Doug nickte. »Er wird wieder.« »Und Ihrer Frau?« »Ihr geht es so weit gut.« Mike hielt einen Brief in der Hand, den er nun Doug reichte. »Lesen Sie.« Doug blickte auf das Blatt. Mit verschmiertem Bleistift war dort ein schlichter Satz hingekritzelt: Ihre Dienste werden nicht mehr benötigt. Der Brief war nicht datiert und nicht unterschrieben. »Den haben wir in der Hand des Chiefs gefunden.« »Wo ...?«, setzte Doug an. »Kommen Sie mit.« Mike führte ihn rasch den Flur entlang zu dem verschlossenen Büro am hinteren Ende. »Machen Sie sich auf etwas gefasst. Das ist kein schöner Anblick.« Er öffnete die Tür. Catfield saß in seinem Bürostuhl mit Blick zur Tür. Er war gegen die Wand hinter dem Schreibtisch zurückgeschleudert worden und starrte sie an. Oder hätte sie angestarrt, wenn er noch ein Gesicht gehabt hätte. Denn die Schrotflinte, die auf dem Schreibtisch vor ihm lag, hatte die Hälfte seines Kopfes weggerissen. Die Diplome und Urkunden an der Wand waren mit Blut vollgespritzt und ähnelten den Bildern eines Rorschach-Tests. »Du lieber Himmel«, sagte Doug schwer atmend und stürzte zurück auf den Flur. Mike folgte ihm. »Haben Sie bis jetzt auf mich gewartet?«, fragte Doug, noch immer wie benommen von dem schrecklichen Anblick. »Nein«, gab der Polizist zu. »Aber ich wollte nicht mit Ihnen diskutieren. Wir sind zum Postamt rübergegangen, haben aber nichts gefunden. Ich habe fünf Männer und sechs Freiwillige, die zurzeit die Stadt durchkämmen.« »Haben Sie es in Howards Haus versucht? Da wohnt dieser Mistkerl.« »Genau da werden wir jetzt hingehen.« »Dann los«, sagte Doug. Er schloss die Tür zum Büro des Chiefs. Der Wagen des Postboten stand nicht vor Howards Haus, doch der Konvoi von zwei Polizeifahrzeugen und zwei Pick-ups hielt vorsorglich schräg mitten auf der Straße und blockierte jeden möglichen Fluchtversuch. Das Haus sah sogar noch schlimmer aus, als Doug es zuletzt gesehen hatte. Die Farbe blätterte zwar nicht ab, und die Schindeln fielen nicht herunter, aber das Haus machte insgesamt einen so verfallenen Eindruck, als könnte das jeden Augenblick geschehen. Der Garten war ein brauner Dschungel aus Unkraut. Sie stiegen aus ihren Wagen und bewegten sich vorwärts. Zwei Polizisten mit gezogenen Waffen gingen voran. Die anderen Häuser wirkten wie verlassen; niemand kam auf die Straße oder ließ sich sonstwie blicken. Doug ertappte sich bei der Frage, ob ihre Bewohner zu sehr verängstigt waren, um herauszukommen, oder ob sie vielleicht sogar tot waren. Ein Polizist klopfte an die Tür, klingelte, rief Howards Namen und benutzte dann einen Dietrich, um die Tür zu öffnen. Sie gingen hinein. Im Innern des Hauses herrschte völlige Dunkelheit. Die einzige Beleuchtung war das Licht, das durch die offene Tür hinter ihnen fiel. Die Luft war feucht und schwer und stank nach Verwahrlosung und Verfall. Doug hielt sich die Nase zu. Er blickte sich um und runzelte die Stirn. Der Eingang schien schmaler zu sein, als er ihn in Erinnerung hatte, die Wände rauer und unregelmäßiger. Er streckte die Hand aus, um die Wand neben sich zu berühren. Seine Finger ertasteten gestapeltes Papier. »Du lieber Himmel«, flüsterte er. Stapel von Umschlägen reichten vom Boden bis zur Decke, bedeckten jeden erreichbaren Quadratzentimeter Wandfläche und verdeckten vollständig die Fenster. Die Umschläge waren so sauber und genau eingepasst, dass sie eine innere Wand des Hauses bildeten. Die anderen warteten, wo sie waren, während zwei Polizisten zu ihren Streifenwagen gingen, um Taschenlampen zu holen. Dougs Augen passten sich allmählich an die Dunkelheit an. Er konnte sehen, dass weiter hinten im Wohnzimmer die Möbel nicht berührt worden waren. Die Sofas und Tische waren nicht mit Post bedeckt, aber die Wände waren versteckt hinter einer inneren Schicht aufgestapelter Umschläge, und in der Mitte des Raumes bildeten weitere Stapel aus Umschlägen niedrige, pyramidenförmige Skulpturen. Dann kamen die beiden Polizisten mit den Lampen zurück - starke Halogenstrahler, die das Halbdunkel durchdrangen und ihnen die Ungeheuerlichkeit dessen vor Augen führten, gegen das sie vorgingen: die zielstrebige Verrücktheit des Postboten. Doug starrte auf die Wände aus Briefen, auf die Muster, die durch die präzise Anordnung von farbigen Umschlägen und sich überlappenden Briefmarken gebildet wurden. Er wurde an die Azteken, Mayas oder Inkas erinnert - eine jener alten Zivilisationen, die die Kunst beherrscht hatte, Steine ohne Mörtel so perfekt zusammenzufügen, dass man kein Blatt Papier in die Ritzen schieben konnte. Langsam bewegten die Männer sich vorwärts. »Mister Smith«, rief Mike. »Mister Smith, sind Sie da?« Von den Geräuschen ihres Atmens und ihrer Schritte abgesehen, war es völlig still im Haus. Die Männer gingen durchs Wohnzimmer, durchs Esszimmer und durch die Küche und bestaunten die Vollkommenheit der geisteskranken Renovierung durch den Postboten. Während sie durch den Flur schritten, wurde der furchtbare Verwesungsgeruch stärker. Mike, der die Männer nun anführte, öffnete eine Schlafzimmertür. Und da war Howard. Aufgrund des Gestanks - ein Übelkeit erregender, scharfer Geruch nach Gas und Galle und Fäkalien - war klar, dass Howard schon seit langem tot war, doch die Anzeichen waren auf seinem Gesicht nicht sofort erkennbar. Der Postbote hatte Howards Lippen grob mit einem dunkelroten Lippenstift angemalt, und ungeschickt aufgetragener Lidschatten bildete Ringe um die weit geöffneten, starr blickenden Augen des Postchefs. Auf seinen blassen, eingesunkenen Wangen waren zwei rosa Kreise aus Rouge zu sehen. Howards Haar war nach seinem Tod weitergewachsen; es war auf seinem Kopf zu einer feminin wirkenden Welle zusammengedreht, die von fettigem, parfümiertem Haargel in Form gehalten wurde. Seine Finger- und Fußnägel waren ebenfalls weitergewachsen und ekelhaft lang. Der Postbote hatte sie leuchtend rot lackiert. Howard saß in einem Sessel in der Mitte des Zimmers und starrte in einen toten Fernseher, das einzige andere Möbelstück im Raum. Auf dem Boden um ihn herum lagen verschimmelte Brotkrusten, alte Verpackungen von Fertigkuchen und die Knochen von Ratten. Mike nahm ein Funkgerät von einem der Polizisten, sagte den patrouillierenden Officers, was sie gefunden hatten, und ordnete an, dass der Gerichtsmediziner zu Howards Haus kommen sollte, wenn er mit dem Chief fertig war. Doug verließ das Zimmer und ging durch den Flur und das Wohnzimmer nach draußen, um Luft zu schnappen. Selbst mit zugehaltener Nase konnte er die Verwesung riechen, und der Magen hatte sich ihm umgedreht, als er gesehen hatte, was Howard angetan worden war. Ein Teil von ihm hätte Mike am liebsten gepackt und geschüttelt und geschrien: »Ich habe es Ihnen ja gesagt!« Aber Doug wusste, dass das dumm und sinnlos war. Er stand auf dem toten Rasen, starrte zum Himmel und atmete tief durch. Die Sonne ging unter, die Schatten wurden länger. In anderen Städten überall in Arizona, überall in den Staaten machten es sich die Menschen jetzt beim Abendessen gemütlich, plauderten, schauten sich die Nachrichten im Fernsehen an. Aber hier war solche Normalität nur noch Erinnerung. Doug spürte eine Hand auf der Schulter. Es war Mike. »Die Streifenwagen melden, dass sie keine Spur von ihm haben«, sagte er. »Haben Sie eine Idee, wo er sein könnte?« Im Clear Creek, wollte Doug gerade antworten; dann aber sah er die schmale Sichel des Mondes, die im Osten über dem sich verdunkelnden Horizont schwebte. Er erinnerte sich an den triumphierenden Tanz des Postboten. »Ich weiß, wo er ist«, sagte er und blickte Mike zuversichtlich in die Augen. »Rufen Sie alle zusammen. Alle. Diesmal können wir ihn nicht entwischen lassen.« »Er wird nicht davonkommen«, sagte Mike leise. Er klopfte Doug auf die Schulter und ging ins Haus zurück. Doug hörte seine Stimme, konnte jedoch nicht verstehen, was Mike sagte. Doch Augenblicke später kamen die Polizisten nach draußen geeilt. Die Felsen des Hügelkamms leuchteten orangefarben im Licht der untergehenden Sonne. Die Bäume waren schwarze, dreieckige Silhouetten. Tief im Westen war die Venus über dem Horizont erschienen; im Osten war der Mond aufgegangen und leuchtete immer heller. In einer Reihe fuhren sie langsam die schmale Straße hinauf. Unter ihnen schimmerten die Lichter der Stadt täuschend ruhig und harmlos, als könne in einem solch verschlafenen, kleinen Ort nichts Außergewöhnliches passieren. Doug fuhr mit Tim in dessen Pick-up. Beide schwiegen während der Fahrt den Hügel hinauf. Das Funkgerät war ebenfalls ausgeschaltet, und das einzige Geräusch war das Rattern und Klappern des Lastwagens, wenn er über die ausgefahrenen Spuren und Bodenwellen der Straße holperte. Doug blickte in den Seitenspiegel und sah Mike und die anderen Polizisten, die ihm in ihren Streifenwagen folgten, während die Pick-ups die Nachhut bildeten. Als sie den Hügelkamm erreichten, sagte Doug zu Tim, er solle am Straßenrand anhalten. Mike gab durch das offene Fenster ein Zeichen, es ihnen gleichzutun. Alle stiegen aus ihren Fahrzeugen. Die Nacht war kühl, ein früher Botschafter des nahenden Herbstes. Der Himmel war wolkenlos, und der Mond war von einem dunstigen, weißlichen Halo umgeben. »Warum halten wir hier?«, fragte Mike. Doug legte einen Finger auf die Lippen, um dem Polizisten zu bedeuten, dass er leise sein sollte. »Den Rest des Weges müssen wir laufen. Es ist die einzige Möglichkeit, den Mistkerl zu schnappen. Wenn er hört, dass Autos die Straße heraufkommen, ist er über alle Berge, ehe wir bei ihm sind.« Mike nickte. »Okay. Dann führen Sie uns.« Sie gingen langsam über den unebenen Boden, die Polizisten mit gezogener Waffe. Alle waren nervös, angespannt und wachsam, und alle horchten auf das leiseste Geräusch, achteten auf die kleinste Bewegung. Vorsichtig bahnten sie sich einen Weg durch dorniges Mesquitegestrüpp und zwischen riesigen Manzanitas hindurch. Und dann hörten sie es. Den rhythmischen Sprechgesang, der Doug das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er sah sich nach Mike um, der ihm zunickte, dass er weitergehen solle. So bewegten sie sich vorwärts, langsam, schweigend, bis sie den Rand des Feldes erreicht hatten. Doug blieb stehen. Der Postbote tanzte, wie Doug es schon einmal gesehen hatte: wild und in völliger Hingabe, mit rudernden Armen und schwingenden Beinen. Und der Sprechgesang. »Weder Regen noch Schnee, Eis oder Hagel ...« Das Frösteln, das Doug befallen hatte, wurde stärker, je näher sie kamen. Insgesamt waren sie zehn Männer, aber Doug hatte so viel Angst, als müsste er sich dem Postboten allein stellen. Der Postbote tanzte weiter. Er sah erschreckend mager aus. Im Mondlicht wirkte er geisterhaft und sein Haar künstlich. »Okay«, flüsterte Mike, der die Männer um sich versammelt hatte. »Wir werden im Halbkreis ausschwärmen. Über den Abhang kann er nicht runter. Er sitzt in der Falle.« Der Polizist blickte Doug an, dann wieder seine Kollegen. »Er ist zwar nicht bewaffnet, ist aber trotzdem brandgefährlich. Wenn er irgendwas versucht, schießt.« Die Polizisten nickten. »Los!« Das Gras und die Büsche raschelten, als die Männer sich verteilten, doch die Geräusche wurden vom Sprechgesang des Postboten überdeckt. Doug, der unbewaffnet war, hielt sich nahe bei Mike. Als der Polizist sah, dass alle auf ihren Plätzen waren, trat er vor. Die anderen folgten ihm. Der Postbote sah sie, ließ sich in seinem Ritual aber nicht stören. Ohne Pause tanzte er weiter und streckte die Arme zur Mondsichel aus. »Sie sind verhaftet!«, rief Mike. Der Postbote lachte schrill und veränderte die Worte seines Sprechgesangs: »Weder Männer noch Frauen noch Kugelhagel werden diesen Postboten von seiner vorbestimmten Runde abhalten.« Mike bewegte sich langsam vorwärts, Doug an seiner Seite. Der Halbkreis begann sich zu schließen. Der Postbote tanzte von ihnen weg über den felsigen Boden auf den Rand des Abhangs zu. »Bleiben Sie stehen«, befahl Mike. Der Postbote lachte, sprang in die Luft, tanzte, sang. »Weder die Dunkelheit der Nacht ...« Sie folgten ihm, während er sich immer mehr dem Rand des Abhangs näherte, und schlossen dann den Halbkreis, zogen die Schlinge zu, bis sie fast direkt vor ihm standen. Erst jetzt hielt der Postbote in seinem Tanz inne. Er schwitzte nicht, atmete nicht einmal schneller. Er grinste Doug an. »Billy ist ein hübscher Junge«, sagte er. »So ein hübscher Junge.« »Die Hände über den Kopf!«, befahl Mike. »Wozu, Officer?« »Die Hände hoch!« »Sie haben keine Beweise.« »Wir haben alle Beweise, die wir brauchen.« Der Postbote lächelte, als er den Blick über die Gesichter der Männer streifen ließ. »Wichser«, sagte er ruhig. »Die Hände über den Kopf«, wiederholte Mike. »Wichser«, sagte der Postbote leise. Er ging rückwärts bis an den Rand des Abhangs. Mike feuerte einen Warnschuss in die Luft. Der Postbote blieb stehen. »Wenn Sie noch eine einzige Bewegung machen, erschieße ich Sie«, rief Mike und richtete die Waffe auf ihn. »Haben Sie verstanden?« Doug wusste nicht, ob Mike es ernst meinte, aber der Postbote glaubte ihm offenbar, denn er verharrte. »Tim«, sagte Mike. »Leg ihm Handschellen an.« Tim nickte und trat vor, die offenen Handschellen in der Hand. »Mister Smith, Sie sind verhaftet wegen ...« Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Eine Hand des Postboten zuckte vor, und ehe Hibbard reagieren konnte, griff er sich die Handschellen und riss sie dem Polizisten weg. Tim schnellte vor und langte nach den Handschellen, doch der Postbote machte einen raschen Ausfallschritt und schleuderte Tim mit einem wuchtigen Stoß über die Kante des Abhangs. Ein schriller Schrei des Entsetzens war zu hören, der abrupt abbrach. Doug hörte ein dumpfes Geräusch, als der Körper auf dem Fels aufschlug. Der Postbote grinste. »Der Nächste?« Alles war binnen weniger Sekunden geschehen, doch Lieutenant Jack Shipley war schon in Aktion, bewegte sich vorwärts und richtete dabei die Pistole auf Smith. Dessen weiße Hand schnellte vor und griff nach der Waffe. Jack drückte ab. Die Kugel traf den Postboten in die Brust. Blut spritzte. Smith taumelte von der Wucht des Schusses rückwärts, doch es gelang ihm noch, die Waffe zu packen. Mit einem schnellen Ruck zog er den Polizisten zu sich. Jack war zu überrascht, um noch reagieren zu können. Der Postbote hielt ihn fest umklammert und fiel über die Kante. Zusammen stürzten sie auf die Felsen darunter. In der Sekunde, ehe Smith abstürzte, glaubte Doug ein Lächeln auf den blutigen Lippen des Mannes zu sehen. Die anderen liefen zum Abgrund und blickten in die Tiefe, doch unten war alles dunkel. Mehrere Polizisten schalteten ihre Taschenlampen ein. Die sich überschneidenden Strahlen fanden rasch Jacks zerschmetterten Körper. Die Strahlen schwenkten kreuz und quer und suchten den felsigen Grund ab, beleuchteten Zentimeter für Zentimeter den Boden um die Stelle herum, wohin Jack gefallen war. Tim lag in der Nähe; seine Arme waren in unmöglichen Winkeln verdreht, sein Schädel auf einem Felsblock aufgeschlagen. Die Lichter verharrten, bewegten sich weiter, rissen Sträucher und Bäume aus der Dunkelheit. Doug sagte nichts, und auch die anderen Männer schwiegen, doch sie alle dachten dasselbe, und sie alle hatten fürchterliche Angst. Die Lichtstrahlen suchten weiter das Gelände unterhalb des Hügelkamms ab. Aber da lagen nur zwei Leichen auf dem Boden. Der Postbote war verschwunden. 46. Doug saß auf der Veranda und blickte auf die Uhr. Es war schon nach Mitternacht. Er hatte seit Stunden hier gesessen, seitdem er Trish im Krankenhaus zurückgelassen hatte. Vom Hügel war er zuvor mit Jeff Brickman zurückgekehrt, dem Officer, der sich gemeldet hatte, um zum Revier zurückzufahren und sich um die Kommunikation zu kümmern, während die anderen Männer überlegten, wie sie die Leichen bergen sollten. Jeff Brickman wollte versuchen, zum Büro des County Sheriffs durchzukommen oder zur State Police. Doug hoffte sehr, dass er Erfolg hatte. Im Augenblick befolgten die Polizisten zwar noch Mikes Anweisungen, doch Doug hatte gesehen, wie allmählich alles zerfiel. Als er gegangen war, waren die Männer beinahe schon so weit, Strohhalme zu ziehen, um die Zuständigkeiten zu verteilen. Es machte Doug Angst, wie leicht eine solch gut ausgebildete und gut organisierte Gruppe auseinanderfallen konnte, und er war froh, als er wieder in seinem Bronco saß und nach Hause fuhr. Nun fragte er sich, was die Polizei wohl gerade machte. Er überlegte, ob er anrufen sollte, entschied sich aber dagegen. Er trank den letzten Schluck von seinem fünften Bier und starrte hinauf zu den Sternen. Weit oben zog ein hellerer Himmelskörper in einer geraden Linie von West nach Ost. Ein Satellit. Weiter unten sah er die blinkenden Lichter eines Flugzeugs, ohne es zu hören. Außerhalb von Willis drehte die Welt sich weiter. Doug hatte Trish jede halbe Stunde angerufen, und sie hatte ihm jedes Mal versichert, dass alles unverändert sei. Billy schlief immer noch. Der letzte Anruf hatte Trish offensichtlich geweckt, und gereizt hatte sie Doug gebeten, sich nicht mehr zu melden; sie würde ihm Bescheid geben, wenn sich irgendetwas Neues ergab. Nicht mehr anrufen. Doug fragte sich, ob sie ihn verantwortlich machte für das, was geschehen war. Müde lehnte er sich in den weich gepolsterten Stuhl zurück, bereit, sich in den Schlaf gleiten zu lassen, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass die Atmosphäre um ihn sich verändert hatte. Irgendetwas stimmte nicht. Alarmiert und hellwach richtete er sich auf. Er bemerkte, dass die Grillen verstummt waren. Nicht das leiseste Geräusch war zu vernehmen. Doch, da war ein Geräusch. Von der Straße, aus Richtung der Nelsons, hörte er das leise Brummen eines Motors, der näher kam. Doug erstarrte, unfähig, irgendetwas zu tun. Das Geräusch kam näher und wurde in der Stille immer lauter. Doug wäre am liebsten weggelaufen und hätte sich versteckt. Er wollte ins Haus, die Tür abschließen und die Vorhänge zuziehen, doch er blieb, wo er war. Und da war er, am Ende der Auffahrt, der rote Wagen des Postboten, der vor dem Briefkasten zum Stehen kam. Aber Smith war tot! Doug hatte gesehen, wie der Mann erschossen worden war, hatte gesehen, wie er über die Kante des Abhangs gestürzt war. Er war tot. Doug starrte auf den roten Wagen. Die Scheibe auf der Fahrerseite senkte sich ein Stück, und eine weiße Hand erschien aus dem dunklen Innern, legte einen Brief in den Kasten und winkte dann höhnisch zum Abschied, ehe der Wagen davonfuhr. Es dauerte einige Augenblicke, bevor die Grillen wieder zu zirpen begannen. Dougs Herzschlag wurde langsamer. Er blieb auf der Veranda, ohne sich zu rühren. Der Postbote konnte nicht getötet werden. Er würde nicht sterben. Sie konnten nichts tun. Doug betete zu Gott, mit dem er seit Jahrzehnten nicht mehr gesprochen hatte, bekam aber keine Antwort. Regungslos saß er da. Er war immer noch wach, als fünf Stunden später im Osten der Morgen dämmerte. 47. Doug rief im Krankenhaus an, ehe er sich auf den Weg machte. Billy schlief immer noch. Gut. Das würde ihm Zeit verschaffen, rechtzeitig da zu sein. Er wollte an der Seite seines Sohnes sein, wenn dieser aufwachte. Trish saß mit müden Augen auf ihrem Bett, das neben Billys stand. Sie war angezogen. Ihre Kleidung war verknittert, weil sie in den Sachen geschlafen hatte, und ihr Haar war zerzaust. Doug umarmte sie. »Du siehst furchtbar aus«, sagte sie. »Du siehst auch nicht viel besser aus.« Beide schauten auf Billy. Im Schlaf sah sein Gesicht ausgeruht und völlig normal aus, als wäre nichts mit ihm geschehen und als würde er derselbe sein wie immer, sobald er aufwachte. Aber er würde nicht derselbe sein. Er würde nie wieder derselbe sein. »Er ist wieder da«, sagte Doug. »Der Postbote. Ich habe ihn letzte Nacht gesehen. Er hat unsere Post gebracht.« Er hatte Trish bereits erzählt, dass der Mann erschossen worden war, hatte ihr aber verschwiegen, dass die Leiche verschwunden war; wider besseres Wissen hatte Doug gehofft, dass er und die Polizisten Smith' Körper in der Nacht einfach nicht gesehen hatten, dass er in irgendeinem Schatten lag oder irgendwohin gekrochen war, um zu sterben. Trish wurde blass. »Er ist gestorben und zurückgekehrt?« »Oder er ist gar nicht gestorben«, erwiderte Doug. Ihre Miene ließ erkennen, wie ihr Mut schierer Angst und Verzweiflung wich. »Das war's dann also.« Billy streckte sich, gähnte, stöhnte im Schlaf. Doug setzte sich auf die Bettkante und legte eine Hand auf die Stirn seines Sohnes. Er ertappte sich bei der Frage, warum der Postbote Billy und Trish nicht wirklich verletzt hatte. Smith war von Anfang an hinter ihm und seiner Familie her gewesen, doch als er Billy und Trish in seiner Gewalt gehabt hatte, hatte er ihnen praktisch nichts angetan. Vielleicht konnte er ihnen nichts antun. Billy fuhr hoch. »Nein!«, schrie er. »Nein!« Doug packte Billys Schultern und drückte ihn sanft zurück. »Ist schon okay, Billy«, sagte er leise. »Du bist in Sicherheit. Du bist im Krankenhaus. Es ist vorbei. Dir kann nichts geschehen.« Der Junge sah sich mit wildem Blick um wie ein verängstigtes Kaninchen. »Wir sind hier. Es ist alles okay.« Trish kam zu Billys Bett und nahm ihn in die Arme. Sie weinte. »Wir sind hier«, sagte sie. »Alles wird gut.« Doug spürte die Tränen in seinen Augen, als er die Hand seines Sohnes nahm. »Mom?«, sagte Billy zögernd. »Dad?« »Ist alles in Ordnung?« Der Arzt kam ins Zimmer geeilt. Er sah, dass Billy wach war. »Wie fühlst du dich?« Der Junge blickte ihn benommen an. »Müde.« »Das liegt an den Beruhigungsmitteln«, erklärte der Arzt Doug und Trish. Er wandte sich wieder an Billy. »Du hast keine Schmerzen, oder?« Billy schüttelte den Kopf. »Gut. Dann ist es wahrscheinlich nur der Schock.« Er lächelte Billy an. »Ich möchte später noch ein paar Untersuchungen machen, wenn du dich dazu in der Lage fühlst. Doch erst einmal lasse ich dich mit deiner Mom und deinem Dad allein, okay?« Billy nickte. Der Arzt lächelte Trish und Doug zu, reckte den Daumen empor und verließ das Zimmer. Als Trish, Doug und Billy allein waren, schwiegen sie eine Zeitlang. »Kannst du dich erinnern, was passiert ist, Billy?«, fragte Doug schließlich mit leiser Stimme. »Doug!« Trish funkelte ihn wütend an. »Erinnerst du dich?« »Lass ihn in Ruhe!« Billy nickte schweigend. »Hat er dir wehgetan?«, fragte Doug. Billy schüttelte den Kopf. »Er konnte mich nicht berühren«, sagte er. Seine Stimme war nur ein brüchiges, geflüstertes Krächzen. »Er wollte es, aber er konnte nicht.« Dougs Herz schlug schneller. »Was meinst du damit, dass er dich nicht berühren konnte?« »Er konnte mich nicht berühren.« »Warum?« Billy blickte seinen Vater an; dann sah er zur Seite, beschämt, verlegen und unfähig zum Blickkontakt. »Ich weiß es nicht.« »Denk nach.« »Doug«, mahnte Trish. »Er hat versucht, mir Briefe zu geben«, flüsterte Billy. »Er wollte, dass ich sie lese, und er wurde richtig wütend, als ich es nicht getan habe. Er hat gesagt, es wäre eine ... eine Einladung. Ich hab gedacht, er würde mich schlagen, aber es war, als ob ... als könnte er mich gar nicht anfassen. Als würde irgendwas ihn aufhalten. Er hat mich angeschrien und bedroht, aber ich wollte seine Einladung nicht haben. Er ist total ausgeflippt, hat mich aber nicht angefasst.« »Du hast schreckliche Dinge durchgemacht«, sagte Trish. »Kein Wunder, dass du jetzt glaubst ...« »Lass Billy reden.« Doug nickte seinem Sohn ermutigend zu. »Sprich weiter.« »Das war's.« »Er konnte dich nicht berühren?« Billy schüttelte den Kopf. »Was ist mit dem Kleid?« Billy verbarg sein Gesicht im Kopfkissen. Seine Stimme war gedämpft. »Ich bin müde«, sagte er. »Hör mit den Fragen auf.« »Was ist mit dem Kleid?« »Er wollte, dass ich es anziehe.« Doug strich seinem Sohn sanft übers Haar. »Okay«, sagte er. »Ist gut.« Er starrte auf das Kopfteil des Krankenhausbettes und versuchte sich zu erinnern, ob er jemals gesehen hatte, dass der Postbote jemanden berührt hatte oder nicht. Er hatte nicht. Mit einem Mal erkannte Doug, weshalb der Postbote niemals mit einem der Morde in Verbindung gebracht werden konnte: Er hatte keinen dieser Morde begangen. Bob Ronda und Bernie hatten sich selbst umgebracht - ebenso wie Irene, Stockley und Hobie in den Selbstmord getrieben worden waren. Und so unvorstellbar es auch sein mochte: Giselle hatte Ellen Ronda mit dem Baseballschläger getötet. John Smith' einzige Macht war die Post. Was hatte Howard gesagt? Der Postbote verbrachte den ganzen Sonntag damit, in seinem Zimmer zu hocken? Und wenn er am Montag herauskam, war er müde, so als wäre er krank gewesen? Doug erinnerte sich, wie blass und schwach der Postbote am Tag nach dem vierten Juli gewirkt hatte. Er musste die Post austragen, um zu überleben. Trish schob Doug beiseite und strich Billy übers Haar. »Was ist nur los mit dir?«, fragte sie wütend. »Hat er nicht schon genug durchgemacht, auch ohne dass sein Vater ihn dazu bringt, sich noch einmal an alles zu erinnern?« »Ich habe eine Idee«, sagte Doug. »Ich glaube, ich weiß jetzt, wie wir den Postboten loswerden.« Ihre Blicke trafen sich, und er sah einen Funken Hoffnung in Trishs Augen. »Wie?«, fragte sie. »Es ist verrückt, und vielleicht funktioniert es nicht ...« »Wenn nicht, können wir immer noch nach Phoenix gehen und nie mehr zurückkommen.« Ihre Miene verdüsterte sich. »Das heißt, wenn er uns nicht folgt und uns findet.« Sie blickte Doug wieder an. »Und was ist das für eine Idee?« »Wir kappen seine Lebensader. Wir stoppen die Post.« »Was?« »Das ist die einzige Möglichkeit für ihn, an uns heranzukommen. Du hast gehört, was Billy gesagt hat. Der Postbote konnte ihn nicht berühren. Und du? Dich hat er auch nicht berührt, oder?« Trish erinnerte sich mit ekelhafter Deutlichkeit an das Gefühl seiner Erektion unter dem Uniformstoff, als sie sich im Badezimmer an ihm vorbeigeschoben hatte. Langsam schüttelte sie den Kopf. »Siehst du? Er kann nichts weiter, als Menschen durch die Post zu manipulieren. Wenn wir die Leute dazu bringen können, keine Post mehr zu lesen oder zu schicken, können wir ihn loswerden. Aber wir müssen dafür sorgen, dass alle in der Stadt sich einig sind. Wirklich alle. Wenn es funktionieren soll, muss jeder in Willis mitmachen.« »Ich habe mit einer der Krankenschwestern gesprochen«, sagte Trish. »Das dürfte kein Problem sein. Sämtliche Einwohner wissen, was vor sich geht, und alle haben Angst. Sie würden alles tun.« »Wir müssen schnell handeln. Ich werde die Polizei bitten, mir zu helfen, und ein paar Lehrerkollegen anrufen. Ich möchte, dass sich heute Abend die ganze Stadt versammelt.« »Heute Abend ist zu früh. So schnell verbreitet sich so etwas nicht ...« Trish verstummte. In der Tür stand Dr. Maxwell. »Ich habe gehört, was Sie gesagt haben.« Er kam ins Zimmer. »Ich bin bereit, es zu versuchen.« Doug blickte ihn an und lächelte. »Danke sehr.« »Ich glaube, Sie werden es auf morgen Nacht verlegen müssen. Ich kann nicht da sein, und der größte Teil meines Personals ebenfalls nicht, aber Sie können ja vorher schon mit den Leuten reden. Ich nehme an, dass alle mitmachen.« Er sah Billy an, der immer noch sein Gesicht ins Kissen drückte. »Wir müssen ihn stoppen.« »Falls man ihn stoppen kann«, sagte Trish. »Ich glaube, das kann man«, erwiderte Doug. Billys Stimme wurde vom Kissen gedämpft, war aber deutlich zu hören. »Das glaube ich auch«, sagte er. Doug ergriff Trishs Hand und drückte sie fest. 48. Sie fuhren gemeinsam zu dem Meeting. Trish hatte bei Billy bleiben wollen, aber Doug sagte, dass er sie brauche, und so begleitete sie ihn. Anschließend wollten sie zurück ins Krankenhaus. In der Nacht zuvor waren beide bei Billy geblieben. Obwohl er von solch schrecklichen Albträumen gequält wurde, dass Doug ihn wecken musste, wurde er nicht ruhig gestellt, und am Morgen war er völlig klar und bekam mit, was um ihn herum vorging. Er hatte sogar besondere Wünsche fürs Frühstück, und am späten Nachmittag war er fast schon wieder der Alte. Dr. Maxwell nahm mit einem Freund in Phoenix Kontakt auf, einem auf kindliche Traumata spezialisierten Psychiater; dieser war einverstanden, am folgenden Tag herzukommen und sich Billy anzusehen. Auf dem Weg zur Versammlung kamen sie am Postamt vorbei. Seit den Tagen, als Howard Crowell und Bob Ronda hier gearbeitet hatten, als die ganze Stadt dort Briefmarken kaufte und die Post abgab, hatte der Charakter des kleinen Gebäudes sich völlig verändert. Der unauffällige Bau besaß nun eine bedrohliche, bösartige Ausstrahlung. Die Fenster waren eingeworfen worden, die Öffnungen provisorisch mit ungleichmäßigen Brettern verschlossen, die man von innen angenagelt hatte. Stapel aufgerissener und schmutziger Umschläge sowie zerbrochene Teile der Briefsortiermaschine lagen auf den Treppenstufen aus Beton verstreut. Als Verteidigungslinie direkt vor dem Postamt war eine Reihe Briefkästen aufgestellt worden, verkehrt herum, sodass die Metallkästen auf dem Boden lagen und die stählernen Pfähle in die Luft ragten. Oben auf den Pfählen staken die abgetrennten Köpfe von Hunden aus der Stadt, deren glasige Augen blicklos auf die Straße starrten. Die kopflosen Körper, zehn oder fünfzehn, lagen auf dem kleinen Parkplatz. Doug fröstelte, als er mit Trish an dieser makaberen Reihe vorbeifuhr. Der Postbote war im Gebäude, das wusste er. Wahrscheinlich spähte er jetzt nach draußen und beobachtete sie. Plötzlich wurde Doug nervös. Vielleicht hätte er Trish doch nicht mitnehmen sollen. Vielleicht hätte er sie bei Billy lassen sollen. Nein, Billy würde nichts geschehen. Dr. Maxwell und das Krankenhauspersonal würden auf ihn aufpassen. Die Straße vor der Schule war bereits mit Autos zugeparkt. Jemand hatte die Sporthalle geöffnet und das Licht eingeschaltet, und die Leute strömten hinein. Doug und Trish parkten in einer Seitenstraße; sie liefen lieber ein Stück, statt zu versuchen, einen Parkplatz in größerer Nähe zu finden. Am Eingang wurden sie von Mike begrüßt, der ihnen sagte, dass jeder gekommen sei, der es irgendwie hatte einrichten können. Die Polizei hatte die Stadt zwei Tage lang durchstreift und die Nachricht überall verbreitet. Doug dankte ihm. Er und Trish bahnten sich ihren Weg durch die Menge an der Tür, betraten die Sporthalle und blieben am Eingang zum Umkleideraum der Jungen stehen. Drei von vier Zuschauertribünen waren bereits voll besetzt. Doug wurde klar, dass es hier nicht genug Platz für alle gab. Viele würden stehen oder auf dem Boden sitzen müssen. Er ließ den Blick schweifen und versuchte, die Stimmung der Menge einzufangen. Die Leute erschienen vorsichtig, zögernd und ängstlich. Die Briefe hatten Wut entfacht, zugleich aber Furcht und Schrecken verbreitet; viele hatte Drohungen lesen müssen und waren eingeschüchtert; Bekanntschaften waren beendet und neu geschlossen worden auf Grund von falschen Informationen und Lügen. Jeder wusste das jetzt. Jeder hatte begriffen, dass die von Hass erfüllten Briefe, die sie bekommen hatten, all die verleumderischen Anspielungen nicht von ihren Nachbarn und Mitbürgern geschickt worden waren, sondern vom Postboten. Dennoch konnte man die Gefühle, die in dieser beunruhigenden Zeit entstanden waren, nicht so einfach abschütteln, und so herrschten Spannungen. Streitigkeiten brachen aus. Es kam zu Schlägereien, Gedränge und Geschubse, die jedoch rasch von Polizisten unterbunden wurden. Und immer noch trafen weitere Menschen ein; manche hatten nie zuvor an irgendwelchen öffentlichen Veranstaltungen teilgenommen. Leute, deren Gesichter Doug nicht einmal kannte, nahmen auf den Tribünen Platz. Vereinzelt waren Männer mit staubigen Hüten und Cowboystiefeln zu sehen, tadellos gekleidete alte Ehepaare, hübsche junge Leute, Durchschnittsfamilien mit Kindern. Gegen acht Uhr abends, zur angegebenen Zeit, war die Sporthalle voll. Doug war überwältigt, als er die Menschenmenge sah. Es schüchterte ihn nicht ein, vor so vielen Leuten zu reden - als Lehrer war er daran gewöhnt, vor größeren Gruppen zu sprechen. Vielmehr war es die Verantwortung, so viele Menschen zu führen und für sie Entscheidungen zu treffen, die ihm zu schaffen machte. Auf den dicht gefüllten Tribünen sah er Mitglieder des Schulvorstands, des Stadtrats, Polizisten und den Chef der Feuerwehr. Der Raum war heiß, die Luft angefüllt mit dem Geruch von Schweiß und Angst. Trish drückte Dougs Hand - eine Geste des Vertrauens und der Unterstützung, die ihm die Kraft gab, nun mit zuversichtlicher Miene über den gebohnerten Holzfußboden zur Mitte der Sporthalle zu gehen. Doug wusste, er durfte nicht zulassen, nervös oder besorgt oder eingeschüchtert zu wirken. Er übernahm die Kontrolle in dieser Krise, weil er es tun musste, weil er als Einziger bereit dazu war. Er musste an den Erfolg glauben. Es gab keinen Platz für Zweifel. Zu viel stand auf dem Spiel. Jetzt war nicht die Zeit für Unentschlossenheit. Sie mussten den Postboten bekämpfen, mit ihrem vereinten Glauben und ihrer Zuversicht - oder sie alle würden sterben. Die Menge verstummte. Doug musste nicht einmal die Hand heben. Die Gespräche verebbten. Eltern beruhigten ihre weinenden Kinder. Nur das Kreischen von Babys war in der Stille zu hören. »Sie wissen alle, warum wir hier sind«, begann Doug. »Wir sind hier, um die Stadt von einer Bestie zu befreien. Der Postbote hat uns den ganzen Sommer lang als Geiseln genommen, hat die Post benutzt, um Bruder gegen Bruder aufzuhetzen, Freund gegen Freund. Er hat die Wasser-, Strom- und Telefonversorgung gekappt, hat unser aller Leben aus dem Gleichgewicht gebracht und viele Beziehungen zerstört. Er hat Furcht und Schrecken verbreitet. Er hat Misstrauen und Zweifel gesät. Er hat direkt oder indirekt gemordet. Er hat aus unserer Stadt einen toten, düsteren Ort gemacht!« Doug deutete mit einer weit ausholenden Geste auf die Welt außerhalb der Mauern. Die Leute schwiegen. Er hatte ihre volle Aufmerksamkeit. »Viele von Ihnen wissen es vielleicht noch nicht, aber gestern haben wir Howard Crowell in seinem Haus gefunden. Tot.« Ein Raunen ging durch die Menge. »Meine Darla hat er auch umgebracht!«, rief David Adams. Seine Stimme war voller Angst, beinahe hysterisch. »Er hat ihr Versprechungen gemacht! Er hat ihr Lügen über mich erzählt und sie dazu gebracht, dass sie ... dass sie ...« Davids Stimme verlor sich. »Mein Geschäft ist wegen diesem Scheißkerl ruiniert!«, verkündete Hunt James. »Und Doktor Elliott auch! Er hat Gerüchte über uns verbreitet, und diese Idioten haben sie geglaubt!« Er zeigte auf die Leute, die um ihn herum standen. Jetzt sprachen viele Stimmen gleichzeitig. Die Menschen standen auf, schrien und brüllten und wetteiferten um Aufmerksamkeit. »... wusste, dass meine Mutter ein schwaches Herz hatte!« »... haben unsere Rechnungen immer rechtzeitig bezahlt!« »... in meinem ganzen Leben noch keiner Fliege etwas zuleide getan ...« »... verboten, so was mit der Post zu schicken! Diese abscheulichen Videos ...« Doug hob die Hände, um für Ruhe zu sorgen. Es dauerte ein paar Augenblicke, doch als die Menge sich beruhigt hatte, fuhr er fort: »Wir müssen ihn aus der Stadt vertreiben. Wir müssen ihn austreiben wie einen Teufel.« »Hängen wir ihn auf!«, rief jemand. Doug schüttelte den Kopf. »Lynchen wird nicht funktionieren.« In der ersten Reihe der Tribüne direkt vor ihm erhob sich Tril Allison, der Besitzer eines Holzgroßhandels. Er war es nicht gewohnt, öffentlich zu reden, und verlagerte sein Gewicht nervös von einem Fuß auf den anderen. Neben ihm auf der Tribüne saßen seine Söhne, Dennis und Tad, die beide in Dougs Englischklasse gewesen waren. Tril räusperte sich. »Was ist der Postbote?«, fragte er dann. Das war die Frage, die alle beschäftigte: Wer oder was war dieser Mann? Doug wollte schon antworten, als von irgendwo im oberen Teil der Tribüne ein schrille Stimme erklang. »Er ist der Teufel!« Eine alte Frau, die Doug nicht kannte, stand auf. »Unsere einzige Hoffnung ist das Gebet! Unsere einzige Hoffnung ist, Jesus Christus um Vergebung zu bitten und ihn zu bitten, uns zu beschützen!« Leises Gemurmel verängstigter Zustimmung war zu hören. »Er ist nicht der Teufel!«, rief Doug und hob die Hände, um wieder für Ruhe zu sorgen. »Was ist er dann?«, fragte Tril. »Er ist mit Sicherheit kein Mensch.« »Nein«, sagte Doug, »ein Mensch ist er nicht. Um ehrlich zu sein - ich weiß nicht, was er ist.« »Er hat meine Tochter umgebracht!«, schrie jemand. »Er hat viele Menschen umgebracht. Ich weiß nicht, was er ist!«, wiederholte Doug lauter. »Aber eines weiß ich: Er kann aufgehalten werden. Gemeinsam können wir ihn aufhalten.« Smith Tegarden, einer der Polizisten, der vor kurzem mit auf dem Hügelkamm gewesen war, trat aus der Menge hervor in die Mitte der Sporthalle. Sein Gang war selbstsicher, aber Doug konnte sehen, dass diese Selbstsicherheit nur gespielt war. Der erfahrene Cop hatte Angst. Er blieb vor Doug stehen. »Wir haben diesem Bastard mitten in die Brust geschossen, und er ist nicht gestorben«, sagte er. »Wie können wir ihn aufhalten?« Doug atmete tief durch. »Wir werden ihn aushungern«, sagte er. »Wir schneiden ihn von der Post ab.« »Sollten wir ihm nicht lieber was ganz anderes abschneiden? Und ich meine nicht seinen Hals!«, rief jemand aus der Menge. Gelächter wogte durch die Halle, und die Spannung löste sich ein wenig. Doug lächelte. »Wir werden keine Post mehr verschicken oder annehmen. Was immer der Postbote zustellt - nehmen Sie es nicht an, nehmen Sie es nicht in die Hand! Lassen Sie es im Briefkasten liegen. Die Post ist seine einzige Quelle der Kraft und der Macht über uns.« Er dachte an Billy, an Trish, an Howard. »Es ist die Post, durch die er an uns herangekommen ist. Es ist die Post, durch die er uns so weit gebracht hat. Sie ist seine einzige Waffe. Wenn wir die Post stoppen, dann stoppen wir ihn!« Eine hitzige Diskussion brach los, und Doug erkannte sofort, dass er seine Idee nicht gut verkauft hatte. Genau das hatte er befürchtet. Was er gesagt hatte, klang so dumm, so wirkungslos, dass es nicht den Anschein hatte, sie könnte zu irgendetwas gut sein. Doug sah mehrere Leute, die bereits zum Ausgang gingen. »Warten Sie!«, erklang Mikes Stimme herrisch über das Stimmengewirr hinweg. Er ging quer durch die Halle und stellte sich neben Doug. »Hören Sie ihn zu Ende an.« Der Lärm verstummte. »Ich weiß, dass es sich verrückt anhört«, fuhr Doug fort. »Aber wir haben nichts zu verlieren, wenn wir es versuchen. Kugeln werden ihn nicht aufhalten. Ich glaube nicht, dass man ihn überhaupt umbringen kann. Aber ich habe ihn beobachtet. Am vierten Juli, am Nationalfeiertag, wurde keine Post ausgetragen. Am Tag darauf sah der Postbote dünn und krank aus. Als er diese Woche zurückkehrte, nachdem er verschwunden gewesen war, war er sogar noch verhärmter. Er braucht Post, um zu überleben, so wie wir Essen und Trinken brauchen. Aus der Post bezieht er seine Energie, seine Macht oder was auch immer. Wenn wir ihn von dieser Quelle abschneiden, wenn niemand mehr Post abschickt oder Post bekommt, wird er nichts mehr zu tun haben. Er wird sterben.« »Vielleicht stirbt er auch nicht! Vielleicht verschwindet er bloß!«, rief eine Frau. »Wenigstens sind wir ihn dann los.« »Und wenn er zurückkommt?« »Dann verjagen wir ihn noch einmal. Oder vielleicht haben wir bis dahin eine andere Lösung gefunden.« Wieder redeten die Leute durcheinander. »Wir müssen alle mitmachen. Jeder von uns. Wenn ihm auch nur einer von euch Post gibt, reicht das vielleicht schon, um ihn am Leben zu halten. Er hat meine Frau und meinen Sohn angegriffen. Er hat es zumindest versucht. Aber er konnte sie nicht berühren. Am Ende konnte er nur versuchen, sie dazu zu bringen, dass sie seine Post lesen. Das ist seine einzige Macht.« Diesmal klang die Menge anders - lauter, weniger streitsüchtig. Hoffnungsvoll. Sie wollten glauben. Trish hielt Dougs Hand, blickte ihn an und lächelte. »Keine Post!«, rief sie laut. Sie begann die Worte zu skandieren wie einen Cheerleader-Gesang. »Keine Post! Keine Post! Keine Post!« Der Gesang wurde von Mike und einigen Leuten in den vorderen Reihen aufgenommen, wuchs an, breitete sich aus, und bald war die ganze Sporthalle von den widerhallenden, ermutigenden Klängen des improvisierten Jubels erfüllt. »Keine Post! Keine Post! Keine Post!« Nie zuvor hatte Doug einen solchen Gemeinschaftsgeist erlebt, einen solchen Optimismus. Zum ersten Mal glaubte er wirklich daran, dass sie eine Chance hatten, diesem Albtraum ein Ende zu bereiten. Er lächelte Trish an, und sie lächelte zurück. Das Licht in der Sporthalle flackerte. »Bleiben Sie ruhig!«, rief Doug. »Keine Panik!« Doch seine Stimme ging im Aufschrei der Menge und im Trampeln der Füße unter. Einen Augenblick später fiel der Strom völlig aus. Doch niemand schien es zu bemerken, und die Einwohner der Stadt skandierten weiter. »Keine Post! Keine Post! Keine Post!« 49. Am Morgen erwachte Doug und sah vor seinem Fenster ein Winterwunderland. Der Anblick war schön. Über Nacht hatte es geschneit, und Grundstück und Veranda, Bäume und Sträucher waren von reinem Weiß bedeckt. Nur dass die Luft warm und feucht war und der Himmel wolkenlos. Die elfenbeinfarbene Decke, die die Welt draußen verhüllte, schien völlig glatt zu sein und wirkte seltsam künstlich. Doug öffnete die Hintertür und blickte hinaus. Der Boden war nicht von Schnee bedeckt. Der Boden war von Umschlägen bedeckt. Doug konnte es nicht fassen. Die Briefe lagen mit der Vorderseite nach unten, Kante an Kante nebeneinander. Ihre Ränder schlossen in gerader Linie perfekt mit der Hauswand ab und zogen sich über die hintere Veranda, über den Geräteschuppen, über die Manzanitabüsche und die Bäume fort. Das schiere Ausmaß einer solchen mühseligen Arbeit war überwältigend, und die Tatsache, dass sie in einer einzigen Nacht durchgeführt worden war, direkt vor seinem Haus, während er drinnen geschlafen hatte, ohne etwas zu bemerken, war Furcht erregend. Doug war froh, dass Trish die Nacht bei Billy im Krankenhaus verbracht hatte und dies hier nicht sah. Behutsam bückte sich Doug und hob den Umschlag auf, der der Tür am nächsten lag. Er drehte ihn um. Der Brief kam von seiner Mutter und war an ihn adressiert. Er hob den Umschlag auf, der daneben lag. Er war von seinem Vater. Der Brief daneben kam von seiner Tante Lorraine. Er hatte das Gefühl, dass der Postbote die Umschläge in einer besonderen Ordnung gruppiert hatte und dass sich sein ganzer Stammbaum von diesem Punkt des Musters aus in den Absendern wiederfinden würde. Doug stand auf. Anfangs hatte er gedacht, die ganze Stadt sei mit Post bedeckt, nun aber sah er, dass hinter der weißen Decke, die Bäume und Sträucher in seinem Garten bedeckte, das Grün des Spätsommers leuchtete. Er schlüpfte in seine Sandalen und ging auf die hintere Veranda. Das Papier knisterte unter seinen Füßen, doch er wollte feststellen, wie weit der Postbote gegangen war. Als er zum ersten Busch kam, dessen Blätterhülle vollständig unter den Umschlägen verborgen war, streckte er vorsichtig eine Hand aus, denn er war neugierig darauf, wie die Umschläge aneinander befestigt worden waren. Die Kuppel aus Papier fiel in sich zusammen. Ein Kartenhaus. Der Postbote hatte die Umschläge benutzt, um ein Kartenhaus zu bauen, für das er keinen Klebstoff benötigte. Doug ging über den weißen Boden zum ersten Baum und berührte ihn. Auch die Umhüllung des Baumes fiel in einem Regen aus Briefen zusammen. Im Haus klingelte das Telefon; das Geräusch war in der Stille des Morgens laut zu hören. Doug wusste, dass wahrscheinlich Trish anrief, doch er bewegte sich zwischen den Bäumen und Sträuchern hindurch immer weiter weg vom Haus, wobei er wahre Brieflawinen auslöste. Er musste sehen, wie weit die weiße Landschaft sich ausdehnte. Doug war nicht überrascht, als er feststellte, dass die weiße Decke genau an seiner Grundstücksgrenze endete. Rasch lief er zum Haus zurück. Er verspürte ein perverses Vergnügen, während die Umschläge unter seinen Füßen raschelten und knisterten. Das Telefon klingelte immer noch. Doug eilte ins Schlafzimmer und nahm den Hörer ab, während er sich aufs Bett fallen ließ. »Hallo?« »Briefe ... Briefe ...«, sang der Postbote in einer grottenschlechten Parodie auf einen Las-Vegas-Nightclubsänger. »Wir haben Briefeee ...« Doug, dessen Hand plötzlich schwitzte, legte so plötzlich auf, als hätte er sich die Finger verbrannt. Sein Herz schlug heftig, und nicht nur von der Anstrengung des Laufens. Einen Augenblick blieb er so liegen, atmete keuchend und dachte nach. Dann nahm er den Hörer wieder ab, um Mike anzurufen. »Briefeee«, sang der Postbote in den Hörer. Wieder legte Doug hastig auf. Der Postbote blieb in der Leitung, hielt sie offen und ließ ihn weder Anrufe tätigen noch annehmen. Wie du willst, dachte Doug und presste entschlossen die Lippen aufeinander. Wenn der Postbote es auf die harte Tour haben wollte, konnte er es haben. Doug zog das Telefonkabel heraus. Zuerst würde er zu Billy und Trish ins Krankenhaus fahren. Dann zur Polizeiwache. Dann würde er im Haushaltswarengeschäft ein paar zusätzliche Mülleimer kaufen. Dann würde er hierher zurückkehren, den Garten harken und all diese verdammten Briefe wegwerfen. Trish sagte, sie würde in der kommenden Nacht zu Hause bleiben und ihm Gesellschaft leisten, wenn Doug es wünschte. Billy ging es besser, berichtete sie, und er wollte nicht, dass seine Eltern jede Sekunde des Tages bei ihm wachten, als wäre er noch ein Baby. Aber Doug bestand darauf, dass Trish bei ihrem Sohn blieb, weil es für den Jungen wichtig sei. Er selbst musste mit Mike eine Strategiesitzung leiten; es gab einiges zu diskutieren und zu planen. Also blieb Trish im Krankenhaus. Das war eine kluge Entscheidung, denn am nächsten Tag war das Grundstück wieder von Post bedeckt, wenn auch die rein weißen Umschläge des vorigen Morgens durch eine merkwürdige Mischung von seltsam geformten Paketen, schlampig eingewickelten Päckchen und schmuddeligen Bündeln frankierter Briefe ersetzt worden waren. Wie zuvor war jeder Quadratzentimeter des Grundstücks bedeckt. Irgendwie hatte der Postbote es hinbekommen, die Stücke dieses Sammelsuriums wie die Teile eines riesigen Puzzles lückenlos zusammenzusetzen. Doug öffnete die Tür und trat hinaus. Der Geruch traf ihn wie ein Keulenschlag - ein ranziger, übler Gestank nach Verwesung und Zerfall. Durch die aufgerissene Ecke eines der Päckchen in seiner Nähe sah er ein Bündel verschimmelter Trauben. Das Päckchen war an Trish adressiert, offensichtlich eine der Lieferungen von ihrem Fruit-of-the-Month Club. Daneben war ein unregelmäßig geformtes, seltsam eingewickeltes, von Briefmarken übersätes Objekt, das nur eine Katze sein konnte. Durch das braune Packpapier war Blut gesickert. Auch dieses Paket war an Trish adressiert. Doug ging über das Grundstück, und eine furchtbare Angst stieg in ihm auf. Offensichtlich klappte sein Plan nicht. Die ganze Stadt sollte die Post völlig ignorieren, sollte nichts schicken und nichts in Empfang nehmen, und Mike zufolge hielten sich alle daran. Und doch hatte der Postbote Kraft genug, Hunderte Päckchen voller Perversitäten zu produzieren oder zu sammeln und sie binnen einer einzigen Nacht auf Dougs Grundstück zu schaffen und zu einem Mosaik des Grauens zusammenzufügen. Wie konnte er auch nur darauf hoffen, eine Kreatur bekämpfen zu können, die so etwas Gewaltiges zustande brachte? Aber vielleicht war genau das der Punkt. Vielleicht wollte der Postbote, dass sie genau das dachten. Vielleicht hatte er Angst, saß in der Klemme und holte nun seine stärksten Geschütze hervor, um die Einwohner von Willis zu demoralisieren und zur Aufgabe zu treiben. Oder lag es daran, fragte sich Doug, dass er die Briefe vom Vortag beseitigt hatte? War es möglich, dass jegliche Beschäftigung mit Post, sogar ihre Beseitigung, den Postboten mit Energie versorgte? Doug eilte ins Haus zurück, zog sich an und fuhr in die Stadt, um mit Mike zu sprechen. Er bat den Polizisten, seine Leute anzuweisen, jedermann zu sagen, die Post auf gar keinen Fall anzurühren, was immer auch geschah. Die Leute sollten die Post nicht verbrennen, nicht wegwerfen, gar nichts damit machen. Sie sollten zulassen, dass die Post sich anhäufte, sie aber auf keinen Fall anfassen. Auch Doug rührte die Pakete in seinem Garten nicht an und verbrachte die Nacht bei Billy und Trish im Krankenhaus. Als er am folgenden Nachmittag nach Hause kam, war der Garten gesäubert. Sämtliche Päckchen waren verschwunden. Doug lächelte. Das war ein taktischer Fehler des Postboten gewesen, da war er sicher. Denn der Gestank und die Seuchengefahr durch die verwesenden Früchte, Tiere und was sonst noch in den Päckchen gewesen war, hätten Doug letztendlich gezwungen, den Garten zu säubern und dadurch dem Postboten Energie zu verschaffen. Stattdessen war der Postbote seinerseits gezwungen gewesen, Kraft darauf zu verwenden, die Päckchen zu beseitigen. Die Anzeichen waren unmerklich, aber sie waren da. Der Postbote bekam Angst. Er wurde schlampig. Es ging abwärts mit ihm. Sie mussten ihn nur weiterhin auflaufen lassen. 50. Die Tage waren lang. Die Nächte waren länger. Telefon, Gas, Wasser und Strom waren seit dem Tag unterbrochen, nachdem die Päckchen verschwunden waren, und sowohl Doug als auch Trish begannen zu riechen, weil sie nicht baden konnten. Zu essen gab es Sandwiches und Gegrilltes, und sie tranken warmes Bier und warme Cola. Während der endlosen Tage warteten sie auf der Veranda und versuchten zu lesen, ohne wirklich etwas aufzunehmen, oder sie gingen ins Krankenhaus, um bei Billy zu sitzen. Das Hospital besaß seine eigenen, unabhängigen Stromgeneratoren, und wenn es Doug und Trish wegen der neuerlichen Überfüllung auch nicht erlaubt war, das rationierte Wasser zu verwenden oder die Nacht in der gekühlten Luft der Klimaanlage zu verbringen, so hatten sie wenigstens die befriedigende Gewissheit, dass man sich um Billy kümmerte. Der Psychiater, der von Phoenix gekommen war, sagte ihnen nach einer Sitzung mit Billy, die den ganzen Nachmittag gedauert hatte, dass ihr Sohn ein gesunder und ausgeglichener Junge sei und mit der richtigen Unterstützung in der Lage sein sollte, sich von den Schrecken zu erholen. Nachts wurde Dougs unruhiger Schlaf von Träumen gestört. Träume, in denen Willis eine Geisterstadt war und sämtliche Gebäude aus Postsendungen bestanden. Träume, in denen Trish nackt und verführerisch auf dem Bett lag, von Kopf bis Fuß mit abgestempelten Briefmarken bedeckt. Träume, in denen Billy eine Uniform des Postal Service trug und den Postboten grinsend auf dessen höllischen Runden begleitete. Das Benzin im Bronco ging zur Neige, aber Doug konnte nicht anders, als in die Stadt zu fahren und sich bei der Polizei nach der Lage zu erkundigen. Der Postbote kam jede Nacht und stellte die Post zu, die er nun im Briefkasten deponierte. Doug fürchtete immer wieder, dass jemand in der Stadt nachgab, einen Brief annahm oder, schlimmer noch, abschickte. Doch Mike und Tegarden sagten jedes Mal, dass der Widerstand gegen den Postboten ungebrochen sei, soweit sie es sagen konnten. Der sechste Tag verging. Die Klimaanlage im Krankenhaus war abgestellt worden, um Treibstoff für die Generatoren zu sparen, aber die Fenster waren geöffnet, und eine leichte Brise kühlte Billys Zimmer. Doug und Billy spielten Monopoly, während Trish zuschaute; dann spielten Trish und Billy Parcheesi, während Doug zuschaute. Wie dünn doch die Fassade der Zivilisation war, dachte Doug. Wie wenig es braucht, um sie alle wieder in die Höhlen zurückzutreiben. Es waren nicht nur die Gesetze, die die Menschen von den Tieren unterschieden. Es war nicht die Vernunft. Es war auch nicht die Kultur oder die Regierung. Es war die Kommunikation, die ihnen die Annehmlichkeiten des modernen Lebens sicherte. Ein Zusammenbruch der Kommunikation im Zeitalter der Globalisierung, wo fast alles von der zuverlässigen Übertragung korrekter Informationen abhing, machte die Menschen hilflos und verloren, was zur Aufgabe normaler Verhaltensregeln führte und den Weg ins Chaos ebnete. Wie weit entfernt der Alltag zu sein schien. Der Beruf, die Schule. Wie idyllisch und unschuldig das alles nun wirkte. Doug versuchte sich zu erinnern, wann wieder Schulanfang war, doch er wusste es nicht. Er wusste nicht einmal mehr das Datum. Während er zum Polizeirevier ging, um zu sehen, was vor sich ging, blieb Trish im Krankenhaus. Auf dem Weg kam Doug am Circle-K-Einkaufszentrum vorbei. Er fuhr langsamer, als er den Postboten sah, der den blauen Postkasten vor dem Kiosk öffnete. Der Kasten war völlig leer, und wütend schlug der Postbote die Metallklappe zu. Doug schauderte, so hager, beinahe skeletthaft sah der Postbote aus. Seine blasse Haut war ausgebleicht wie weiße Knochen, und sein ehemals feuerrotes Haar war stumpf. In Doug keimte Hoffnung auf. Sein Plan schien aufzugehen. Offenbar hatte er recht gehabt: Smith mochte in der Lage sein, Post zu ersetzen und zu erzeugen, aber dazu brauchte er Nachschub an neuer Post. Doug lächelte in sich hinein. Plötzlich drehte Smith sich zu ihm um und grinste. Er sah ihm direkt in die Augen, als wüsste er genau, dass Doug ihn beobachtet hatte. Die perfekten Zähne in dem weißen Gesicht, das wie die Fratze eines Totenschädels aussah, leuchteten Furcht erregend. Ein zum Leben erwachtes Monster aus einem Comic-Heft. Der Postbote griff in seine Tasche und zog eine Hand voll Briefumschläge heraus, fächerte sie auf wie ein Kartenspiel, bot sie Doug an. Doug trat aufs Gaspedal und fuhr am Circle K vorbei, ohne den Postboten anzusehen, während ihm das Herz bis zum Hals schlug. Seine Furcht überlebte die Fahrt bis zum Polizeirevier nicht. Zum ersten Mal hatte er gute Neuigkeiten zu berichten, und als er erzählte, was er gesehen hatte, brachen die Polizisten in Jubel aus. »Keine Post«, sagte Mike und grinste. »Keine Post! Keine Post!« Die andere fielen in den Sprechgesang ein. »Keine Post! Keine Post! Keine Post!« 51. Tril Allison stand mit seinen Söhnen vor dem Wohnzimmerfenster und beobachtete, wie der rote Wagen des Postboten vor ihrer Einfahrt abbremste. Annie, die nicht hinschauen wollte, weil sie Angst hatte, blieb in der Küche. Der Wagen kam zum Stehen, und der Postbote stieg aus. Er sah außergewöhnlich dünn aus, fast ausgezehrt, und selbst aus der Entfernung konnte Tril die knochigen Hände sehen, die aus den Ärmeln der Uniform ragten, und das hagere, ausgemergelte Gesicht. Trils Hände umklammerten die Fensterbank. Er hatte Angst und war zugleich in Hochstimmung; er fürchtete sich und war zugleich freudig erregt. Es funktionierte! Der Englischlehrer hatte recht gehabt. Wenn er keine Post zustellen konnte, verlor John Smith seine Kraft. Er starb. Durch das Fenster traf Trils Blick sich mit dem des Postboten, und zum ersten Mal seit langer Zeit blickte Tril nicht weg. Der Postbote bewegte sich zum hölzernen Briefkasten und öffnete die Klappe. Umschläge quollen heraus, weiße und gelbbraune, dünne und gepolsterte, große und kleine: die unberührte Post, die in den vergangenen Tagen zugestellt worden war. Der Postbote blickte wieder zum Haus. Tril sah unbändige Wut auf dem weißen, ausgemergelten Gesicht, einen Ausdruck von Schmerz und Hass, so rau und ungehemmt, dass beide Jungen vom Fenster zurückwichen. Doch Tril hielt dem Blick stand. Er beobachtete, wie der Postbote wütend die Umschläge vom Boden aufhob und sie in den Kasten zurückschob. Er sah hin, als der Mann noch mehr Post vom Wagen holte und sie ebenfalls hineinschob. Er schaute zu, als er die Klappe des Briefkastens schloss. Der Postbote ging zur Fahrertür des Wagens. Er warf einen wütenden Blick zum Haus und sagte etwas, was Tril nicht verstehen konnte, ehe er einstieg und in einer Staubwolke davonfuhr. Tril wartete eine Weile, um sicherzugehen, dass der Postbote nicht zurückkehrte. Dann sah er Annie an, dann seine Söhne. Schließlich nahm er Hammer und Nägel und ging nach draußen, um den Briefkasten zuzunageln. Hunt James fuhr in eine der sechs Parklücken vor dem Gebäude, das er sich mit Dr. Elliott teilte. Er war gekommen, um den Postschlitz in seiner Bürotür mit Klebeband zu verschließen, damit der Postbote nicht in der Lage war, irgendetwas an seine Geschäftsadresse zuzustellen. Er lief über den ausgeblichenen, rissigen Asphalt und betrat den kurzen Fußweg. Im Fenster des Zahnarztes sah er neben dem vertrauten Schild »Heute keine Kontrolluntersuchungen« ein weißes, rechteckiges Stück Pappe, auf dem in hastig hingekritzelten Buchstaben »ABSOLUT KEINE POST!« geschrieben stand. Gute Idee, dachte Hunt. Er schloss die Tür zu seinem Büro auf und schaltete das Licht ein. Mit entschlossenem Schritt lief er über den Teppichboden zu seinem Schreibtisch. Er nahm einen breiten schwarzen Filzstift und ein Blatt Schreibpapier sowie eine Rolle Klebestreifen. Lächelnd begann er zu schreiben. Der Postbote fuhr dreimal am Haus vorbei, ehe er anhielt. David Adams grinste in sich hinein, als er sah, dass der rote Wagen vor dem Haus bremste. Er hatte den Briefkasten ausgegraben, das Loch aufgefüllt und den Kasten ganz hinten im Hof abgeladen. Später, nach dem Frühstück, würde er den Pfosten zu Feuerholz zersägen und den Briefkasten selbst in Stücke schlagen. Der Postbote stieg aus dem Wagen, und mit den Briefen in der Hand ging er über die Auffahrt direkt auf die Vordertür zu. Rasch schloss David die Gittertür und verriegelte die eigentliche Haustür. Immer noch grinsend zog er die Vorhänge zu. Der Postbote musste allmählich verzweifeln. Er sah miserabel aus, und er stellte die Post sogar am Tag zu. Bald hatten sie den Bastard in die Enge getrieben! John Smith klopfte an die Tür. »Mister Adams!« David sagte nichts, rührte sich nicht. Erneutes Klopfen. »Mister Adams!« David antwortete nicht. »Ich weiß, dass Sie da drinnen sind«, sagte der Postbote. Er klopfte wieder, lauter jetzt, kräftiger. »Mister Adams? Es tut mir leid, Sie darüber informieren zu müssen, dass Sie gegen ein Bundesgesetz verstoßen. Da Sie keinen Briefkasten haben, sind Sie verpflichtet, entweder ein Postfach an Ihrem Wohnort oder einen Briefschlitz an Ihrer Tür zu haben, damit die Post ordnungsgemäß zugestellt werden kann. Wenn nicht, beeinträchtigen Sie den Betriebsablauf des US Postal Service und können gerichtlich verfolgt werden.« David lächelte. Es lag ein harter Unterton in der Stimme des Postboten und mehr als nur eine Andeutung von Verzweiflung. »Ich weiß, dass Sie da drinnen sind«, wiederholte der Postbote. Seine Stimme bekam nun einen verführerischen, gerissenen Beiklang. »Ich habe hier Sendungen, von denen ich weiß, dass Sie sie gerne sehen würden. Darlas letzten Brief. Ein Brief von ihrem Geliebten. Das ist heute gute Post, Mister Adams. Gute Post.« David sagte nichts, obwohl er den Hundesohn am liebsten angeschrien hätte. Er blieb regungslos stehen. Dann hörte er, wie der Postbote die Briefe wütend auf die Türschwelle warf und davonstapfte. Einen Augenblick war das Starten des Automotors zu vernehmen, gefolgt vom Abrollgeräusch der Reifen, das leiser wurde, als der Wagen davonfuhr. David zog die Vorhänge auf, öffnete die Tür, atmete tief durch und fühlte sich gut. Es war nur eine Frage der Zeit. 52. Doug, Tegarden und Mike saßen schweigend auf der einsamen Bank vor dem Bayless. Von dort konnten sie das Geschäftsviertel der Stadt zu einem großen Teil überblicken. Während der letzten Stunde hatten sie beobachtet, wie der Postbote die Straße auf und ab gefahren war und verzweifelt versucht hatte, irgendwo Post zuzustellen. Alle Geschäfte hatten ihre Briefkästen entfernt oder die Briefschlitze blockiert, und die meisten Bürger hatten Schilder aufgestellt, einige sorgfältig von Hand auf Pappe gemalt, einige am heimischen PC ausgedruckt, andere grob hingekritzelt: KEINE POSTANNAHME EIN EINZIGER BRIEF KANN DEINEN GANZEN TAG RUINIEREN ICH FASSE KEINEN BRIEF AN, ES SEI DENN, DU KLEMMST IHN MIR ZWISCHEN MEINE KALTEN, TOTEN FINGER POST IST FÜR KINDER UND ANDERE LEBEWESEN UNGESUND POST IST SCHEISSE Das Verhalten des Postboten war immer hektischer geworden, wie er von Laden zu Laden hastete, von der Tankstelle zu einem Büro, und sein Fahrstil wurde immer verrückter, während er zum vierten, fünften, sechsten Mal am selben Straßenabschnitt vorbeifuhr. Von außen betrachtet erschien er wie ein gefangenes, zum Sterben verdammtes Insekt, das aus dem tödlichen Gefängnis eines Glasgefäßes zu entkommen suchte. Doug war nervös und aufgeregt - und er wusste, dass die anderen Männer es auch waren -, doch alle drei hatten Masken aus wortkargem Desinteresse aufgesetzt, als wären sie drei ältere Herrschaften, die ihre Zeit auf einer Parkbank totschlugen und beiläufig kommentierten, was ihnen vor die Augen kam. »Sieht so aus, als ginge er wieder zum Donut-Stand«, sagte Tegarden gedehnt. »Jau«, sagte Mike. Doug empfand beinahe so etwas wie Mitleid wie mit dem Postboten. Er mochte es nicht, wenn jemand verletzt oder verwundet wurde. Aber er musste nur an Trish und Billy denken, an Hobie und Stockley und all die anderen, damit dieses Mitgefühl verflog und einer grimmigen Befriedigung wich. Der Postbote bekam, was er verdiente. »Er versucht, Briefe unter der Tür der Versandhaus-Filiale durchzuschieben.« »Wird nicht klappen«, sagte Tegarden. Der Postbote rannte zu seinem Wagen zurück und fuhr zum achten Mal die Straße entlang. 53. Das Wasser kam am Vormittag des neunten Tages zurück, die Elektrizität am selben Nachmittag. Am Ende des nächsten Tages waren sowohl Gasversorgung als auch Telefonverbindung wiederhergestellt. 54. Der Postbote war mehr als zwei Tage lang nicht gesehen worden. Als Doug die Polizeiwache anrief, berichtete ihm Mike, dass Smith' Wagen sich seit zweiundfünfzig Stunden nicht vom Postamt wegbewegt hatte. »Ich glaube, es ist Zeit, dass wir da reingehen und nachsehen«, sagte er. »Bin gespannt, was da vor sich geht.« Sie fuhren gemeinsam in vier Wagen, und Doug musste die ganze Zeit an Jack und Tim denken. Wenn alles vorbei war, musste es einen Gedenkgottesdienst für sie geben. Für alle Opfer der Post. Fliegen summten um die eingetrockneten Köpfe der toten Hunde. Die Luft war erfüllt vom Verwesungsgestank der Tierkadaver. Die acht Männer marschierten über den Parkplatz zur Tür des Postamts. Mike gab Tegarden, dem größten und stärksten Mann der Truppe, ein Zeichen. »Tritt sie ein«, sagte er und zeigte auf die Glastür. Tegarden kam der Aufforderung mit Freuden nach, und explodierende Scherben und Splitter flogen ins Innere des Gebäudes. Sie stiegen durch den Türrahmen. Im Postamt war es dunkel. Die Fenster waren vollkommen mit Brettern vernagelt, die Beleuchtung ausgeschaltet. Braunes Packpapier bedeckte Wände, Fußboden und Decke. Zögernd drangen die Männer tiefer ins Gebäude vor, Doug voran. Die Geräusche ihrer Schritte kamen ihnen in der Stille erschreckend laut vor. »Wo zum Teufel sind Sie?«, rief Doug. Es kam keine Antwort. Die Männer bewegten sich vorsichtig vorwärts, blieben nahe beieinander. Im Raum herrschte totales Chaos. Der hohe Metalltisch, der an einer Wand gestanden hatte, war umgestürzt, und der Boden war übersät mit Papier und Päckchen und zerbrochenen Möbeln. Auf dem Schalter lag eine tote Ratte, daneben große Knochen, wahrscheinlich von einem Hund, die zu einem präzisen, geometrischen Muster arrangiert worden waren. Die gesamte Oberfläche des Schalters war mit eingetrocknetem Blut bedeckt. Doug ging langsam um den Schalter herum. Das Postamt schien leer zu sein, wie tot. Doug war dennoch nervös und angespannt bis in die Haarwurzeln. Auf Zehenspitzen ging er zu der offenen Tür, die in den hinteren Raum führte. Aus dem Raum war ein langes, leises Seufzen zu vernehmen. Und ein verängstigtes Wimmern. Doug blieb wie angewurzelt stehen. Sein Herz schlug heftig. Als er hinter sich blickte, sah er Furcht auf den Gesichtern sowohl der erfahrenen wie auch der jungen Polizisten. Sie alle hatten die Geräusche gehört, nur wusste keiner von ihnen, was man davon halten sollte. Nur Mike schien unbeeindruckt. Er schob sich an Doug vorbei und machte sich bereit, den Angriff auf den hinteren Raum des Postamts anzuführen, doch Doug hielt ihn zurück. Er hatte Angst, wusste aber, dass diese Aufgabe in seiner Verantwortung lag. »Nein«, sagte er. Der Polizist blickte ihn an. »Ich will da allein hinein.« Mike schüttelte den Kopf, zog seinen Revolver und entsicherte ihn. »Das ist zu gefährlich.« »Es ist nicht gefährlich. Nicht mehr.« Doug schaute in die besorgten Augen des Polizisten. »Das ist eine Sache zwischen ihm und mir.« Mike sah ihn mit suchendem Blick an; dann nickte er. »In Ordnung. Aber nehmen Sie den hier mit.« Er gab ihm die Waffe. »Sie wissen, wie man damit umgeht?« Doug schüttelte den Kopf. »Nicht genau. Aber das ist egal. Es wird bei ihm sowieso nicht funktionieren. Das wissen Sie.« »Nehmen Sie ihn trotzdem mit. Nur für den Fall.« Wieder war das Wimmern zu hören. Es klang wie jemand, der Schmerzen hatte. »Jetzt reicht es aber! Ich ...«, setzte Mike an und bewegte sich vorwärts. »Nein«, sagte Doug, ergriff ihn am Arm und zog ihn zurück. »Ich gehe alleine.« Mike blieb stehen und starrte ihn an, wich aber nicht zur Seite. Doug hielt seinem Blick stand, spürte das Gewicht des Revolvers in seiner Hand. »Mir wird nichts passieren.« Mike nickte langsam. »Okay«, sagte er schließlich. »Wir sind hier draußen, falls Sie uns brauchen.« Die Worte des Polizisten waren beruhigend, ganz im Gegensatz zum Klang seiner Stimme. »Wenn ich irgendwas Seltsames höre, komme ich rein.« »In Ordnung.« Doug betrat den hinteren Raum. Den Unterschlupf des Postboten. Smith funkelte ihn aus dem Gerümpel an. Oder genauer, es funkelte ihn an. Denn der Postbote erschien nun kaum noch menschlich. Sein Körper war zusammengeschrumpft. Er war dünn geworden und verdreht und verformt wie der Körper eines riesigen Insekts. Seine rotes Kopfhaar, das nun rötlich blond war, war gewachsen und hing in dicken Strähnen herab. Die Zähne in seinem eingefallenen Gesicht sahen übergroß und scharf aus, als wären sie spitz gefeilt. Um ihn herum lagen die Tische und Regale, Maschinen und Behälter, Postsäcke und sonstiges Zubehör in wirrem Durcheinander. Hinter Doug schlug die Tür ins Schloss. Der Postbote lachte, ein rasselndes Kichern, das Doug kalte Schauer über den Rücken jagte. Die Luft war merkwürdig schwer, ein knisternder, wirbelnder Energiestrom, der sich wie elektrische Spannung anfühlte. In den veränderten Lichtverhältnissen, die die geschlossene Tür verursacht hatte, sah Doug, dass er und der Postbote nicht allein in dem Raum waren. In der hinteren Ecke, an die Wand gelehnt, beinahe versteckt im Schatten eines umgestürzten Tisches, lag ein regungsloser Körper mit wild zerzausten Haaren. Der Körper wimmerte Mitleid erregend. Doug trat vor, bis er das Gesicht erkennen konnte. Giselle Brennan. Es verschlug ihm den Atem. Giselle war in braunes Packpapier gewickelt wie eine Mumie. Ein Arm hatte sich aus der Umhüllung befreit und war in unnatürlichem Winkel verdreht, mit Gummibändern an der Körperseite fixiert und mit Lagen von gefalteten, orangefarbenen und blauen Express-Umschlägen umwickelt. An vielen Stellen war Blut durch die Verpackung gesickert, war schwarz geworden und in Streifen eingetrocknet. Giselles Gesicht, Hals, Kinn und Wangen waren kreuz und quer von dünnen Schnitten übersät; gerade, sich überschneidende Linien, die ein Feld aus Quadraten, Rechtecken und Parallelogrammen bildeten. Schnitte durchzogen auch ihre Lippen, sodass es aussah, als ob man ihren Mund zugenäht hätte. »Giselle«, sagte Doug und ging einen Schritt auf sie zu. Sie stöhnte. Erst jetzt sah Doug auf ihrer weißen Stirn mehrere parallele Wellenlinien aus schwarzer Tinte, die von einem Kreis ausgingen, in dem etwas geschrieben stand. Ein Poststempel. Unter ihrem Haaransatz sah er eine gleichmäßig aufgeklebte Reihe von Briefmarken. Doug drehte sich zum Postboten um. »Was hast du mit ihr gemacht, verdammt?« Smith lachte. Das rasselnde Geräusch klang wie Fingernägel, die über eine Schultafel kratzten. »Postunfall«, sagte er. Seine Stimme war nur noch ein leises Wispern, das Doug kaum noch erkannte. »Du Bastard.« Doug atmete durch. Plötzlich begriff er, was der Postbote getan hatte. Er hatte ein Paket aus Giselle gemacht. Ein verdammtes Paket, fertig zum Versand. Die Kreatur hustete. »Der Postal Service kann nicht für Verletzungen zur Verantwortung gezogen werden, die durch die Postzustellung entstehen. Wäre Giselle als Ergebnis ihrer Arbeit verletzt worden, würde sie unter das Bundesarbeitsgesetz fallen. Aber sie ist Teilzeit-Angestellte, die bei einem Unfall verletzt wurde, der nicht im Zusammenhang mit ihrer Arbeit stand. Ich habe ihr geholfen, so gut ich konnte. Ich habe ihre Wunden bandagiert. Mehr kann ich nicht tun. Jetzt liegt es an Ihnen.« In seinen Insektenaugen lag Hunger. »Wenn Sie sie nicht sofort ins Krankenhaus bringen, stirbt sie. Vielleicht ist es jetzt schon zu spät.« Diesmal war das Stöhnen der jungen Frau ein Wort. »Hilfe.« Doug stand regungslos da; er wusste nicht, was er tun sollte. Die Sekunden dehnten sich wie Stunden. Im Raum war es gespenstisch still, ebenso die Schalterhalle und die Stadt draußen. Kein Geräusch störte diese Stille. Es war, als wartete die ganze Welt auf seine Entscheidung. »Helfen Sie mir«, flehte Giselle. Ihre Stimme war schwächer als ihr Stöhnen. »Die Kleine wird sterben, wenn Sie nichts für sie tun«, flüsterte der Postbote. Doug brauchte Zeit, um die Situation zu analysieren und das Problem zu lösen. Aber er hatte keine Zeit. »Mister Albin ...«, flüsterte der Postbote. »Hilfe«, flehte Giselle. Doug schloss die Augen. Alles in ihm, sein Herz, seine Seele, sagten ihm unaufhörlich, dass er sich in Gang setzen und Giselle ins Krankenhaus bringen musste. Doch eine eisige Entschlossenheit hielt ihn vom Handeln ab. Wenn er Giselle half, wäre alles verloren. Der Postbote war offensichtlich dem Tod nahe. Dies war lediglich ein letztes Aufbäumen, sein allerletzter Versuch, das Blatt zu wenden. Wenn Doug diese »Post« annahm, verlieh sie dem Postboten vielleicht genug Energie, um angreifen zu können. Wenn die Energie der Post proportional zu ihrem Gewicht oder Wert war, entsprach Giselle Hunderten von Schecks und Briefen. »Helfen Sie mir ...« Doug konnte sie nicht sterben lassen, konnte ihren Tod nicht verantworten. Das würde bedeuten, alle Anstrengungen zunichte zu machen, die er und die anderen in der Stadt unternommen hatten. Es konnte sogar bedeuten, dass der Postbote seine volle Macht zurückbekam und wieder zu töten begann. Doch Doug konnte nicht tatenlos dastehen und zusehen, wie Giselle starb. Er musste sie ins Krankenhaus bringen. Indem er sich weigerte, sie zum Tode zu verurteilen, verurteilte er vielleicht andere zum Tod. Aber dieses Risiko musste er eingehen. Er trat einen Schritt vor. Aus dem Augenwinkel sah er, wie der skelettartige Arm des Postboten ein Muster in die Luft malte. Doug blieb stehen und drehte sich um. Eine Träne lief über Giselles Wange, wurde vom Papier abgelenkt und in immer kleinere Rinnsale geteilt. »Mister Albin ...« Die Lippen des Postboten bewegten sich stumm. Seine Augen waren geschlossen. »Lassen Sie mich nicht sterben«, flehte Giselle. Ihre Stimme klang anders als sonst, bemerkte Doug, rhythmischer, weniger natürlich, und in ihren Worten lag etwas, das gestelzt und förmlich erschien und nicht echt klang. Doug blickte von Giselle zum Postboten und wieder zurück. Der Kopf des Postboten drehte sich nach rechts. Giselles Kopf drehte sich nach rechts. Doug stand regungslos da und wusste nicht, was er tun sollte. »Sie sind der Einzige, der wo mich retten kann.« Doug versteifte sich. »Der Einzige, der wo mich retten kann.« Der wo. Giselle hätte »der« gesagt. Sie war bereits tot. Sie war bereits tot gewesen, ehe er durch die Tür gekommen war. Doug blickte der jungen Frau aufmerksam ins Gesicht und erkannte den leicht glasigen Schimmer ihrer Augen, die leicht durchscheinende Dickflüssigkeit der Träne, die über ihre zerschnittene Wange gelaufen war. Giselle war irgendwann gestorben, vielleicht heute, vielleicht gestern, vielleicht am Tag davor, und der Postbote hatte sie hierbehalten, um sie als Köder zu benutzen. Er wusste, dass Doug schließlich kommen würde, und er wusste, dass Doug nicht fähig sein würde, die junge Frau sterben zu lassen. Der Postbote hatte sie benutzt, indem er den toten Körper mit aller Kraft, die ihm verblieben war, bewegt und zum Sprechen gebracht hatte. »Netter Versuch«, sagte Doug. Der Postbote öffnete die Augen und starrte ihn wütend an. Diesmal sah Doug nicht weg. Sein Blick blieb hart, ruhig, unerschütterlich. Der Blick des Postboten war ebenso standhaft, doch seine Kraft war nicht von langer Dauer und wurde nur mit größter Mühe aufgebracht. Dahinter lauerte die Niederlage, und hinter der Aggressivität schlummerten die Angst und die Erkenntnis, dass er sich verrechnet hatte. Er hatte verloren, und er wusste es. Und er wusste auch, dass Doug es wusste. »Du bist erledigt«, sagte Doug. Der Postbote zischte. Hinter ihnen sank Giselles Leiche auf den Boden. Das Papier knisterte laut, als überall im Raum Briefe, Umschläge, Rechnungen vom Boden emporwirbelten, als wären sie von einem Staubteufel in der Wüste erfasst worden. Beinahe rechnete Doug damit, dass die Post ihn attackierte, dass sie ihm ins Gesicht fliegen würde, doch die Briefe kreisten harmlos in der Luft und stiegen in die Höhe. Der Postbote hatte nicht einmal mehr genug Kraft, um ein paar Umschläge zu kontrollieren. »Es ist vorbei«, sagte Doug. Die Tür flog auf, und Mike, Tegarden und die anderen stürmten herein. »Wir konnten nicht ...«, setzte Mike an. Er betrachtete die wirbelnden Umschläge. Sah Giselles Leiche. »Himmel!« Sofort legte Tegarden seinen Revolver an und feuerte auf den Postboten. Die Kugel flog durch ihn hindurch. Der Postbote lachte - ein rasselndes Kichern, das Furcht erregend sein sollte, es aber nicht mehr war. Plötzlich wurde Doug bewusst, dass er selbst ebenfalls eine Waffe in der Hand hielt. Der Postbote fischte einen Umschlag aus der Luft. Auf seinen knochigen Füßen schlurfte er vorwärts, den Umschlag in der ausgestreckten Hand. Er lächelte Tegarden an. »Für Sie«, krächzte er. Der Polizist schüttelte angewidert den Kopf. Das Lächeln des Postboten erstarb. »Verschwinden wir von hier.« Dougs Stimme war ruhig und selbstsicher. »Übermorgen kommen wir wieder.« Er gab Mike den Revolver zurück. Mike blickte von Doug zum Postboten und wieder zurück. Dann nickte er schweigend und gab den anderen das Zeichen zum Abrücken. »Nein!«, kreischte der Postbote. Sie beachteten ihn nicht, gingen über das zerbrochene Glas hinweg und verließen das Postamt. 55. Doug fuhr aus dem Schlaf hoch, während der Traum verschwand, den er gerade gehabt hatte, ohne die geringste Spur in seinem Gedächtnis zu hinterlassen. Zuerst glaubte er, von einem Geräusch geweckt worden zu sein - das Telefon, ein Klopfen an der Tür, irgendein Gegenstand, der umgefallen war -, doch die Luft war ruhig und still. Nur das allgegenwärtige Zirpen der Grillen störte die friedvolle Nacht. Doug warf einen Blick auf die Uhr, deren blaue Ziffern in der Dunkelheit leuchteten: drei Uhr nachts. Die dunkle Stunde der Seele. Das hatte er irgendwo gelesen - »die dunkle Stunde der Seele«. Drei Uhr morgens war angeblich die Stunde, da der menschliche Körper dem Tod am nächsten war, da die Körperfunktionen ihren Tiefststand erreichten. Warum war er dann so hellwach, so alarmiert? Das Zirpen der Grillen draußen verstummte, und in der Stille hörte er eine tiefe Bass-Schwingung, eine kaum wahrnehmbare Störung, von der er wusste, dass sie sich zu etwas Vertrautem entwickeln würde. Das Geräusch wurde lauter, kam näher, und er erkannte, dass es ein Motor war. Das Auto des Postboten. Das war nicht möglich. Gestern noch war der Postbote zu schwach gewesen, um sich zu bewegen, und gewiss nicht in der Verfassung, um einen Wagen zu steuern. Selbst wenn es ihm seitdem gelungen war, einen Brief zuzustellen, oder mehrere Briefe, war es unmöglich, dass er sich so plötzlich erholt hatte. Doch es handelte sich zweifellos um das Geräusch eines Wagens. In der Stille der Nacht hörte Doug das Knirschen der Reifen auf dem Kies und das leise Schnurren, als der Wagen am Ende der Auffahrt im Leerlauf verharrte. Das Geräusch machte ihm keine Angst, doch es war unwiderstehlich, und er horchte aufmerksam. Die Wachsamkeit, mit der er aufgeschreckt war, ließ allmählich nach. Eigentlich wollte er aufstehen, ins Wohnzimmer gehen und durch das vordere Fenster spähen, um nachzusehen, was los war. Doch entweder war sein Verstand zu müde, um den Befehl an den Körper weiterzugeben, oder seine Beinmuskeln waren zu müde, um ihn zu befolgen, und so blieb er im Bett liegen und lauschte dem leisen Motorgeräusch. Ihm wurde klar, dass das tiefe Brummen beruhigend wirkte, dass der gleichmäßige Rhythmus ihn in den Schlaf hypnotisierte, doch er war unfähig, dagegen anzukämpfen. Ihm fielen die Augen zu. Er glitt ins Traumland zurück, wobei er immer noch das leise Geräusch des Motors hörte. Als er aufwachte, wusste er, dass der Postbote verschwunden war. Er wusste es, ohne es zu hören, ohne es zu sehen, ohne es nachzuprüfen. Es war ein Gefühl, ein kaum merklicher Unterschied in der Luft, den er nicht hätte erklären können, wäre es von ihm verlangt worden. Es fehlte ein Gefühl der Bedrücktheit und der lauernden Bedrohung, an das er sich gewöhnt hatte, das am Morgen mit ihm aufgewacht und inzwischen fast ein Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden war. Nun war es verschwunden. Doug nahm den Telefonhörer und rief Mike an. Der Polizist meldete sich sofort. »Polizeirevier Willis, Mike Trenton.« »Mike? Hier ist Doug.« »Er ist weg.« Doug war einen Augenblick lang still, schloss die Augen, spürte die Erleichterung, die ihn überflutete. Die Bestätigung. Er war weg. »Das wusste ich«, sagte Doug. »Heute Morgen, als ich zum Revier gefahren bin, habe ich gesehen, dass sein Wagen nicht auf dem Parkplatz vor dem Postamt stand, und ich bin mit Tegarden und Jeff reingegangen. Nichts. Das Gebäude war leer. Aber vielleicht wird er zurückkommen ...« »Wird er nicht«, widersprach ihm Doug. »Wir wissen nicht ...« »Wird er nicht.« »Vielleicht haben Sie recht«, sagte Mike langsam. »Heute Morgen haben wir über Polizeifunk einen Bericht vom Amt für öffentliche Sicherheit bekommen, dass es draußen im Black Canyon in Richtung Camp Verde einen Unfall mit einem einzelnen Fahrzeug gegeben hat. Einzelheiten sind nicht bekannt, aber es könnte der Postbote gewesen sein. Fahrzeug und Fahrer waren verbrannt, sodass sie nicht zu identifizieren waren, aber wir werden bald Gewissheit haben. Selbst wenn wir keine Gebissunterlagen finden, sollte eine Untersuchung des Wagens uns weiterbringen.« »Das spielt keine Rolle mehr.« »Das spielt keine Rolle? Sie scheinen sich keine allzu großen Sorgen um die Sache zu machen.« »Er ist weg. Spüren Sie es denn nicht? Ich weiß nicht, ob wir ihn vertrieben haben oder ob er erreicht hat, was er erreichen wollte, oder ob er gestorben ist oder was auch immer. Aber er ist fort. Er ist nicht mehr hier. Und er wird nicht wiederkommen.« »Ich hoffe, Sie haben recht.« »Ich habe recht.« »Warten Sie mal ...« Am anderen Ende der Leitung waren gedämpfte Stimmen zu hören, während Mike die Hand auf den Hörer legte. »Sind Sie noch dran?«, fragte er schließlich. »Ja.« »Ich habe gerade eine Notiz von Jeff gekriegt, dass ein Postinspektor angerufen hat. Er kommt gegen Ende der Woche.« Doug lächelte. »Ein bisschen spät, oder?« Der Polizist kicherte. »Ein bisschen.« Einen Augenblick lang schwiegen sie, und Doug wurde klar, dass die beiden sich zum ersten Mal seit über einem Monat nichts zu sagen hatten. »Also, ich lasse Sie dann mal in Ruhe«, sagte er. »Aber später komme ich vorbei. Dann reden wir weiter.« »Okay.« »Es ist vorbei, Mike.« »Ich glaube Ihnen.« Doug lachte. »Jetzt glauben Sie mir.« »Nun hauen Sie schon ab.« »Bis später.« Doug verharrte am Telefon. Was hatte der Postbote eigentlich gewollt, fragte er sich, und hatte er es gefunden oder getan oder vollendet? Vor zwei Monaten war der Mann in Willis erschienen und hatte die Stadt als Schlachtfeld zurückgelassen. War das sein Ziel gewesen? Oder etwas anderes, mehr als das? Vielleicht hatten sie seine Pläne durchkreuzt, bevor er vollenden konnte, was er angefangen hatte. Oder er hatte überhaupt kein Motiv gehabt. Unwillkürlich dachte Doug an das Kündigungsschreiben, das William Faulkner eingereicht hatte, nachdem er für kurze Zeit beim Postal Service gearbeitet hatte: »Ich will verflucht sein, wenn ich mich bereit erkläre, nach der Pfeife eines jeden dahergelaufenen Schurken zu tanzen, der zwei Cents für eine Briefmarke hat.« Vielleicht hatte John Smith ein Motiv gehabt, das genauso einfach war. Aber Doug wusste, dass sie das nie erfahren würden. Sie würden nie erfahren, was der Postbote gewollt hatte, ob er gescheitert war oder Erfolg gehabt hatte. Das war auch nicht mehr wichtig. Nichts davon war jetzt noch wichtig. Es war zu Ende. Es war vorbei. Am späten Vormittag holten Doug und Trish Billy vom Krankenhaus ab, und Doug schaltete den Fernseher ein, während Trish für ihren Sohn ein Bett auf der Couch machte. Zum ersten Mal seit fast zwei Wochen kam Doug das Haus nicht wie eine belagerte Festung vor, wie ein zeitweiliger Unterschlupf, in dem er schlief. Jetzt war es wieder ein Zuhause. Trish goss ein Glas Limonade ein und brachte es Billy. »Dad?«, fragte Billy von der Couch aus. Doug drehte sich um. »Ja?« »Es ist vorbei, oder?« Er nickte seinem Sohn zu. »Ja«, sagte er. »Endgültig.« »Endgültig.« Billy atmete dankbar auf und lehnte sich in sein Kissen zurück. Sie überzeugten sich davon, dass Billy es bequem hatte; dann ging Trish in die Küche, um ihm sein Lieblingsessen zu kochen: Makkaroni mit Käse und klein geschnittenen Würstchen. Das war ungefähr so nahrhaft wie Verbandmull, aber dies war ein besonderer Anlass, und er verdiente es, dass er sein Leibgericht bekam. Doug schaltete im Fernsehen Channel 5 ein, damit Billy Dick Van Dyke sehen konnte, und ein paar Minuten lang blieb er bei ihm sitzen. In einer Werbepause ging er auf die Veranda. Eine Zeitlang blieb er dort stehen; dann ging er über die Auffahrt zum Briefkasten. Es war ein schöner Spätsommertag. Es war heiß, aber nicht unangenehm; die unbarmherzige Hitze im Juni und Juli war vorbei. In den Bäumen zwitscherten die Vögel, und der Himmel war wolkenlos und blau. Ein leichter Wind wehte, der Dougs Gesicht kühlte, als er zum Briefkasten ging. Der Kasten war offen. Doug trat vor, um hineinzuspähen. Er erinnerte sich an das Geräusch des Wagens in der vergangenen Nacht und spürte, wie die vertraute Kälte in seinen Körper zurückkroch. Zögernd griff er in den Kasten und holte die Umschläge heraus. Das Papier war schwarz und fühlte sich merkwürdig an, dick und leicht schleimig, als wäre es aus irgendetwas Organischem hergestellt. Der Inhalt war schwer und besaß eine seltsame Form. Eine Woge der Abscheu überschwemmte Doug. Er verspürte das plötzliche Verlangen, die drei Umschläge auf den Boden zu werfen und zu zertrampeln. Ohne sich ihren Inhalt anzusehen, wusste er: Was immer die Umschläge enthielten, war böse, schlecht und verderbt. Er sah sich jeden Umschlag genau an. Auf der Vorderseite standen Trishs, Billys und sein eigener Name, geschrieben in altenglischer Schrift. Keine Adressen. Doug fragte sich, ob andere Leute in der Stadt auch solche Briefe bekommen hatten. Ob jeder in der Stadt solche Briefe bekommen hatte. Er starrte auf die Schreiben. In dem Umschlag, der an ihn adressiert war, wand sich etwas. Doug ließ die drei Umschläge auf den Boden fallen und sprang schaudernd zurück. Er wollte schon darauf treten, wollte töten und zerquetschen, was immer sich in dem schwarzen Papier befand; dann aber hatte er eine bessere Idee und lief so schnell er konnte über die Einfahrt zum Wagen. Er öffnete die Fahrertür, beugte sich über den Fahrersitz und klappte das Handschuhfach auf. Er kramte unter der Taschenlampe, den Reparaturrechnungen, den Putztüchern und den Landkarten vom Automobilclub herum, bis er fand, was er suchte. Ein Streichholzheftchen. Er ging die Auffahrt zurück zu der Stelle, wo die Umschläge lagen. Behutsam hob er die beiden Briefe mit Billys und Trishs Namen auf und legte sie auf seinen. Er zündete ein Streichholz an, schirmte die zaghafte Flamme mit der gewölbten Hand ab und beobachtete, wie sie größer wurde. Dann beugte er sich vor, hielt die Flamme an den Rand des obersten Umschlags. Doug sah zu, wie die seltsamen, vielfarbigen Flammen, mal blau, mal rot, sich über das dicke, schleimige Papier ausbreiteten. Irgendwie hatte er gehofft, sehen zu können, was darin war, sobald die Flammen den Umschlag verzehrt hatten, doch in letzter Sekunde schaute er weg. Irgendetwas sagte ihm, dass er es gar nicht wissen wollte. Die Umschläge verbrannten rasch, hell leuchtend, und als das Feuer seine Arbeit getan hatte, war nur noch ein kleines Häufchen schwelender Asche übrig. Doug stampfte mit dem Fuß in den Haufen, und schwarze Flocken wirbelten über die Straße. Die leichte Brise wehte den Aschenstaub über den Boden und verteilte ihn. Doug beobachtete, wie die Asche in den Graben tanzte und unter die Sträucher schwebte, bis jede Spur verschwunden war. Eine Zeitlang blieb er stehen und starrte auf die Stelle, an der die Briefe gelegen hatten. Als er zum offenen, leeren Briefkasten schaute, wurde ihm bewusst, dass dies das erste Mal seit Beginn des Sommers war, dass er sich nicht vor diesem Anblick fürchtete. Er war frei. Die Stadt war frei. Der Postbote war verschwunden. Er atmete tief durch. Das Mittagessen wartete auf ihn. Er roch die Würstchen, die Makkaroni und den Käse. Vom Haus her hörte er die willkommenen Klänge von Billys und Trishs Stimmen und das Lachen aus dem Fernsehen. Er hatte viel zu tun. Er musste einen Geräteschuppen bauen. Er fühlte sich gut, ja glücklich. Lächelnd schloss er die Klappe des Briefkastens und ging über die Auffahrt zum Haus zurück.