Michel muß mehr Männchen machen Astrid Lindgren Michel aus Lönneberga, das war ein kleiner Lausejunge, nicht halb so artig wie andere Kinder. Wenn er etwas angestellt hatte, wurde er in den Tischlerschuppen gesperrt, wo er sich jedes Mal ein lustiges Holzmännchen schnitzte. Und Michel hatte viel zu schnitzen. Insgesamt 369 Holzmännchen. Woran man ungefähr erkennen kann, wie er war, dieser Michel. Autorin Astrid Lindgren wurde 1907 im schwedischen Smaland geboren und starb 2002 im Alter von 94 Jahren in Stockholm. Zu den berühmtesten Büchern der »bekanntesten Kinderbuchautorin der Welt« (DIE ZEIT) gehören neben Pippi Langstrumpf die Geschichten über die Kinder aus Bullerbü, über Michel, Madita, Kalle Blomquist und Ronja Räubertochter. Astrid Lindgren wurde u. a. mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, dem Alternativen Nobelpreis, dem Schwedischen Staatspreis für Literatur sowie dem Hans-Christian-Andersen-Preis ausgezeichnet. Hast du schon mal was von Michel aus Lönneberga gehört, der auf dem Hof Katthult in der Gemeinde Lönneberga in Smaland lebte? Etwa nicht? In Lönneberga jedenfalls - das versichere ich dir - gab es nicht einen einzigen Menschen, der den schrecklichen kleinen Jungen der Katthulter nicht kannte, diesen Michel, der mehr Unfug machte, als das Jahr Tage hat, und der den Lönnebergern solche Schrecken einjagte, dass sie Michel nach Amerika schicken wollten. Ja, ja, tatsächlich, die Lönneberger sammelten Geld in einem Beutel und gingen damit zu Michels Mama und sagten: »Vielleicht reicht das, damit ihr Michel nach Amerika schicken könnt.« Sie glaubten, es würde in Lönneberga viel ruhiger werden, wenn Michel nicht mehr da wäre und damit hatten sie natürlich Recht. Aber Michels Mama wurde furchtbar wütend und schleuderte das Geld aus dem Fenster, sodass es über ganz Lönneberga flog. »Michel ist ein netter kleiner Junge«, sagte sie. »Wir haben ihn lieb, so wie er ist!« Und Lina, die Magd auf Katthult war, sagte: »Wir müssen ja auch ein bisschen an die Amerikaner denken. Die haben uns doch nichts Böses getan. Weshalb also sollten wir ihnen Michel auf den Hals hetzen?« Da sah Michels Mama Lina lange und streng an, so dass Lina merkte, sie hatte etwas Dummes gesagt. Sie fing an zu stottern und wollte es wieder gutmachen. »Ja, aber Frau«, sagte sie, »in der >Vimmerby-Post< steht doch von dem schrecklichen Erdbeben da drüben in Amerika ... Ich meine ... das wär doch zu viel, wenn nun auch noch der Michel ...« »Still, Lina«, sagte Michels Mama. »Geh in den Stall melken, das ist das Einzige, wovon du was verstehst.« Da nahm Lina die Milcheimer und lief in den Stall. Und sie setzte sich hin und melkte, dass es nur so spritzte. Sie arbeitete immer am besten, wenn sie ein bisschen wütend war. Deshalb melkte sie jetzt auch mit mehr Schwung als sonst und murmelte dabei dumpf vor sich hin: »Ein bisschen Gerechtigkeit muss es ja wohl geben! Alle Plagen sollen die Amerikaner doch auch nicht haben. Aber ich würde gern mit denen tauschen und ich glaub, ich glaub, ich werd denen schreiben: Hier habt ihr Michel, schickt mir dieses Erdbeben her.« Damit nahm Lina den Mund ein bisschen zu voll. Sie wäre gerade die Rechte gewesen, nach Amerika zu schreiben, sie, die nicht einmal so schreiben konnte, dass man es zu Hause in Smaland lesen konnte. Nein, wenn jemand nach Amerika schreiben sollte, dann hätte es nur Michels Mama sein müssen. Die war tüchtig im Schreiben. Sie schrieb allen Unfug, den Michel machte, in ein blaues Schreibheft, das sie in einer Kommodenschublade aufbewahrte. »Wozu soll das gut sein?«, fragte Michels Papa. »Bei all dem Unfug, den der Bengel anstellt! Du nutzt nur unseren Bleistift ab. Hast du daran gedacht?« Michels Mama kümmerte sich nicht darum. Getreulich schrieb sie allen Unfug auf. Michel sollte eines Tages, wenn er groß war, erfahren, was er gemacht hatte, als er klein war. Jawohl, denn dann würde er verstehen, warum seine Mutter graue Haare bekommen hatte, und würde sie vielleicht lieben trotz all ihrer grauen Haare, die sie seinetwegen bekommen hatte. Nun darfst du nicht glauben, dass Michel ungezogen war. O nein, seine Mama hatte ganz Recht, wenn sie sagte, er sei ein netter kleiner Junge und wie ein Engel sehe er aus mit seinen frommen blauen Augen und dem hellen wolligen Haar. Sicher war Michel artig und seine Mama war gerecht, sie schrieb auch das gewissenhaft in das blaue Schreibheft. »Gestern war Michel artig«, schrieb sie am 27. Juli in ihr Heft. »Den ganzen Tag hat er keinen Unfug gemacht. Vielleicht lag es daran, dass er hohes Fieber hatte und einfach keine Kraft hatte.« Aber bereits am 28. Juli war Michels Fieber so weit gefallen, dass seine Streiche mehrere Seiten im Schreibheft füllten. Denn er war stark wie ein kleiner Ochse, der Junge, und wenn er nur gesund war, schaffte er jede Menge Unfug. »So einen Bengel wie den hab ich noch nie gesehn«, sagte Lina. Vielleicht hast du schon gemerkt, dass Lina nicht ganz einverstanden war mit Michel. Sie mochte Ida lieber, Michels kleine Schwester, die ein braves und folgsames Kind war. Aber Alfred, der Knecht auf Kat-thult, der mochte Michel - warum, weiß keiner. Und Michel mochte Alfred. Sie hatten ihren Spaß zusammen, wenn Alfred mit seiner Arbeit fertig war. Von ihm lernte Michel alles mögliche Nützliche, wie man ein Pferd anschirrt und wie man Hechte in Schlingen fängt und wie man Tabak kaut. Ja, dieses Letzte war sicher nicht besonders nützlich und Michel versuchte es auch nur ein einziges Mal, aber er versuchte es, denn er wollte alles können, was Alfred konnte, und alles machen, was Alfred machte. Alfred hatte ihm ein Gewehr aus Holz geschnitzt -nett von ihm, nicht? Diese Holzbüchse war Michels kostbarster Schatz. Sein zweitkostbarster Schatz war eine kleine hässliche Schirmmütze, die ihm sein Papa einmal gekauft hatte, als er in der Stadt war und nicht genau wusste, was er tat. »Ich mag meine Büsse und meine Müsse«, sagte Michel immer im reinsten Smaländisch. Nicht einen einzigen Abend ging er schlafen, ohne die Büchse und die Mütze mit ins Bett zu nehmen. Erinnerst du dich noch, wer alles auf Katthult wohnte? Es waren Michels Papa, der Anton hieß, Michels Mama, die Alma hieß, Michels Schwester, die Ida hieß, der Knecht, der Alfred hieß, die Magd, die Lina hieß, und dann Michel, der Michel hieß. Und natürlich Krösa-Maja dürfen wir nicht vergessen. Sie war ein altes mageres Kätnerweiblein, die in einer Kate oben im Wald lebte. Sie kam dann und wann nach Katthult, um bei der großen Wäsche und beim Wurststopfen und so was zu helfen und um Michel und die kleine Ida mit ihren unheimlichen Geschichten zu erschrecken, Geschichten von Geistern und Gespenstern, Mördern und Einbrechern und derartigen unterhaltsamen Dingen, über die Krösa-Maja Bescheid wusste. Aber jetzt willst du wahrscheinlich etwas von Michels Unfug hören? Den machte er ja alle Tage - außer wenn er Fieber hatte. Wir können also ruhig irgendeinen Tag aus dem großen Haufen seines Unfugs herauspicken und sehen, was er da anstellte. Ja, warum übrigens nicht gerade diesen 28. Juli? Es war Samstag, der 28. Juli, als Michel Blutklößeteig über seinen Vater ausgoss und sein hundertstes Holzmännchen schnitzte In der Katthult-Küche stand eine blau angemalte, aufklappbare Küchenbank und darin schlief Lina. Zu der Zeit, als all dies geschah, war ganz Smaland voller solcher Schlafbänke mit Mägden darin, die dort auf ausgebeulten Matratzen schliefen, von Fliegen umsummt, warum sollte es auf Katthult also anders sein? Lina schlief gut in ihrer Küchenbank und vor halb fünf Uhr am Morgen, wenn der Wecker schrillte und sie aufstehen und melken musste, konnte nichts sie lebendig machen. Sobald Lina hinausgegangen war, kam Michels Papa in die Küche geschlichen, um dort in Ruhe und Frieden seinen Morgenkaffee zu trinken, bevor Michel aufwachte. Er fand es herrlich, dort ganz allein an dem großen Klapptisch zu sitzen, nirgendwo einen Michel zu sehen, nur von draußen das Gezwitscher der Vögel und das Gegacker der Hühner zu hören, den Kaffee zu schlürfen, ein wenig mit dem Stuhl zu wippen, die sauberen Dielenbretter unter den Füßen zu spüren, die Lina so geschrubbt hatte, dass sie schneeweiß waren. Nein, es waren die Dielenbretter, die sie geschrubbt hatte, das verstehst du ja wohl, und nicht die Füße von Michels Papa, wenn die es vielleicht auch ebenso nötig gehabt hätten - wer weiß. Morgens lief Michels Papa immer barfuß herum, aber nicht nur, weil er es schön fand. »Auch am Schuhwerk kann man ein bisschen sparen«, sagte er zu Michels Mama, die widerspenstig war und auf keinen Fall barfuß gehen wollte. »So wie du deine Schuhe abnutzt, müssen wir ja wirklich, aber wirklich, alle zehn Jahre neue für dich kaufen.« »Ja, genau das«, antwortete Michels Mama und dann wurde nicht mehr darüber gesprochen. Vorhin habe ich schon erzählt, dass Lina nicht ohne den schrillenden Wecker wach zu bekommen war; aber an einem Morgen wurde sie jedenfalls durch etwas anderes geweckt. Es war am 27. Juli, gerade an dem Tag, als Michel Fieber hatte. Kann man sich so was Schreckliches vorstellen - schon um vier Uhr morgens wachte Lina auf, weil ihr eine große Maus genau über das Gesicht lief. Sie fuhr mit einem Aufschrei hoch und kriegte ein Holzscheit zu fassen, aber die Maus war schon in einem Loch neben der Holzkiste verschwunden. Michels Papa war außer sich, als er von der Maus hörte. »Das ist ja eine schöne Geschichte«, sagte er. »Mäuse in der Küche! Die können uns das Brot und das Fleisch auffressen.« »Und mich«, sagte Lina. »Ja, und dann unser Fleisch und unser Brot«, sagte Michels Papa. »Wir müssen die Katze diese Nacht in der Küche lassen!« Michel hörte das von der Maus und obwohl er Fieber hatte, überlegte er sich gleich, wie er sie fangen könnte, falls es mit der Katze nicht so ganz klappen sollte. Um zehn Uhr am Abend dieses 27. Juli war Michel absolut fieberfrei und voller Tatendrang. Um diese Zeit schliefen all die anderen auf Katthult, Michels Papa, Michels Mama und Klein-Ida in der Kammer neben der Küche, Lina in ihrem Küchenbett und Alfred in seiner Knechtshütte neben dem Tischlerschuppen. Schweine und Hühner schliefen im Schweine- und im Hühnerstall, Kühe und Pferde und Schafe schliefen draußen auf den grünen Wiesen - aber in der Küche saß die Katze hellwach und hatte Sehnsucht nach der Scheune, denn dort gab es mehr Mäuse. Hellwach war auch Michel. Und aus seinem Bett in der Kammer kam er leise in die Küche geschlichen. »Armes Schnurrchen«, sagte er, als er die Katzenaugen hinten an der Küchentür leuchten sah, »hier sitzt du nun.« »Miau«, antwortete Schnurrchen. Und tierfreundlich wie er war, der kleine Michel, ließ er Schnurrchen hinaus. Die Maus musste natürlich gefangen werden, das war Michel klar und weil die Katze jetzt nicht mehr da war, musste es auf irgendeine andere Weise geschehen. Deshalb nahm Michel eine Mausefalle und stellte sie mit einem kleinen Stück Speck neben der Holzkiste auf. Dann aber dachte er nach. Wenn die Maus die Falle sah, sobald sie ihre Nase aus dem Loch steckte, würde sie misstrauisch werden und sich überhaupt nicht mehr fangen lassen. Es wäre besser, dachte Michel, wenn die Maus erst einmal in aller Ruhe in der Küche herumstrolchen könnte und dann ganz plötzlich die Falle dort finden würde, wo sie sie am wenigsten vermutete. Michel dachte auch kurz daran, die Falle auf Linas Gesicht zu stellen, weil die Maus gerade dort gern herumlief. Aber er fürchtete, Lina könnte aufwachen und alles verpatzen. Nein, es musste woanders sein. Warum eigentlich nicht unter dem großen Klapptisch? Gerade dorthin müsste doch eine Maus laufen, um nach heruntergefallenen Brotkrumen zu suchen. Natürlich nicht gerade unter dem Platz von Michels Papa, da war es nur mager mit Brotkrümeln bestellt. »Wie schrecklich«, sagte Michel und blieb mitten in der Küche stehen. »Wenn die Maus nun mal ausgerechnet dorthin kommt und findet keine Brotkrümel und knabbert stattdessen an Papas großem Zeh!« Das durfte nicht geschehen, dafür würde Michel sorgen. Und deshalb stellte er die Mausefalle dorthin, wo sein Papa immer die Füße hinsetzte. Dann kroch er, sehr zufrieden mit sich, wieder ins Bett. Erst am hellen Morgen wachte er auf und es war lautes Geschrei aus der Küche, das ihn geweckt hatte. Die freuen sich, dass die Maus gefangen ist, deshalb schreien sie so, dachte Michel, aber in dem Augenblick kam seine Mama hereingestürzt. Sie zerrte ihn aus dem Bett und zischte ihm ins Ohr: »Schnell raus mit dir in den Tischlerschuppen, bevor Papa seinen großen Zeh aus der Mausefalle rausbekommt! Schnell - sonst, glaub ich, hat deine letzte Stunde geschlagen.« Sie ergriff Michels Hand und rannte los mit ihm, so wie er war, im Hemd, denn zum Anziehen war keine Zeit. »Aber meine Büsse und meine Müsse müssen jedenfalls mit!«, schrie Michel. Er packte die Mütze und die Büchse und rannte, dass sein Hemd nur so flatterte, geradewegs zum Tischlerschuppen. Dort musste er immer sitzen, wenn er Unfug gemacht hatte. Michels Mama schob außen den Riegel vor die Tür, damit Michel nicht herauskommen konnte, und Michel schob innen den Riegel vor, damit sein Papa nicht hereinkommen konnte - klug und vorsorglich waren sie beide. Michels Mama fand, es wäre das Beste, wenn Mi chel seinem Papa ein paar Stunden lang nicht begegnen würde. Das fand Michel auch, deshalb schob er ja den Riegel sorgfältig zu, bevor er sich in aller Ruhe auf den Hauklotz setzte und ein lustiges Holzmännchen schnitzte. Das machte er immer, wenn er nach einem Streich im Tischlerschuppen eingesperrt wurde, und er hatte schon siebenundneunzig Männchen zusammengekriegt. Sie standen sauber aufgereiht auf einem Regal und Michel freute sich, als er sie sah und wenn er daran dachte, dass er bald hundert haben würde. Das sollte ein richtiges Jubiläum werden! »An dem Tag werde ich ein Fest im Tischlerschuppen geben, aber ich will nur Alfred einladen«, nahm er sich vor, als er da auf dem Hauklotz saß mit dem Schnitzmesser in der Faust. Von weitem hörte er das Gebrüll seines Vaters, es wurde aber langsam leiser. Stattdessen kamen plötzlich andere, viel gellendere Schreie und Michel fragte sich, was wohl mit seiner Mama los sei. Aber dann fiel ihm ein, dass heute die große Sau geschlachtet werden sollte. Sie war es, die so quiekte. Arme Sau, für sie ist der 28. Juli auch kein erfreulicher Tag! Nun ja, es gab mehrere, die es an diesem Tag nicht so gut hatten. Um die Mittagszeit wurde Michel rausgelassen. Als er in die Küche kam, lief ihm Ida freudestrahlend entgegen. »Heute gibt es Blutklöße zu Mittag«, sagte sie. Du weißt vielleicht nicht, was Blutklöße sind? Das sind große schwarze Klöße mit fettem Schweinefleisch innen drin. Und wenn nun Schweineschlachten in Kat-thult war, dann war es klar, dass Michels Mama Blutklöße kochen würde. Sie hatte den Teig dafür in einer großen Steingutschüssel angerührt und auf dem Herd kochte schon das Wasser in einem gewaltigen eisernen Topf. Bald würde es Blutklöße geben, dass es eine Freude war. »Ich werde achtzehn Stück essen«, prahlte Ida. Dabei war sie dünn wie ein Holzspan und kriegte, wenn es hoch kam, einen halben Blutkloß runter. »Das erlaubt dir Papa gar nicht«, sagte Michel. »Wo ist er übrigens?« »Er liegt draußen und ruht sich aus«, sagte Ida. Michel guckte aus dem Küchenfenster. Und richtig, unten im Gras lag sein Papa, den großen Strohhut über dem Gesicht, und machte seine Mittagspause wie gewöhnlich. Normalerweise machte er sie natürlich nicht vor dem Mittagessen, sondern danach, aber heute war er wohl besonders müde - vielleicht wird man das, wenn man den Tag in einer Mausefalle beginnt. Michel sah, dass sein Papa nur auf dem rechten Fuß einen Schuh trug. Zuerst hoffte Michel, es sei reine Sparsamkeit und sein Papa wollte nur einen Schuh zurzeit abnutzen. Aber dann sah Michel den blutigen Lappen, den sein Papa um den linken großen Zeh hatte, und da begriff er: Seinem Papa tat der Zeh so weh, dass er keinen Schuh anziehen konnte. Michel schämte sich und bereute seinen dummen Unfug mit der Mausefalle. Nun wollte er seinen Papa wieder froh machen und weil er wusste, dass sein Papa Blutklöße über alles liebte, nahm er die Steingutschüssel und hielt sie aus dem Fenster. »Guck mal«, schrie er jubelnd, »heute Mittag gibt’s Blutklöße!« Sein Papa nahm den Strohhut vom Gesicht und sah mit düsterem Blick zu Michel hoch. Noch hatte er die Mausefalle nicht vergessen, das merkte man. Um alles wieder gutzumachen, strengte Michel sich noch mehr an. »Guck mal, Papa, so viel Teig!«, jauchzte er und hielt die Schüssel noch weiter hinaus. Aber - kann man sich so was Schreckliches vorstellen? - er konnte sie nicht mehr halten und die Steingutschüssel mit ihrem blutigen Inhalt fiel genau auf Michels Papa hinunter, wie er da lag, die Nase in der Luft. »Blupp«, sagte Michels Papa, denn mehr kann man nicht sagen, wenn man in Blutklößeteig eingemauert ist. Aber er erhob sich mühsam aus dem Gras und schließlich brachte er ein Gebrüll hervor, zuerst gedämpft vom Blutklößeteig, aber dann so, dass es über ganz Lönneberga zu hören war. Die Steingutschüssel saß wie ein Wikingerhelm auf seinem Kopf und der Teig rann an ihm herunter. Gerade da kam Krösa-Maja aus dem Waschhaus, wo sie Schweinedärme gespült hatte, und als sie Michels Papa erblickte, der aussah wie in Blut gebadet, quiekte sie schlimmer als die Sau und rannte mit der furchtbaren Neuigkeit davon. »Jetzt ist es aus mit dem Katthult-Vater«, schrie sie. »Michel, dieses Unglück, hat ihn geschlagen, dass das Blut strömt. Ach-ach-ach - wie fürchterlich!« Als Michels Mama sah, was geschehen war, nahm sie Michel wieder bei der Hand und rannte im Eiltempo zum Tischlerschuppen mit ihm. Und während Michel, immer noch im Hemd, dort saß und sein neunundneunzigstes Holzmännchen schnitzte, hatte seine Mama alle Hände voll zu tun, seinen Papa wieder sauber zu machen. »Du könntest es wohl so abkratzen, dass es wenigstens noch drei oder vier Klöße werden«, sagte Michels Papa. Aber Michels Mama schüttelte den Kopf. »Was vergeudet ist, das ist vergeudet. Jetzt gibt es eben Kartoffelpuffer.« »Hihi, heute kriegen wir vor dem Abendbrot kein Mittagessen«, sagte Klein-Ida. Aber dann schwieg sie, denn sie sah die Augen von ihrem Papa in dem Blutklößeteig, und die blickten finster. Michels Mama ließ Lina Kartoffeln für die Puffer reiben. Du weißt vielleicht nicht, was Kartoffelpuffer sind? Das ist eine Art Pfannkuchen aus geriebenen Kartoffeln und sie schmecken viel besser, als es klingt, das kann ich dir versichern. Lina hatte bald einen dicken, prächtigen, braungelben Teig in der Steingutschüssel, die sich Michels Papa vom Kopf genommen hatte. Er wollte ja nicht den ganzen Tag wie ein Wikinger herumlaufen. Sobald er einigermaßen gesäubert worden war, ging er hinaus aufs Feld, um mit der Roggenernte zu beginnen, während er darauf wartete, dass die Kartoffelpuffer fertig wurden. Und da ließ Michels Mama Michel aus dem Tischlerschuppen. Michel hatte lange still gesessen. Nun spürte er, dass er sich bewegen musste. »Wir spielen Kickse-kickse-hu«, sagte er zur kleinen Ida und Ida lief sofort los. Kickse-kickse-hu war nämlich ein Laufspiel, das Michel sich ausgedacht hatte. So spielte man es: Man lief, als ginge es ums nackte Leben, aus der Küche in den Flur und vom Flur in die Kammer, von der Kammer in die Küche und wieder von der Küche in den Flur, rundherum, rundherum, dass es nur so pfiff. Aber Michel und Ida liefen jeder in eine andere Richtung und immer, wenn sie sich begeg-neten, stachen sie einander den Zeigefinger in den Bauch und schrien: »Kickse-kickse-hu!« Daher hatte das Spiel seinen Namen. Es war ein durch und durch lustiges Spiel, fanden beide, Michel und Ida. Aber als Michel auf seiner achtundachtzigsten Runde in die Küche gerannt kam, traf er Lina. Sie hatte die Steingutschüssel in den Händen und war auf dem Weg zum Herd, um endlich die Kartoffelpuffer zu backen. Weil Michel ihr auch etwas Spaß gönnte, bohrte er ihr den Zeigefinger in den Bauch und rief: »Kickse-kick se-hu!« Das hätte er nicht tun sollen. Er wusste doch, wie kitzlig Lina war. »Jiiiih!«, machte Lina und krümmte sich wie ein Wurm. Und - kann man sich so etwas Schreckliches vorstellen? - die Schüssel flog ihr aus den Händen. Niemand weiß richtig, wie es geschah. Aber so viel steht jedenfalls fest, dass Michels Papa, der gerade, wild vor Hunger, zur Tür hereinkam, den ganzen Kartoffelpufferteig mitten ins Gesicht kriegte. »Blupp«, sagte Michels Papa wieder, denn mehr kann man nicht sagen, wenn man das Gesicht voll Kartoffelpufferteig hat. Michel und Ida machten später daraus so etwas wie eine Redensart. »Blupp, sagte Papa im Kartoffelpufferteig«, pflegten sie mit einem Kichern zu sagen - oder auch: »Blupp, sagte Vater im Blutklößeteig« - eins von beiden passte immer. Jetzt aber hatte Michel keine Zeit zum Kichern, denn seine Mama nahm ihn wieder bei der Hand und rannte im Eiltempo zum Tischlerschuppen mit ihm. Hinter sich hörte Michel das Gebrüll von seinem Papa, zuerst noch vom Kartoffelpufferteig gedämpft, aber dann so, dass es über ganz Lönneberga zu hören war. Als Michel auf dem Hauklotz saß und an seinem hundertsten Holzmännchen schnitzte, war er überhaupt nicht in Jubiläumsstimmung. Im Gegenteil, er war so wütend wie eine wild gewordene Ameise. Es war zu viel, dreimal am selben Tag im Tischlerschuppen sitzen zu müssen, fand er - und ungerecht war es außerdem. »Kann ich was dafür, dass Vater überall im Weg ist«, fauchte er. »Man kann auf diesem Hof ja nicht mal so viel wie eine Mausefalle aufstellen - schon kommt er und steckt seinen Zeh hinein. Und warum muss er seinen Kopf immer da haben, wo der Teig für Blutklöße und für Kartoffelpuffer am schlimmsten herumwirbelt!« Nun möchte ich aber auf keinen Fall, dass du denkst, dass Michel seinen Papa nicht mochte und dass Michels Papa Michel nicht mochte. Normalerweise mochten sie sich, aber auch Leute, die das tun, können schon manchmal in Streit geraten, wenn es mit Mausefallen oder Blutklößeteig und Kartoffelpufferteig schief geht. Dieser Samstag, der 28. Juli, ging seinem Ende zu. Michel saß im Tischlerschuppen und wurde immer wütender. So hatte er sich sein Hundert-Männer-Jubiläum nicht vorgestellt. Erstens war es ein Samstagabend und wie sollte er da Alfred zu seinem Fest im Tischlerschuppen einladen? Samstagabends hatte Alfred was anderes zu tun. Da saß er auf der Treppe der Knechtshütte und tat schön mit Lina und spielte ihr was auf seiner Ziehharmonika vor. Nein, Alfred hatte wahrhaftig keine Zeit für Festlichkeiten. Michel schleuderte das Schnitzmesser weg. Nicht einmal Alfred hatte er, ganz allein war er und er wurde immer wütender, als er daran dachte, wie sich die Leute ihm gegenüber benahmen. War das etwa eine Art, ihn hier den ganzen langen Samstag im Hemd herumsitzen zu lassen - nicht einmal Zeit Kleider anzuziehen hatte man bei diesem ewigen Gerenne zum Tischlerschuppen. Aber im Tischlerschuppen wollten sie ihn ja wohl haben, diese Menschen von Katthult, und dann sollten sie es auch so haben! Michel schlug mit der Faust auf die Hobelbank, dass es krachte. Gut, dann sollten sie es auch so haben! Und in diesem Augenblick fasste Michel einen schrecklichen Entschluss: Den Rest seines Lebens würde er in diesem Tischlerschuppen zubringen. Nur im dünnen Hemd, mit der Müsse auf dem Kopf, einsam, verlassen von allen, würde er, solange er auf dieser Erde lebte, hier bleiben. Dann werden sie wohl endlich zufrieden sein und dieses überflüssige Getrabe hin und her ist dann auch nicht mehr nötig, dachte er. Aber versucht nicht in meinen Tischlerschuppen hineinzukommen - daraus wird nichts! Wenn Papa Bretter hobeln will, soll er das lieber bleiben lassen, und das ist übrigens auch besser, denn sonst hobelt er sich ja doch nur die Daumen ab. Ich kenne keinen Menschen, dem so viel passiert wie ihm. Aber als der Juliabend dämmerte, kam Michels Mama zum Tischlerschuppen und schob den Riegel zurück - den auf der Außenseite natürlich. Sie zog an der Tür und merkte, dass sie auch von innen verriegelt war. Da lächelte sie milde und sagte: »Du brauchst keine Angst mehr zu haben, kleiner Michel. Papa hat sich hingelegt. Du kannst jetzt herauskommen.« Aber da kam aus dem Tischlerschuppen ein schreckliches »Ha!«. »Warum sagst du >Ha