Kalle Blomquist Астрид Линдгрен Liebe junge Detektive! Aufgepaßt: Dieses Buch enthält die gesammelten Erfahrungen des großen Meisterdetektivs Kalle Blomquist. Vollzählig. Das ist von unschätzbarem Wert für Euch. Denn ob Ihr nun auf der Suche nach einem verborgenen Schatz seid oder einen exakten Plan ausarbeiten müßt, wie man einen langgesuchten Juwelendieb endlich zur Strecke bringen kann, oder blitzschnell entscheiden müßt, wenn der eigene Blutsbruder plötzlich gekidnappt wird, egal also in welch verzwickte Situation Ihr kommt, Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv, wird Euch den richtigen Tip geben. Und wer weiß, vielleicht spricht man dann eines Tages von Euch als dem großen Meisterdetektiv … VERLAG FRIEDRICH OETINGER HAMBURG Deutsch von Cäcilie Heinig und Karl Kurt Peters Bilder von Volker Heydorn BAND EINS. Meisterdetektiv Blomquist ERSTES KAPITEL »Blut! Daran ist nicht zu zweifeln!« Er starrte durch das Vergrößerungsglas auf den roten Fleck. Dann schob er die Pfeife in den anderen Mundwinkel und seufzte. Natürlich war es Blut. Was war denn auch sonst schon zu sehen, wenn man sich in den Daumen geschnitten hatte? Dieser Fleck da sollte der endgültige Beweis dafür sein, daß Sir Henry seine Frau durch den abscheulichsten Mord beiseite gebracht hatte, den jemals ein Detektiv aufklären mußte. Aber leider – es war anders! Das Messer war ausgerutscht, als er seinen Bleistift anspitzen wollte – das war die traurige Wahrheit. Und das war wahrhaftig nicht Sir Henrys Schuld. Vor allen Dingen deswegen, weil Sir Henry, das Rindvieh, nicht einmal existierte. Traurig war das! Warum hatten so viele Menschen das Glück, in den Slumbezirken Londons oder in den Verbre-chervierteln von Chikago geboren zu werden, wo Mord und Schießerei an der Tagesordnung waren? Während er selbst … Er hob widerstrebend seinen Blick von dem Blutfleck und schaute aus dem Fenster. Die Hauptstraße lag träumend und im tiefsten Frieden in der Sommersonne. Die Kastanien blühten. Es war kein lebendes Wesen zu sehen außer der grauen Katze des Bäckers, die auf der Kante des Bürgersteiges saß und sich die Pfoten leckte. Nicht das allergeübteste Detektivauge konnte etwas entdecken, was darauf hindeutete, daß ein Verbrechen begangen worden war. Es war wirklich ein hoffnungsloses Beginnen, in dieser Stadt Detektiv zu sein! Wenn er groß war, würde er, sobald sich eine Möglichkeit bot, in die Londoner Slumbezirke ziehen. Oder vielleicht besser nach Chikago? Der Alte wollte, daß er im Geschäft anfangen sollte. Im Geschäft! Er! Ja, das könnte denen so gefallen, allen Mördern und Banditen in London und Chikago! Da konnten sie nach Her-zenslust morden, ohne daß jemand hinter ihnen her war, während er im Geschäft stand und Tüten drehte und grüne Seife oder Hefe abwog. Nein, wahrhaftig, er hatte nicht die Absicht, Rosineneinpacker zu werden! Detektiv oder gar nichts! Der Alte konnte wählen! Sherlock Holmes, Asbjörn Krag, Hercule Poirot, Lord Peter Wimsey, Karl Blomquist! Er schnalzte mit der Zunge. Und er, Kalle Blomquist, hatte die Absicht, der Beste von allen zu werden. »Blut! Daran ist nicht zu zweifeln«, sagte er zufrieden. Draußen auf der Treppe hörte man Gepolter, und eine Sekunde später wurde die Tür aufgerissen, und Anders kam erhitzt und keuchend herein. Kalle betrachtete Ihn kritisch und machte seine Beobachtungen. »Du bist gerannt«, sagte er schließlich in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Klar bin ich gerannt«, sagte Anders gereizt. »Hast du gedacht, ich komme auf der Tragbahre?« Kalle versteckte seine Pfeife. Nicht deswegen, weil es ihm etwas ausmachte, daß Anders ihn beim heimlichen Rauchen überraschte. Es war nur so, daß er keinen Tabak in der Pfeife hatte. Aber ein Detektiv braucht seine Pfeife, wenn er sich mit Problemen herumschlägt. Wenn der Tabak auch gerade mal alle war. »Wollen wir ein Stück bummeln?« fragte Anders und warf sich auf Kalles Bett. Kalle nickte zustimmend. Natürlich wollte er mit. Er mußte ja unter allen Umständen noch einmal vor dem Abend durch die Straßen patrouillieren, falls etwas Verdächtiges aufgetaucht sein sollte. Natürlich gab es Polizisten, aber so viel hatte man ja gelesen, daß man wußte, was man von ihnen zu halten hatte. Sie erkannten keinen Mörder wieder, selbst wenn sie über ihn stolperten. Kalle legte das Vergrößerungsglas in seine Schreibtischschublade. Dann stürmten sie beide die Treppe hinunter, so daß das Haus in seinen Grundfesten erzitterte. »Kalle, vergiß nicht, daß du heute abend das Erdbeerbeet gießen sollst!« Das war die Mutter, die ihren Kopf durch das Küchenfenster steckte. Kalle winkte beruhigend mit der Hand. Klar, er würde die Erdbeeren gießen. Später. Später, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß keine dunklen Gestalten, die Böses im Sinn hatten, im Weichbild der Stadt umherschlichen. Nicht daß – leider – viel Aussicht dafür gewesen wäre, aber man muß immer auf dem Posten sein. Das hatte man im »Fall Buxton« erlebt, wie es kommen kann. Da ging man friedlich in der Gegend umher, und – wups – kommt ein Schuß in der Nacht, und ehe man mit den Augen zwinkerte, waren vier Morde geschehen. Damit rechneten die Halunken, daß niemand in so einer kleinen Stadt an einem so schönen Sommertag einen Verdacht schöpfen würde. Aber da kannten sie Kalle Blomquist nicht! Im Erdgeschoß lag das Geschäft. »Viktor Blomquists Lebensmittelgeschäft« stand auf dem Schild. »Bitte deinen Alten um Bonbons«, schlug Anders vor. Kalle hatte selbst schon die gleiche gute Idee gehabt. Er steckte den Kopf durch die Tür. Hinter dem Ladentisch stand »Viktor Blomquists Lebensmittelgeschäft« in höchsteigener Person – das war der Vater. »Vater, ich nehm’ ein paar von den gestreiften!« »Viktor Blomquists Lebensmittelgeschäft« warf einen liebe-vollen Blick auf seinen blondhaarigen Sprößling und grunzte gutmütig. Kalle steckte die Hand in die Bonbonbüchse. Das Grunzen bedeutete, daß man nehmen durfte. Dann zog er sich schnell zu Anders zurück, der auf dem Schaukelbrett unter dem Birnbaum saß und wartete. Aber Anders hatte im Augenblick kein Interesse für die »Gestreiften«. Er starrte mit einem einfältigen Ausdruck in den Augen auf etwas in Bäckermeisters Garten. Das Etwas war Bäckermeisters Eva-Lotte. Sie saß auf ihrer Schaukel in einem rotkarier-ten Baumwollkleid. Sie schaukelte und aß eine Schnecke. Sie sang auch, denn sie war eine Dame, die viele Künste beherrschte. »Es war einmal ein Mädchen, und die hieß Josefin, Josefin-fin-fin, Jose-jose-josefin.« Sie hatte eine klare und hübsche Stimme, die man sehr gut bis zu Anders und Kalle hin hörenkonnte. Kalle starrte sehnsüchtig auf Eva-Lotte, während er abwesend Anders einen Bonbon anbot. Anders nahm einen, ebenso abwesend, und starrte ebenso sehnsüchtig Eva-Lotte an. Kalle seufzte. Er liebte Eva-Lotte wild. Das tat Anders auch. Kalle hatte es sich in den Kopf gesetzt, Eva-Lotte als seine Braut heimzuführen, sobald es ihm gelungen war, genug Geld zu beschaffen, um einen Hausstand zu gründen. Das hatte Anders auch. Aber Kalle zweifelte nicht daran, daß sie ihn, Kalle, vorziehen würde! Ein Detektiv mit vielleicht so ungefähr vierzehn aufgeklärten Morden – das würde wohl etwas lauter knallen als ein Lokomotivführer! Lokomotivführer! Das war das, was Anders werden wollte. Eva-Lotte schaukelte und sang und sah aus, als ob sie überhaupt nicht wüßte, daß sie beobachtet wurde. »Eva-Lotte!« rief Kalle. »Das einz’ge, was sie hatte, das war ’ne Nähmaschin, Nähmaschin-schin-schin, Nähma-Nähma-Nähmaschin«, fuhr Eva-Lotte unbekümmert fort. »Eva-Lotte!« schrien Kalle und Anders gleichzeitig. »Ach, seid ihr es?« sagte Eva-Lotte sehr erstaunt. Sie stieg von der Schaukel und ging gnädig zum Zaun, der ihren Garten von Kalles trennte. Es fehlte ein Brett – es hatte schon immer gefehlt. Eine ausgezeichnete Einrichtung, die es möglich machte, sich unbehindert durch die Öffnung hindurch zu unterhalten und auch in Bäckermeisters Garten hineinzuschlüpfen, ohne sich mit Umwegen bemühen zu müssen. Es war Anders’ heimlicher Kummer, daß Kalle so nahe bei Eva-Lotte wohnte. Das war auf irgendeine Weise ungerecht. Er selbst wohnte weit weg in einer Straße, wo er und seine Eltern und kleinen Geschwister zusammengedrängt in einem Zimmer mit Küche über Vaters Schuhmacherwerkstatt wohnten. »Eva-Lotte, willst du ein bißchen mit uns in die Stadt gehen?« fragte Kalle. Eva-Lotte schluckte mit Genuß den letzten Bissen ihrer Schnecke hinunter. »Kann ich machen«, sagte sie. Sie fegte eine Krume von ihrem Kleid weg. Und dann gingen sie los. Es war Samstag. Friedrich mit dem Fuß war bereits betrunken und stand wie gewöhnlich vor der Gerberei mit einem Kreis von Zuhörern um sich herum. Kalle und Anders und Eva-Lotte stellten sich dazu, um Friedrich von den Heldentaten berichten zu hören, die er ausgeführt hatte, als er als Bahnarbeiter in Nordschweden gewesen war. Während Kalle zuhörte, irrten seine Augen umher. Er hatte nicht einen Augenblick lang seine Pflicht vergessen. Nichts Verdächtiges? Nein, mußte er zugeben, nichts Verdächtiges! Doch wie oft hatte man gelesen, daß vieles, was unschuldig aussah, genau das Gegenteil davon war. Auf alle Fälle muß man auf der Hut sein! Da kam z. B. ein Mann mit einem Sack auf dem Rük-ken die Straße herauf gestiefelt. »Nimm mal an«, sagte Kalle und puffte Anders in die Seite, »nimm mal an, daß er den ganzen Sack voll mit gestohlenem Silber hat!« »Nimm mal an, daß er es nicht hat«, sagte Anders ungeduldig, denn er wollte Friedrich mit dem Fuß zuhören. »Nimm mal an, daß du eines schönen Tages überschnappst mit all deinen Detektivideen.« Eva-Lotte lachte. Und Kalle schwieg. Er war daran gewöhnt, nicht verstanden zu werden. Schließlich kam die Polizei, auf die man schon gewartet hatte, um Friedrich mit dem Fuß zu holen. Es war üblich geworden, daß er die Samstagnächte im Polizeigefängnis zubrachte. »Was is das für ’ne Zeit, jetzt schon zu kommen!« sagte Friedrich vorwurfsvoll, als Schutzmann Björk ihn freundlich unter den Arm nahm. »Haltet ihr keine Ordnung hier in der Stadt mit euren Strolchen?« Schutzmann Björk lachte und zeigte seine schönen weißen Zähne. »Na, komm, jetzt wollen wir gehen«, sagte er. Die Zuhörerschar verlief sich. Kalle und Anders und Eva-Lotte gingen mit zögernden Schritten davon. Sie hätten gern etwas mehr von Friedrichs Geschichten gehört. »Wie schön die Kastanien sind«, sagte Eva-Lotte und betrachtete die lange Reihe der Kastanienbäume, die die Hauptstraße umsäumten. »Ja, sie sind fein, wenn sie blühen«, sagte Anders. »Sie sehen aus wie Kerzen.« Alles war ruhig und still. Man konnte beinahe fühlen, daß es Sonntag werden wollte. Hier und da in den Gärten sah man Leute sitzen und ihr Abendbrot essen. Sie hatten schon ihren Arbeitsstaub abgewaschen und sich sonntäglich gekleidet. Sie plauderten und lachten und sahen aus, als ob sie sich in ihren kleinen Gärtchen, wo die Obstbäume gerade in voller Blüte standen, sehr behaglich fühlten. Anders und Kalle und Eva-Lotte warfen lange Blicke über jeden Gartenzaun, an dem sie vorbeigingen. Es konnte ja sein, daß irgendeine freundliche Seele sie zu einem Butterbrot oder zu etwas anderem Guten einladen wollte. Aber es sah nicht so aus. »Wir müssen mal überlegen, was wir machen können«, sagte Eva-Lotte. Gerade da hörte man irgendwo in der Ferne das grelle Pfeifen einer Lokomotive. »Jetzt kommt der Sechsuhrzug«, sagte Anders. »Ich weiß, was wir machen«, sagte Kalle. »Wir kriechen hinter die Fliederhecke in Eva-Lottes Garten und legen ein Paket mit einer Schnur dran auf die Straße raus. Wenn jemand kommt und das Paket sieht und es nehmen will, dann ziehen wir an der Schnur. Dann wollen wir sehen, was sie für Gesichter machen.« »Ja, das scheint eine ganz passende Beschäftigung für einen Samstagabend zu sein«, sagte Anders. Eva-Lotte sagte nichts. Aber sie nickte zustimmend. Ein Paket war schnell zurechtgemacht. Alles, was man brauchte, gab es ja in Viktor Blomquists Lebensmittelgeschäft. »Es sieht aus, als ob etwas Feines darin wäre«, sagte Eva-Lotte zufrieden. »Ja, nun wollen wir sehen, wer nach dem Bissen schnappt«, sagte Anders. Das Paket lag auf dem Pflaster und sah sehr inhaltsreich und verlockend aus. Daß eine Schnur daran festgebunden war und daß die Schnur hinter der Fliederhecke des Bäckermeisters verschwand, war auf den ersten Blick nicht leicht zu entdecken. Ein aufmerksamer Fußgänger hätte natürlich allerlei Kichern und Tuscheln hinter der Hecke hören können. Frau Petronella Apfelzweig, die Inhaberin des größten Fleischerladens der Stadt, die gerade die Straße heraufkam, war indessen nicht so aufmerksam, daß sie etwas Verdächtiges gesehen oder gehört hätte. Aber das Paket sah sie. Sie beugte sich mit großer Mühe nach vorn und streckte die Hand danach aus. »Zieh!« flüsterte Anders Kalle zu, der die Schnur hielt. Und Kalle zog. Mit rasender Fahrt verschwand das Paket hinter der Fliederhecke. Und jetzt konnte Frau Apfelzweig nicht umhin, ein unterdrücktes Gekicher zu hören Sie brach in einen Schwall von Worten aus. Die Kinder konnten nicht alles verstehen, was sie sagte, aber sie hörten, daß sie mehrere Male das Wort »Erziehungsanstalt« nannte als einen passenden Aufenthalt für mißratene Kinder. Hinter der Hecke war es nun ganz still. Nachdem sie noch eine letzte Salve abgefeuert hatte, ging Frau Apfelzweig brummend davon. »Das war fein«, sagte Eva-Lotte. »Ich bin gespannt, wer jetzt kommt. Hoffentlich jemand, der sich ebenso ärgert.« Aber es schien so, als ob die Stadt plötzlich ausgestorben wäre. Es kam niemand, und die drei hinter der Hecke waren nahe daran, das ganze Unternehmen aufzugeben. »Nein, wartet, da kommt wieder jemand«, flüsterte Anders schnell. Und es kam jemand. Er bog gerade um die Straßenecke und ging mit raschen Schritten direkt auf Bäckermeisters Garten zaun zu, eine lange Gestalt in grauem Anzug, ohne Hut und mit einem großen Reisekoffer in der einen Hand. »Aufgepaßt!« flüsterte Anders, als der Mann vor dem Paket anhielt. Und Kalle paßte auf. Aber es half nichts. Man hörte den Mann einen leisen Pfiff ausstoßen, und im nächsten Augenblick hatte er den Fuß auf das Paket gesetzt. ZWEITES KAPITEL »Und wie heißt du, meine schöne junge Dame?« fragte der Mann eine Weile später Eva-Lotte, die mit ihren beiden Beglei-tern hinter der Hecke hervorgekrochen war. »Eva-Lotte Lisander«, sagte Eva-Lotte furchtlos. »Das habe ich mir doch gedacht«, sagte der Mann. »Wir sind alte Bekannte, will ich dir sagen. Ich habe dich gesehen, als du so klein warst, daß du noch in der Wiege gelegen und den ganzen Tag geschrien hast.« Eva-Lotte warf den Kopf zurück. Sie konnte nicht glauben, daß sie jemals so klein gewesen war. »Wie alt bist du jetzt?« fragte der Mann. »Dreizehn Jahre«, sagte Eva-Lotte. »Dreizehn Jahre! Und zwei Kavaliere hast du schon! Einen hellen und einen dunklen. Du scheinst die Abwechslung zu lieben«, sagte der Mann mit einem kleinen gewollt neckischen Lachen. Eva-Lotte warf noch einmal den Kopf zurück. Sie hatte es nicht nötig, hier zu stehen und sich Bosheiten von jemand anzuhören, den sie nicht kannte. »Wer sind Sie denn?« fragte sie. »Wer ich bin? Ich bin Onkel Einar, ein Vetter deiner Mutter, meine schöne junge Dame!« Er zog Eva-Lotte an einer ihrer blonden Locken. »Und wie heißen deine Kavaliere?« Eva-Lotte stellte Anders und Kalle vor, und ein dunkler und ein blonder Schopf Schossen mit einer tadellosen Verbeugung nach vorn. »Nette Jungen«, sagte Onkel Einar billigend. »Aber heirate sie nicht! Heirate lieber mich«, fuhr er fort und stieß ein wieherndes Gelächter aus. »Ich werde ein Schloß für dich bauen, wo du den ganzen Tag umherlaufen und spielen kannst.« »Sie sind ja viel zu alt für mich«, sagte Eva-Lotte recht naseweis. Anders und Kalle fühlten sich etwas beiseite geschoben. Was war das nur für ein langes, klappriges Stück Unglück, das plötzlich hier auftauchte? Personalbeschreibung – wollen mal sehen, sagte Kalle für sich. Aus Prinzip merkte er sich das Aussehen aller unbekannten Personen, die ihm in den Weg kamen. Wer weiß, wie viele von ihnen wirklich anständige Menschen waren! Personalbeschreibung: braunes, hochgestrichenes Haar, braune Augen, zusammenge-wachsene Augenbrauen, gerade Nase, leicht vorstehende Zähne, kräftiges Kinn, grauer Anzug, braune Schuhe, kein Hut, brauner Reisekoffer, nennt sich Onkel Einar. Das war wohl alles. Nein –er hatte ja eine kleine rote Narbe auf der rechten Wange. Kalle merkte sich alle Einzelheiten. »Ist deine Mutter zu Hause, Jungfer Naseweis?« fragte Onkel Einar. »Ja, da kommt sie.« Eva-Lotte zeigte auf eine Dame, die gerade durch den Garten kam. Sie hatte die gleichen lustigen blauen Augen und das gleiche blonde Haar wie Eva-Lotte. »Habe ich das Vergnügen, wiedererkannt zu werden?« Onkel Einar verbeugte sich. »Was in aller Welt – bist du es, Einar? Es ist, weiß Gott, eine Weile her, seit man dich gesehen hat. Wo kommst du her?« Frau Lisanders Augen waren ganz groß vor Überraschung. »Vom Mond«, sagte Onkel Einar. »Um euch in eurem ruhigen Winkel etwas aufzuheitern.« »Er kommt gar nicht vom Mond«, sagte Eva-Lotte ärgerlich. »Er ist mit dem Sechsuhrzug gekommen.« »Der gleiche alte Spaßmacher«, sagte Frau Lisander. »Aber warum hast du nicht geschrieben, daß du kommen willst?« »Nein, kleine Kusine, schreibe niemals etwas, was du persönlich ausrichten kannst, das ist mein Wahlspruch. Du weißt, ich bin einer von denen, die tun, was ihnen gerade einfällt. Gerade jetzt fand ich, daß es schön wäre, eine Zeitlang Ferien zu machen, und da fiel mir plötzlich ein, daß ich eine ungewöhnlich nette Kusine habe, die in einer ungewöhnlich netten kleinen Stadt wohnt. Willst du mich aufnehmen?« Frau Lisander überlegte schnell. Es war nicht so leicht, stehenden Fußes Gäste aufzunehmen. Na ja, er konnte das Giebelzimmer haben. »Mit einer ungewöhnlich netten kleinen Tochter«, sagte Onkel Einar und kniff Eva-Lotte in die Wange. »Ach, laß doch das sein«, sagte Eva-Lotte, »das tut ja weh!« »Das war auch beabsichtigt«, sagte Onkel Einar. »Ja, natürlich bist du willkommen«, sagte Frau Lisander. »Wie lange hast du Ferien?« »Nja, das ist noch nicht bestimmt. Offen gesagt, ich habe die Absicht, mit meiner Firma Schluß zu machen. Ich denke beinahe daran, ins Ausland zu gehen. In diesem Land hier hat man keine Zukunft. Hier stehen alle und treten auf dem gleichen Fleck.« »Das ist nicht wahr«, sagte Eva-Lotte hitzig. »Dieses Land ist das beste von allen.« Onkel Einar legte den Kopf auf die Seite und schaute Eva-Lotte an. »Wie du gewachsen bist, kleine Eva-Lotte«, sagte er und ließ gleich darauf wieder sein wieherndes Gelächter hören. Eva-Lotte fing bereits an, es herzlich zu verabscheuen. »Die Jungen können dir damit helfen«, sagte Frau Lisander mit einem Nicken zum Reisekoffer hin. »Nee, nee, den trage ich lieber selbst«, sagte Onkel Einar. In dieser Nacht wurde Kalle durch eine Mücke geweckt, die ihn in die Stirn gestochen hatte. Und da er nun ohnehin wach war, hielt er es für klug, nachzusehen, ob vielleicht einige Schurken und Banditen ihr verbrecherisches Spiel in der Nähe trieben. Zuerst sah er durch das Fenster auf die Hauptstraße hinaus. Da war alles öde und leer. Dann ging er ans andere Fenster und guckte durch die Gardine in Bäckermeisters Garten. Das Haus lag dunkel und schlafend zwischen blühenden Apfelbäumen. Nur im Giebelzimmer war Licht. Und gegen die Rollgardine zeichnete sich der dunkle Schatten eines Mannes ab. »Onkel Einar, ph, wie blöd der ist«, sagte Kalle für sich. Der dunkle Schatten wanderte hin und her, hin und her ohne Unterbrechung. Er war sicher eine unruhige Natur, der Onkel Einar! »Warum trabt er bloß so herum?« dachte Kalle, und im nächsten Augenblick schoß er wieder in sein eigenes schönes Bett hinein. Schon um acht Uhr am Montagmorgen hörte er Anders’ Pfeifen vor dem Fenster. Sie hatten ein gemeinsames Signal, Anders und er und Eva-Lotte. Kalle schlüpfte schnell in seine Sachen. Ein neuer, herrlicher Ferientag lag vor ihm, ohne Sorgen, ohne Schule und ohne andere Pflichten, als die Erdbeeren zu gießen und ein Auge auf eventuelle Mörder in der Umgebung zu haben. Nichts davon war besonders anstrengend. Das Wetter war strahlend. Kalle trank ein Glas Milch und aß ein Butterbrot und stürzte zur Tür, bevor seine Mutter dazu kam, auch nur die Hälfte der Ermahnungen vorzubringen, die sie ihm gleichzeitig mit dem Frühstück zu servieren beabsichtigt hatte. Jetzt galt es nur, Eva-Lotte herauszubekommen. Aus irgendeinem Anlaß fanden Kalle und Anders es nicht ganz passend, hineinzugehen und direkt nach ihr zu fragen. Strenggenommen war es ja nicht einmal passend, daß sie mit einem Mädchen spielten. Aber da war nichts zu machen. Alles war viel lustiger, wenn Eva-Lotte mit dabei war. Sie war übrigens nicht diejenige, die vor einem Spaß zurückscheute. Sie ging ebenso drauflos und war ebenso flink wie irgendein Junge. Als der Wasserturm um-gebaut wurde, war sie auf das Holzgerüst ebenso hoch raufge-klettert wie Anders und Kalle, und als Schutzmann Björk sie bei ihrem Unternehmen entdeckte und ihnen zurief, daß es wohl am sichersten wäre, augenblicklich herunterzukommen, setzte sie sich ruhig ganz vorn auf ein Brett, wo jeder andere schwind-lig geworden wäre, und sagte lachend: »Kommen Sie rauf und holen Sie uns!« Sie hatte wohl nicht gedacht, daß Schutzmann Björk sie beim Wort nehmen würde. Aber Schutzmann Björk war der Beste im Sportklub, und es kostete ihn nicht viele Sekunden, zu Eva-Lotte heraufzukommen. »Bitte deinen Vater, daß er dir ein Trapez kauft, an dem du herumklettern kannst«, sagte er. »Denn wenn du von dem runterfällst, hast du wenigstens einigermaßen Aussicht, dir nicht den Hals zu brechen.« Dann nahm er sie kräftig um den Leib und kletterte mit ihr hinunter. Anders und Kalle hatten sich schon mit bemerkenswerter Geschwindigkeit hinunterbegeben. Seitdem mochten sie Schutzmann Björk gern. Und – wie gesagt – sie mochten Eva-Lotte auch gern, ganz abgesehen davon, daß sie beide sich mit ihr verheiraten wollten. »Denn das war ja wirklich mutig von ihr«, sagte Anders, »so etwas zu einem Polizisten zu sagen. Das hätten nicht viele Mädels getan. Viele Jungens übrigens auch nicht!« Und an dem dunklen Herbstabend, als sie vor dem Haus des giftigen Kontorchefs, der immer so böse zu seinem Hund war, auf der Harzgeige spielten, da war Eva-Lotte vor seinem Fenster stehengeblieben und hatte mit ihrem Harzstück auf dem Draht gerieben, bis der Kontorchef herausgelaufen kam und sie beinahe auf frischer Tat ertappt hätte. Aber Eva-Lotte war schnell über den Zaun geschossen und in die Bootsgasse verschwunden, wo Anders und Kalle auf sie warteten. Nein, an Eva-Lotte war nichts auszusetzen, darüber waren sich Anders und Kalle einig. Anders ließ einen neuen Pfiff ertönen in der Hoffnung, daß es Eva-Lotte drinnen hören würde. Das tat sie auch. Sie kam heraus. Aber zwei Schritte hinter ihr kam Onkel Einar. »Darf der kleine artige Junge hier auch mitspielen?« fragte er. Anders und Kalle schauten ihn etwas verlegen an. »Ausreißer und Einfänger zum Beispiel«, wieherte Onkel Einar. »Ich will am liebsten Ausreißer sein.« »Ph!« machte Eva-Lotte. »Oder wollen wir zur Schloßruine gehen?« schlug Onkel Einar vor. »Die ist wohl immer noch da?« Natürlich war die Schloßruine noch da. Das war ja die größte Sehenswürdigkeit der Stadt, die alle Touristen sich ansahen, sogar noch bevor sie die Deckenmalereien in der Kirche gesehen hatten. Wenn auch natürlich nicht so viele Touristen kamen. Die Ruine lag auf einer Höhe und schaute auf die kleine Stadt hinunter. Ein mächtiger Herr hatte einmal in früheren Zeiten dieses Schloß gebaut, und nach und nach war in dessen Nähe eine Stadt entstanden. Die kleine Stadt blühte und gedieh, aber von dem früheren Schloß war nur noch eine schöne Ruine übrig. Kalle und Anders und Eva-Lotte hatten nichts dagegen, zur Ruine zu gehen. Sie war einer ihrer liebsten Aufenthaltsorte. Man konnte in den alten Sälen Versteck spielen oder auch die Burg gegen anstürmende Feinde verteidigen. Onkel Einar ging rasch den steilen Weg hinauf, der sich zur Ruine hinschlängelte. Kalle, Anders und Eva-Lotte trabten hinterher. Sie warfen sich hin und wieder verstohlene Blicke zu und blinzelten vielsagend. »Ich hätte Lust, ihm eine Klapper zu geben, dann könnte er irgendwo für sich allein sitzen und damit spielen«, flüsterte Anders. »Und du glaubst, daß er das tun würde«, sagte Kalle. »Nee, du, wenn erwachsene Leute sich vornehmen, mit Kindern zu spielen, dann kann nichts sie daran hindern, merk dir das!« »Sie sind vergnügungssüchtig, das ist das Ganze«, entschied Eva-Lotte. »Aber da er Mutters Vetter ist, müssen wir wohl versuchen, ein bißchen mit ihm zu spielen, sonst wird er bloß ärgerlich.« Eva-Lotte kicherte vergnügt. »Aber das wird langweilig werden, wenn er furchtbar lange Ferien hat«, sagte Anders. »Ach, er reist sicher bald ins Ausland«, meinte Eva-Lotte. »Du hast ja gehört, was er gesagt hat – in diesem Land hier kann man es nicht aushalten.« »Ja, ich für meinen Teil werde ihm keine Träne nachwei-nen«, sagte Kalle. Es blühte in dichten Büschen rings um die ganze Ruine. Die Hummeln summten. Die Luft zitterte in der Wärme. Aber drinnen in der Ruine war es kühl. Onkel Einar blickte sich zufrieden um. »Schade, daß man nicht runter in das Kellergeschoß gehen kann«, sagte Anders. »Warum kann man das nicht?« fragte Onkel Einar. »Nee, sie haben eine dicke Tür davorgesetzt«, sagte Kalle. »Und die ist verschlossen. Da sind sicher viele Gänge und Kellerlöcher unten, und es ist kalt und feucht, und da wollen sie nicht, daß man runtergeht. Der Bürgermeister hat sicher den Schlüssel.« »Früher sind die Leute da unten hingefallen und haben sich die Beine gebrochen«, sagte Anders. »Und ein Kind hätte sich beinahe verlaufen, so daß jetzt niemand mehr runter darf. Aber das ist verdammt schade.« »Wollt ihr gern runtergehen?« fragte Onkel Einar. »Das lie- ße sich vielleicht machen.« »Wie soll denn das zugehen?« fragte Eva-Lotte. »So!« sagte Onkel Einar und zog einen kleinen Gegenstand aus der Tasche. Er beschäftigte sich eine Weile mit dem Schloß, und gleich danach schwang die Tür knirschend in ihren Angeln. Die Kinder starrten voll Erstaunen abwechselnd Onkel Einar und die Tür an. Das war ja die reine Zauberei. »Wie hast du das gemacht, Onkel Einar? Darf ich mal sehen?« fragte Kalle eifrig. Onkel Einar hielt den kleinen Metallgegenstand hin. »Ist das – ist das ein Dietrich?« fragte Kalle. »Richtig geraten«, sagte Onkel Einar. Kalle war überglücklich. Er hatte so oft von Dietrichen gelesen, aber er hatte nie einen gesehen. »Darf ich den mal haben?« fragte er. Er bekam ihn, und er fühlte, daß dies ein großer Augenblick in seinem Leben war. Dann kam ihm ein Gedanke. Nach dem, was er gelesen hatte, waren es meist dunkle Gestalten, die Dietriche besaßen. Das erforderte eine Erklärung. »Warum hast du einen Dietrich, Onkel Einar?« fragte er. »Weil ich geschlossene Türen nicht liebe«, sagte Onkel Einar kurz. »Wollen wir nicht runtergehen?« fragte Eva-Lotte. »Ein Dietrich ist ja nicht die Welt«, fügte sie hinzu, als ob sie niemals etwas anderes getan hätte, als Schlösser mit dem Dietrich auf-zumachen. Anders war bereits die ausgetretene Treppe, die in den Keller führte, hinuntergelaufen. Seine braunen Augen leuchteten vor Abenteuerlust. Das war spannend! Nur Kalle fand, daß ein Dietrich etwas Merkwürdiges war. Nein, aber alte Gefängnishöhlen, das war etwas! Mit einem bißchen Phantasie konnte man beinahe das Rasseln der Ketten hören, mit denen die armen Gefangenen hier unten vor vielen hundert Jahren gefesselt waren. »Hu, ich hoffe, daß es nicht spukt«, sagte Eva-Lotte und kletterte mit scheuen Seitenblicken die Treppe hinunter. »Sei nicht allzu sicher«, sagte Onkel Einar. »Denk bloß, wenn ein altes bemoostes Gespenst kommt und dich kneift. So zum Beispiel!« »Au!« schrie Eva-Lotte. »Kneif mich doch nicht! Jetzt bekomme ich einen blauen Fleck auf dem Arm, das weiß ich.« Sie rieb wütend ihren Arm. Kalle und Anders schnüffelten überall herum wie zwei Spür-hunde. »Denk bloß, wenn man hier so oft sein dürfte, wie man will«, sagte Anders begeistert. »Und alles kartographieren könnte! Und sein Versteck hier haben könnte!« Er sah in die dunklen Gänge hinein, die sich nach allen Seiten hin verzweigten. »Hier könnten sie einen zwei Wochen lang suchen, ohne soviel wie eine Feder zu entdecken. Wenn man etwas ausgefressen hätte und sich verstecken müßte, dann wäre so eine Gefängnishöhle hier ein großartiges Versteck!« »Meinst du wirklich?« fragte Onkel Einar. Kalle ging umher und schnüffelte mit der Nase beinahe auf der Erde. »Was machst du denn da?« fragte Onkel Einar. Kalle wurde etwas rot. »Ich wollte bloß mal sehen, ob noch Spuren von den Kerlen übrig sind, die hier im Gefängnis gesessen haben.« »Ach, seitdem sind ja hier so viele Menschen gewesen, du Dummerjan«, sagte Eva-Lotte. »Onkel Einar, du weißt vielleicht nicht, daß Kalle Detektiv ist?« Anders schien etwas belustigt und überlegen, als er das sagte. »Du lieber Himmel, nein, das wußte ich nicht«, sagte Onkel Einar. »Ja, wirklich, einer der besten, die es im Augenblick gibt.« Kalle sah Anders wütend an. »Das bin ich sicher nicht«, sagte er. »Aber ich finde, es macht Spaß, sich damit zu beschäftigen. Mit Schurken, die im Gefängnis landen. Da ist doch nichts dabei!« »Absolut nicht, mein Junge! Ich hoffe, du fängst bald einen ganzen Haufen, den du zusammenbinden und zur Polizei schikken kannst.« Onkel Einar wieherte. Kalle war wütend. Niemand nahm ihn ernst. »Bilde dir nichts ein«, sagte Anders. »In unserer Stadt hier ist nie ein anderer Schurkenstreich vorgekommen, als daß Friedrich mit dem Fuß eines Sonntags in der Sakristei die Kollekte geklaut hat. Mehr nicht. Im übrigen hat er sie am nächsten Tag zurückgebracht, als er wieder nüchtern war.« »Und jetzt sitzt er immer über Samstag und Sonntag im Loch, so daß er es nicht noch mal machen kann«, sagte Eva-Lotte lachend. »Sonst hättest du dich in den Hinterhalt legen und ihn das nächste Mal auf frischer Tat ertappen können, Kalle«, sagte Anders. »Dann hättest du zum mindesten einen Spitzbuben erwischt!« »Jetzt wollen wir aber nicht boshaft sein zu dem Herrn Meisterdetektiv«, sagte Onkel Einar. »Ihr sollt mal sehen, eines Tages rafft er sich auf und setzt einen fest, der eine Tafel Schokolade in Vaters Laden geklaut hat.« Kalle kochte vor Wut. Anders und Eva-Lotte konnten ihn vielleicht necken, aber kein anderer. Am allerwenigsten dieser grinsende Onkel Einar. »Ja, Kalle«, sagte Onkel Einar, »du wirst sicher gut, wenn du fertig bist. – Nein, laß das doch sein!« Das letzte war an Anders gerichtet, der einen Bleistift hervor-geholt hatte und seinen Namen auf eine glatte Steinwand schreiben wollte. »Warum denn?« fragte Eva-Lotte. »Wir wollen unsere Namen und das Datum hinschreiben! Das wäre lustig. Vielleicht kommen wir noch mal hierher, wenn wir ganz, ganz alt geworden sind, fünfundzwanzig Jahre oder so. Wäre das nicht lustig, wenn wir dann unsere Namen hier finden würden?« »Ja, das würde uns an unsere verflossene Jugend erinnern«, sagte Anders. »Na ja, macht, was ihr wollt«, sagte Onkel Einar. Kalle bockte ein bißchen. Er wollte erst nicht mitmachen, aber zuletzt besann er sich, und bald standen alle drei Namen in einer zierlichen Linie da: Eva-Lotte Lisander, Anders Bengtsson, Kalle Blomquist. »Willst du nicht auch deinen Namen hinschreiben?« fragte Eva-Lotte. »Du kannst vollkommen sicher sein, daß ich das nicht tue«, sagte Onkel Einar. »Im übrigen ist es hier kalt und feucht, und das ist nicht gut für meine alten Knochen. Jetzt gehen wir wieder raus in die Sonne!« »Und nun noch etwas«, fuhr er fort, als die Tür wieder hinter ihnen zugefallen war. »Wir sind nicht hier gewesen, versteht ihr? Kein Gerede!« »Was? Dürfen wir nicht davon reden?« fragte Eva-Lotte mißvergnügt. »Nein, meine schöne junge Dame! Das ist ein Staatsgeheim-nis«, sagte Onkel Einar. »Und vergiß es nicht! Sonst kneife ich dich vielleicht wieder.« »Das sollst du bloß wagen!« sagte Eva-Lotte. Die Sonne blendete sie, als sie aus dem dunklen Ruinenge-wölbe heraustraten, und die Wärme erschien ihnen beinahe überwältigend. »Ob ich versuche, mich ein bißchen beliebt zu machen?« fragte Onkel Einar. »Soll ich euch zu Limonade und Kuchen in den Konditoreigarten einladen?« Eva-Lotte nickte gnädig. »Manchmal machst du ganz vernünftige Vorschläge!« Sie bekamen einen Tisch ganz dicht am Geländer unten am Fluß. Man konnte den kleinen Fischen, die hungrig ange-schwommen kamen und sich bis an die Oberfläche stellten, Brotkrumen zuwerfen. Einige Linden gaben einen angenehmen Schatten. Und als Onkel Einar eine große Platte mit Kuchen und drei Flaschen Saft bestellte, fing sogar Kalle an, seine Anwesenheit in der Stadt ganz erträglich zu finden. Onkel Einar schaukelte auf dem Stuhl, warf den Fischen einige Brotkrumen zu, trommelte mit den Fingern auf dem Tisch und pfiff ein bißchen. Und dann sagte er: »Eßt, soviel ihr reinkriegen könnt, aber beeilt euch! Wir können nicht den ganzen Tag hier sitzen.« »Wie komisch er ist«, dachte Kalle. »Er will niemals lange bei einer Sache bleiben.« Und er war immer mehr davon überzeugt, daß Onkel Einar eine unruhige Natur war. Er selbst hätte wer weiß wie lange hier im Konditoreigarten sitzen mögen und den Kuchen genießen und die lustigen Fische und die Sonne und die Musik. Er konnte nicht verstehen, daß ein Mensch es so eilig haben konnte, von hier wegzukommen. Onkel Einar sah auf seine Uhr. »Um diese Zeit muß wohl schon die ›Stockholmer Zeitung‹ gekommen sein«, sagte er. »Du, Kalle, du bist jung und gesund, lauf zum Kiosk und hole eine für mich!« »Klar, daß gerade ich laufen soll«, dachte Kalle. »Anders ist bedeutend jünger und gesünder«, sagte er. »Wirklich?« »Ja, er ist fünf Tage später als ich geboren. Wenn er auch natürlich nicht so dienstbereit ist wie ich«, sagte Kalle und fing die Krone auf, die Onkel Einar ihm zuwarf. »Aber dann will ich wenigstens ein bißchen reingucken«, sagte er für sich, als er die Zeitung bekommen hatte. »Zum mindesten auf die Überschriften. Und die Bildgeschichten.« Es war ungefähr wie immer. Erst eine ganze Menge von den Atombomben und dann ein Haufen Politik, was keinen Menschen interessieren konnte. Und »Zusammenstoß zwischen Autobus und Zug«, »Roher Überfall auf einen alten Mann«, »Wütende Kuh verursacht Panik«, und »Großer Juwelendiebstahl«. Nichts besonders Spannendes, entschied Kalle. Aber Onkel Einar griff eifrig nach der Zeitung. Er blätterte sie schnell durch, bis er zu der Seite kam, wo die letzten Neuigkeiten standen. Dort vertiefte er sich in einen Artikel, so daß er nicht hörte, als Eva-Lotte fragte, ob sie noch ein Stück Kuchen nehmen dürfe. »Was kann das sein, was ihn so furchtbar interessiert?« dachte Kalle. Er hätte sich gern hinter ihn gestellt, aber er war nicht sicher, ob Onkel Einar das gefallen würde. Offenbar war es nur eine Sache, die er las, denn er ließ schnell die Zeitung fallen und ließ sie liegen, als sie bald danach die Konditorei verließen. Auf der Hauptstraße ging Schutzmann Björk. »Hallo, Onkel Björk!« rief Eva-Lotte. »Hallo«, sagte der Schutzmann und legte die Hand an die Mütze. »Bist du noch nirgends runtergefallen und hast dir das Genick gebrochen?« »Noch nicht ganz«, sagte Eva-Lotte. »Aber morgen will ich auf den Aussichtsturm im Stadtpark klettern, vielleicht wird es da was. Natürlich, wenn Sie nicht kommen und mich runterholen.« »Ich will es versuchen«, sagte der Schutzmann. Onkel Einar kniff Eva-Lotte ins Ohr. »Soso, du bist mit der Polizeimacht liiert«, sagte er. »Ach, laß das doch sein«, sagte Eva-Lotte. »Ist er übrigens nicht zum Sterben schick?« »Wer? Ich?« »Nein«, sagte Eva-Lotte. »Schutzmann Björk natürlich!« Vor einem Eisenwarengeschäft blieb Onkel Einar stehen. »Auf Wiedersehen so lange, Kinder«, sagte er. »Ich gehe mal hier rein.« »Schön«, sagte Eva-Lotte, als er verschwunden war. »Ja, denn wenn er uns auch mit Kuchen traktiert, was Richtiges wird es doch nicht, wenn er sich die ganze Zeit an uns hängt«, sagte Anders. Dann vergnügten sich Anders und Eva-Lotte damit, sich auf die Brücke zu stellen und zu sehen, wer am weitesten in den Fluß spucken konnte. Kalle beteiligte sich nicht. Es fiel ihm plötzlich ein, ob er rauskriegen könnte, was Onkel Einar im Eisenwarengeschäft kaufen wollte. »Die reine Routinearbeit«, sagte er sich. »Aber man kann eine ganze Menge über einen Menschen erfahren, wenn man weiß, was er in Eisenwarengeschäften kauft. Wenn er ein elek-trisches Bügeleisen kauft«, dachte Kalle, »dann ist er eine häusliche Natur, und wenn er einen Schlitten kauft – ja, wenn er einen Schlitten kauft, dann ist er nicht richtig bei Troste! Bei den augenblicklichen Schneeverhältnissen dürfte er wirklich wenig Nutzen davon haben. Aber ich könnte Gift drauf nehmen, daß es kein Schlitten ist, den er da kaufen will.« Kalle stellte sich an das Schaufenster und sah in den Laden. Da drinnen stand Onkel Einar. Der Verkäufer war gerade dabei, etwas zu zeigen. Kalle legte die Hand über die Augen und versuchte zu sehen, was es war. Es war – es war eine Taschenlampe! Kalle dachte nach, daß es nur so krachte. Wozu brauchte Onkel Einar eine Taschenlampe? Mitten im Sommer, wo es beinahe die ganze Nacht über hell war! Erst einen Dietrich und dann eine Taschenlampe! Was war es sonst, wenn nicht im höchsten Grade mystisch? Onkel Einar war eine im höchsten Grade mystische Person, entschied Kalle. Und er, Kalle Blomquist, war nicht der, der mystische Personen ohne Überwa-chung herumlaufen ließ. Onkel Einar würde sofort unter Kalle Blomquists besondere Aufsicht gestellt werden. Plötzlich fiel ihm etwas ein. Die Zeitung! Wenn eine mystische Person so auffallend an etwas interessiert ist, was in der Zeitung steht, so ist auch das mystisch und bedarf näherer Untersuchung. Die reine Routinearbeit! Er lief zurück in den Konditoreigarten. Die Zeitung lag noch auf dem Tisch. Kalle nahm sie und steckte sie unter sein Hemd. Er wollte sie aufheben. Selbst wenn er jetzt nicht herauskriegen konnte, was Onkel Einar so eifrig gelesen hatte, dann konnte sie später vielleicht einen Hinweis geben. Meisterdetektiv Blomquist ging nach Hause und goß die Erdbeeren, sehr zufrieden mit sich selbst. DRITTES KAPITEL »Etwas muß geschehen«, sagte Anders. »Wir können nicht den ganzen Sommer rumlaufen und die Beine hinter uns nachzie-hen. Was wollen wir anfangen?« Er fuhr mit den Fingern durch sein dickes schwarzes Haar und sah nachdenklich aus. »Fünf Öre für den, der eine Idee ausheckt«, sagte Eva-Lotte. »Zirkus«, sagte Kalle zögernd. »Wie wäre es, wenn wir einen Zirkus aufmachten?« Eva-Lotte sprang vom Schaukelbrett runter. »Die fünf Öre sind dein! Wir wollen sofort anfangen!« »Aber wo soll er stattfinden?« fragte Anders. »In unserem Garten – wo denn sonst!« entschied Eva-Lotte. Ja, Bäckermeisters Garten war für alles zu gebrauchen, warum sollte man keinen Zirkus da aufmachen können? Der ge-pflegtere Teil des Gartens mit prunkenden Rabatten und ge-harkten Wegen breitete sich vor dem Wohnhaus aus. Aber hinter dem Hause, wo der Garten bis zum Fluß hinunterging, be-durfte er keiner Instandhaltung. Und hier war er ein idealer Platz für alle Arten von Spielen. Da war ein Rasenplatz mit kurzem Gras, der sich ausgezeichnet für Fußball und Krocket und alle möglichen anderen Sportübungen eignete. Ganz in der Nähe lag die Bäckerei. Der wunderbare Duft von frisch gebackenem Brot schwebte daher beständig über diesem Teil des Gartens und mischte sich auf eine besonders angenehme Art mit dem Duft des Flieders. Wenn man sich beharrlich in der Nähe der Bäckerei aufhielt, konnte es passieren, daß Eva Lottes Vater seinen weißbemützten Kopf durch das offene Fenster steckte und fragte, ob man eine frische Schnecke oder ein Stück Wiener Brot haben wollte. Weiter unter am Fluß wuchsen ein paar alte Ulmen, die vorzüglich zum Herumklettern geeignet waren. Man konnte sogar ohne Schwierigkeit bis in die Wipfel hinaufklettern, und von da aus hatte man eine wunderbare Aussicht über die ganze Stadt. Man konnte den Fluß sehen, der sich wie ein silbernes Band zwischen alten Häusern schlängelte, man konnte die Gärten und die kleine, altertümliche Holzkirche sehen und ganz weit weg das Hochplateau mit der Schloßruine. Der Fluß bildete eine natürliche Grenze für den Garten. Eine knorrige Weide streckte sich weit über das Wasser. Man konnte oben in der Weide sitzen und angeln. Eva-Lotte und Anders und Kalle taten das oft. Wenn auch Eva-Lotte natürlich immer den besten Sitzplatz hatte. »Der Zirkus muß vor der Bäckerei sein«, sagte Eva-Lotte. »Vor dem Giebel!« Kalle und Anders nickten zustimmend. »Wir müssen uns eine Persenning borgen«, sagte Anders. »Wir müssen den Platz einzäunen und Bänke für die Zuschauer aufstellen. Dann ist alles fertig.« »Wie wäre es, wenn wir auch ein paar Zirkusnummern ein- üben würden?« fragte Kalle sarkastisch. »Du, Anders, brauchst dich natürlich nur zu zeigen, damit die Leute finden, sie hätten was für ihr Geld bekommen; du brauchst dir also keine besonderen Clownnummern einzuüben. Aber wir müssen wohl auch ein bißchen Akrobatenkunststücke zeigen oder so was Ähnliches.« »Ich werde reiten«, sagte Eva-Lotte eifrig. »Ich werde mir unser Brotwagenpferd ausleihen. Das wird wunderbar!« Sie warf den noch nicht vorhandenen Zuschauern Kußhände zu. »Kunstreiterin Eva-Charlotte, könnt ihr mich nicht sehen?« fragte sie. Kalle und Anders betrachteten sie mit anbetenden Blicken. Ja, sie konnten sie sehr gut sehen. Mit Leib und Seele gingen die Zirkuskünstler ans Werk. Der von Eva-Lotte vorgeschlagene Platz war ohne Zweifel der beste, der sich finden ließ. Der südliche Giebel der Bäckerei bildete einen geeigneten Hintergrund für die Künstlernummern. Der feste, grasbewachsene Platz davor reichte sowohl für eine Arena als auch für die Zuschauer. Das einzige, was man brauchte, war ein Zelttuch, das die Arena von den Zuschauern abschloß und das man zur Seite ziehen konnte, wenn die Vorstellung anfing. Mehr Sorgen bereitete ihnen das Problem mit dem Umkleide-raum für die Künstler. Aber Eva-Lottes flinkes Gehirn hatte eine Lösung gefunden. Über der Bäckerei war ein Bodenraum. Durch eine große Luke an dem südlichen Giebel konnte man Waren in diesen Bodenraum hineinbefördern, ohne daß man eine Treppe brauchte. »Und wenn man etwas reinbefördern kann, dann kann man auch etwas rausbefördern«, sagte Eva-Lotte. »Und das, was rauskommt, das sind wir. Wir machen oben einen Strick fest, und jedesmal, wenn wir dran sind zum Auftreten, kommen wir in den Zirkus runtergerutscht. Wenn die Nummer zu Ende ist, schleichen wir uns vorsichtig raus, ohne daß die Zuschauer es merken, und laufen die Treppe rauf und bleiben auf dem Boden, bis es Zeit ist, wieder runterzurutschen. Das wird kolossal apart, findet ihr nicht?« »Ja, das wird kolossal apart«, sagte Anders. »Wenn du dann das Pferd dazu kriegen könntest, auch am Strick runterzurutschen, dann wäre es noch kolossal aparter. Aber das scheint etwas schwieriger zu sein. Sicher ist es zahm und gutmütig, aber auch für ein Pferd gibt es Grenzen!« »Wenn ich reiten soll, muß einer von euch Stallknecht sein und das Pferd durch die Zuschauer hindurch hereinführen und es unter die Luke hinstellen, und dann – bums – komme ich direkt auf seinen Rücken runtergesaust.« Sie setzten sofort die Vorbereitungen in Gang. Kalle bekam von seinem Vater Persennings geborgt, Anders radelte zu einem Holzplatz etwas außerhalb der Stadt und kaufte einen Sack Sägespäne, die auf die Arena gestreut wurden. Der Strick wurde oben auf dem Boden festgemacht, und die drei Zirkuskünstler übten sich im Rutschen, so daß sie fast alles andere vergaßen. Mittendrin kam Onkel Einar angeschlendert. »Denkt bloß, daß er einen ganzen Nachmittag allein fertig werden konnte!« flüsterte Eva-Lotte den Jungen zu. »Wer von euch läuft für mich mit einem Brief zur Post?« rief Onkel Einar. Die drei sahen einander an. Niemand hatte eigentlich Lust. Aber da erwachte Kalles Pflichtgefühl. Onkel Einar war eine mystische Person, und die Korrespondenz mystischer Personen mußte man überwachen. »Ich gehe!« rief er. Eva-Lotte und Anders sahen ihn erstaunt an. »Genau wie ein Pfadfinder, immer bereit«, sagte Onkel Einar. Kalle nahm den Brief und ging los. Sobald er außer Sehweite war, sah er auf die Adresse. »Fräulein Lola Hellberg, Stockholm, p. r.«, stand da. »P. r.« bedeutete »poste restante«, das heißt: der Adressat sollte selbst den Brief von der Post holen, das wußte Kalle. »Dunkel«, dachte er. »Warum kann er nicht an ihre richtige Adresse schreiben?« Er holte ein Notizbuch aus seiner Hosentasche und schlug es auf. »Verzeichnis über verdächtige Personen« stand oben auf der einen Seite. Das Verzeichnis hatte früher eine ansehnliche Zahl von Personen umfaßt. Aber Kalle hatte sich trauernden Herzens genötigt gesehen, eine nach der anderen zu streichen, nachdem es ihm nicht gelungen war, etwas Verbrecherisches bei ihnen festzustellen. Im Augenblick gab es daher nur eine Person auf der Liste, und das war Onkel Einar. Sein Name war rot un-terstrichen, und darunter stand sehr genau seine Personalbeschreibung. Danach kam eine neue Rubrik: »Besonders verdächtige Umstände«. »Besitzt Dietrich und Taschenlampe«, stand da. Allerdings besaß Kalle selbst eine Taschenlampe, aber das war eine ganz andere Sache. Mit einiger Mühe fischte er einen Bleistiftstummel aus seiner Tasche, und mit einem Brett als Unterlage schrieb er folgenden Zusatz in sein Notizbuch: »Korrespondiert mit Fräulein Lola Hellberg, Stockholm, p. r.« Dann lief er zum nächsten Briefkasten und war in wenigen Sekunden zurück beim Zirkus »Kalottan«, wie das Zirkusunternehmen nach reiflicher Überlegung getauft worden war. »Was bedeutet das?« fragte Onkel Einar. »Ka für Kalle, Lott für Eva-Lotte und An für Anders, das ist doch klar«, sagte Eva-Lotte. »Im übrigen darfst du nicht zusehen, wenn wir proben.« »Das ist ein hartes Gebot«, sagte Onkel Einar. »Was soll ich den ganzen Tag anfangen?« »Geh zum Fluß runter und angle«, schlug Eva-Lotte vor. »Himmel! Willst du, daß ich einen Nervenzusammenbruch bekomme?« »Eine sehr unruhige Natur«, dachte Kalle. Eva-Lotte hatte jedoch kein Erbarmen. Sie jagte Onkel Einar mitleidlos fort. Und die Proben im Zirkus »Kalottan« wurden mit höchster Energie aufgenommen. Anders war der Stärkste und Geschickteste, und daher war es nicht mehr als recht und billig, daß er Zirkusdirektor wurde. »Aber etwas will ich auch bestimmen«, sagte Eva-Lotte. »Du bestimmst, wo es hinpaßt«, sagte Anders. »Bin ich Direktor, dann bin ich es.« Der Zirkusdirektor hatte es sich in den Kopf gesetzt, eine wirklich feine Akrobatentruppe zu zeigen, und er zwang Kalle und Eva-Lotte, viele Stunden zu trainieren. »So!« sagte er schließlich zufrieden, als Eva-Lotte im blauen Gymnastikanzug lachend und aufrecht mit einem Fuß auf seiner und dem anderen Fuß auf Kalles Schulter stand. Die Jungen standen breitbeinig auf dem grünen Schaukelbrett, so daß Eva-Lotte etwas höher zu stehen kam, als sie es selbst gut fand. Aber es wäre ihr lieber gewesen, zu sterben, als zuzugeben, daß sie ein etwas unbehagliches Gefühl in der Magengegend hatte, wenn sie hinuntersah. »Es wäre mächtig fein, wenn du dich eine Weile auf die Hände stellen könntest«, preßte Anders hervor, während er versuchte fest zu stehen. »Das würde Erfolg haben!« »Es wäre mächtig fein, wenn du auf deinem eigenen Kopf sitzen könntest«, sagte Eva-Lotte kurz. »Das würde noch mehr Erfolg haben.« Da ertönte durch den Garten ein furchtbares Geheul, ein unmenschlicher Laut wie von einem Wesen in höchster Not. Eva-Lotte stieß einen Schrei aus und tat einen lebensgefährli-chen Sprung auf die Erde. »Was ist das?« fragte Eva-Lotte. Alle drei stürzten aus dem Zirkus. Einen Augenblick später kam ein graues Knäuel auf sie losgefahren. Es war das Knäuel, das die schrecklichen Töne ausstieß. Und das Knäuel war Tusse, Eva-Lottes Katze. »Tusse, o Tusse, was ist denn?« keuchte Eva-Lotte. Sie nahm die Katze, ohne sich darum zu kümmern, daß sie kratzte und biß. »Oh«, sagte Eva-Lotte, »jemand hat … Oh, das ist schändlich! Jemand hat ihr das hier angebunden, um sie zu Tode zu erschrecken.« An dem Schwanz der Katze war eine Schnur festgebunden, und an der Schnur hing eine Blechdose, die bei jedem Sprung furchtbar klapperte. Eva-Lotte strömten die Tränen herunter. »Wenn ich wüßte, wer das gemacht hat, dem würde ich …« Sie blickte auf. Zwei Schritte von ihr stand Onkel Einar. Er lachte vergnügt. »Ach, ach«, sagte er, »das war das Komischste, was ich je in meinem Leben gesehen habe.« Eva-Lotte stürzte auf ihn zu. »Hast du das getan?« »Was getan? Du großer Gott, was für Sprünge die Katze machen konnte. Warum hast du die Dose abgemacht?« Eva-Lotte stieß einen Schrei aus und stürzte sich auf ihn. Sie schlug ihn mit den Fäusten, wo sie nur hinkommen konnte, während die Tränen weiter über ihre Wangen herunterliefen. »Das ist abscheulich, oh, das ist schändlich! Ich hasse dich!« Da verstummte das lustige Gewieher. Das Gesicht Onkel Einars machte eine eigentümliche Verwandlung durch. Es bekam einen gehässigen Ausdruck, der Anders und Kalle, die als unbe-wegliche Zuschauer dabeistanden, erschreckte. Er faßte mit einem harten Griff Eva-Lottes Arm und stieß beinahe zischend hervor: »Hör auf, Mädel! Oder ich zerdrücke dir sämtliche Knochen im Leibe!« Eva-Lotte holte tief und keuchend Atem. Ihre Arme fielen kraftlos unter Onkel Einars hartem Griff herunter. Sie starrte ihn erschrocken an. Er ließ sie los und strich sich etwas verlegen über sein Haar. Dann lachte er und sagte: »Was fällt uns eigentlich ein? Sind wir in einen Boxkampf geraten, oder was ist sonst los? Ich glaube, du hast die erste Runde gewonnen, Eva-Lotte!« Eva-Lotte gab keine Antwort. Sie nahm ihre Katze, drehte sich auf der Ferse herum und ging hoch aufgerichtet davon. VIERTES KAPITEL Es war Kalle ganz unmöglich zu schlafen, wenn Mücken im Zimmer waren. Jetzt hatte ihn wieder so ein Vieh geweckt. »Biest«, murmelte er. Er kratzte sich am Kinn, wo die Mücke ihn gestochen hatte. Dann sah er auf die Uhr. Gleich eins. Eine Zeit, da alle anständigen Menschen schlafen sollten. »Dabei fällt mir ein«, dachte er, »ob der Katzenquäler schläft?« Er tappte zum Fenster hin und schaute hinaus. Es war Licht im Giebelzimmer. »Wenn er etwas mehr schlafen würde, so wäre er vielleicht keine so unruhige Natur«, dachte Kalle. »Und wenn er nicht eine so unruhige Natur wäre, würde er vielleicht etwas mehr schlafen.« Es war, als ob Onkel Einar ihn gehört hätte, denn in diesem Augenblick ging das Licht im Giebelzimmer aus. Kalle wollte gerade wieder ins Bett kriechen, als plötzlich etwas eintrat, was ihn die Augen aufsperren ließ. Onkel Einar schaute vorsichtig aus dem offenen Fenster, und als er sich davon überzeugt hatte, daß niemand in der Nähe war, kletterte er auf die Feuerleiter hinaus und stand nach wenigen Augenblicken auf der Erde. Er hielt etwas unter dem einen Arm. Mit raschen Schritten ging er zum Geräteschuppen neben der Bäckerei. Zuerst standen Kalles Gedanken ganz still, und er war so gelähmt vor Erstaunen, daß er untätig dastand. Aber dann stürzte eine Flut von Gedanken, Vermutungen und Fragen auf ihn ein. Er zitterte vor Spannung und Glück. Endlich, endlich gab es jemand, der wirklich mystisch war, nicht nur auf den ersten Blick, sondern auch nach eingehenderem Studium. Denn wenn etwas mystisch war, so war es dies: ein erwachsener Mensch, der mitten in der Nacht aus dem Fenster kletterte! Wenn er nicht dunkle Geschäfte vorgehabt hätte, könnte er sich ja der gewöhnlichen Treppe bedient haben! »Schlußsatz Nummer eins«, sagte sich Kalle: »Er will nicht, daß jemand im Hause hören soll, daß er ausgeht. Schlußsatz Nummer zwei: Er hat etwas Unheimliches vor – ach, ach, hier stehe ich wie ein Schaf und tue nichts!« Kalle sprang in seine Hosen in einer Fahrt, die einem Feuer-wehrmann Ehre gemacht hätte. Er schlich so schnell und so leise wie möglich die Treppe hinunter, während er ein stilles Gebet sprach: »Möchte bloß Mutter mich nicht hören!« Der Geräteschuppen! Warum war Onkel Einar dahin gegangen? Himmel, wenn er die Absicht hatte, ein Werkzeug zu nehmen, um die Leute damit totzuschlagen! Kalle war sehr geneigt, Onkel Einar als den Mörder zu betrachten, den er so lange gesucht hatte, einen Mr. Hyde, der auf Missetaten ausging, sobald die Dunkelheit sich über die Stadt gesenkt hatte. Die Tür zum Geräteschuppen war angelehnt. Aber Onkel Einar war verschwunden. Kalle schaute sich unschlüssig nach allen Seiten um. Da! In einiger Entfernung sah er eine dunkle Gestalt, die sich schnell entfernte. Aber dann bog die Gestalt um eine Straßenecke und war außer Sehweite. Nun kam Fahrt in Kalle. Er galoppierte in der gleichen Richtung los. Hier galt es die größte Eile, wenn man ein schreckliches Verbrechen verhindern wollte! Während er rannte, fiel ihm plötzlich ein: Was konnte er eigentlich machen? Was wollte er zu Onkel Einar sagen, wenn er ihn eingeholt hatte? Oder –wenn nun er, Kalle, es war, der für Onkel Einars Missetat auser-sehen war? Sollte er zur Polizei gehen? Aber man konnte nicht gut zur Polizei gehen und sagen: »Dieser Mann hier ist mitten in der Nacht aus dem Fenster geklettert! Verhaften Sie ihn!« Es gab kein Gesetz, das jemanden hinderte, die Nächte hindurch zum Fenster hinaus- und hineinzuklettern, wenn er Lust dazu hatte. Es war nicht einmal verboten, einen Dietrich zu haben. Nein, die Polizei würde ihn bloß auslachen! Im übrigen – wo war Onkel Einar? Kalle konnte ihn nirgends entdecken. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Na, da brauchte er sich keine Sorgen mehr zu machen. Aber es ärgerte ihn furchtbar, daß er die Spur verloren hatte. Selbst wenn er sich mit Onkel Einar nicht in offenen Kampf begeben wollte, so gehörte es natürlich zu seinen Pflichten als Detektiv, ihm nach-zugehen und zu erkunden, was er vorhatte. Ein stiller, unbemerkter Zeuge, der später einmal vortreten und sagen konnte: »Herr Richter! In der Nacht zum 20. Juni kletterte der Mann, den wir jetzt auf der Anklagebank sehen, durch ein Fenster im obersten Stockwerk des Hauses von Bäckermeister Lisander hier in der Stadt, stieg die Feuerleiter hinunter, ging zu einem im Garten des gleichen Bäckermeisters gelegenen Geräteschuppen, und danach …« Ja, das war es gerade! Was machte er danach? Darüber würde Kalle niemals etwas berichten können. Onkel Einar blieb verschwunden. Kalle machte sich mißmutig auf den Heimweg. An einer Straßenecke stand Schutzmann Björk. »Was machst du denn hier draußen mitten in der Nacht?« fragte er. »Haben Sie einen Mann hier vorbeigehen sehen, Onkel Björk?« unterbrach Kalle ihn eifrig. »Einen Mann? Nein, hier war außer dir kein Mensch zu sehen. Geh eiligst nach Hause und ins Bett. Das würde ich auch tun, wenn ich dürfte!« Kalle ging. Kein Mann war zu sehen gewesen! Nein, man wußte ja, wieviel die Polizisten sahen! Eine ganze Fußballmann-schaft konnte vorbeikommen, ohne daß sie es merkten! Obwohl Kalle ja gern bei Schutzmann Björk eine Ausnahme machen wollte. Er war sicher besser als andere Polizisten. Aber – »geh nach Hause und ins Bett« hatte er gesagt! Ja, das wäre gerade das richtige! Der einzige, der wirklich die Augen offen hatte, wurde öffentlich von der Polizei ermahnt, ins Bett zu gehen! Kein Wunder, daß es so viele unaufgeklärte Verbrechen gab! Aber es schien tatsächlich nichts anderes möglich zu sein, als nach Hause und ins Bett zu gehen. Und das tat Kalle dann auch. Am nächsten Tag wurden die Proben im Zirkus Kalottan fortgesetzt. »Ist Onkel Einar schon aufgestanden?« fragte Kalle Eva-Lotte. »Weiß nicht. Und ich frage auch nicht danach. Aber ich hoffe, daß er den ganzen Vormittag schläft, damit Tusse ihre verhed-derten Nerven wieder aufwickeln kann.« Es dauerte jedoch nicht lange, bis Onkel Einar erschien. Er hatte eine große Tüte Schokoladenkonfekt mit, die er Eva-Lotte zuwarf. »Die Zirkusprimadonna braucht vielleicht etwas zur Stärkung!« Eva-Lotte kämpfte einen harten Kampf mit sich. Sie liebte Schokoladenkonfekt, ganz gewiß, aber die Loyalität mit Tusse verlangte ja, die Tüte mit einem gemessenen »nein, danke« zurückzuwerfen. Sie wog die Tüte in der Hand, und dieses Gemessene wollte so schwer herauskommen. Wie wäre es, wenn sie ein Stück kostete und dann die Tüte zurückwarf? Und dann Tusse einen Fisch gab? Nein, das war kein guter Gedanke. Aber nun hatte sie so lange gezögert, daß die Gelegenheit, eine große Geste zu machen, bereits versäumt war. Onkel Einar ging auf den Händen, und einem Menschen in dieser Stellung eine Tüte Konfekt zurückzugeben, gehört nicht gerade zu den leichtesten Dingen. Eva-Lotte behielt die Tüte – sie wußte wohl, daß sie als Versöhnungsversuch gedacht war. Sie beschloß, Tusse zwei Fische zu geben und in Zukunft Onkel Einar höflich, aber kalt zu be-handeln. »Bin ich nicht tüchtig?« fragte Onkel Einar, als er wieder auf die Füße gekommen war. »Kann ich nicht auch eine Anstellung beim Zirkus Kalottan bekommen?« »Nein, Erwachsene dürfen nicht dabeisein«, sagte Anders in seiner Eigenschaft als Zirkusdirektor. »Nirgends finde ich Verständnis«, seufzte Onkel Einar. »Was sagst du, Kalle, findest du nicht, daß ich hart behandelt werde?« Aber Kalle hörte nicht, was er sagte. Er starrte wie fasziniert auf einen Gegenstand, der aus Onkel Einars Tasche gefallen war, als er auf den Händen lief. Der Dietrich! Da lag er im Gras – Kalle hätte ihn nehmen können … Er nahm sich zusammen. »Hart behandelt – wieso denn?« fragte er und setzte seinen Fuß auf den Dietrich. »Ich darf ja nicht mitspielen«, klagte Onkel Einar. »Ätsch«, sagte Eva-Lotte. Kalle war froh, daß die Aufmerksamkeit von ihm abgelenkt wurde. Er fühlte den Dietrich unter seinem nackten Fuß. Jetzt müßte er ihn aufheben und zu Onkel Einar sagen: »Du hast das hier verloren!« Aber er konnte es nicht über sich bringen. Statt dessen steckte er den Dietrich unbemerkt in seine Tasche. »Auf die Plätze!« rief der Zirkusdirektor. Und Kalle tat einen Sprung auf das Schaukelbrett. Ein hartes Leben ist das der Zirkuskünstler! Training, immer nur Training! Die Junisonne brannte, und der Schweiß rann den »Drei Desperados, die beste Akrobatentruppe Skandinavi-ens« herunter. So bezeichnete Eva-Lotte sie auf den hübsch gemalten Plakaten, die überall an den Hausecken der Umgebung angeklebt waren. »Wollen die drei Desperados nicht jeder eine Schnecke haben?« Bäckermeister Lisanders freundliches Gesicht kam im Fenster der Bäckerei zum Vorschein. »Danke«, sagte der Zirkusdirektor. »Vielleicht später. Hungrige Hunde jagen am besten.« »Das ist das Unglaublichste, was ich je erlebt habe«, sagte Eva-Lotte. Die Konfekttüte war schon lange leer, und sie hatte das Gefühl, als ob ihr Magen es auch wäre nach all der Turnerei. »Ja, wir können doch mal eine kleine Pause machen«, sagte Kalle und trocknete sich den Schweiß von der Stirn. »Es hat wohl keinen Zweck, daß ich Zirkusdirektor bin, wenn ihr bestimmen wollt.« Anders war unwirsch. »Das sind schöne Desperados, muß ich sagen! Schneckendesperados müßte eigentlich auf den Plakaten stehen.« »Essen muß man, sonst stirbt man«, sagte Eva-Lotte und lief in die Küche nach Fruchtsaft. Und als der Bäckermeister dann eine ganze Tüte voll mit frischen Schnecken durch das Fenster reichte, gab der Zirkusdirektor seinen Widerstand seufzend, aber im stillen ganz zufrieden auf. Er tauchte die Schnecken ein und aß mehr als die anderen. Es war selten, daß es bei ihnen zu Hause Schnecken gab, und es waren so viele, mit denen er teilen mußte. Allerdings sagte der Vater stets und ständig: »Jetzt sollst du mal Schnecken zu sehen bekommen!« Aber damit meinte er dann niemals Weißbrot, damit meinte er Prügel! Und da Anders fand, daß er genügend von dieser Ware bekommen hatte, hielt er sich soviel wie möglich von zu Hause weg. Ihm gefiel die Atmosphäre bei Kalle und Eva-Lotte besser. »Dein Alter ist verdammt nett«, sagte Anders. »Gibt’s nicht so bald wieder«, gab Eva-Lotte zu. »Und lustig ist er auch. Er ist so furchtbar ordentlich, daß Mutter sagt, sie wird ganz kaputt davon. Und das Schlimmste für ihn sind Kaffeetassen mit abgeschlagenen Ohren. Er sagt, daß Mutter und ich und Frida nichts anderes machen als die Ohren von den Kaffeetassen abschlagen. Gestern kaufte er zwei Dutzend neue, und als er damit nach Hause kam, nahm er einen Hammer und schlug alle Ohren ab. ›Damit ihr euch die Mühe spart‹, sagte er, als er sie in die Küche brachte. Mutter lachte dermaßen, daß sie Bauchschmerzen bekam.« Eva-Lotte nahm eine neue Schnecke. »Aber den Onkel Einar kann Vater nicht leiden«, setzte sie hinzu. »Vielleicht schlägt er ihm auch die Ohren ab«, schlug Anders vor und hieb seine Zähne in eine Schnecke. »Das weiß man nicht«, sagte Eva-Lotte. »Vater sagt, daß er ganz gewiß verwandtschaftliche Gefühle habe, aber wenn er alle Kusinen und Vettern und Tanten und Onkel von Mutter im Hause herumlaufen hätte, dann möchte er wünschen, er säße in einer Einzelzelle in irgendeinem abseits gelegenen Gefängnis.« »Ich glaube, da sollte Onkel Einar lieber sitzen«, sagte Kalle schnell. »Haha, du hast natürlich herausbekommen, daß es Onkel Einar war, der den Mord in Stockholm begangen hat, was?« »Spotte du nur«, sagte Kalle. »Ich weiß, was ich weiß.« Anders und Eva-Lotte lachten. »Ja, was weiß ich denn eigentlich«, dachte Kalle eine Weile später, als die Proben für heute zu Ende waren. »Ich weiß überhaupt nichts – das ist alles, was ich weiß.« Er war mißgestimmt. Aber da fiel ihm plötzlich der Dietrich ein. Er wurde ganz zapplig vor Spannung und Erwartung. Er hatte einen Dietrich in der Tasche, und auf irgendeine Weise mußte er versuchen, ihn auszuprobieren. Alles, was er brauchte, war eine verschlossene Tür. Warum nicht mit der gleichen Tür versuchen, die Onkel Einar geöffnet hatte? Die Tür zum Kellergeschoß in der Schloßruine! Kalle überlegte nicht lange. Er rannte durch die Straßen, aus Furcht, einen Bekannten zu treffen, der sich ihm anschließen wollte. Und als er am Hochplateau angekommen war, rannte er die gewundene Treppe mit einer solchen Fahrt hinauf, daß er erst eine Weile ausruhen mußte, als er endlich vor der verschlossenen Tür stand, ehe er wieder normal Atem holen konnte. Seine Hand zitterte etwas, als er den Dietrich in das Schloß steckte. Würde es ihm gelingen? Zuerst sah es nicht so aus. Aber nachdem er eine Weile versucht hatte, merkte er, daß das Schloß nachgab. So einfach war das also! Er, Kalle Blomquist, hatte eine Tür mit einem Dietrich geöffnet! Die Tür kreischte, als sie sich in ihren Angeln bewegte. Kalle zögerte einen Augenblick. Es schien ihm sehr unheimlich, allein in die dunklen Kellerregionen hinunterzugehen. Natürlich war er zu keinem anderen Zweck hergekommen, als den Dietrich auszuprobieren, aber da der Zugang nun frei war, wäre er wohl ein Dummkopf, wenn er nicht die Gelegenheit wahrnähme, noch einmal in den Keller zu gehen. Er stieg die Treppe hinunter, und er empfand eine große Genugtuung bei dem Gedanken, daß er der einzige Junge in der ganzen Stadt war, der die Möglichkeit dazu hatte. Er würde wahrhaftig zum zweitenmal seinen Namen an die Wand schreiben! Wenn er und Anders und Eva-Lotte wirklich noch einmal im Leben hier hinunterkommen sollten, dann würde er ihnen zeigen, daß sein Name an zwei Stellen auf der Wand stand. Was bedeutete, daß er zweimal hier gewesen war. Nun sah er es! Es waren keine Namen an der Wand! Sie waren dick mit Bleistift überstrichen, so daß man nicht lesen konnte, was da gestanden hatte. »Nein, jetzt schlägt’s dreizehn!« sagte Kalle laut vor sich hin. Waren es die Gespenster der Vergangenheit, denen die Schrift an der Wand nicht gefiel und die alle Spuren ausgelöscht hatten? Kalle schauderte. Aber konnte man sich ein Gespenst mit Bleistift vorstellen? Kalle mußte sich sagen, daß das wenig wahrscheinlich war. Aber jemand hatte es jedenfalls getan! »Daß ich es nicht sofort begriffen habe!« flüsterte Kalle. Onkel Einar! Natürlich! Onkel Einar hatte versucht, sie daran zu hindern, überhaupt ihre Namen hinzuschreiben, und Onkel Einar hatte sie ausgestrichen! Er wollte nicht, daß jemand, der eventuell in den Keller hinunterkam, wissen sollte, daß sie da-gewesen waren, soviel verstand Kalle. Aber wann hatte Onkel Einar das gemacht? Die Namen hatten bestimmt unversehrt an der Wand gestanden, als sie die Ruine verlassen hatten. »Oh, wie dumm ich bin«, sagte Kalle. Des Nachts natürlich! Onkel Einar war in der Nacht in der Schloßruine gewesen. Deswegen hatte er die Taschenlampe gekauft. Aber hatte er sich wirklich so viel Mühe gemacht, nur um ein paar Namen an der Wand auszustreichen? Kalle glaubte das nicht. Was hatte er im Geräteschuppen zu tun gehabt? Einen Bleistift holen, was? Kalle lachte höhnisch. Dann sah er sich um. Vielleicht entdeckte er noch andere Spuren von Onkel Einars Besuch. Ein spärliches Licht fiel durch die Kellerlöcher, aber das reichte nicht aus, um in alle Winkel und Ecken zu leuchten. Übrigens war es ja gar nicht sicher, daß Onkel Einar sich nur in dem Teil des Kellers aufgehalten hatte, der der Treppe am nächsten lag und wo die Kinder ihre Namen an die Wand geschrieben hatten. Das Kellergeschoß war groß. Dunkle Gänge verzweigten sich nach allen Seiten. Kalle hatte keine Lust, seine Entdek-kungsfahrt unter den dunklen Gewölben fortzusetzen. Das würde auch keinen Zweck haben, da er keine Taschenlampe bei sich hatte. Aber eines war sicher: Onkel Einar würde niemals den Dietrich zurückbekommen, dafür entschied Kalle sich sofort. Natürlich widersetzte sich sein Gewissen ein wenig und meinte, daß man etwas, was einem nicht gehörte, nicht behalten dürfte, aber Kalle beschwichtigte bald diese Einwände. Wozu brauchte Onkel Einar einen Dietrich? Wer weiß, welche Türen er damit zu öffnen beabsichtigte? Wenn Kalle mit seiner Auffassung recht hatte, daß Onkel Einar eine dunkle Gestalt war, dann verübte er ja nur eine gute Tat, wenn er den Dietrich behielt. Und außerdem – es war allzu verlockend, ihn zu behalten. Anders und Eva-Lotte und er könnten ihr Hauptquartier im Kellergewölbe haben; sie würden alles untersuchen können, und vielleicht würden sie auch herauskriegen, was Onkel Einar hier gemacht hatte. »Das letztere entscheidet die Sache«, sagte sich Kalle entschlossen. Er war im Begriff zu gehen. Da sah er am Fuße der Treppe einen kleinen weißen Gegenstand. Er beugte sich schnell hinunter und hob ihn auf. Eine Perle war es, eine weiße, schimmernde Perle! FÜNFTES KAPITEL Kalle lag auf dem Rücken unter dem Birnbaum. Er wollte denken, und das ging am besten in dieser Stellung. »Natürlich ist es möglich, daß die Perle schon seit Gustav Vasas Zeiten dagelegen hat, weil irgendein nachlässiges adliges Huhn in den Keller gegangen ist, um eine Flasche Bier zu holen, und dabei seine Perlenkette verloren hat«, sagte Meisterdetektiv Blomquist. »Aber ist das anzunehmen? Wenn man ein kriminalistisches Rätsel lösen soll«, fuhr er fort und drehte sich zur Seite, um seinem eingebildeten Zuhörer in die Augen sehen zu können, »muß man immer mit dem Wahrscheinlichen rechnen. Und« – der Meisterdetektiv hieb mit der Faust hart auf die Erde – »das Wahrscheinliche ist, daß die Perle nicht seit Gustav Vasas Zeiten dagelegen hat, denn da hätte sich doch wohl vor mir schon einer gefunden, der die Augen offen gehabt und sie gesehen hätte. Im übrigen, wenn die Perle schon vorgestern bei unserem Besuch vorhanden gewesen wäre, so hätte wohl ein aufgeweckter junger Mann wie ich sie schon gleich entdeckt. Besonders, da ich den Fußboden ganz genau untersucht habe. Jaja« – er winkte abwehrend mit der Hand zu seinem eingebildeten Zuhörer hin, der offensichtlich seiner Bewunderung Ausdruck gab –, »es ist reine Routinearbeit, nichts weiter! Was können wir also für einen Schluß daraus ziehen? Mit der aller-größten Wahrscheinlichkeit hat der sogenannte Onkel Einar die Perle bei seinem nächtlichen Besuch in der Schloßruine verloren. Nun, junger Mann, habe ich recht?« Der eingebildete Zuhörer machte anscheinend keine Einwendungen, denn Meisterdetektiv Blomquist fuhr fort: »Nun ist die Frage: Hat man Onkel Einar, mit einer Perlenkette geschmückt, gesehen? Läuft er, von Perlen und Edelsteinen glitzernd, herum?« Der Meisterdetektiv ließ seine Hand mit einem entscheidenden Schlag auf die Erde fallen. »Gewiß nicht! Deswegen« – er faßte seinen eingebildeten Zuhörer am Rockauf-schlag –, »wenn nun dieser Onkel Einar mit Perlen um sich wirft, so habe ich das Recht, dies als einen verdächtigen Um-stand zu betrachten, nicht wahr?« Man hörte keinen Protest. »Doch«, fuhr der Meisterdetektiv fort, »gehöre ich nicht zu denen, die jemanden nur auf Grund von Indi… Indizien verurtei-len. Die Sache muß untersucht werden, und ich glaube, behaupten zu können, daß ich der richtige Mann dafür bin.« Hier brach sein eingebildeter Zuhörer in eine solche Flut von schmeichelhaften Zusicherungen aus. betreffend Herrn Blomquists Fähigkeit, alles herauszukriegen, was immer es auch sein mochte, daß sogar Herr Blomquist fand, es ginge zu weit. »Na, na, keine Übertreibungen«, sagte er mild. »Der beste Detektiv, den es jemals gegeben hat – das ist doch wohl etwas übertrieben. Lord Peter Wimsey ist ja auch nicht auf den Kopf gefallen.« Er holte sein Notizbuch hervor. In der Rubrik »Besonders verdächtige Umstände« fügte er hinzu: »Stattet nächtlichen Besuch in der Schloßruine ab. Verliert Perlen.« Er las, sehr zufrieden, alles durch, was er über Onkel Einar geschrieben hatte. Nun gab es nur noch etwas hier im Leben, was er sich wünschte: Onkel Einars Fingerabdruck! Er hatte es den ganzen Vormittag versucht, indem er stundenlang um sein Opfer herumgeschlichen war. Er hatte das kleine Stempelkissen, das zu seiner Druckerei gehörte, auf die durchtriebenste Weise hingestellt, in der Hoffnung, daß Onkel Einar aus Versehen seinen Daumen erst auf das Stempelkissen und dann auf ein geeignetes Papier setzen würde. Aber merkwürdigerweise war Onkel Einar nicht in die Falle gegangen. »Raffiniert, natürlich!« schnaubte Kalle. »Es bleibt wahrscheinlich gar nichts anderes übrig, als ihn zu chloroformieren und seinen Fingerabdruck zu nehmen, während er bewußtlos ist.« »Und hier liegst du, du Rindvieh, und die Vorstellung soll in einer Viertelstunde anfangen!« Anders hing über dem Zaun und warf grimmige Blicke auf den voll Behagen ruhenden Kalle. Kalle fuhr in die Höhe. Es war nicht leicht, sowohl Detektiv als auch Zirkuskünstler zu sein. Er kroch durch die Zaunöffnung und fiel an Anders’ Seite in Laufschritt. »Sind Leute gekommen?« keuchte er. »Und ob! Jeder Sitzplatz ist besetzt!« »Da sind wir wohl beinahe reich?« »Achtfünfzig«, sagte Anders. »Aber du hättest Eva-Lotte beim Billettverkauf ablösen sollen, anstatt wie ein Pascha auf dem Rasen zu liegen.« Sie rannten die Treppe zum Bäckereiboden hinauf. Da stand Eva-Lotte und schaute durch den Spalt zwischen den geschlossenen Luken hindurch. »Volles Haus«, sagte sie. Kalle ging nach vorn und sah auch hinunter. Da saßen alle Kinder des Viertels und auch ein ganz Teil andere. Auf der ersten Bank thronte Onkel Einar. An seiner Seite saßen Bäckermeister Lisander und seine Frau, und auf der zweiten Bank sah Kalle seinen Vater und seine Mutter. »Ich bin so nervös, daß die Beine unter mir nachgeben«, wimmerte Eva-Lotte. »Bereitet euch darauf vor, daß ich euch bei der Akrobatennummer auf den Kopf falle. Und das Brotwagenpferd ist schlechter Laune, so daß ich auch für meine Pfer-dedressur das Schlimmste fürchte.« »Blamier uns nicht, das sage ich dir«, sagte Anders. »Das Spiel kann beginnen!« rief Onkel Einar ungeduldig. »Das bestimmen wohl wir, denke ich«, sagte der Zirkusdirektor brummig zu seinen Mithelfern. Aber er setzte jedenfalls seinen hohen Hut oder vielmehr Bäckermeister Lisanders hohen Hut auf, öffnete die Luke, nahm das Seil und schwang sich in die Arena hinunter. Eva-Lotte stieß einen schrillen Trompeten-stoß aus, und das Publikum applaudierte wohlwollend. Währenddessen hatte Kalle sich die Treppe hinuntergeschlichen und das Brotwagenpferd geholt, das an einem Baum angebunden war. Vor den angenehm überraschten Blicken des Publikums führte er das Tier zwischen den Zuschauerbänken herein. Der Zirkusdirektor nahm seinen Hut ab, verbeugte sich höflich, ergriff eine Peitsche, die an der Bäckereiwand gelehnt hatte, und knallte damit. Sowohl er wie das Publikum erwarteten, daß das Pferd nun einen raschen Trab um die Arena herum machen würde, aber es war nicht in der Stimmung dazu. Es glotzte nur einfältig das Publikum an. Der Zirkusdirektor knallte noch einmal mit der Peitsche und flüsterte, deutlich hörbar für das Publikum: »Los, du dummes Vieh!« Da beugte sich das Pferd herunter und fraß einige Grashalme, die aus den Sägespänen hervorschauten. Vom Bäckereiboden hörte man ein lustiges Kichern. Es war die auf ihren Auftritt wartende Kunstreiterin, die ihre Fröhlichkeit nicht beherrschen konnte. Auch das Publikum amüsierte sich, besonders Onkel Einar und Eva-Lottes Mutter. In diesem Augenblick griff der Stallknecht Kalle ein. Er nahm das Pferd am Zaum und führte es ganz einfach zur Luke hin. Eva-Lotte nahm das Seil und machte sich zu einem entscheidenden Sprung auf den Pferderücken bereit. Aber da kam das Pferd in Fahrt. Es machte einen Sprung, der einem richtigen Zirkuspferd Ehre gemacht hätte, und als Eva-Lotte am Seil heruntergerutscht war, war kein Pferderücken zum Landen da. Sie blieb an der Leine hängen, kläglich mit den Beinen zap-pelnd, bis es Anders und Kalle gelungen war, das Pferd zurück-zuholen. Eva-Lotte glitt auf seinen Rücken hinunter, warf dem Publikum Handküsse zu und versuchte, so auszusehen, als ob ihr Beineschlenkern die einzig richtige Art aufzutreten für eine Zirkusprimadonna wäre. Anders knallte mit der Peitsche, und das Pferd trottete artig in der Arena herum. Eva-Lotte klemmte ihre beiden nackten Fersen in seine Seiten, um es etwas feuriger zu machen, aber vergebens. »Schaf«, schnaubte Eva-Lotte. Aber es war auch für mündliches überreden nicht empfänglich. Es war so gedacht gewesen, daß das Pferd in der Arena herumgaloppieren und durch seine lebhaften Sprünge das Urteil des Publikums irreführen sollte, so daß man nicht merkte, daß die Kunststücke, die Eva-Lotte auf dem Pferderücken ausführte, ziemlich einfach waren. Aber da das Pferd sich weigerte, einen wirklich herzhaften Einsatz zu machen, war es unvermeidlich, daß die ganze Nummer etwas lahm wirkte. »Und dem hat man nun jahrelang Hafer gegeben«, dachte Eva-Lotte bitter. Zuletzt knallte indessen der wütende Zirkusdirektor einen Peitschenhieb direkt unter die Nase des Brotwagenpferdes hin, so daß es sich vor Schreck auf die Hinterbeine stellte. Das gab der Nummer einen höchst dramatischen Abschluß und erhöhte den Gesamteindruck bedeutend. »Aber wenn die Akrobatennummer auch mißlingt«, sagte Anders hinterher oben auf dem Boden, »dann müssen wir das Eintrittsgeld zurückzahlen. Ein Zirkuspferd, das sich hinstellt und zu weiden anfängt, das ist unanständig! Jetzt fehlt bloß noch, daß Eva-Lotte während der Akrobatennummer Schnecken ißt.« Aber das tat Eva-Lotte nicht, und »Die drei Desperados« hatten einen strahlenden Erfolg. Onkel Einar brach einen weißen Fliederzweig ab und überreichte ihn mit einer tiefen Verbeugung Eva-Lotte. Der Rest des Programms stand nicht ganz auf dem gleichen hohen Niveau, aber die Clownnummer glückte sehr, ebenso Eva-Lottes Lied. Eigentlich wurden ja sonst in einem Zirkus keine Lieder vorgetragen, aber es war nötig, um das Programm auszufüllen, und Eva-Lotte hatte es selbst ge-dichtet. Es handelte meistens von Onkel Einar. »Aber nein, Eva-Lotte«, sagte ihre Mutter, nachdem sie fertig war, »man darf doch nicht so anzüglich älteren Menschen gegenüber sein.« »Doch, gegen Onkel Einar ja!« Da lachte Onkel Einar sein wieherndes Lachen und brach einen neuen Fliederzweig für Eva-Lotte ab. »Laß meinen Flieder in Ruhe!« brummte der Bäckermeister. Nach Schluß der Vorstellung lud Frau Lisander zum Kaffee in der Laube ein. Lebensmittelhändler Blomquist und Bäckermeister Lisander saßen oft des Abends in der Laube und sprachen über Politik. Mitunter erzählten sie auch Geschichten, und dann setzten sich Eva-Lotte und Kalle und Anders mit hin und hörten zu. »Wirklich, ich glaube wahrhaftig, daß heute alle Kaffeetassen Ohren haben«, sagte der Bäckermeister. »Da wird wohl bald die Welt untergehen. Wie ist das mit dir, Miachen«, fragte er mit einem freundlichen Blick auf seine Frau, »hast du heute so viel zu tun gehabt, daß du keine Zeit hattest, ein paar Kaffeetassen zu zerhauen?« Frau Lisander lachte unbekümmert und bot Frau Blomquist Napfkuchen an. Der Bäckermeister ließ seine üppige Gestalt auf einen Gartenstuhl sinken und warf einen forschenden Blick auf den Vetter seiner Frau. »Wird es nicht langweilig, so umherzugehen und nichts zu tun?« fragte er. »Ich beklage mich nicht«, sagte Onkel Einar. »Ohne Arbeit kann ich es aushalten Ich möchte nur wünschen, ich könnte besser schlafen.« »Du kannst ein Schlafpulver von mir bekommen«, sagte Frau Lisander. »Ich habe noch welche übrig von denen, die der Arzt mir gab, als ich Schmerzen im Arm hatte.« »Ich möchte wissen, ob Arbeit nicht besser wäre als Schlafpulver«, sagte der Bäckermeister. »Steh morgen früh um vier auf und hilf mir, die Brote auszubacken, dann garantiere ich dir, daß du die nächste Nacht schläfst.« »Danke, ich ziehe Schlafpulver vor«, sagte Onkel Einar. Meisterdetektiv Blomquist, der neben seiner Mutter an der anderen Seite des Tisches saß, dachte für sich: »Eine gute Art, wenn man schlafen will, ist, ruhig in seinem Bett zu liegen. Wenn man die ganze Nacht umherwandert, dann ist es ja wohl kein Wunder, daß man kein Auge zumachen kann. Aber wenn er ein Schlafpulver bekommt, dann wird er schon eindösen.« Anders und Eva-Lotte waren fertig mit Kaffeetrinken. Sie setzten sich auf den Rasen vor der Laube und bliesen auf Gras-halmen, sehr zufrieden mit den fürchterlichen Tönen, die her-auskamen. Kalle wollte sich gerade zu ihnen setzen. Er wußte, daß die Töne, die er selbst mit Hilfe eines Grashalmes hervor-bringen konnte, das meiste in dieser Richtung übertrafen. Aber gerade da bekam er den Gedanken! Den strahlenden und genia-len Gedanken, eines Meisterdetektivs würdig! Er nickte bestätigend. Ja, ja, gerade so mußte es geschehen! Er sprang auf, riß einen Grashalm ab und blies eine gellende und triumphierende Fanfare. SECHSTES KAPITEL Natürlich war die Sache nicht ohne Risiko. Aber ein Detektiv muß etwas wagen. Will er das nicht, dann kann er sich ebensogut den Detektivberuf aus dem Sinn schlagen und sich als Wurstverkäufer oder sonstwas etablieren. Kalle hatte keine Furcht. Aber spannend war es, mächtig spannend. Er hatte seinen Wecker auf zwei Uhr gestellt. Zwei Uhr war ein geeigneter Zeitpunkt. Wie lange dauerte es, bis ein Schlafpulver wirkte? Kalle wußte es nicht genau. Aber sicher würde Onkel Einar um zwei Uhr wie ein Murmeltier schlafen, Kalle konnte sich nichts anderes vorstellen. Und da sollte es passieren! Denn wenn man endlich eine »mystische Person« gefunden hat, muß man den Fingerabdruck der »Person« haben. Personalbeschreibung und Muttermal und all das ist sicher gut, aber nichts kommt an einen ehrlichen Fingerabdruck heran. Kalle warf einen letzten Blick aus dem Fenster, bevor er ins Bett kroch. Die weißen Gardinen des gegenüberliegenden Fensters blähten sich leise im Abendwind. Da drinnen war Onkel Einar. Vielleicht nahm er eben das Schlafpulver und legte sich ins Bett. Kalle rieb sich vor Spannung die Hände. Das würde keine schwere Sache werden. Viele, viele Male hatten Eva-Lotte und er und Anders diese Feuerleiter benutzt, zuletzt im Frühjahr, als sie eine Räuberhöhle auf Eva-Lottes Boden hatten. Und wenn Onkel Einar rausklettern konnte, dann konnte Kalle rein-klettern! »Um zwei Uhr passiert es, so wahr ich lebe!« Kalle kroch in sein Bett und schlief augenblicklich ein. Er schlief unruhig und träumte, daß Onkel Einar ihn rund um den Bäckereigarten jagte. Kalle rannte wie um sein Leben, aber Onkel Einar kriegte ihn schließlich. Er packte Kalle hart am Genick und sagte: »Weißt du nicht, daß alle Detektive eine Blechbüchse am Schwanz festgebunden haben müssen, so daß man hört, wenn sie kommen?« »Ja, aber ich habe gar keinen Schwanz«, verteidigte sich Kalle unglücklich. »Ach, Unsinn, natürlich hast du einen Schwanz! Wie nennst du denn das sonst?« Und als Kalle hinschaute, hatte er genauso einen Schwanz wie Tusse. »So«, sagte Onkel Einar und band die Blechbüchse fest. Kalle machte einige Sprünge, und die Blechbüchse klapperte ganz furchtbar. Er war so unglücklich, daß er hätte weinen können. Was würden Anders und Eva-Lotte sagen, wenn er auf diese Weise angerasselt kam? Niemals mehr würde er mit ihnen spielen können. Niemand wollte wohl gern mit jemand zusammen sein, der so einen Lärm machte. Da standen ja übrigens Anders und Eva-Lotte! Sie lachten ihn aus. »So geht es mit Detektiven«, sagte Anders. »Ist es wirklich wahr, daß alle Detektive Blechbüchsen am Schwanz haben müssen?« fragte Kalle. »Absolut«, sagte Anders. »Das steht im Gesetz.« Eva-Lotte hielt sich die Ohren zu. »Pfui Teufel, was für einen Krach du machst«, sagte sie. Kalle mußte zugeben, daß der Lärm schlimmer als je war. Das klapperte und schmetterte – ach, wie das schmetterte! Kalle erwachte. Der Wecker! Donnerwetter, wie der läutete! Kalle stellte ihn eiligst ab. Im Augenblick war er hellwach. Gott sei Dank, er hatte keinen Schwanz! Es gibt vieles hier auf der Welt, wofür man dankbar sein muß. Aber jetzt schnell ans Werk! Er lief zur Schreibtischschublade. Da lag das Stempelkissen. Er steckte es in die Tasche. Ein Stück Papier mußte er auch haben. Dann war er fertig. Nie war er so vorsichtig die Treppe hinuntergeschlichen, und er vermied die Stufen, von denen er aus Erfahrung wußte, daß sie knarrten. »Alles ruhig, sagte der Dieb!« Kalle fühlte sich richtig ausgelassen. Er preßte seinen kleinen, dünnen Jungenkörper durch die Zaunöffnung, und jetzt stand er im Bäckereigarten. Wie still alles war! Und wie der Flieder duf-tete! Und der Apfelbaum! Alles war ganz anders als am Tage. In allen Fenstern war es dunkel. Auch in Onkel Einars! Es gab Kalle einen kleinen Stoß, als er den Fuß auf die Feuerleiter setzte. Zum ersten Male fühlte er ein bißchen Angst aufsteigen. War ein Fingerabdruck so viel Ungelegenheit wert? Er wußte eigentlich nicht, wozu er diesen Fingerabdruck haben wollte. Aber – so überlegte er – Onkel Einar ist sicher ein Schurke, und von allen Schurken nimmt man Fingerabdrücke. Also los, Fingerabdruck genommen von Onkel Einar! Das ist reine Routinearbeit, redete sich der Meisterdetektiv aufmunternd zu und fing an, die Feuerleiter hinaufzuklettern. »Wenn nun aber Onkel Einar hellwach im Bett sitzt und mich anstarrt, wenn ich den Kopf reinstecke, was sage ich dann?« Kalles Bewegungen wurden etwas zögernd, »’n Abend, Onkel Einar, schönes Wetter heute nacht! Ich mache nur einen kleinen Spaziergang die Leiter rauf und runter!« – Nein, das ging nicht! »Ich hoffe, es war ein sehr starkes Schlafmittel, das Tante Mia ihm gegeben hat«, dachte Kalle und versuchte, sich überlegen zu fühlen. Aber trotzdem empfand er es ungefähr so, als ob er seinen Kopf in eine Schlangengrabe steckte, als er sich über das Fensterbrett schob. Es war dunkel im Zimmer, aber nicht so, daß man sich nicht hätte orientieren können. Kalle glich in diesem Augenblick einem kleinen ängstlichen und neugieri-gen Wiesel, das bereit war, beim ersten Anzeichen von Gefahr zu entwischen Da stand das Bett. Man hörte tiefe Atemzüge aus der Richtung. Gott sei Dank, Onkel Einar schlief! Unwahrscheinlich leise kroch Kalle über das Fensterbrett. Hin und wieder hielt er an, um zu lauschen. Aber alles war ruhig. »Vielleicht hat sie ihm Rattengift gegeben, da er so fest schläft«, dachte Kalle. Er legte sich platt auf den Bauch und schlängelte sich vorsichtig zu seinem Opfer hin. Reine Routinearbeit! Was für ein Glück! Onkel Einars rechte Hand hing schlaff an der Bettkante herunter. Man brauchte sie nur zu nehmen und dann … Gerade da murmelte Onkel Einar etwas im Schlaf und warf seine Hand über das Gesicht. Bum, bum, bum – Kalle fragte sich, ob eine Dampfmaschine im Zimmer versteckt sei. Aber es war nur sein Herz, das klopfte, als ob es Lust hätte herauszuspringen. Indessen schlief Onkel Einar weiter. Jetzt lag die Hand auf der Bettdecke. Kalle öffnete den Deckel des Stempelkissens, und vorsichtig, als ob er glühende Kohlen anfassen wollte, nahm er Onkel Einars Daumen und drückte ihn gegen das Stempelkissen. »Äh – puh«, sagte Onkel Einar. Jetzt ging es nur darum, das Stück Papier hervorzuholen. Wo in aller Welt hatte er es gelassen? Das war ja reizend! Da lag sein Schurke mit Stempelfarbe am Daumen, alles war wie zu-rechtgelegt, und jetzt fand er das Papier nicht – ja, jetzt hatte er es! Es war da! In der Hosentasche! Mit großer Vorsicht drückte er Onkel Einars Daumen gegen das Papier. Die Sache war in Ordnung. Er hatte den Fingerabdruck, und er hätte nicht zufriedener sein können, wenn er eine weiße Maus bekommen hätte, was sonst das war, was sein Herz am meisten begehrte. Jetzt langsam zurückkriechen und sich über das Fensterbrett schwingen! Das war ja so einfach. Ja, alles wäre sicher nach Berechnung gegangen, wenn Tante Mia nicht so ein Blumenfreund gewesen wäre. In der anderen Hälfte des Fensters, in der, die nicht offen war, stand eine kleine bescheidene Geranie. Kalle erhob sich vorsichtig aus seiner liegenden Stellung und … Einen Augenblick lang glaubte er, daß es ein Erdbeben oder eine andere Naturkatastrophe war, was diesen schrecklichen Lärm zustande brachte. Und es war doch nur ein armer kleiner Blumentopf. Kalle stand aufrecht am Fenster mit dem Rücken zu Onkel Einars Bett. »Jetzt sterbe ich«, dachte er, »und das ist ganz gut.« Mit jeder Fiber seines Wesens hörte und fühlte und begriff er, daß Onkel Einar aufgewacht war. Kein Wunder übrigens, dieser Blumentopf hatte wahrhaftig ein Leben geführt, als ob er ein ganzer Blumenladen wäre. »Hände hoch!« Es war Onkel Einars Stimme, aber doch nicht die seine. Sie klang, ja – sie klang wie Stahl. Es ist immer am besten, einer Gefahr gerade ins Auge zu sehen. Kalle drehte sich um und blickte direkt in eine Revolver mündung. Ach, in der Phantasie hatte er es so viele, viele Male getan, und es hatte ihm niemals etwas angehabt. Mit einem schnellen Schlag hatte er den Kerl überrumpelt, der auf ihn gezielt hatte, und mit einem »Nicht so eilig, mein bester Herr« hatte er ihm geschickt den Revolver entwunden. In der Wirklichkeit ging es etwas anders zu. Kalle hatte wohl viele Male in seinem Leben Angst gehabt. Er hatte Angst gehabt, als der Hund des Bankdirektors ihn einmal auf dem Marktplatz angefallen hatte und als er im Winter einmal in ein Eisloch gefallen war, aber niemals, niemals hatte er eine so lähmende, quälende Angst gefühlt wie in dieser Minute. »Mutter«, dachte er. »Komm näher!« sagte die Stahlstimme. Wie kann man gehen, wenn man nur ein paar weiche Makka-roni hat, wo sonst die Beine sind? Er machte jedenfalls einen Versuch. »Was in aller Welt – bist du es, Kalle?« Der Stahl war aus Onkel Einars Stimme weg, aber er fuhr streng fort: »Was machst du eigentlich hier mitten in der Nacht? Antworte!« »Hilfe«, wimmerte Karl innerlich. »Wie soll ich es erklären?« In Stunden der höchsten Not bekommt man mitunter eine Eingebung, die einen retten kann. Kalle erinnerte sich, daß er vor einigen Jahren zu schlafwandeln pflegte. Er war des Nachts irgendwo umherspaziert, bis seine Mutter mit ihm zum Doktor ging und er Beruhigungsmittel bekam. »Na, Kalle?« sagte Onkel Einar. » Wie bin ich hierhergekommen?« sagte Kalle. »Wie bin ich hergekommen? Ich habe doch wohl nicht wieder angefangen, im Schlaf umherzugehen? Ach, jetzt fällt mir ein, ich habe ja von dir geträumt, Onkel Einar (das war ja wahr, dachte Kalle). Entschuldige vielmals, daß ich dich gestört habe.« Onkel Einar hatte den Revolver weggesteckt. Er klopfte Kalle auf die Schulter. »Jaja, mein lieber Meisterdetektiv«, sagte er. »Ich glaube, es sind alle deine Detektivideen, die dich im Schlaf umherwandern lassen. Bitte deine Mutter, daß sie dir etwas Brom gibt, bevor du schlafen gehst. Du wirst sehen, das hilft. Jetzt ist es wohl am besten, ich begleite dich hinaus.« Onkel Einar ging mit ihm die Treppe hinunter und öffnete die Haustür. Kalle verbeugte sich. Eine Sekunde später schlüpfte er durch den Zaun in einer Fahrt wie ein eingeseiftes Kaninchen. »Ich bin klein, mein Herz ist rein …« flüsterte er. Er fühlte sich wie ein Mensch, der eben aus schwerer Seenot gerettet worden ist. Seine Beine zitterten so merkwürdig. Er konnte sich gerade eben die Treppe hinaufschleppen, und als er in sein Zimmer kam, sank er aufs Bett. »Ich bin klein, mein Herz ist rein …« flüsterte er wieder. So saß er lange. Ein gefährlicher Beruf, der Detektivberuf! Manche glauben, das sei reine Routinearbeit – so einfach ist das nicht! Stets und ständig wird man vor offene Revolvermündungen gestellt, ja, wahrhaftig! Kalles Beine fingen langsam an, sich wieder normal zu fühlen. Der lähmende Schreck war fort. Er steckte die Hand in die Hosentasche. Da lag das kostbare Papier. Kalle hatte keine Angst mehr. Er war glücklich. Ganz vorsichtig nahm er das kleine Stück Papier und legte es in den linken Schreibtischkasten. Da lagen schon der Dietrich und die Zeitung und die Perle. Eine Mutter, die ihre Kinder betrachtet, konnte keinen wärmeren Augenaus-druck haben als Kalle, wenn er auf den Inhalt des Kastens blicke. Er verschloß ihn sorgfältig und steckte den Schlüssel ein. Dann nahm er sein Notizbuch hervor und schlug Onkel Einars Seite auf. Da war wieder ein kleiner Nachtrag nötig. »Besitzt Revolver«, schrieb Kalle. »Schläft mit ihm unter dem Kopfkissen.« Um diese Zeit des Jahres frühstückte Familie Lisander auf der Veranda. Sie hatten gerade angefangen, als Anders und Kalle in der Nähe auftauchten, um Eva-Lottes Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Kalle hätte gern gewußt, ob Onkel Einar etwas von seinem nächtlichen Besuch erwähnen würde. Aber Onkel Einar aß seine Hafergrütze, als ob nichts geschehen wäre. »Nein aber, Einar, wie ärgerlich!« sagte Frau Lisander plötzlich. »Ich habe ja vergessen, dir gestern abend das Schlafmittel zu geben!« SIEBTES KAPITEL »Das Spaßigste bei einer Sache sind die Vorbereitungen«, hatte Anders unmittelbar nach der Zirkuspremiere konstatiert. Die Vorstellung selbst war sicher sehr spannend und lustig gewesen, aber es waren jedenfalls die Tage vorher, angefüllt mit Proben und intensiven Vorbereitungen, die im Gedächtnis zurückblie-ben. Die gewesenen Zirkuskünstler gingen umher und wußten nicht richtig, was sie anfangen sollten. Kalle war derjenige, der am wenigsten eine Beschäftigung vermißte. Die Detektivwirksamkeit gab seinen Tagen, und mitunter auch seinen Nächten, Inhalt. Seine Fahndungstätigkeit, die sich bis jetzt nur auf das Allgemeine gerichtet hatte, konzen-trierte sich nun ganz auf Onkel Einar. Anders und Eva-Lotte sagten oft, sie wünschten, daß Onkel Einar wieder abreisen möchte, aber Kalle sah mit Schrecken dem Tag entgegen, da der Schurke, »sein« Schurke, den Koffer packen und ihn ohne »mystische Person« zurücklassen würde, um die seine Gedanken kreisen konnten. Und es wäre doch sehr ärgerlich, wenn Onkel Einar verschwinden würde, ohne daß Kalle dahintergekommen war, was für eine Art Verbrecher er eigentlich war. Daß er ein Verbrecher war, daran zweifelte Kalle nicht einen Augenblick. Ganz gewiß hatten Kalles frühere Verbrecher sich nach und nach als durchaus eh-renhafte Menschen erwiesen, oder man konnte ihnen jedenfalls keine Missetat nachweisen, aber diesmal war Kalle seiner Sache sicher. »So viele Indizien – es muß stimmen, etwas anderes ist nicht möglich!« versuchte er sich selbst zu überzeugen, wenn ihn hin und wieder Zweifel packten. Aber Anders und Eva-Lotte interessierten sich nicht eine Spur für die Bekämpfung von Verbrechen. Sie gingen umher und langweilten sich. Aber glücklicherweise passierte es doch, daß Postdirektors Sixtus eines Tages Anders »Poussierstengel« nachrief, als Anders mit Eva-Lotte die Hauptstraße entlangkam, und das, obwohl im Augenblick Friedenszustand zwischen Sixtus’ Bande und der von Anders herrschte. Offenbar langweilte sich Sixtus auch, und er wollte wohl aus diesem Grunde die Streitaxt wieder ausgraben. Anders blieb stehen. Eva-Lotte auch. »Was hast du gesagt?« fragte Anders. »Poussierstengel!« Sixtus spuckte das Wort gleichsam aus. »Ach so«, sagte Anders. »Ich hatte gehofft, ich hätte falsch gehört. Schade, daß ich dich bei dieser Hitze verprügeln muß!« »Ach, das macht nichts«, sagte Sixtus. »Ich kann ja hinterher ein Stück Eis auf deine Stirn legen. Wenn du dann noch lebst!« »Wir treffen uns heute abend auf der Prärie«, sagte Anders. »Geh nach Hause und bereite deine Mutter so schonend wie möglich vor.« Sie trennten sich, und Anders und Eva-Lotte gingen nach Hause und alarmierten, äußerst aufgelebt, Kalle. Es zog sich zu einer Fehde zusammen, die sicher einen guten Teil ihrer Sommerferien vergolden würde. Kalle war vollauf damit beschäftigt, durch den Zaun Onkel Einar zu beobachten, wie er im Garten wie ein unseliger Geist umherwankte. Kalle wollte eigentlich nicht gestört werden. Aber trotzdem gefiel ihm die Mitteilung, daß Sixtus die Streitaxt ausgegraben hatte. Sie setzten sich alle drei in Eva-Lottes Laube und disku-tierten die Sache. Aber da tauchte Onkel Einar auf. »Keiner spielt mit mir!« jammerte er. »Was geht hier eigentlich vor?« »Wir haben eine Schlägerei vor«, sagte Eva-Lotte kurz. »Anders soll sich mit Sixtus schlagen.« »Und wer ist Sixtus?« »Einer der stärksten Jungen der Stadt«, sagte Kalle. »Anders bekommt sicher Prügel.« »Die kriege ich bestimmt«, gab Anders vergnügt zu. »Soll ich mitkommen und dir helfen?« schlug Onkel Einar vor. Anders und Kalle und Eva-Lotte starrten ihn an. Glaubte er wirklich, sie würden einen Erwachsenen sich in ihre Schlägerei-en einmischen lassen? Und alles verderben! »Na, Anders, was sagst du zu meinem Vorschlag?« fragte Onkel Einar. »Soll ich mitkommen?« »Nee«, sagte Anders, unangenehm berührt davon, auf so etwas Dummes antworten zu müssen. »Nee, das wäre nicht anständig.« »Nein, vielleicht nicht«, gab Onkel Einar zu und sah etwas beleidigt aus. »Obwohl es zweckmäßig wäre. Aber du bist wohl noch etwas zu jung, um zu verstehen, was zweckmäßig ist. Das ist etwas, was man so nach und nach lernt.« »Ich hoffe, daß er niemals so etwas Albernes lernt«, sagte Eva-Lotte. Da drehte sich Onkel Einar auf dem Absatz um und ging. »Ich glaube wahrhaftig, er ist böse«, sagte Eva-Lotte. »Ja, sicher sind Erwachsene manchmal komisch, aber der da ist noch komischer als die meisten anderen«, sagte Anders kopf-schüttelnd. »Er wird ja mit jedem Tag nörgliger und nörgliger.« »Jaja, wenn ihr wüßtet!« dachte Kalle. Die Prärie war eine große Gemeindewiese außerhalb der Stadt. Sie war mit einer üppigen Buschvegetation bewachsen. Die Prärie gehörte der Jugend der Stadt. Hier lebte man Goldgräberle-ben in Alaska, streitbare Musketiere kämpften heftige Duelle aus, Lagerfeuer wurden in den felsigen Bergen entzündet, im afrikanischen Busch wurden Löwen geschossen, edle Ritter sprengten auf ihren stolzen Rossen heran, wüste Chikagogang-ster erhoben ohne Erbarmen ihre Maschinenpistolen – alles hing davon ab, welcher Film gerade im Kino der Stadt zu sehen war. Während des Sommers war das Kino natürlich geschlossen, aber man war trotzdem nicht in Verlegenheit. Es gab meistens eine ganze Reihe privater Keilereien, die ausgetragen werden sollten, und auch friedliche Spiele konnte man vorteilhafterwei-se nach der Prärie verlegen. Dahin lenkten Anders, Kalle und Eva-Lotte in einem Zustand gespannter Erwartung ihre Schritte. Sixtus war mit seiner Bande schon da. Die Mitglieder der Bande hießen Benka und Jonte. »Hier kommt einer, dessen Herzblut ich sehen will!« schrie Sixtus und fuchtelte lebhaft mit den Armen. »Was hast du für Sekundanten?« fragte Anders, ohne sich um die furchtbare Drohung zu kümmern. Seine Frage war mehr eine Formsache; er wußte ganz gut, welches die Sekundanten waren. »Jonte und Benka!« »Hier sind meine«, sagte Anders und zeigte auf Kalle und Eva-Lotte. »Welche Waffen ziehst du vor?« fragte Sixtus ganz regle-mentmäßig. Alle waren sich darüber klar, daß keine anderen Waffen als die Fäuste vorhanden waren, aber es machte immer einen guten Eindruck, auf Formen zu halten. »Die Handkoffer«, antwortete Anders ganz richtig, genau wie man es erwartet hatte. Und nun brach es los. Die vier Sekundanten standen in gebührendem Abstand und folgten dem Kampf mit so intensivem Einlebungsvermögen, daß ihnen der Schweiß herunterlief. Von den Kämpfern sah man nur ein Gewirr von Armen und Beinen und zerwühlten Haarschöpfen. Sixtus war der Stärkere, aber Anders war flink und geschmeidig wie ein Eichhörnchen. Es gelang ihm schon zu Anfang, ein paar ordentliche Volltreffer auf seinen Gegner loszulassen. Das hatte indessen nur den Erfolg, Sixtus zu unerhörter Kampflust anzufeuern. Es sah schlimm aus für Anders. Eva-Lotte biß sich in die Lippen. Kalle warf ihr einen schnellen Seitenblick zu. Er hätte sich selbst so furchtbar gern für sie in den Kampf geworfen. Aber es war leider Anders, der den Vorzug gehabt hatte, von Sixtus Poussierstengel genannt zu werden. »Hej, Anders!« schrie Eva-Lotte aus vollem Herzen. Aber jetzt war auch Anders so weit gekommen, wütend zu werden, und er warf sich in einen rasenden Nahkampf, der Sixtus zum Rückzug zwang. Nach den Vorschriften sollte ein Duell dieser Art nicht mehr als zehn Minuten dauern. Benka stand mit der Uhr in der Hand, und die beiden Duellanten, die wußten, daß die Zeit kostbar war, taten ihr Alleräußerstes, um den Kampf zu gewinnen. Aber jetzt schrie Benka »Abbrechen!«, und mit Aufwand aller ihrer Selbstbeherrschung kamen Sixtus und Anders seinem Befehl nach. »Unentschieden«, sagte Benka. Sixtus und Anders schüttelten einander die Hände. »Die Beleidigung ist abgewaschen«, sagte Anders. »Aber ich habe die Absicht, dich morgen zu beleidigen, und dann können wir weitermachen.« Sixtus nickte zustimmend. Das bedeutete Kampf zwischen der Weißen und der Roten Rose. Sixtus und Anders hatten ihre Banden nach einem hohen Vorbild aus der Geschichte Englands getauft. »Ja«, sagte Anders feierlich, »nun herrscht Kampf zwischen der Weißen und der Roten Rose, und tausend und aber tausend Seelen werden in den Tod gehen – hinein in die Nacht des Todes.« Diesen Ausdruck hatte er auch der Geschichte entnommen, und er fand, daß es seltsam schön klang, wie es hier so, nach beendetem Streit, herausgeschleudert wurde, während sich die Dämmerung auf die Prärie senkte. Die Weißen Rosen – Anders, Kalle und Eva-Lotte – tauschten ernsthaft Händeschütteln mit den Roten Rosen aus – Sixtus, Benka und Jonte –, und man trennte sich. Das Merkwürdige war, daß Sixtus Eva-Lotte, obwohl er glaubte, begründeten Anlaß zu haben, Anders Poussierstengel nachzurufen, als er mit Eva-Lotte die Straße entlanggekommen war, voll und ganz als würdigen Gegner und Repräsentanten für die Weiße Rose akzeptierte. Die drei Weißen Rosen gingen heimwärts. Besonders die Weiße Rose Kalle hatte es sehr eilig. Er fühlte sich niemals richtig ruhig, wenn er nicht jederzeit Onkel Einar unter Aufsicht hatte. »Es ist genauso, als ob man ein Hausschwein zu hüten hätte«, dachte Kalle. Anders hatte Nasenbluten. Gewiß hatte Sixtus gesagt, daß er sein »Herzblut« sehen wolle, aber ganz so gefährlich war es also nicht geworden. »Du hast diesmal einen feinen Match gehabt«, sagte Eva-Lotte bewundernd. »Na ja«, sagte Anders bescheiden und sah auf sein blutbe-flecktes Hemd. Es gab sicher Krach deswegen, wenn er nach Hause kam. Am besten war, es so schnell wie möglich überstan-den zu haben. »Wir treffen uns morgen«, sagte er abschließend und lief davon. Kalle und Eva-Lotte gingen zusammen. Aber da fiel es Kalle ein, daß seine Mutter ihn gebeten hatte, eine Abendzeitung zu kaufen. Er nickte Eva-Lotte zu und ging allein zum Zeitungskiosk. »Alle Abendzeitungen sind ausverkauft«, sagte die Dame im Kiosk. »Versuch es beim Hotelportier!« Na ja, da war nichts anderes zu machen. Vor dem Hotel traf Kalle Schutzmann Björk. Kalle fühlte eine Welle kollegialer Sympathie für ihn. Ganz gewiß war Kalle Privatdetektiv, und Privatdetektive standen ja immer ein paar Stufen über den gewöhnlichen Polizisten, die sich meistens merkwürdig ungeschickt bei der Lösung selbst des einfachsten kriminalistischen Rätsels erwiesen, aber Kalle fühlte jedenfalls, daß es Bande der Gemeinsamkeit zwischen ihm und Schutzmann Björk gab. Sie wirkten beide für die Bekämpfung von Verbrechen in der Gesellschaft. Kalle hatte große Lust, Schutzmann Björk über das eine oder andere um Rat zu fragen. Sicher gab es keinen Zweifel darüber, daß Kalle ein für sein Alter besonders hervorragender Kriminalist war, aber er war doch trotz allem nicht älter als dreizehn Jahre. Meistens gelang es ihm, vor dieser Tatsache die Augen zu schließen, und unter seiner Detektivwirksamkeit stellte er sich immer sich selbst als einen reifen Mann mit scharfem durch-dringendem Blick vor, die Pfeife nachlässig im Mundwinkel, einen Mann, der mit »Herr Blomquist« angeredet und mit großer Ehrfurcht von den Mitgliedern der Gesellschaft behandelt wurde, während dagegen deren verbrecherische Elemente ihn mit tiefstem Schreck betrachteten. Aber gerade jetzt fühlte er sich nur als Dreizehnjähriger, und er war geneigt zuzugeben, daß Schutzmann Björk eine ganze Menge Erfahrung besaß, die ihm selbst abging. »’n Abend«, sagte Kalle. »’n Abend«, sagte Schutzmann Björk. Der Schutzmann warf einen forschenden Blick auf einen schwarzlackierten Ford, der vor dem Hotelportal parkte. »Ein Stockholmer Auto«, sagte er. Kalle stellte sich an seine Seite, die Hände auf dem Rücken. Eine ganze Weile standen sie still und betrachteten gedankenvoll die vereinzelten Abendwanderer, die über den Marktplatz gingen. »Onkel Björk«, sagte Kalle plötzlich, »wenn man glaubt, daß ein Mensch ein Schurke ist, was macht man da?« »Ihm eins aufs Maul geben«, sagte Schutzmann Björk vergnügt. »Ja, aber ich meine, wenn er ein Verbrechen begangen hat«, sagte Kalle. »Ihn festnehmen natürlich«, sagte der Schutzmann. »Ja, aber wenn man es nur glaubt, es aber nicht beweisen kann«, beharrte Kalle. »Ihn überwachen, was das Zeug hält!« Schutzmann Björk lachte ein breites Lachen. »Aha, du pfuschst mir ins Hand-werk!« sagte er freundlich. »Ich pfusche gar nicht«, dachte Kalle beleidigt. Niemand nahm ihn ernst. »Hallo, Kalle, jetzt muß ich mal zum Bahnhof runter. Mach inzwischen die Arbeit für mich!« Und damit ging Schutzmann Björk. Ihn überwachen, hatte er gesagt! Man kann doch nicht einen Menschen überwachen, der die ganze Zeit nur in einem Garten sitzt und sich selbst überwacht! Onkel Einar hatte überhaupt nichts vor. Er lag oder saß oder ging in Bäckermeisters Garten herum wie ein Tier in einem Käfig und wollte, daß Eva-Lotte und Anders und Kalle ihn unterhielten und ihm halfen, die Zeit totzuschlagen. Ja, gerade eben das – die Zeit totzuschlagen! Es sah nicht so aus, als ob Onkel Einar Ferien hatte, es sah aus, als ob er wartete. »Aber auf was? Das kriege ich nicht raus!« dachte Kalle und stieg die Treppe zum Hotel hinauf. Der Portier war im Augenblick beschäftigt, so daß Kalle warten mußte. In der Portierloge standen zwei Herren. »Können Sie mir sagen, ob ein Herr Brane hier im Hotel wohnt?« fragte der eine von ihnen. »Einar Brane?« Der Portier schüttelte den Kopf »Sind Sie ganz sicher?« »Ja, natürlich.« Die zwei Männer sprachen leise miteinander. »Und auch keiner, der Einar Lindeberg heißt?« fragte der eine. Kalle stutzte. Einar Lindeberg, das war ja, weiß Gott, Onkel Einar! Es ist immer angenehm, den Leuten mit Auskünften dienen zu können, und Kalle beabsichtigte gerade, den Mund auf-zumachen und zu erzählen, daß Einar Lindeberg bei Bäckermeister Lisander wohnte, aber im letzten Augenblick schluckte er es hinunter, und es kam nur ein zögerndes »Äh – hm« heraus. »Jetzt bist du nahe daran gewesen, eine Dummheit zu machen, mein lieber Kalle«, sagte er sich mit leisem Vorwurf. »Wir wollen erst mal warten und zusehen, wie das sich hier entwickelt.« »Nein, wir haben auch keinen Gast mit diesem Namen hier«, sagte der Portier bestimmt. »Nicht? Ja, Sie wissen natürlich auch nicht, ob jemand, der Brane oder Lindeberg heißt, sich hier in der Stadt in letzter Zeit aufgehalten hat? Und irgendwo anders als hier im Hotel gewohnt hat, meine ich.« Der Portier schüttelte wieder den Kopf. »All right! Können wir ein Doppelzimmer bekommen?« »Bitte sehr! Nummer 34 wird sicher gut passen«, sagte der Portier höflich. »Es kann in zehn Minuten in Ordnung sein. Wie lange bleiben die Herren?« »Das kommt darauf an! Ein paar Tage, nehme ich an.« Der Portier legte den Herren das Fremdenbuch vor, damit sie ihre Namen hineinschreiben konnten. Und Kalle kaufte seine Abendzeitung. Er war merkwürdig aufgeregt. »Es brennt, es brennt absolut!« flüsterte er für sich selbst. Es war ganz undenkbar, von hier fortzugehen, bevor er ein klares Bild von den Herren bekommen hatte, die nach Onkel Einar gefragt hatten. Er begriff sehr wohl, daß der Portier etwas erstaunt sein würde, wenn er, Kalle Blomquist, sich in die Hotelhalle setzte und die Zeitung läse, aber das war die einzige Möglichkeit. Kalle warf sich in einen der Ledersessel mit der Miene eines Engroshändlers auf Geschäftsreisen und hoffte von ganzem Herzen, daß der Portier ihn nicht hinauswerfen würde. Aber glücklicherweise mußte der Portier Telefonanrufe beantworten und hatte keine Zeit, Kalle seine Aufmerksamkeit zu widmen. Kalle bohrte mit dem Zeigefinger zwei Löcher in die Zeitung und überlegte sich gleichzeitig, wie er seiner Mutter diesen merkwürdigen Eingriff in ihre Abendlektüre erklären sollte. Dann dachte er darüber nach, was das für zwei Männer sein konnten. Vielleicht Detektive? Detektive traten ja oft paarweise auf, wenigstens in Filmen. Wie wäre es, wenn er zu einem der beiden hinginge und ihn anredete: »Guten Abend, lieber Kollege!« »Das wäre dumm, um nicht zu sagen idiotisch!« beantwortete sich Kalle selbst seine Frage. Man soll niemals den Ereignis-sen vorgreifen. Oh, was für ein Glück man mitunter hat! Hier kamen die beiden und setzten sich in die Sessel direkt Kalle gegenüber. Er konnte hier sitzen und sie durch die Zeitung anstarren, soviel er wollte. »Personalbeschreibung!« sagte sich der Meisterdetektiv. »Reine Routinearbeit! Erst der eine … nee, wahrhaftig, es müßte verboten sein, so auszusehen!« Etwas so Unangenehmes hatte Kalle noch nie gesehen, und er dachte im stillen, daß der Verschönerungsverein der Stadt gern bereit sein würde, eine runde Summe zu bezahlen, wenn dieser Kerl da sich außerhalb der Stadtmauern verflüchtigte. Es war schwer zu entscheiden, was es war, was sein Gesicht so unangenehm machte, ob es die niedrige Stirn war, die allzu eng beieinander stehenden Augen, die dicke Nase oder der Mund, den ein eigentümliches Lächeln verunstaltete. »Wenn das kein Schurke ist, dann bin ich der Erzengel Ga-briel in Lebensgröße«, dachte Kalle. Der andere hatte nichts Aufsehenerregendes in seinem Aussehen, wenn man von einer fast krankhaften Blässe absah. Er war klein und blondhaarig. Er hatte sehr helle blaue Augen und einen unsteten Blick. Kalle starrte sie so an, daß es schon verwunderlich war, wenn seine Augen nicht aus den Gucklöchern hervortraten. Auch seine Ohren lauschten gespannt. Die beiden sprachen eifrig miteinander, aber leider konnte Kalle nicht viel davon auffassen. Doch plötzlich sagte der Blasse mit etwas lauterer Stimme: »Davon kann keine Rede sein! Er muß hier in der Stadt wohnen. Ich habe selbst den Brief an Lola gesehen. Auf dem Poststempel stand ganz deutlich Kleinköping.« Lolas Brief! Lola! Lola Hellberg, wer denn sonst? »Es bewegt sich in meinen kleinen grauen Gehirnzellen«, konstatierte Kalle mit Genugtuung. Er selbst hatte den Brief an Lola Hellberg in den Briefkasten gesteckt – wer auch immer diese ehren-werte Dame sein mochte. Und er hatte sie in seinem Notizbuch stehen. Kalle versuchte beharrlich, etwas mehr von dem Gespräch der beiden Männer aufzufassen, aber es gelang ihm nicht. Gleich darauf kam der Portier und meldete, daß das Zimmer für die Herren bereit sei. Der Unangenehme und der Blasse erhoben sich und gingen. Und Kalle beabsichtigte, das gleiche zu tun. Da sah er, daß die Portierloge leer war. Es war im Augenblick niemand außer ihm in der Hotelhalle. Ohne langes Bedenken schlug er das Fremdenbuch auf und schaute hinein. Der Unangenehme hatte sich zuerst eingeschrieben, das hatte er beobachtet. »Tore Krok, Stockholm« – das mußte er sein! Und wie hieß der Blasse? »Ivar Redig, Stockholm.« Kalle zog sein kleines Notizbuch hervor und trug sorgfältig Namen und Personalbeschreibung seiner neuen Bekannten ein. Er schlug auch Onkel Einars Seite auf und notierte: »Nennt sich wahrscheinlich mitunter Brane.« Dann steckte er die Zeitung unter den Arm und verließ das Hotel, vergnügt einen Schlager pfeifend. Und dann war da noch eine Sache – das Auto! Das mußte ihnen gehören, man sah so selten Stockholmer Autos hier in der Stadt. Und wenn sie mit dem Sechsuhrzug gekommen wären, so hätten sie sich schon vor mehreren Stunden ein Hotelzimmer besorgt gehabt. Er notierte die Nummer und die übrigen Kenn-zeichen. Dann besah er die Reifen. Sie waren sehr abgenutzt, außer dem rechten Hinterreifen. Das war ein funkelnagelneuer von der Gummifabrik Gislaved. Kalle machte eine kleine Skizze des Reifenmusters. »Reine Routinearbeit«, sagte er und steckte das Notizbuch in seine Hosentasche. ACHTES KAPITEL Wie verabredet, brach der Krieg der Rosen am nächsten Tage aus. Sixtus fand in seinem Briefkasten einen Zettel, vollge-schrieben mit den furchtbarsten Beleidigungen. »Die Richtig-keit des Obenstehenden wird von Anders Bengtsson bezeugt, dem Chef der Weißen Rose, dessen Schuhband zu lösen du nicht würdig bist«, stand darunter, und unter lebhaftem Zähne-knirschen rückte Sixtus aus und suchte Benka und Jonte auf. Die Weißen Rosen lagen in höchster Bereitschaft in Bäckermeisters Garten, den Anfall der Roten erwartend. Kalle saß hoch oben im Ahornbaum, von wo aus man Aussicht über die ganze Straße bis hinunter zur Villa des Postdirektors hatte. Er hatte das Auskundschaften übernommen, sowohl sein privates wie das der Weißen Rose. »Ich habe eigentlich keine Zeit, Krieg zu führen«, hatte er zu Anders gesagt. »Ich bin beschäftigt.« »Nanu«, sagte Anders. »Ist wieder ein Kriminaldrama im Gang wie gewöhnlich? Ist Friedrich mit dem Fuß wieder dabei, sich die Kollekte anzueignen?« »Ach, rutsch mir den Buckel runter!« sagte Kalle. Er sah ein, daß es zwecklos war, Verständnis zu erwarten. Und er kletterte folgsam auf den Baum, wie es ihm befohlen worden war. Unbedingter Gehorsam gegen den Chef gehörte zu den Geboten der Weißen Rose. Daß Kalle zum Kundschafter bestimmt worden war, hatte indessen den Vorteil, daß er? indem er Ausschau nach den Roten Rosen hielt, zugleich Onkel Einar überwachen konnte. Der saß im Augenblick auf der Veranda und half Tante Mia, Erdbeeren abzuzupfen. Das heißt, nachdem er zehn Stück geputzt hatte, steckte er sich eine Zigarette an, setzte sich auf das Geländer und baumelte mit den Beinen, neckte ein bißchen Eva-Lotte, wenn sie, auf dem Weg zum Hauptquartier der Weißen Rose, vorbei-lief, und sah im übrigen aus, als ob er sich langweile. »Wirst du dessen nicht überdrüssig, so herumzusitzen?« hörte Kalle Tante Mia fragen. »Ich finde, du solltest einen Spaziergang in die Stadt machen oder mit dem Rad zum Baden fahren oder irgend etwas Derartiges. Im übrigen ist ja an den Abenden Tanz im Hotel – daß du da nicht hingehst!« »Danke für deine Fürsorge, Miachen«, sagte Onkel Einar. »Aber ich finde es hier im Garten so schön, daß ich nicht das geringste Bedürfnis nach einer Beschäftigung habe. Hier kann ich mich richtig erholen und meine Nerven ausruhen. Ich fühle mich ruhig und harmonisch, seitdem ich hier bin.« »Ruhig und harmonisch – ja, ph!« dachte Kalle. »Er ist ungefähr so harmonisch wie eine Schlange im Ameisenhaufen. Er kann wohl deswegen nachts nicht schlafen und hat einen Revolver unter dem Kopfkissen, weil er so furchtbar ruhig und harmonisch ist.« »Wie lange bin ich eigentlich schon hier?« fragte Onkel Einar. »Die Tage vergehen so schnell, daß man ganz aus der Rechnung kommt.« »Am Samstag werden es vierzehn Tage.« »Du lieber Himmel, nicht länger? Mir kommt es vor, als ob ich schon einen Monat hier wäre. Jaja, ich muß wohl bald daran denken abzureisen.« »Noch nicht, noch nicht«, wimmerte Kalle leise oben im Ahornbaum. »Erst muß ich herauskriegen, warum du hier her-umsitzt und dich wie ein Hase im Gebüsch verkriechst.« Kalle war so gefesselt von dem Gespräch auf der Veranda, daß er ganz vergaß, daß er als Kundschafter für die Weiße Rose Dienst tat. Er wurde von einer flüsternden Beratung auf der Straße draußen in die Wirklichkeit zurückgerufen. Da standen Sixtus und Benka und Jonte und versuchten, durch den Zaun zu gucken. Sie sahen Kalle oben im Ahornbaum nicht. »Eva-Lottes Mutter und irgend so ein Vogel sitzen auf der Veranda«, rapportierte Sixtus. »Wir können also nicht durch die große Gartentür gehen. Wir machen eine Umgehung über die Flußbrücke und überrumpeln sie von der Flußseite her. Sie sind sicher in ihrem Hauptquartier auf dem Boden.« Die Roten verschwanden wieder. Kalle stieg eiligst vom Baum herunter und rannte zur Bäckerei, wo Anders und Eva-Lotte sich die Wartezeit damit vertrieben, an dem Seil hinun-terzurutschen, das noch seit der Zirkuszeit da hing. »Die Roten kommen!« schrie Kalle. »Sie kommen in einer Sekunde über den Fluß!« Dort, wo der Fluß durch den Bäckereigarten floß, war er nicht mehr als zwei Meter breit. Eva-Lotte hatte ein Brett da unten liegen, das man bei Bedarf als »Zugbrücke« benutzen konnte. Das war eine ganz unsichere Brückenverbindung, aber wenn man schnell und gleichmäßig lief, geschah es nur selten, daß man ins Wasser fiel. Und selbst wenn es passierte, beschränkte sich das Unglück meistens nur auf ein Paar nasse Hosen, da das Wasser hier nicht sehr tief war. Die Weißen beeilten sich, bereitwillig die Zugbrücke auszu-legen, und dann krochen sie ruhig hinter das Erlengebüsch am Flußufer. Sie brauchten nicht lange zu warten. Mit wachsender Begeisterung beobachteten sie, wie die Roten auf der entgegengesetzten Seite auftauchten, vorsichtig nach ihren verborgenen Feinden spähend. »Ha, die Zugbrücke ist heruntergelassen!« schrie Sixtus. »Zum Kampf! Der Sieg ist unser!« Er stürzte auf den Steg, Benka folgte ihm auf dem Fuße. Das war der Augenblick, auf den Anders gewartet hatte. Wie ein Blitz schoß er hervor, und gerade bevor Sixtus auf dem trocke-nen Land Fuß gefaßt hatte, tippte er ein kleines bißchen an das Brett. Mehr war nicht nötig. »So ging es Pharao, als er durch das Rote Meer wollte!« schrie Eva-Lotte dem planschenden Sixtus aufmunternd zu. Dann rannten die Weißen, so schnell ihre Füße sie tragen konnten, zur Bäckerei hinauf, während Sixtus und Benka unter lautem Rachegeschrei ans Land krochen. Anders, Kalle und Eva-Lotte nutzten die kostbaren Sekunden aus, um sich auf dem Boden zu verbarrikadieren. Die Tür zur Treppe wurde sorgfältig geschlossen und das Seil hochgezogen. Dann stellten sie sich vor die offene Bodenluke und warteten auf ihre Feinde. Feldge-schrei kündigte ihre Ankunft an. »Bist du sehr naß geworden?« fragte Kalle teilnahmsvoll, als Sixtus auftauchte. »Ungefähr so, wie du immer hinter den Ohren bist«, sagte Sixtus. »Kommt ihr freiwillig raus oder sollen wir euch ausräu-chern?« schrie Jonte. »Ach, ihr werdet wohl rauf klettern und uns holen können«, sagte Eva-Lotte. »Macht es euch was aus, wenn wir euch dabei etwas siedendes Pech hinter die Hemdenkragen gießen?« Im Laufe der Jahre hatte es viele Kämpfe zwischen den Weißen und den Roten Rosen gegeben. Es herrschte aber nicht die geringste Feindschaft zwischen den Mitgliedern der beiden Banden. Im Gegenteil, sie waren die allerbesten Freunde, und ihre Kämpfe waren für sie alle nichts anderes als ein lustiges Spiel. Es gab keine bestimmten Regeln, wie die Kriegführung ge-handhabt werden sollte. Man hatte nur ein Ziel: die gegnerische Seite soviel wie möglich zu ärgern, und dafür waren fast alle Mittel erlaubt, außer natürlich Eltern und andere außenstehen-de Personen hineinzuziehen. Sich des Hauptquartiers des Gegners zu bemächtigen, zu spionieren und zu überraschen, Gei-seln zu nehmen, gräßliche Drohungen auszustoßen und ehren-kränkende Briefe zu schreiben, die »heimlichen Papiere« des Gegners zu stehlen und selbst eine große Menge davon herzustellen, so daß es für den Gegner etwas zu klauen gab, kostbare Aktenstücke quer durch die Linien des Feindes zu schmuggeln –all das waren wichtige Bestandteile, die zum Krieg der Rosen gehörten. Im Augenblick fühlten die Weißen sich grenzenlos überlegen. »Rückt ein bißchen weiter«, sagte Anders höflich. »Ich will gerade mal spucken!« Die Roten zogen sich knurrend hinter die Hausecke zurück und versuchten vergebens, die Tür zur Treppe zu öffnen. Aber das Kriegsglück hatte den Chef der Weißen übermütig gemacht. »Grüßt die Roten und sagt ihnen, daß ich fünf Minuten Urlaub für ein Naturbedürfnis genommen habe«, sagte er und rutschte am Seil hinunter. Er berechnete, daß er das kleine Haus mit dem Herzen in der Holztür erreichen würde, bevor die Roten entdeckten, daß er den Boden verlassen hatte. Seine Berechnung schlug nicht fehl. Er verschwand im Häuschen und riegel-te sich ordentlich ein. Aber er hatte nicht an den Rückzug gedacht. Hinter der Hausecke stand Sixtus, und sein Gesicht bekam beinahe einen verklärten Schimmer, als er dahinterkam, wo er seinen Feind hatte. Er brauchte ungefähr zwei Sekunden, um hinzurennen und den Haspen an der Außenseite der Tür vorzu-schieben, und das triumphierende Gelächter, das er danach an-hob, war das unheilverkündendste, das Eva-Lotte und Kalle je gehört hatten. »Unser Chef muß aus seiner schrecklichen Gefangenschaft befreit werden«, sagte Eva-Lotte bestimmt. Die Roten tanzten im Freudenrausch einen Kriegstanz. »Die Weiße Rose hat sich ein neues Hauptquartier be-schafft«, grinste Sixtus. »Da werden die Rosen dann schöner duften als je.« »Bleib hier und beschimpfe sie«, sagte Eva-Lotte zu Kalle. »Dann will ich sehen, was ich machen kann.« Es gab noch eine Treppe vom Boden, aber sie führte nicht ins Freie. Sie führte direkt in die Bäckerei hinunter. Hier hatte Eva-Lotte nun eine gute Möglichkeit, hinauszukommen, ohne daß die Gegner es merkten. Sie lief durch die Bäckerei, nahm sich im Vorbeigehen ein paar Kuchen und verschwand durch die Tür am anderen Ende des Gebäudes. Dann machte sie eine Umgehung, und es gelang ihr nach langen Umwegen, sich auf den Zaun hinter das Wirtschaftsgebäude hinauf zu praktizieren, ohne von den Roten beobachtet zu werden. Mit einem langen Stock bewaffnet, kletterte sie auf das Dach des Wirtschaftsgebäudes. Anders hörte, daß über seinem Kopf etwas vorging, und das gab ihm einen Hoffnungsstrahl in seiner kläglichen Lage. In der Zwischenzeit war Kalle voll damit beschäftigt, Beschimpfungen gegen Sixtus und seine Kumpane hinunterzu-schleudern, um ihre Aufmerksamkeit auf den Boden zu lenken. Nun kam ein unendlich spannender Augenblick, als Eva-Lotte den Stock hinunterstreckte, um den Haspen zurückzuschieben. Wenn die Roten sich in diesem Augenblick umdrehten, war alles verloren. Kalle beobachtete mit Spannung jede von Eva-Lottes Bewegungen, und er brauchte seine ganze Selbstbeherrschung, um mit den Beschimpfungen fortzufahren. »Lausehunde seid ihr!« sagte er gerade, als Eva-Lottes Versuche mit Erfolg gekrönt wurden. Anders fühlte, daß die Tür nachgab, und er machte einen Sturmlauf von hundert Metern zu einer der alten Ulmen hin. Auf Grund vieljähriger Übung brauchte er nur einen Augenblick, um sich auf den Baum zu schwingen, und als die Roten, über die Flucht erbittert, sich wie eine Koppel Bluthunde unter dem Baum drängten, schrie er, er wolle den ersten, der sich in den Baum hinaufwagte, so zusam-menschlagen, daß seine eigene Mutter ihn nicht wiedererkennen würde. Im letzten Augenblick erinnerte sich Sixtus an Eva-Lotte. Sie war gerade dabei sich in Sicherheit zu bringen. Aber es sollte sich bald zeigen, daß sie die Freiheit ihres Chefs auf Kosten ihrer eigenen erkauft hatte. Die Roten umringten das Wirtschaftsgebäude, und Eva-Lotte fiel wie eine reife Frucht in ihre ausgestreckten Hände, als sie auf den Zaun hinunterklettern wollte. »Schnell, bringt sie hinüber in unser Hauptquartier!« schrie Sixtus. Eva-Lotte wehrte sich mit dem Mut einer Löwin, aber Benkas und Jontes harte Fäuste zwangen sie bald dazu, sich zu un-terwerfen. Die Weißen beeilten sich, ihr zu Hilfe zu kommen. Kalle rutschte die Leine hinunter, und Anders tat einen lebensgefährlichen Sprung von der Ulme. Aber während Jonte und Benka Eva-Lotte zum Fluß hin knufften und stießen, hielt Sixtus die Verfolger mit Abwehrkämpfen auf, so daß die Roten mit ihrer Kriegsgefangenen ungestört den »Wallgraben« erreichten. Die sich wild sträubende Eva-Lotte über die »Zugbrücke« zu befördern, war natürlich eine Unmöglichkeit. Deswegen knuffte Benka sie ohne weiteres ins Wasser, wobei er selbst und Jonte hinterherplumpsten. »Keinen Widerstand, denn dann müßten wir dich erträn-ken«, sagte Jonte. Die Drohung hinderte jedoch Eva-Lotte nicht im mindesten, sich mit allen Kräften zu sträuben, und es bereitete ihr große Genugtuung, daß es ihr gelang, Benka und Jonte ein paarmal unterzutauchen. Ja, natürlich wurde sie auch mit untergetaucht, aber das verringerte nicht die Spur ihre Befriedigung. Oben auf der Böschung ging der Kampf mit unverminderter Stärke weiter. Der Lärm war so groß, daß Bäckermeister Lisander sich veranlaßt sah, seine Teige zu verlassen, um nachzusehen, was vorging. Er wanderte gemächlich zum Fluß hinunter, gerade als seine Tochter ihren wassertriefenden Kopf nach einem Besuch unter der Oberfläche hervorstreckte. Benka und Jonte ließen Eva-Lotte los und warfen einen schuldbewußten Blick auf den Bäckermeister. Auch der Kampf oben auf der Böschung endete. Der Bäckermeister schaute sein Kind nachdenklich an und stand eine Weile still. »Wie ist es, Eva-Lotte, kannst du Hundeschwimmen?« »Klar«, sagte Eva-Lotte, »ich kann alle Schwimmarten.« »Aha! Ja, das wollte ich bloß wissen«, sagte der Bäckermeister und ging gelassen wieder zur Bäckerei zurück. Die Rote Rose hatte ihr Hauptquartier in der Garage, die zur Villa des Postdirektors gehörte. Es stand gerade kein Auto darin, weshalb Sixtus den Raum für sich selbst mit Beschlag belegt hatte. Hier hatte er seine Angelrute und seinen Fußball, sein Fahrrad, Pfeil und Bogen, seine Schießscheibe und alle Geheimpapiere und Akten der Roten Rose. Hier wurde die durch-weichte Eva-Lotte eingesperrt, aber Sixtus bot ihr ritterlich an, ihr seinen Trainingsoverall zu leihen. »Edelmut den Besiegten gegenüber, das ist mein Wahlspruch«, sagte er. »Äh, ich bin nicht eine Spur besiegt«, sagte Eva-Lotte. »Ich werde bald befreit. In der Zwischenzeit können wir nach der Scheibe schießen.« Dagegen hatten die Gefangenenwärter nichts einzuwenden. Anders und Kalle standen noch am Fluß und hielten düsteren Kriegsrat. Es kränkte sie, daß es ihnen nicht gelungen war, Sixtus zu übermannen, so daß man die Gefangenen hätte austau-schen können. »Ich schleich’ mich hin und rekognosziere«, sagte Anders. »Du setzt dich in den Ahorn und hältst Ausschau für den Fall, daß sie auf die Idee kommen sollten, wieder hierher zurückzu-kehren. Verteidige das Hauptquartier bis zum letzten Mann! Und solltest du übermannt werden, so verbrenne erst alle Geheimpapiere!« Kalle sah ein, daß es schwer sein würde, allen Befehlen in ihrem ganzen Ausmaß nachzukommen, aber er machte keine Einwendungen. Ein vortrefflicher Aussichtspunkt, der Ahornbaum! Man saß da richtig bequem in einer Astgabelung, gut versteckt durch das Laub, und hatte einen Überblick über den vorderen Teil von Bäckermeisters Garten und über die Straße in ihrer ganzen Ausdehnung bis zu der Ecke, wo sie auf die Kleine Straße traf. Kalle fühlte sich ganz erfrischt durch die ausgefochtenen Kämpfe, aber gleichzeitig hatte er ein schlechtes Gewissen. Er wußte, daß er seine Pflicht gegen die Gesellschaft vernachlässigt hatte. Wenn nicht der Krieg der Rosen dazwischengekommen wäre, dann hätte er schon am frühen Morgen vor dem Hotel gestanden und die beiden Herren überwacht, die gestern abend angekommen waren. Das würde ihn vielleicht der Lösung des Rätsels einen Schritt nähergebracht haben. Onkel Einar wanderte auf dem Gartenweg unten hin und her, hin und her … Er sah nicht den Beobachter im Ahornbaum, so daß Kalle ihn in aller Ruhe betrachten konnte. Jede Bewegung, die er machte, verriet Ungeduld und Mißvergnügen. Sein Gesicht hatte einen solchen Ausdruck von Rastlosigkeit und Unlust, daß er Kalle beinahe leid tat. »Man sollte doch etwas mehr mit ihm spielen«, dachte Kalle plötzlich teilnahmsvoll. Vor dem Zaun war die Straße menschenleer. Kalle sah auch zum Postdirektorhaus hinunter. Von daher konnte er den Angriff erwarten. Aber keine Roten Rosen waren zu sehen. Kalle warf einen Blick nach der anderen Seite. Da kam jemand. Das waren – ja wahrhaftig, sie waren es! Da waren die Kerle – wie hießen sie doch gleich? Krok und Redig! Kalle wurde sofort gespannt wie eine Stahlfeder. Sie kamen immer näher. Gerade als sie an der Gartentür vorbeigingen, erblickten sie Onkel Einar. Und er erblickte sie! Es war abscheulich, das mit anzusehen! fand Kalle. Wie in diesem Augenblick alle Farbe aus Onkel Einars Gesicht verschwand! Wenn er tot gewesen wäre, hätte er nicht weißer sein können. Und eine Ratte, die plötzlich sieht, daß sie in einer Falle gefangen ist, konnte nicht einen solchen Ausdruck von Todesangst im Gesicht haben wie Onkel Einar, als er an der Gartentür stand. Einer der beiden Männer fing an zu sprechen. Es war der kleine Blasse, Redig. Seine Stimme klang unbeschreiblich weich und zart. »Sieh, sieh, hier haben wir Einar«, sagte er. »Unseren lieben alten Einar!« NEUNTES KAPITEL Kalle fühlte, wie es ihm kalt über den Rücken lief. Es war diese Stimme, die das verursachte. Äußerlich klang sie so weich, aber es war, als ob etwas sehr Unangenehmes und Gefährliches sich dahinter verberge. »Es scheint nicht so, als ob du dich besonders freust, uns zu sehen, alter Freund«, flötete die weiche Stimme. Onkel Einar griff mit beiden Händen um die Gartentür. »Doch«, sagte er, »ja, natürlich freue ich mich. Aber ihr kommt so unerwartet.« »Wirklich?« Der Blasse lachte. »Ja, du hast vergessen, uns deine Adresse zu hinterlassen, als du verschwandest. Zer-streutheit natürlich! Glücklicherweise hast du einen Brief an Lola mit einem einigermaßen deutlichen Poststempel geschrieben. Und Lola ist ein verständiges Mädchen. Wenn man ernsthaft mit ihr spricht, so ist sie nicht diejenige, die einem etwas vorenthält.« Onkel Einar atmete heftig. Er beugte sich über die Gartentür zu dem Blassen vor. »Was hast du mit Lola gemacht, du …?« »Ruhe, Ruhe!« Die weiche Stimme unterbrach ihn. »Reg dich nicht auf! Ruhe, Erholung und Ausspannung soll man in seinen Ferien haben. Denn das hier ist wohl ein kleiner Ferien-ausflug, soweit ich verstehe?« »Ja, ja«, sagte Onkel Einar. »Ich bin hierhergefahren, um mich ein bißchen auszuruhen.« »Das verstehe ich! Du hast in der letzten Zeit hart gearbeitet, was?« Es war die ganze Zeit über der blasse Ivar Redig, der das Wort führte. Der, den Kalle den Unangenehmen nannte, stand nur still da und lächelte, aber es war nicht das, was Kalle unter einem freundlichen Lächeln verstand. »Wenn ich dem in einer einsamen Straße begegnete, würde ich Angst bekommen«, dachte Kalle. »Obgleich es fraglich ist, ob es nicht noch schlimmer wäre, dem Blassen – Ivar Redig – zu begegnen.« »Was willst du eigentlich, Artur?« fragte Onkel Einar. »Artur – er heißt ja Ivar«, dachte Kalle. »Aber Schurken und Banditen – die haben ja wohl immer mehrere Namen.« »Du weißt verdammt gut, was ich will«, sagte der Blasse, und seine Stimme klang jetzt etwas härter. »Komm mit auf eine kleine Autofahrt, dann können wir die Sache besprechen.« »Ich habe nichts mit euch zu besprechen«, sagte Onkel Einar heftig. Der Blasse kam einen Schritt näher. »Nicht?« fragte er mild. Was war das, was er in der Hand hielt? Kalle mußte sich hin-unterbeugen, um besser sehen zu können. »Nee, nu schlägt’s ein«, flüsterte Kalle. Diesmal war es Onkel Einar, der vor einer Revolvermündung stand. Eigentümliche Gewohnheiten haben diese Leute! Laufen wochentags mit einem Revolver herum! Der Blasse ließ seine Hand zärtlich über das glänzende Metall gleiten, bevor er weitersprach: »Wenn du es dir etwas besser überlegt hast, so kommst du doch wohl mit?« »Nein«, rief Onkel Einar. »Nein! Ich habe nichts mit euch zu besprechen. Macht, daß ihr fortkommt, sonst …« »Sonst rufst du die Polizei, was?« Die beiden Männer vor der Gartentür lachten. »Ach nein, Einarchen, das läßt du wohl sein! Dir ist wohl ungefähr ebensowenig wie uns daran gelegen, die Polizei hineinzuziehen.« Der Blasse lachte wieder, ein merkwürdig unheimliches Lachen. »Denk mal an, wie gut du dir das ausgedacht hast, Einarchen! Eine kurze Zeit Ferien im tiefsten Inkognito hier, bis sich die schlimmste Aufregung gelegt hat. Viel schlauer, als zu versuchen, sofort ins Ausland zu kommen. Verständiger Bursche!« Er schwieg einen Augenblick. »Aber du bist doch etwas zu pfiffig gewesen«, fuhr er fort, und jetzt war die Stimme nicht mehr weich. »Es lohnt sich niemals, seine Teilhaber hintergehen zu wollen. Viele haben in jungen Jahren dran glauben müssen, die das versucht haben. So war es nicht gemeint, daß drei die Arbeit machen und einer die ganze Pinke für sich behält!« Der Blasse beugte sich über die Gartentür und betrachtete Onkel Einar mit einem so haßerfüllten Gesichtsausdruck, daß Kalle oben in seinem Baum zu schwitzen begann. »Weißt du, wozu ich Lust hätte?« sagte er. »Ich hätte Lust, dir eine Kugel durch den Leib zu jagen, so wie du hier gehst und stehst, du langes, feiges Reff!« Es schien, als ob Onkel Einar anfing, die Fassung wiederzu-gewinnen. »Und welchen Zweck soll das haben?« sagte er. »Willst du so gern wieder ins Kittchen zurück? Schieß mich nieder, und in fünf Minuten hast du die Polizei hier. Was ge-winnst du damit? Du glaubst wohl nicht, daß ich alles mit mir herumtrage? Nein, tu das kleine Spielzeug da weg« – er zeigte auf den Revolver –, »und laß uns vernünftig miteinander reden. Wenn ihr euch anständig benehmt, bin ich vielleicht bereit zu teilen.« »Dein Edelmut übersteigt alle Grenzen«, höhnte der Blasse. »Du bist bereit zu teilen! Schade, daß du etwas zu spät auf diese glänzende Idee gekommen bist! Ganz und gar zu spät! Denn siehst du, Einarchen, jetzt sind wir es, die nicht teilen wollen! Du bekommst eine kleine Weile Bedenkzeit – seien wir großzügig und sagen wir fünf Minuten –, und dann übergibst du uns den ganzen Rummel. Ich hoffe in deinem eigenen Interesse, daß du verstanden hast, was ich gesagt habe.« »Und wenn ich es nicht verstanden habe? Ich habe es nicht hier, und wenn du mich ins Jenseits beförderst, wird ganz bestimmt niemand dasein, der dir helfen kann, es zu finden.« »Einar, alter Freund, du glaubst wohl nicht, daß ich von gestern bin? Es gibt Mittel, Leute, die keine Vernunft annehmen wollen, zu zwingen, feine Mittel! Ich weiß, was du jetzt denkst. Ich weiß das ebensogut, als ob ich direkt in deinen verfaulten Schädel reingucken könnte. Du glaubst, du kannst uns noch einmal betrügen! Du glaubst, du kannst uns mit deinem Geschwätz von Teilung aufhalten, und dann haust du in aller Stille ab und schüttelst den Staub der Heimaterde von deinen Füßen, bevor wir es verhindern können! Aber ich will dir etwas sagen! Wir werden dich daran hindern, und zwar auf eine Weise, die du niemals vergessen wirst! Wir bleiben hier in der Stadt, Tjomme und ich. Und du sollst mal sehen, wie oft du uns treffen wirst. Jedesmal, wenn du versuchst, vor diese Gartentür zu gehen, wirst du deine lieben alten Freunde treffen. Und irgendwann werden wir wohl mal Gelegenheit haben, ungestört miteinander zu reden – meinst du nicht?« »Das ist richtig so, wie es immer in Büchern steht – ein unheilverkündendes Lächeln«, dachte Kalle und betrachtete nachdenklich das Gesicht des Blassen. Er beugte sich vor, um besser zu sehen, und im selben Augenblick knackte ein kleiner Zweig. Onkel Einar blickte hastig umher, um zu sehen, woher der Laut gekommen war, und Kalle wurde es eiskalt vor Schreck, und der Atem stockte ihm. »Wenn sie mich bloß nicht entdecken! Bloß nicht! Denn dann werde ich bestimmt liquidiert.« Er begriff, daß seine Situation äußerst gefährlich werden konnte, wenn man ihn entdeckte. Es war nicht anzunehmen, daß ein Mann vom Kaliber des Blassen viel Mitleid mit einem Zeugen haben würde, der das Gespräch der letzten zehn Minuten mit angehört hatte. Zum Glück schien keinem der drei Männer viel daran gelegen zu sein, näher zu untersuchen, wer die kleine Unterbrechung verursacht hatte. Kalle atmete erleichtert auf. Sein Herz war wieder an seinen normalen Platz zurückgesunken, als er plötzlich etwas zu sehen bekam, was es ihm wieder in den Hals Fahren ließ. Unten auf der Straße kam jemand. Eine kleine Gestalt in einem knallroten, viel zu großen Trainingsoverall. Es war Eva-Lotte. Sie schwenkte lustig ein nasses Kleid in der Hand und pfiff ihr Lieblingslied: »Es war einmal ein Mädchen, und die hieß Josefin.« »Wenn sie mich bloß nicht entdeckt«, wimmerte Kalle. »Nur nicht! Denn wenn sie ›Hallo, Kalle!‹ ruft, dann bin ich erledigt.« Eva-Lotte kam näher. »Klar, daß sie mich entdeckt. Klar, daß sie zu unserm Kundschafterplatz raufguckt! Ach, ach, warum hab’ ich mich bloß hier raufgesetzt!« »Hallo, Onkel Einar«, sagte Eva-Lotte. Onkel Einar freute sich immer, wenn er Eva-Lotte sah. Aber jetzt sah er nahezu verklärt aus. »Gut, daß du kommst, Eva-Lottchen«, sagte er. »Ich wollte gerade reingehen und sehen, ob Mutter das Mittagessen fertig hat. Komm, wir gehen zusammen.« Er winkte den beiden vor der Gartentür zu. »Auf Wiedersehen, Jungens«, sagte er. »Ich muß jetzt leider gehen.« »Auf Wiedersehen, lieber alter Einar«, sagte der Blasse. »Wir treffen uns wieder, da kannst du sicher sein.« Eva-Lotte sah Onkel Einar fragend an. »Willst du nicht deine Freunde bitten, mit reinzukommen und mit uns zu essen?« »Nein, weißt du, ich glaube nicht, daß sie Zeit haben.« Onkel Einar nahm Eva-Lottes Hand. »Ein andermal, kleines Fräulein«, sagte der Unangenehme. »Jetzt … jetzt kommt es drauf an«, dachte Kalle, als Eva-Lotte am Ahorn vorbeiging. »O Gott!« »Es war einmal ein Mädchen, und die hieß Josefin.« Eva-Lotte sang und warf gewohnheitsgemäß einen Blick zur Gabelung im Ahornbaum hinauf, dem Kundschafterplatz der Weißen Rose. Kalle blickte direkt in ihre lustigen blauen Augen. Während vieler Jahre hatte man den Krieg der Rosen mitgemacht. Man hatte auch an einer Menge furchtbarer Fehden zwischen Indianern und Bleichgesichtern teilgenommen. Man hatte als alliierter Spion während des Weltkrieges Dienst getan. Und man hat zwei Sachen gelernt: sich nicht überraschen lassen und den Mund halten, wenn es notwendig ist. Da sitzt ein Verbün-deter im Ahornbaum, aber er hält warnend den Finger vor den Mund, und seine ganze Miene ist ein einziges: »Sei still!« Eva-Lotte geht mit Onkel Einar weiter. »Das einz’ge, was sie hatte, das war ’ne Nähmaschin, Nähmaschin-schin-schin, Nähma-Nähma-Nähmaschin.« ZEHNTES KAPITEL »Was halten Sie von dieser bemerkenswerten Unterhaltung, Herr Blomquist?« Kalle lag auf dem Rücken unter dem Birnbaum in seinem eigenen Garten, und es war sein eingebildeter Zuhörer, der ihn wieder interviewte. »Tja«, sagte Herr Blomquist. »Vor allen Dingen ist es klar, daß wir in diesem Kriminaldrama nicht nur einen Schurken haben, sondern drei. Und ich warne Sie, junger Mann (der eingebildete Zuhörer war besonders jung und unerfahren), ich warne Sie! Es wird sich viel in der nächsten Zukunft ereignen. Es wäre am klügsten, sich an den Abenden zu Hause aufzuhalten. Das hier wird sicher ein Kampf auf Leben und Tod, und jemand, der es nicht gewohnt ist, mit der Hefe und dem Abschaum der Menschheit umzugehen, der kann sich dabei leicht seine Nerven vollständig ruinieren.« Herr Blomquist selbst war ja so daran gewöhnt, mit der Hefe und dem Abschaum der Menschheit umzugehen, daß sein Ner-vensystem widerstandsfähig genug war. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und fuhr fort: »Sie verstehen: Diese beiden Herren hier, Krok und Redig – ja, ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß das natürlich nicht ihre richtigen Namen sind –, also diese beiden feinen Burschen werden Onkel Einar, hm, Einar Lindeberg oder Brane, wie er sich auch mitunter nennt, ordentlich den Kopf heiß machen. Offen gesagt – sein Leben ist in Gefahr!« »Und welchen Standpunkt werden Sie, Herr Blomquist, in diesem Streit einnehmen?« fragte der Zuhörer achtungsvoll. »Den Standpunkt der menschlichen Gesellschaft, junger Mann! Wie immer! Selbst wenn es um mein Leben gehen sollte!« Der Meisterdetektiv lächelte wehmütig. Im Interesse der menschlichen Gesellschaft hatte er sich schon tausend Toden ausgesetzt, so daß einmal mehr oder weniger keine Rolle spielte. Seine Gedanken gingen weiter. »Aber ich möchte zu gern wissen, was es ist, was sie von Onkel Einar haben wollen«, sagte er zu sich selbst. Und jetzt war er nicht mehr Herr Blomquist, sondern nur Kalle, ein sehr verwirrter kleiner Kalle, der fand, daß das alles ganz unheimlich war. Da fiel ihm plötzlich die Zeitung ein! Diese Zeitung, die Onkel Einar gleich nach seiner Ankunft gekauft hatte, als sie im Garten der Konditorei saßen! Sie lag in sicherem Verwahr in Kalles linker Schreibtischschublade. Aber Kalle hatte sie damals nicht näher studiert. »Ein unverzeihlicher Fehler«, wies er sich selbst zurecht und sprang auf. Er erinnerte sich, daß Onkel Einar sich über die Seite mit den »Letzten Neuigkeiten« gestürzt hatte. Jetzt kam es nur darauf an, herauszukriegen, was es war, was ihn speziell interessiert hatte. »Neuer Atombombenversuch« – kaum! »Roher Überfall auf einen alten Mann« – kann es vielleicht das sein? Nein, hier stand ja, daß es zwei junge zwanzigjährige Männer gewesen waren, die einen älteren Herrn überfallen hatten, da er ihnen keine Zigaretten geben wollte. Da konnte Onkel Einar doch nicht gut mit dabeigewesen sein. »Großer Juwelendiebstahl auf Östermalm« – Kalle stieß einen Pfiff aus und las in rasender Eile die Notiz durch. »Ein großer Juwelendiebstahl fand in der Nacht zum Sonnabend in einer Wohnung in der Banérstraße statt. Die Wohnung, die von einem bekannten Stockholmer Bankier bewohnt wird, stand während der Nacht leer, weshalb die Diebe ganz ungestört operieren konnten. Es wird vermutet, daß sie sich Zutritt verschafft haben, indem sie mit einem Dietrich die Küchentür öffneten. Die Juwelen, die einen Wert von ungefähr hunderttausend Kronen repräsentieren, waren in einem Geldschrank verwahrt, der im Laufe der Nacht, wahrscheinlich zwischen zwei und vier Uhr, aus der Wohnung entfernt wurde. Er wurde am Sonnabendnachmittag in einem Wald, dreißig Kilometer nördlich der Stadt, gesprengt und seines Inhaltes beraubt, wiedergefunden. Die Einbruchskommission der Kriminalpolizei, die am Sonn-abendmorgen alarmiert wurde, hat noch keine Spur von den Tätern. Man nimmt an, daß mindestens zwei oder noch mehr Personen an dem Coup beteiligt sind, den man als einen der frechsten Diebstähle bezeichnet, die bis jetzt in unserem Land verübt worden sind. Die Kriminalpolizei hat alle Polizeistationen im Lande benachrichtigt, und an allen Häfen und Grenz- übergängen ist Extrabewachung angeordnet worden, da man vermutet, daß die Täter, um das gestohlene Gut veräußern zu können, genötigt sein werden, sich ins Ausland zu begeben. Unter den gestohlenen Gegenständen befindet sich ein außerordentlich kostbares Platinarmband mit Brillanten, eine große Anzahl Brillantringe, eine Brosche, bestehend aus vier großen Diamanten in Goldeinfassung, ein Perlenkollier aus orientali-schen Perlen und ein schwerer antiker Hängeschmuck aus Gold mit Smaragden.« »Ich Rindvieh, ich großes, siebenfaches Rindvieh«, sagte Kalle. »Daß ich das nicht begriffen habe! Lord Peter Wimsey und Hercule Poirot hätten das schon längst herausgehabt! Das braucht man weiß Gott ja nur mit Verstand zu lesen!« Er nahm die Perle in die Hand. Wie konnte man wissen, ob eine Perle orientalisch war? Ein Gedanke schlug plötzlich wie ein Keulenschlag in seinem Kopf ein. »Ich trage es nicht mit mir herum«, hatte Onkel Einar gesagt. Nein, natürlich nicht! Und er, Kalle Blomquist, wußte, wo das alles war, das Armband und die Brillanten und Smaragden und das Platin und wie es sonst noch hieß. In der Schloßruine natürlich! Natürlich in der Schloßruine! Onkel Einar wagte nicht, es bei sich in seinem Zimmer zu haben. Er mußte es an einer sicheren Stelle verstecken. Und der Keller in der Schloßruine war ein guter Platz, da kam niemals ein Mensch hin. Die Gedanken brausten durch Kalles Kopf. Er mußte zur Ruine gehen und versuchen, alle die Kostbarkeiten zu finden, bevor Onkel Einar dazu kam, sie von dort wegzuholen! O Gott, er mußte ja auch Onkel Einar und die beiden anderen überwachen, so daß er sie im geeigneten Augenblick verhaften konnte! Wo sollte er die Zeit für das alles hernehmen? Noch dazu mitten im Krieg der Rosen! Nein, er konnte ohne Mithelfer die Sache nicht bewältigen. Nicht einmal Lord Peter Wimsey könnte allein damit fertig werden. Er mußte Anders und Eva-Lotte einweihen und sie um ihre Hilfe bitten. Ganz gewiß taten sie ja niemals etwas anderes, als ihn wegen seiner Detektivtätigkeit zu verhöhnen, aber diesmal war es etwas anderes. Eine kleine innere Stimme sagte Kalle, daß er in diesem Falle seine Mithelfer bei der Polizei suchen sollte, und er wußte, daß die Stimme recht hatte. Aber wenn er nun zur Polizei ging und alles erzählte – würden sie ihm glauben? Würden sie ihn nicht auslachen, wie es erwachsene Menschen zu tun pflegen? Kalle hatte nur traurige Erfahrungen von früheren Versuchen in der Detektivbranche. Keiner wollte glauben, daß man etwas ausrichten konnte, wenn man erst dreizehn Jahre alt war. Nein, er wollte lieber warten, bis er noch mehr Indizien beisammen hatte. Kalle legte vorsichtig die Perle in den Schubkasten zurück. Schau, da hatte er ja auch Onkel Einars Fingerabdruck! Wer weiß, wann er ihm zustatten kommen würde. Er war froh, daß er so vorsorglich gewesen war, sich den zu verschaffen. »Die Polizei hat noch keine Spur von den Tätern«, hatte in der Zeitung gestanden Na ja, das war ja das übliche! Aber vielleicht war es ihr gelungen, sich einige Fingerabdrücke am Tatort zu sichern! Fingerabdrücke! Wenn ein Einbrecher schon früher mit der Polizei in Konflikt gekommen war, dann befanden sich seine Fingerabdrücke im Polizeiregister, und dann brauchte man sie nur mit denen zu vergleichen, die man am Tatort gefunden hatte, und die Sache war klar! Da konnte man im Handumdrehen sagen: »Diesen Einbruch hat Friedrich mit dem Fuß begangen!« Ja natürlich nur, wenn es Friedrichs Fingerabdrücke waren, die man fand. Aber es konnte auch sein, daß von dem, der den Einbruch verübt hatte, keine Fingerabdrücke im Polizeiregister waren, und dann machte die Sache schon weniger Spaß. Aber hier saß nun Kalle mit dem Abdruck von Onkel Einars Daumen auf einem Stück Papier, einem sehr deutlichen und guten Abdruck. Und langsam entwickelte sich ein Gedanke in ihm. Man könnte ja der armen Polizei etwas auf die Sprünge helfen, da sie »jede Spur der Täter vermißte«. Wenn es sich nun wirklich um den Einbruch in der Banérstraße handelte, an dem Onkel Einar mit beteiligt war – seiner Sache absolut sicher war Kalle natürlich nicht, aber die Indizien wiesen darauf hin –, dann würde die Stockholmer Polizei vielleicht gern das kleine Stück Papier mit Onkel Einars Daumenabdruck haben wollen. Kalle holte Papier und Federhalter hervor. Und dann schrieb er: »An die Kriminalpolizei Stockholm.« Er kaute eine Weile am Federhalter. Jetzt kam es darauf an, so zu schreiben, daß sie glaubten, es sei ein Erwachsener, der den Brief geschrieben hatte. Sonst warfen sie wahrscheinlich den Brief in den Papierkorb, die Dummköpfe! Kalle schrieb weiter: »Wie aus den Zeitungen hervorgeht, scheint ein Einbruch dort in der Banérstraße gewesen zu sein. Nachdem Sie sich vielleicht ein paar Fingerabdrücke gesichert haben, schicke ich hiermit einen dito in der Hoffnung, daß er mit einem von Ihren übereinstimmt. Weitere Aufklärungen liefert gratis und franko Karl Blomquist, Privatdetektiv Adr.: Hauptstraße 14, Kleinköping.« Er zögerte etwas, bevor er »Privatdetektiv« hinschrieb. Aber dann dachte er, daß die Stockholmer Polizei ihn ja niemals zu sehen bekommen würde, und da konnte sie ebensogut glauben, daß der Brief von Herrn Blomquist, Privatdetektiv, geschrieben worden war und nicht von Kalle, dreizehn Jahre alt. »So«, sagte Kalle und klebte den Briefumschlag zu. Und jetzt schnell zu Anders und Eva-Lotte. ELFTES KAPITEL Anders und Eva-Lotte saßen auf dem Dachboden der Bäckerei, dem Hauptquartier der Weißen Rose. Das war ein wunderbar gemütlicher Aufenthaltsort. Außer als Hauptquartier diente die alte Bodenkammer auch als Warenlager und als Sammelstelle für allerlei ausgediente Möbel. Da stand eine weiße Kommode, die kürzlich aus Eva-Lottes Zimmer verwiesen worden war, alte Stühle standen zusammengedrängt in einer Ecke, auch ein übel zugerichteter Eßtisch war da, auf dem man bei Regenwetter Ping-Pong spielen konnte. Aber jetzt gerade hatten Anders und Eva-Lotte keine Zeit für Ping-Pong. Sie waren eifrig damit beschäftigt, »heimliche Urkunden« herzustellen. Als sie fertig waren, legte Anders sie in einen Blechkasten, der das kostbarste Eigentum der Weißen Rose war. Da waren Erinnerungen von früheren Kriegen der Rose verwahrt, Friedensverträge, heimliche Karten, Steine mit merkwürdigen Zeichen und eine ganze Menge anderer Sachen, die für den Uneingeweihten wie Plunder aussahen. Aber für die Mitglieder der Weißen Rose bestand der Inhalt des Kastens aus lauter Kleinodien, für die man bereit war, Leben und Blut zu opfern. Der Chef trug Tag und Nacht den Schlüssel des Kästchens an einer Schnur um den Hals. »Wo steckt eigentlich Kalle?« fragte Anders und legte ein neu angefertigtes Dokument in den Kasten. »Er saß vor einer Weile noch im Ahorn«, sagte Eva-Lotte. Im selben Augenblick kam Kalle angerannt. »Hört auf damit«, keuchte er. »Wir müssen sofort mit den Roten Frieden schließen. Im schlimmsten Fall müssen wir bedingungslos kapitulieren.« »Bist du verrückt geworden?« sagte Anders. »Wir haben ja eben erst angefangen.« »Das hilft nichts. Wir haben uns wichtigeren Sachen zu widmen. Eva-Lotte, hast du Onkel Einar furchtbar gern?« »Gern haben?« sagte Eva-Lotte. »Warum sollte ich ihn denn so furchtbar gern haben?« »Ja, er ist ja doch der Vetter deiner Mutter!« »Was das betrifft – ich glaube nicht, daß meine Mutter ihn selbst gern hat«, sagte Eva-Lotte. »Und da brauche ich ja auch nicht so besonders entzückt von ihm zu sein. Aber warum fragst du?« »Da wirst du nicht böse sein, wenn ich dir sage, daß Onkel Einar ein Verbrecher ist?« »Na, nu hör auf, Kalle«, sagte Anders. »Es war Friedrich mit dem Fuß, der die Kollekte geklaut hat, nicht Onkel Einar!« »Halt’s Maul! Lies das hier, bevor du dich äußerst«, sagte Kalle und gab ihm die Zeitung. Anders und Eva-Lotte lasen die Notiz »Großer Juwelendiebstahl auf Östermalm«. »Und jetzt hört mal zu«, sagte Kalle. »Fühlst du dich sonst ganz gesund?« fragte Anders teilnahmsvoll. Er wies mit dem schmutzigen Zeigefinger auf eine andere Notiz: »›Wütende Kuh verursacht Panik.‹ Glaubst du nicht, daß das auch Onkel Einar gewesen sein kann?« »Halt’s Maul, sage ich. Eva-Lotte, du hast die beiden Kerle gesehen, die vor der Gartentür standen und eben mit Onkel Einar sprachen? Das waren seine Mittäter, und Onkel Einar hat sie auf irgendeine Weise betrogen. Sie nennen sich Krok und Redig, und sie wohnen im Hotel. Und die Juwelen sind in der Schloßruine.« Die Worte sprudelten nur so aus Kalles Mund heraus. »In der Schloßruine? Du hast ja gesagt, daß sie im Hotel wohnen?« sagte Anders. »Krok und Redig, ja! Aber die Juwelen, du Rindvieh, das sind ja Smaragden und Platin und Diamanten! Himmel, wenn ich daran denke, Juwelen für beinahe hunderttausend Kronen da unten im Keller!« »Woher weißt du das?« fragte Anders äußerst zweifelnd. »Hat Onkel Einar es gesagt?« »Etwas kann man sich auch selbst zusammenreimen«, sagte Kalle. »Wenn man ein Kriminalrätsel lösen will, muß man immer mit dem Wahrscheinlichen rechnen.« Das war Meisterdetektiv Blomquist, der eben mal seine Nase reingesteckt hatte, aber er verschwand bald wieder, und zurück blieb Kalle, eifrig gestikulierend und fürchtend, daß er die anderen beiden nicht würde überzeugen können. Es dauerte eine ganze Weile. Aber schließlich gelang es ihm. Nachdem er alles erzählt und über seine Beobachtungen Bericht erstattet hatte, über seinen nächtlichen Besuch bei Onkel Einar, den Perlen-fund in der Ruine und das Gespräch, das er oben im Ahornbaum belauscht hatte, war sogar Anders beeindruckt. »Wahrhaftig, der Junge wird Detektiv, wenn er groß ist«, sagte er billigend. »Zum Krieg der Rosen haben wir jetzt keine Zeit.« »Naa, jetzt weiß ich es«, sagte Eva-Lotte. »Das ist der Grund, weshalb ich die Kuchenbüchsen nicht in Ruhe lassen kann. Ich bin ein Langfinger, genau wie Onkel Einar. So ist das, wenn man mit einem Verbrecher verwandt ist. Aber aus dem Hause soll er, und das sofort! Denkt bloß, wenn er das Silber-zeug klaut!« »Du mußt dich noch eine Weile gedulden«, sagte Kalle. »Im übrigen hat er an wichtigere Sachen zu denken als an Silberzeug, das kannst du mir glauben. Er ist in einer verdammten Klemme, denn Krok und Redig bewachen ihn wie ihren Augen-stern.« »Also deswegen hat er sich nach dem Essen hingelegt! Er sagte, daß er krank sei.« »Du kannst dich darauf verlassen, er hat sich wirklich krank gefühlt«, sagte Anders. »Aber jetzt müssen wir vor allen Dingen mit den Roten Frieden schließen. Du, Eva-Lotte, kannst die Parlamentärfahne hissen und hingehen und die Sache ordnen. Die werden natürlich glauben, daß wir verrückt geworden sind.« Eva-Lotte band gehorsam ein weißes Taschentuch an einen Stock und marschierte zu Sixtus’ Garage hin, wo ihr Angebot bedingungsloser Kapitulation sowohl mit Verwunderung als auch mit Mißvergnügen entgegengenommen wurde. »Seid ihr nicht gesund?« fragte Sixtus. »Jetzt, wo wir gerade so schön in Gang gekommen sind!« »Wir übergeben uns bedingungslos«, sagte Eva-Lotte. »Ihr habt gewonnen. Aber wir werden euch bald wieder beleidigen, und dann sollt ihr mal sehen, wie die Funken fliegen!« Sixtus setzte widerwillig einen Friedensvertrag mit äußerst harten Bedingungen für die Weißen auf: Sie sollten bei Ausbe-zahlung des wöchentlichen Taschengeldes auf die Hälfte verzichten, zwecks Einkaufs von gemischten Bonbons für die Roten. Wenn sie einem der Roten auf der Straße begegneten, sollten sich außerdem die Weißen dreimal tief verbeugen und sagen: »Ich weiß, daß ich nicht würdig bin, den gleichen Boden zu betreten wie du, o Herr!« Eva-Lotte unterzeichnete den Vertrag im Auftrag der Wei- ßen, drückte feierlich dem Chef der Roten die Hand und rannte zum Bäckereiboden zurück. Als sie durch die Gartentür lief, konnte sie nicht vermeiden, einen von Onkel Einars »Freun-den« zu sehen, der gegenüber auf dem Bürgersteig stand. »Der Wachtdienst ist in vollem Gang«, rapportierte sie. »Das hier wird sicher ein Krieg, der besser ist als der der Rosen«, sagte Anders zufrieden. »Du, Kalle, was wollen wir jetzt machen?« Obwohl Anders sonst der Chef war, sah er ein, daß er sich in diesem speziellen Fall Kalle unterordnen mußte. »Vor allen Dingen die Juwelen ausfindig machen! Wir müssen zur Schloßruine. Aber einer muß zu Hause bleiben und Onkel Einar und die andern beiden überwachen.« Kalle und Anders sahen Eva-Lotte auffordernd an. »Niemals!« sagte Eva-Lotte bestimmt. »Ich will mitgehen und die Juwelen suchen. Im übrigen liegt Onkel Einar im Bett und tut so, als ob er krank wäre. Es wird also wohl nichts passieren, während wir weg sind.« »Wir wollen eine Streichholzschachtel vor seine Tür legen«, schlug Kalle vor. »Wenn sie noch genauso daliegt, wenn wir nach Hause kommen, dann wissen wir, daß er nicht fort gewesen ist.« »Mit Hacke und mit Spaten, so ziehn wir fröhlich aus«, sang Anders, als sie eine Weile später die schmale Treppe zur Ruine hinaufeilten. »Wenn wir jemand treffen, dann sagen wir, daß wir nach Regenwürmern graben wollen«, sagte Kalle. Aber sie trafen niemand, und die Ruine lag einsam und verlassen da wie immer. Es war kein anderer Laut zu hören als das Summen der Hummeln. Plötzlich fiel Anders etwas ein. »Wie in aller Welt sollen wir in den Keller runterkommen? Du hast ja gesagt, daß dort die Juwelen sein müssen, Kalle. Wie bist du damals reingekommen, als du die Perle gefunden hast?« Das war Kalles großer Augenblick. »Ja, wie pflegt man durch geschlossene Türen zu kommen?« sagte er überlegen und holte den Dietrich hervor. Das imponierte Anders mehr, als er eigentlich zugeben wollte. »Kreuzdonnerwetter!« sagte er, und Kalle faßte das als Kompliment auf. Die Tür drehte sich in ihren Angeln – der Durchgang war frei. Und wie eine Koppel Jagdhunde stürzten Kalle, Anders und Eva-Lotte die Treppe hinunter. Nachdem sie zwei Stunden gegraben hatten, legte Anders den Spaten fort. »Ja, jetzt sieht der Fußboden hier wie ein besseres Kartoffel-feld aus. Aber ich habe niemals irgendwo so wenig Diamanten gesehen wie hier. Woran das nun liegen mag!« »Du kannst doch wohl nicht erwarten, daß wir sie sofort finden!« sagte Kalle. Aber auch er war entmutigt. Sie hatten jeden Zoll des Fußbodens in dem großen Kellerraum, der unter der Treppe lag, umgegraben. Dies war der eigentliche Keller. Aber von da aus zweigten lange, dunkle, zum Teil eingefallene Gänge ab, die in Krypten, Gewölbe und Gefängnishöhlen führten. Diese Gänge sahen nicht so besonders verlockend aus, aber es war natürlich möglich, daß Onkel Einar aus reiner Vorsicht seinen Schatz irgendwo weiter hinten im Keller vergraben hatte. Und da konnten sie ein ganzes Jahr danach suchen. Wenn er ihn überhaupt in der Schloßruine versteckt hatte. In Kalle fing leiser Zweifel an zu keimen. »An welcher Stelle hast du die Perle gefunden?« fragte Eva-Lotte. »Dort, bei der Treppe«, sagte Kalle. »Aber da haben wir ja alles umgegraben.«  Eva-Lotte sank gedankenvoll auf die unterste Treppenstufe nieder. Die Steinplatte, die die unterste Treppenstufe bildete, war offenbar nicht befestigt, denn sie wackelte etwas, als sie sich darauf setzte. Eva-Lotte flog wieder hoch. »Man kann wohl nicht annehmen …« fing sie an und griff mit eifrigen Händen um die Steinplatte. »Sie ist lose, seht doch bloß!« Zwei Paar Arme kamen ihr zu Hilfe. Die Steinplatte wurde zur Seite geschoben, und eine Menge Mauerasseln krochen schnell nach allen Seiten hin fort. »Grab hier!« sagte Kalle aufgeregt zu Anders. Anders nahm den Spaten und stieß ihn mit aller Kraft da nieder, wo die Steinplatte gelegen hatte. Etwas leistete Widerstand. »Das ist natürlich ein Stein«, sagte Anders, und er zitterte etwas, als er seinen Finger hinunterstreckte, um nachzufühlen. Aber es war kein Stein. Es war … Anders betastete mit erdigen Händen den Gegenstand – es war ein Blechkasten. Er hob ihn auf – es war genau der gleiche wie der Reliquienschrein der Weißen Rose. Kalle brach das atemlose Schweigen. »Nu schlägt’s dreizehn«, sagte er. »Er hat unsern Kasten geklaut, der Dieb!« Anders schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht unsrer. Den habe ich vor einer Weile mit meinen eigenen Händen verschlossen.« »Aber es ist genau der gleiche«, sagte Eva-Lotte. »Dann – hat er ihn im Eisengeschäft gekauft, gleichzeitig mit der Taschenlampe«, sagte Kalle. »Sie haben solche Kästen im Eisenwarengeschäft.« »Ja, da haben wir auch unseren gekauft«, sagte Eva-Lotte. »Mach ihn auf, bevor ich einen Anfall bekomme«, sagte Kalle. Anders befühlte den Kasten. Er war verschlossen. »Ob der gleiche Schlüssel für alle diese Blechkästen paßt?« Er riß den Schlüssel hoch, der an einer Schnur um seinen Hals hing. »Oh«, sagte Eva-Lotte. »Oh!« Kalle atmete, als ob er zerspringen wollte. Anders steckte den Schlüssel hinein und drehte um. Er paßte. »Oh«, sagte Eva-Lotte. Und als Anders den Deckel hob: »Nein, nein – das ist ja … das ist ja wie in Tausendundeiner Nacht!« »Ja, also so sieht das aus – Smaragden und Platin«, sagte Kalle andächtig. Da lag alles genauso, wie es in der Zeitung gestanden hatte. Broschen und Ringe und Armbänder und ein zerris-senes Perlenkollier mit Perlen, ganz genau wie die, die Kalle gefunden hatte. »Hunderttausend Kronen!« flüsterte Anders. »Junge, das ist beinahe unheimlich!« Eva-Lotte ließ die Juwelen zwischen ihren Fingern durch-gleiten. Sie nahm ein Armband und zog es über ihren Arm, und sie steckte eine Diamantbrosche an ihr blaues Baumwollkleid. Sie zog einen Ring über jeden ihrer zehn Finger, und so geschmückt stellte sie sich vor die kleine Luke, durch die die Sonne hereinströmte. Es glänzte und funkelte um sie herum. »Oh, wie wunderbar! Bin ich nicht wie die Königin von Saba?« »Wir haben jetzt keine Zeit mehr für so was«, sagte Kalle. »Wir müssen eiligst von hier weg. Nehmt mal an, Onkel Einar kommt plötzlich auf die Idee, sich hierherzuschleichen und den Schrein auszugraben! Nehmt an, er kommt jetzt gleich! Das wäre ungefähr ebenso angenehm, wie einem bengalischen Tiger zu begegnen, was?« »Ich würde den Tiger vorziehen«, sagte Anders. »Aber Onkel Einar wagt nicht auszugehen, wie du weißt. Denn Krok und Redig stehen da und lauern ihm auf.« »Für alle Fälle«, sagte Kalle, »müssen wir sofort zur Polizei.« »Polizei!« Anders’ Stimme drückte höchstes Mißvergnügen aus. »Du denkst wohl nicht, daß wir die Polizei einmischen wollen, jetzt, wo es gerade interessant wird!« »Das hier ist kein Krieg der Rosen«, sagte Kalle nüchtern. »Wir müssen augenblicklich zur Polizei gehen. Die Schurken müssen verhaftet werden, das mußt du doch begreifen!« Anders kraulte sich hinterm Ohr. »Könnten wir sie nicht in eine Falle locken und dann zur Polizei sagen: Hier, bitte, habt ihr drei prima Banditen, die wir für euch gefangen haben!« Kalle schüttelte den Kopf. Ach, wie viele Male hatte nicht der Meisterdetektiv Blomquist auf eigene Faust Dutzende von groben Verbrechern unschädlich gemacht! Aber Meisterdetektiv Blomquist war die eine Person und Kalle die andere. Und mitunter war Kalle ein praktischer und verständiger junger Mann. »Wie du willst!« Anders beugte sich widerwillig der Sach-kenntnis, die Kalle immerhin auf kriminalistischem Gebiet repräsentierte. »Aber dann«, sagte Eva-Lotte, »wollen wir mit Björk sprechen. Er und niemand anders soll uns helfen. Dann wird er danach vielleicht Wachtmeister!« Anders betrachtete das Resultat der Ausgrabungen. »Was wollen wir damit machen? Kartoffeln setzen oder alles wieder zuschaufeln?« Kalle meinte, daß es wohl am klügsten wäre, die Spuren ihres Besuches im Keller notdürftig zu verwischen. »Aber beeile dich«, sagte er. »Es macht einen ganz nervös, hier zu stehen und einen Blechkasten mit hunderttausend Kronen in den Händen zu halten. Ich will so schnell wie möglich fort von hier.« »Wie wollen wir es mit dem Kasten machen?« fragte Eva-Lotte. »Wir können doch nicht ohne weiteres mit ihm angeschleppt kommen. Wo wollen wir ihn verstecken, bis wir mit Björk gesprochen haben?« Nachdem man eine Weile beratschlagt hatte, wurde bestimmt, daß Anders den kostbaren Kasten ins Hauptquartier der Weißen Rose auf dem Bäckereiboden bringen sollte, während Kalle und Eva-Lotte losgingen, um Schutzmann Björk aufzusuchen. Anders zog sein Hemd aus und wickelte es um den Kasten. Nur in Hosen, mit dem Spaten in der Hand und dem in das Hemd eingewickelten Kasten in der anderen, trat er den Rückzug an. »Die glauben sicher, daß ich Regenwürmer ausgegraben habe, wenn ich jemand treffe«, sagte er hoffnungsvoll. Kalle schlug die Tür zu. »Etwas ist schade«, sagte er. »Was denn?« fragte Eva-Lotte. »Daß man nicht sehen kann, was Onkel Einar für ein Gesicht macht, wenn er kommt, um den Kasten zu holen.« »Ja, das wäre fünfundzwanzig Öre wert!« Auf der Polizeiwache herrschte Ruhe und Frieden. Ein Schutzmann saß da und löste Kreuzworträtsel, als ob es keine Verbrechen in der Welt gäbe. Aber es war nicht Björk. »Ist Schutzmann Björk zu sprechen?« Kalle verbeugte sich höflich. »Er ist auf Dienstreise und kommt morgen zurück. Aber weißt du ein mythologisches Wunder mit acht Buchstaben?« Der Schutzmann biß in den Bleistift und sah Kalle an. »Nein, ich komme in einer ganz anderen Angelegenheit«, sagte Kalle. »Ja, wie gesagt, Björk kommt morgen wieder. Aber einen weiblichen Krieger mit sieben Buchstaben?« »Eva-Lotte«, sagte Kalle. »Natürlich, das sind acht Buchstaben! Danke, wir kommen morgen wieder!« Kalle zog Eva-Lotte mit sich hinaus. »Man kann über solche Sachen nicht mit einem Hanswurst reden, der sich nur für mythologische Wunder interessiert«, sagte er. Eva-Lotte war derselben Meinung. Sie einigten sich dahin, daß es wohl kein Risiko wäre, mit der polizeilichen Anzeige bis zum nächsten Tag zu warten. Onkel Einar lag ja in sicherem Gewahrsam in seinem Bett. »Und da steht Krok vor dem Uhrengeschäft«, flüsterte Kalle Eva-Lotte zu. »Hast du je im Leben so eine Visage gesehen?« »Das ist fein, daß die Schurken sich gegenseitig bewachen«, sagte Eva-Lotte. »Das ist genauso, wie das Sprichwort sagt: Wenn die Unschuld schläft, halten Engel Wache!« Kalle befühlte seine Armmuskeln. »Aber morgen, Eva-Lotte! Da gibt es Kampf auf Leben und Tod!« ZWÖLFTES KAPITEL Der Tag versprach, ungewöhnlich heiß zu werden. Die Levkojen auf dem Beet in Bäckers Garten ließen schon am Morgen die Köpfe hängen. Nicht ein Lüftchen bewegte sich, und sogar Tusse zog es vor, im Schatten auf der Veranda zu bleiben, wo Frida vollauf damit beschäftigt war, den Frühstückstisch zu dek-ken. Eva-Lotte kam, nur mit dem Nachthemd bekleidet, angelaufen, noch mit dem Muster des Kopfkissens auf der Wange. »Wissen Sie, Frida, ob Onkel Einar schon wach ist?« Frida sah geheimnisvoll aus. »Frag lieber, ob er geschlafen hat! Gerade das hat er eben nicht! Ich will dir was sagen, Eva-Lotte: Herr Lindeberg hat heute nacht gar nicht in seinem Bett gelegen.« Eva-Lotte sperrte die Augen auf. »Wie meinen Sie das, Frida? Wie können Sie das denn wissen?« »Ja, ich war drin und wollte ihm Rasierwasser bringen. Und da war das Zimmer leer, und das Bett war genauso, wie ich es gestern abend zurechtgemacht hatte, nachdem er fortgegangen war. Denn gegen Abend, da wurde er wieder gesund.« »Ist er gestern abend ausgegangen? Als ich schon im Bett war?« Eva-Lotte wurde so eifrig, daß sie Fridas Arm ergriff. »Ja, ja doch! Wahrscheinlich wegen des Briefes, den er bekommen hat. Himmel, ich hab’ ja Salz und Zucker vergessen!« »Was für ein Brief, Frida? Nein, gehen Sie nicht! Was war das für ein Brief?« Eva-Lotte schüttelte Fridas Arm. »Schrecklich, wie neugierig du bist, Eva-Lotte! Ich weiß nicht, was das für ein Brief war, denn ich lese nicht andrer Leute Briefe. Aber vor der Gartentür standen zwei Männer, als ich gestern abend vom Milchholen kam. Und die haben mich gebeten, Herrn Lindeberg einen Brief zu geben, und das hab’ ich natürlich getan, und da war er auf einmal gesund. So war die Sache!« Eva-Lotte brauchte eine Minute, um sich anzuziehen, und ungefähr ebensoviel Zeit, um zu Kalle rüberzurennen. Anders war schon da. »Was sollen wir anfangen? Onkel Einar ist verschwunden! Und wir haben ihn noch nicht verhaftet!« Die Nachricht schlug ein wie ein Blitz. »Habe ich mir das nicht gleich gedacht?« sagte Anders wütend. »Das ist geradeso wie damals im Frühjahr, als ich den Hecht am Haken hatte und er sich im letzten Augenblick los-riß!« »Ruhe! Besinnung!« mahnte Kalle – ja, das war eigentlich Meisterdetektiv Blomquist, der ein kleines Gastspiel gab. »Me-thodische Arbeit, das ist das einzig Vernünftige! Wir wollen erst mal eine Haussuchung bei Lindeberg – ich meine Onkel Einar –vornehmen!« Der Ordnung halber kontrollierte Kalle, ob keiner der Herren Krok und Redig auf dem Bürgersteig Posten stand. Der Wachtdienst hatte offenbar aufgehört. »Das Bett unberührt, der Reisekoffer noch hier«, summierte Kalle, nachdem sie sich in Onkel Einars Zimmer hineingeschli-chen hatten. »Es sieht so aus, als ob er die Absicht hat zurückzukommen. Aber das kann natürlich auch eine Finte sein.« Anders und Eva-Lotte setzten sich auf die Bettkante und blickten düster vor sich hin. »Nein, er kommt sicher niemals wieder«, sagte Eva-Lotte. »Aber die Juwelen haben wir wenigstens gerettet.« Kalle schnüffelte mit Stielaugen im Zimmer herum. Der Papierkorb natürlich! Reine Routinearbeit! Da lagen ein paar leere Zigarettenschachteln, einige abgebrannte Streichhölzer und eine alte Zeitung. Und dann ein ganzer Haufen kleine, kleine Papierstückchen! Kalle stieß einen Pfiff aus. »Jetzt wollen wir Puzzle spielen«, sagte er. Er sammelte die kleinen Papierstückchen und legte sie vor sich auf den Schreibtisch. Anders und Eva-Lotte rückten interessiert näher. »Glaubst du, daß das der Brief sein kann?« fragte Eva-Lotte. »Das werden wir gleich sehen!« Kalle hantierte mit den Papierstückchen – er bekam hier ein Wort und da ein Wort zusammen. Es war der Brief. Bald hatte er sein Puzzlespiel fertig. Drei Köpfe beugten sich eifrig darüber und lasen: »Einar, alter Freund! Wir haben uns die Sache überlegt, Tjomme und ich. Wir wollen teilen! Allerdings hast du dich wie ein Schwein benommen, und wenn wir nur ein bißchen mehr Zeit hätten, dann würden wir bestimmt das Ganze aus dir rausquetschen. Aber, wie gesagt, wir teilen! Das ist für uns alle das beste, besonders für dich. Ich hoffe, daß du das begreifst. Aber merke dir: keine Tricks! Versuchst du noch einmal, uns zu begaunern, dann bist du fertig mit diesem Erdenleben, darauf geb’ ich dir mein Wort! Reines Spiel diesmal! Wir warten auf dich vor der Gartentür. Beeil dich und bring den Kram mit, dann verschwinden wir sofort. Artur.« »Aha, die Schurken haben sich wieder zusammengetan«, sagte Kalle. »Aber nach dem Kram können sie jetzt lange suchen!« »Ich möchte wissen, wo sie jetzt sind«, sagte Anders. »Ob sie vielleicht schon aus der Stadt abgehauen sind? Ich kann mir denken, daß sie wütend sind wie Hornissen.« »Und wie die sich den Kopf darüber zerbrechen werden, wer die Juwelen weggeholt hat!« Eva-Lotte sah ordentlich aufgelebt aus bei dem Gedanken. »Ob wir uns zur Ruine raufschleichen und nachsehen, ob sie noch hier sind und suchen? Wenn ja, dann hetzen wir augenblicklich die Polizei auf sie«, sagte Anders. Doch jetzt fiel ihm etwas ein. »Aber wie können sie in den Keller kommen, wenn Onkel Einar seinen Dietrich nicht mehr hat?« »Ach, solche Kerle wie Krok und Redig sind sicher von Kopf bis Fuß mit Dietrichen behängt, das kannst du dir doch denken«, sagte Kalle. Er sammelte sorgfältig alle Papierstückchen zusammen und legte sie in eine Zigarettenschachtel, die er in seine Tasche steckte. »Das ist ein Indizium – versteht ihr?« sagte er erklärend zu Anders und Eva-Lotte. Es war drückend heiß in der Sonne. Anders, Kalle und Eva-Lotte keuchten. Sie wagten nicht, die gewöhnliche Treppe wie sonst zu benutzen, um zur Ruine hinaufzugehen, weil sie nicht riskieren wollten, die drei Juwelendiebe zu treffen. »Das wäre wirklich unangenehm«, sagte Kalle. »Sie könnten uns verdächtigen, und das wäre das Schlimmste, was uns passieren könnte. Denn der Redig sieht nicht so aus, als ob er dulden würde, daß jemand sich in seine Angelegenheit mischt.« »Nee, ich glaube nicht, daß sie noch da sind«, sagte Anders. »Ich glaube, die kriegten’s mit der Angst zu tun, als sie sahen, daß die Juwelen fort waren. Wenn Onkel Einar sie nicht auf eine falsche Spur geführt hat!« Es war mühsam, den steilen Abhang hinaufzuklettern. Aber es war notwendig, wenn man nicht die Treppe benutzen wollte. Man mußte klettern und kriechen und sich am Gebüsch festhal-ten und sich gegen Steine stemmen. Und warm war es, schrecklich warm! Eva-Lotte begann hungrig zu werden. Sie hatte keine Zeit gehabt, etwas zu essen, bevor sie von zu Hause fortging, sie hatte nur ein paar Brötchen in ihre Kleidertasche gesteckt. Da lag die Ruine. Es war einer der Vorteile, wenn man nicht die Treppe benutzte, daß man oben hinter der Ruine ankam und sich vorwärts schleichen und vorsichtig um die Ecke sehen konnte, falls sich etwas Gefährliches zeigte. Aber alles war ruhig. Die Hummeln summten wie immer, die Heckenrosen duf-teten wie immer, die Tür zum Keller war verschlossen wie immer. »Was ich gesagt habe! Sie sind weg! Daß wir sie nicht gestern abend verhaftet haben, wird mich bis an mein Lebensende ärgern«, sagte Anders. »Wir müssen in den Keller runtergehen und sehen, ob wir Spuren von ihnen finden«, sagte Kalle und holte den Dietrich hervor. »Du gehst mit dem Dietrich um wie der schlimmste Einbrecher«, sagte Anders voller Bewunderung, als die Tür aufging. Alle drei drängten sich auf einmal die Treppe hinunter. Im selben Augenblick hörte man einen gellenden Schrei, der die ganze Ruine erfüllte. Wer schrie, das war Eva-Lotte. Und weshalb schrie sie? Da lag jemand auf dem Fußboden. Onkel Einar lag dort. Seine Hände waren nach hinten gebunden und fest zu-sammengeschnürt. Seine Beine waren mit starken Stricken gefesselt. Und in den Mund war ein Taschentuch hineingepreßt. Der erste Impuls der Kinder war, die Flucht zu ergreifen. Onkel Einar war ja jetzt ihr Feind, das war ihnen klar. Aber ihr Feind war in seinem jetzigen Zustand vollständig wehrlos. Er starrte sie mit blutunterlaufenen Augen an. Kalle ging hin und befreite ihn von dem Taschentuch. Onkel Einar stöhnte. »Oh, diese Lumpen, was die mit mir gemacht haben! Himmel, meine Arme! Nehmt mir die Stricke ab!« Eva-Lotte wollte zu ihm hin. Aber Kalle hielt sie auf. »Einen Augenblick«, sagte er. Er sah äußerst verlegen aus. »Entschuldige, Onkel Einar, aber wir müssen wohl erst die Polizei holen.« Er fand, daß es etwas ganz Unerhörtes war, daß er es wagte, so etwas zu einem Erwachsenen zu sagen. Onkel Einar fluchte einen langen Fluch. Dann stöhnte er wieder. »Ach so, das seid ihr, denen ich das kleine Vergnügen hier zu verdanken habe! Das hätte ich mir denken können. Meisterdetektiv Blomquist!« Es war unangenehm, sein Stöhnen mit anzuhören. »Zum Teufel, steht nicht da und glotzt!« schrie er. »Holt doch die Polizei, ihr Schnüffler! Aber ihr könnt mir wenigstens etwas Wasser geben!« Anders lief, so schnell ihn seine Beine trugen, hinauf zu dem alten Brunnen auf dem Burghof. Da gab es klares, frisches Wasser und eine große eiserne Kelle, aus der man trinken konnte. Onkel Einar trank, als ob er niemals vorher in seinem Leben Wasser gesehen hätte, als Anders die Kelle an seinen Mund führte. Aber dann fing er wieder an zu jammern. »Oh, meine Arme!« Das war mehr, als Kalle aushalten konnte. »Wenn du bestimmt versprichst, daß du nicht versuchst, dich zu drücken, dann können wir vielleicht den Strick von deinen Armen losmachen.« »Ich verspreche, was ihr wollt«, sagte Onkel Einar. »Und im übrigen hat es keinen Zweck, es zu versuchen, denn wenn einer von uns nach der Polizei geht, dann sind wir immer noch zwei, die Wache halten. Und deine Beine sind ja gebunden.« »Dein Beobachtungsvermögen verdient alles Lob«, sagte Onkel Einar. Es gelang Anders, wenn auch mit etwas Mühe, den Strick aufzubinden, mit dem Onkel Einars Arme festgeschnürt waren. Als der Strick gelockert war, schienen die Schmerzen noch stärker zu sein als vorher, denn Onkel Einar saß eine ganze Weile da und wiegte seinen Oberkörper hin und her, indem er laut jammerte. »Wie lange hast du hier so gelegen?« fragte Eva-Lotte, und ihre Stimme zitterte. »Seit gestern abend, meine schöne junge Dame«, sagte Onkel Einar. »Und das dank eurer Einmischung.« »Ja, das ist unangenehm«, sagte Kalle. »Entschuldige, bitte, aber jetzt müssen wir die Polizei holen!« »Könnten wir nicht über die Sache reden?« fragte Onkel Einar. »Wie zum Teufel habt ihr es übrigens fertiggebracht, die Sache hier herauszuschnüffeln? Ganz gleich, wie, aber es ist klar, daß ihr es seid, die die Juwelen genommen haben, und es ist vor allen Dingen das wichtigste, daß sie wieder zum Vorschein kommen. Herr Meisterdetektiv, könnten Sie nicht einen armen Sünder um unserer alten Freundschaft willen loslassen?« Die Kinder standen stumm da. Onkel Einar wandte sich an Eva-Lotte. »Du willst doch nicht, daß einer aus der Familie im Gefängnis landet?« »Wenn man etwas verbrochen hat, dann muß man auch seine Strafe haben«, sagte Eva-Lotte. »Das einzige, was wir machen können, ist, die Polizei zu holen. Willst du gehen, Anders?« »Ja«, sagte Anders. »Verdammte Gören!« schrie Onkel Einar. »Hätte ich euch bloß die Hälse umgedreht, solange noch Zeit war!« Anders nahm die Treppe in ein paar Sprüngen. Und jetzt schnell durch die Tür! Aber da stand jemand im Wege. Zwei waren es, die da standen und den Türeingang versperrten. Der eine, der mit dem blassen Gesicht, hielt einen Revolver in der Hand. DREIZEHNTES KAPITEL »Ich glaube, wir kommen mitten in eine Familienfestlichkeit rein!« Der Blasse lachte. »Der Kinderfreund Einar im Kreise seiner Lieben! Das ist so reizend, daß man es fotografieren und in die Zeitung setzen sollte. Mißversteh mich nicht, lieber Einar, ich meine nicht unter Polizeinachrichten. Es gibt ja andere Veröffentlichungen!« Er machte eine Pause und betrachtete seinen Revolver. »Wie schade, daß wir gestört haben«, fuhr er fort. »Wenn wir noch etwas gewartet hätten, so wärst du bald durch deine kleinen Freunde befreit worden, und dann wäre es dir vielleicht etwas leichter als gestern abend gefallen, den Kram zu finden.« »Artur, hör mich an!« sagte Onkel Einar. »Ich schwöre, daß …« »Das hast du gestern abend genügend getan«, unterbrach ihn der Blasse. »Wenn du Lust bekommst, zu sagen, wo du das Zeug versteckt hast, dann kannst du den Mund aufmachen. Bis dahin – halt’s Maul. Und bis dahin wirst du wie eine Weinfla-sche liegend aufbewahrt. Ich hoffe, deine kleinen Freunde haben nichts dagegen, daß ich dir die Arme wieder festbinde? Und du bist wohl nicht allzu hungrig und durstig, alter Junge? Denn ich kann dir leider nichts anderes geben als dieses Taschentuch, an dem du bis auf weiteres kauen kannst. Bis du Vernunft angenommen hast!« »Artur«, rief Onkel Einar ganz verzweifelt, »du mußt mich anhören! Weißt du, wer es an sich genommen hat? Ja, diese Brut hier hat es!« Er zeigte auf die Kinder. »Und sie waren gerade dabei, die Polizei zu holen, als ihr reinkamt. Himmel, ich hab’ niemals gedacht, daß ich mich mal freuen würde, dich und Tjomme zu sehen! Aber gerade jetzt kommt ihr wie gerufen.« Es blieb eine Weile still. Das blasse Gesicht mit den unsteten Augen wandte sich den Kindern zu. Kalle bekam das Gefühl einer bevorstehenden unerhörten Gefahr. Das war etwas anderes und viel Unheimlicheres als das damals, da er vor Onkel Einars Revolver stand. Der Unangenehme, der, der Tjomme genannt wurde, brach das Schweigen. »Vielleicht sagt er ausnahmsweise doch mal die Wahrheit, Artur!« »Das ist möglich«, antwortete Artur »Das werden wir bald heraushaben.« »Laß mich mit den Bälgern reden«, sagte Onkel Einar. »Ich werde schon aus ihnen rauspressen, was wir wissen wollen.« Anders, Kalle und Eva-Lotte wurden eine Spur blasser. Kalle hatte recht gehabt, das hier war etwas anderes als der Krieg der Rosen. »Artur«, sagte Onkel Einar, »wenn du endlich eingesehen hast, daß ich nicht mehr versuche, euch hinters Licht zu führen, dann siehst du wohl auch ein, daß wir jetzt mehr als je zusam-menhalten müssen. Schneide das hier auf« – er zeigte auf den Strick um seine Beine –, »und laß uns die Sache in Ordnung bringen. Ich habe das Gefühl, daß es höchste Zeit für uns ist, von hier wegzukommen!« Artur ging ohne ein Wort zu ihm hin und schnitt den Strick durch. Onkel Einar erhob sich mit Mühe und rieb seine schmerzenden Glieder. »Das war die längste Nacht, die ich jemals erlebt habe«, sagte er. Sein Freund Artur lachte – ein boshaftes Lachen! –, und Tjomme ließ ein glucksendes Gelächter hören. Onkel Einar ging zu Kalle und faßte ihn unters Kinn. »Wie war das, Herr Meisterdetektiv, wolltest du nicht die Polizei holen lassen?« Kalle antwortete nicht. Das Spiel war verloren, und er wußte es. »Ich will dir sagen, Artur«, fuhr Onkel Einar fort, »diese Kinder hier sind unglaublich verständig. Es sollte mich sehr wundern, wenn sie nicht nett und bescheiden dem Onkel Einar erzählen würden, wo die Juwelen sind, deren Versteck sie tatsächlich herausgeschnüffelt haben.« »Wir haben sie nicht hier, und wir sagen nicht, wo sie sind«, sagte Anders trotzig. »Hört mich mal an, Kinderchen«, sagte Onkel Einar. »Diese beiden netten Onkels, die ihr hier seht, haben sich gestern abend geirrt. Sie haben geglaubt, daß ich weiß, wo die Juwelen sind, und nicht sagen wollte, wo ich sie versteckt habe. Und deshalb haben sie mir eine Nacht lang Zeit gegeben, darüber nachzudenken. Und, wie gesagt, das war die längste Nacht, die ich je in meinem Leben verbracht habe. In den Nächten ist es hier im Keller ganz dunkel, kohlschwarz und auch kalt. Und man schläft so schlecht, wenn Arme und Beine festgebunden sind. Und dann wird man hungrig und durstig, das kann ich euch versichern. Sicher ist es angenehmer, zu Hause bei der Mutter zu schlafen, was, Eva-Lotte?« Eva-Lotte sah Onkel Einar an, und sie hatte genau den gleichen Ausdruck in ihren Augen wie damals, als er ihre geliebte Tusse gequält hatte. »Herr Meisterdetektiv«, fuhr Onkel Einar fort, »wie würde es dir gefallen, eine Nacht – oder sagen wir: zwei Nächte hier in der Ruine zu verbringen? Oder vielleicht sogar all deine zukünf-tigen Nächte?« Kalle fühlte einen kleinen, unheimlichen Schreck über seinen Rücken kriechen. »Wir haben es eilig«, unterbrach Artur Redig. »Diese ganze Geschichte hier ist schon allzusehr in die Länge gezogen worden. Hört zu, Kinder! Ich bin kinderlieb, das bin ich bestimmt; aber Kinderchen, die es sich in den Kopf gesetzt haben, gleich zur Polizei zu laufen, für die habe ich nichts übrig. Wir werden gezwungen sein, euch hier in den Keller einzuschließen. Aber es hängt von euch ab, ob ihr wieder lebendig hier rauskommt oder nicht. Entweder rückt ihr mit den Juwelen raus, und dann braucht ihr hier nicht länger als eine oder vielleicht zwei Nächte zu bleiben. Sobald wir in Sicherheit sind, schreibt euer lieber Onkel Einar und berichtet, wo ihr seid.« Er machte eine Pause. »Oder aber ihr wollt nicht sagen, wo ihr die Juwelen versteckt habt. Und da würden mir eure lieben Mütter so leid tun, daß ich gar nicht wage, daran zu denken.« Anders und Kalle und Eva-Lotte wagten auch nicht, daran zu denken. Kalle sah die beiden anderen fragend an. Anders und Eva-Lotte nickten zustimmend. Da war nichts anderes zu machen. Sie mußten erzählen, wo der Blechkasten war. »Na, Herr Meisterdetektiv«, sagte Onkel Einar aufmunternd. »Werden wir bestimmt herausgelassen, wenn wir es sagen?« fragte Kalle. »Selbstverständlich«, sagte Onkel Einar. »Verläßt du dich nicht auf Onkel Einar, mein Junge? Ihr braucht nur so lange zu bleiben, bis wir einen etwas gemütlicheren Ort als diese Stadt hier gefunden haben. Ich werde sogar Onkel Artur bitten, euch nicht festzubinden, und da könnt ihr es richtig nett hier haben.« »Der Blechkasten steht in der weißen Kommode auf dem Bäckereiboden«, sagte Kalle, und es sah aus, als ob es ihn eine unerhörte Anstrengung kostete, die Worte herauszukriegen. »Da, wo der Zirkus Kalottan war.« »Ausgezeichnet«, sagte Onkel Einar. »Bist du sicher, daß du weißt, wo das ist, Einar?« fragte Artur Redig. »Absolut! Und da kannst du sehen, Artur, daß es am klügsten für uns alle ist, zusammenzuhalten. Keiner von euch kann auf den Bäckereiboden gehen, ohne Mißtrauen zu erwecken, aber ich kann es!« »All right!« sagte Artur. »Wir wollen jetzt gehen.« Er betrachtete die Kinder, die stumm nebeneinander dastanden. »Ich hoffe, ihr habt die Wahrheit gesagt! Ehrlich währt am längsten, meine jungen Freunde, das ist ein guter Wahlspruch hier im Leben. Habt ihr gelogen, dann kommen wir nach einer Weile wieder, und dann wird es unangenehm, sehr unangenehm!« »Wir haben nicht gelogen«, sagte Kalle und blickte ihn wütend von der Seite an. Jetzt kam Onkel Einar zu ihm hin. Kalle weigerte sich, seine ausgestreckte Hand zu sehen. »Lebwohl, Herr Meisterdetektiv«, sagte er. »Ich glaube, es wäre am klügsten, die Kriminalistik in Zukunft an den Nagel zu hängen. Übrigens: Kann ich meinen Dietrich wiederbekommen? Denn das warst doch du, der ihn mir weggenommen hat?« Kalle steckte die Hand in die Hosentasche und holte den Dietrich hervor. »Es gibt wohl allerlei, was du auch besser an den Nagel hängen solltest, Onkel Einar«, sagte er mürrisch. Onkel Einar lachte. »Lebwohl, Anders, und danke für die schöne Zeit hier. Lebwohl, Eva-Lotte! Du bist ein liebes Kind, das habe ich immer gefunden. Grüß deine Mutter, falls ich keine Zeit mehr haben sollte, mich von ihr zu verabschieden.« Er ging mit seinen zwei Kumpanen die Treppe hinauf. An der Tür drehte er sich um und winkte. »Ich verspreche euch, daß ich bestimmt schreiben und berichten werde, wo ihr seid. Wenn ich es nur nicht vergesse!« Die schwere Tür schlug mit einem Krach zu. VIERZEHNTES KAPITEL »Es ist meine Schuld«, sagte Kalle nach einem, wie es schien, endlosen Schweigen. »Es ist absolut meine Schuld. Ich hätte euch nicht in diese Geschichte mit hineinziehen sollen. Und vielleicht auch nicht mich selbst.« »Ach was, Schuld«, sagte Eva-Lotte. »Du konntest doch nicht ahnen, daß die Sache so laufen würde.« Es wurde wieder still – unheimlich still. Es war, als ob die Außenwelt nicht mehr existierte. Es gab nur diesen Keller hier mit der unerbittlich verschlossenen Tür. »Es ist ein Jammer, daß Björk gestern nicht da war«, sagte Anders schließlich. »Sprich nicht davon«, sagte Kalle. Dann sagte eine Zeitlang niemand mehr etwas. Man dachte. Und alle dachten wohl ungefähr das gleiche. Alles war fehlge-schlagen. Die Juwelen waren verloren, die Diebe würden ins Ausland entkommen. Aber in diesem Augenblick wog alles das leicht gegen die Tatsache, daß sie hier eingesperrt waren und nicht herauskommen konnten und daß sie nicht wußten, ob sie überhaupt jemals wieder herauskommen würden. Dieser furchtbare Gedanke war nicht zu Ende zu denken. Wenn nun Onkel Einar nichts daran gelegen war zu schreiben? Im übrigen – wie lange braucht ein Brief vom Ausland? Und wie lange kann man ohne Essen und Trinken leben? Und war es nicht so, daß es für diese Banditen am besten war, wenn die Kinder für immer hier unten im Keller blieben? Es gab ja auch im Ausland Polizei, und wenn die Kinder erzählten, wer die Diebe waren, konnten Onkel Einar und seine Kumpane sich nicht so sicher fühlen, wie es der Fall wäre, wenn Kalle und Anders und Eva-Lotte niemals Gelegenheit haben würden, ihre Namen zu verraten. »Ich werde schreiben, wenn ich es nur nicht vergesse« – das war das letzte, was Onkel Einar gesagt hatte, und das klang unheilverkündend. »Ich habe drei Brötchen«, sagte Eva-Lotte und steckte die Hand in ihre Kleidertasche. Das war immerhin ein kleiner Trost. »Dann werden wir bis zum Nachmittag nicht den Hungertod erleiden«, sagte Anders. »Wir haben auch noch eine halbe Kelle Wasser übrig.« Drei Brötchen und eine halbe Kelle Wasser! Und dann? »Wir müssen um Hilfe schreien«, sagte Kalle. »Vielleicht kommt ein Tourist, um sich die Ruine anzusehen.« »Ich erinnere mich, daß im vorigen Sommer zwei Touristen hier waren«, sagte Anders. »Warum sollte da nicht heute einer kommen?« Sie stellten sich an die kleine Luke, durch die ein Sonnenstrahl hereinfiel. »Eins, zwei drei – jetzt!« kommandierte Anders. »Hilfe – – H-i-l-f-e!« Die Stille hinterher war fühlbarer als vorher. »Nach Gripsholm und Alvastra und wer weiß wohin, da können sie fahren«, sagte Anders bitter. »Aber um die Ruine hier kümmert sich kein Mensch.« Nein, kein Tourist hörte ihren Notruf und auch sonst niemand. Die Minuten gingen und wurden zu Stunden. »Wenn ich wenigstens zu Hause gesagt hätte, daß ich zur Ruine gehe«, sagte Eva-Lotte. »Dann wären sie wohl schließlich hergekommen, um uns zu suchen.« Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. Kalle schluckte ein paarmal und stand vom Fußboden auf. Es war nicht auszuhalten, still dazusitzen und Eva-Lotte anzusehen. Die Tür – gab es keine Möglichkeit, sie kaputtzuschlagen? Man brauchte sie nur anzusehen, um festzustellen, wie zwecklos ein Versuch sein würde. Kalle beugte sich hinunter, um etwas aufzuheben, was neben der Treppe lag. Es war Onkel Einars Taschenlampe. Die hatte er vergessen – was für ein Glück! Bald würde es Nacht werden, dunkle, kalte Nacht – es war ein Trost, zu wissen, daß man die Dunkelheit für ein paar Augenblicke vertreiben konnte, wenn man wollte. Eine Batterie reichte ja nicht ewig, aber man konnte wenigstens leuchten, um zu sehen, wie spät es schon war. Nicht, daß es irgendeine Bedeutung hatte, ob es drei oder vier oder fünf war – bald würde nichts mehr etwas bedeuten. Kalle fühlte eine dumpfe Verzweiflung in sich aufsteigen. Er wanderte umher, »ein Raub düsterer Gedanken«, wie es immer in Büchern steht. Alles war besser, als dazusitzen und zu warten. Alles war besser. Es wäre sogar besser, zu versuchen, die dunklen Irrgänge zu erforschen, die in die inneren Regionen des Kellers führten. »Anders, du hast einmal gesagt, du wolltest den ganzen Keller durchforschen und kartographieren und wir könnten ihn zu unserem Hauptquartier machen. Warum nicht jetzt die Gelegenheit wahrnehmen?« »Habe ich wirklich so was Dummes gesagt? Ich muß wohl an dem Tag einen Sonnenstich gehabt haben. Wenn ich hier bloß rauskommen könnte, dann weiß ich einen, der niemals mehr seinen Fuß in die Nähe dieser alten Bruchruine setzt!« »Ich möchte aber doch wissen, wo diese Gänge hier hinführen«, sagte Kalle. »Vielleicht ist es nicht ausgeschlossen, daß es noch einen anderen Ausgang gibt, den niemand kennt!« »Ja, und es ist nicht ausgeschlossen, daß eine Versammlung von Archäologen heute nachmittag kommt und uns ausgräbt! Das ist genauso wahrscheinlich.« Eva-Lotte sprang auf. »Ja, aber wenn wir hier stillsitzen, dann werden wir bald verrückt«, sagte sie. »Ich finde, wir sollten tun, was Kalle sagt. Die Taschenlampe haben wir ja, mit der wir uns vorwärts leuchten können.« »Meinetwegen gern«, sagte Anders. »Aber wollen wir nicht erst essen? Drei Brötchen sind in jedem Fall nur drei Brötchen, ganz gleich, wie wir es machen.« Eva-Lotte gab jedem ein Brötchen, und alle drei aßen schweigend. Es war ein eigentümliches und unheimliches Gefühl, zu denken, daß es vielleicht das letzte Mal in ihrem Leben war, daß sie etwas aßen. Sie spülten die Brötchen mit dem Wasser hinunter, das noch in der Kelle war. Dann faßten sie einander an den Händen und traten den Weg ins Dunkel an. Kalle ging voran und leuchtete mit der Taschenlampe. Genau im selben Augenblick bremste ein Auto vor der Polizeiwache der kleinen Stadt. Zwei Männer sprangen heraus, zwei Polizisten. Sie gingen eilig hinein, wo sie von Schutzmann Björk empfangen wurden. Er sah etwas erstaunt aus über den unerwarteten Besuch. Die zwei Männer stellten sich vor: »Kriminal-kommissar Stenberg, Kriminalpolizist Santesson von der Stockholmer Kriminalpolizei.« Dann sagte der Kriminalkommissar schnell: »Kennen Sie hier in der Stadt einen Privatdetektiv mit Namen Blomquist?« »Privatdetektiv Blomquist?« Schutzmann Björk schüttelt den Kopf. »Habe ich nie gehört!« »Das ist merkwürdig«, fuhr der Kriminalkommissar fort. »Er wohnt Hauptstraße 14. Sehen Sie selbst!« Der Kriminalkommissar zog einen Brief hervor, den er Björk reichte. Wenn Kalle dabeigewesen wäre, hätte er den Brief wiedererkannt. »An die Kriminalpolizei Stockholm« stand zuoberst. Und die Unterschrift war ganz richtig »Karl Blomquist, Privatdetektiv«. Schutzmann Björk fing an zu lachen. »Das kann niemand anderes sein als mein Freund Kalle Blomquist. Privatdetektiv, ja, ich danke! Er ist ungefähr zwölf oder dreizehn Jahre alt, der Privatdetektiv!« »Aber Menschenskind, wie können Sie es erklären, daß er uns einen Fingerabdruck schicken konnte, der genau mit dem übereinstimmt, den wir nach dem Einbruch in der Banérstraße Anfang Juni festgestellt haben? Der große Juwelendiebstahl, Sie wissen doch! Und wem gehört dieser Fingerabdruck? Das ist das, was die Stockholmer Kriminalpolizei vor allen Dingen gerade jetzt wissen möchte. Das ist nämlich der einzige Anhaltspunkt, den wir haben. Wir sind uns vollkommen darüber klar, daß es mehrere Personen gewesen sein müssen, die den schweren Geldschrank fortrücken konnten, aber nur einer hat Fingerabdrücke hinterlassen. Die anderen haben offenbar Handschuhe angehabt.« Schutzmann Björk fing an nachzudenken. Er erinnerte sich an Kalles vorsichtige Fragen, als sie sich kürzlich auf dem Marktplatz getroffen hatten. »Was macht man, wenn man weiß, daß ein Mensch ein Verbrecher ist, es aber nicht beweisen kann?« Wie es nun auch zugegangen sein mochte, offenbar war Kalle Blomquist den Tätern des großen Juwelendiebstahls auf die Spur gekommen. »Ich weiß keinen anderen Rat, als daß wir sofort hinfahren und Kalle selbst fragen«, sagte Schutzmann Björk. »Ja, und das schneller als schnell«, sagte der Kriminalkommissar. »Hauptstraße 14«, sagte der Kriminalpolizist und setzte sich ans Steuer. Das Polizeiauto sauste davon. Die Roten Rosen langweilten sich erbärmlich. Was war das aber auch für eine Art von den Weißen, sich zu ergeben und Frieden zu schließen, gerade als der Kampf so vielversprechend begonnen hatte? Was in aller Welt hatten sie eigentlich vor, daß sie freiwillig auf so ein Vergnügen verzichteten? »Ich glaube, wir gehen zu ihnen hin und versuchen, sie ein bißchen zu beleidigen«, sagte Sixtus. »Dann nehmen sie vielleicht Vernunft an.« Benka und Jonte fanden den Vorschlag gut. Aber das Hauptquartier der Weißen lag verlassen da. »Wo mögen sie bloß sein?« fragte Jonte. »Wir warten auf sie«, sagte Sixtus. »Einmal werden sie ja wiederkommen.« Worauf sich die Roten auf dem Bäckereiboden bequem ein-richteten. Da waren eine ganze Menge alter Wochenzeitschriften, mit denen sich die Weißen unterhielten, wenn schlechtes Wetter war. Auch allerlei Spiele waren da und der ausgezeichnete Tisch, auf dem man Ping-Pong spielen konnte. An Zer-streuungen fehlte es also nicht. »Verdammt feines Hauptquartier«, sagte Benka. »Ja«, sagte Sixtus, »ich wünschte, ich hätte in meiner Garage Platz für einen Ping-Pong-Tisch.« Sie spielten Ping-Pong, und zwischen den einzelnen Runden rutschten sie am Seil runter und kletterten wieder rauf und lasen die Bilderserien in den Zeitschriften, und es machte ihnen gar nichts aus, daß die Weißen durch Abwesenheit glänzten. Sixtus stand an der offenen Luke und hatte das Seil in der Hand. »Sieh mal an, da kommt ja der Kerl, der mit Eva-Lotte verwandt ist – wie heißt er doch gleich? Onkel Einar! Gott, hat der es eilig!« dachte Sixtus. Jetzt sah Onkel Einar hinauf und erblickte Sixtus. »Suchst du Eva-Lotte?« fragte er einen Augenblick später. »Ja«, sagte Sixtus. »Wissen Sie, wo sie ist?« »Nein«, sagte Onkel Einar, »das weiß ich nicht.« »Ach so«, sagte Sixtus und rutschte am Seil runter. Onkel Einar sah zufrieden aus. Sixtus fing wieder an raufzuklettern. »Willst du wieder da rauf?« fragte Onkel Einar. »Ja«, sagte Sixtus und kletterte mit schnellen Griffen weiter. Er hatte eine 1-2 im Turnen, und das sah man. »Was willst du da oben?« fragte Onkel Einar. »Auf Eva-Lotte warten«, sagte Sixtus. Onkel Einar ging eine Weile auf und ab. »Wenn ich es mir richtig überlege«, rief er zu Sixtus hinauf, »so fällt mir ein, daß Eva-Lotte und die Jungen heute einen Ausflug machen wollten. Sie werden wohl nicht vor dem Abend zurückkommen.« »Soso«, sagte Sixtus und rutschte am Seil herunter. Onkel Einar sah zufrieden aus. Sixtus ergriff das Seil und fing wieder an raufzuklettern. »Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?« fragte Onkel Einar ungeduldig. »Eva-Lotte kommt den ganzen Tag nicht nach Hause.« »Soso«, sagte Sixtus. »Das ist schade«. Er kletterte weiter. »Was willst du denn da oben machen?« rief Onkel Einar. »Bilderserien ansehen«, sagte Sixtus. Onkel Einar sah nicht mehr eine Spur zufrieden aus. Er ging ungeduldig auf und ab. »Du da oben«, rief er nach einer Weile. »Willst du eine Krone verdienen?« Sixtus steckte den Kopf aus der Luke. »Ja, natürlich. Wie denn?« »Lauf ins Zigarrengeschäft und kauf mir eine Schachtel Lucky Strike!« »Gern«, sagte Sixtus und rutschte am Seil herunter. Onkel Einar gab ihm einen Fünfkronenschein. Sixtus nahm die Beine in die Hand und verschwand. Und jetzt sah Onkel Einar zufriedener aus als je zuvor. Da steckte Benka seinen Kopf durch die Luke, der prächtige kleine Benka mit dem blonden Lockenkopf und der lustigen Stupsnase. Niemand hätte Anlaß gehabt, beim Anblick eines so netten Kerlchens zu fluchen. Aber Onkel Einar fluchte – einen langen Fluch! Nach einer Weile kam Sixtus zurück. In der einen Hand hatte er eine große Tüte. Er gab Onkel Einar die Zigaretten und rief zu den Roten hinauf: »Seht bloß, ich habe bei Eva-Lottes Vater Schnecken für die ganze Krone gekauft, und er ist ja nie geizig. Jetzt haben wir so viel zu essen, daß es den ganzen Tag reicht, da brauchen wir nicht nach Hause zu gehen.« Da fluchte Onkel Einar einen noch längeren Fluch still vor sich hin und ging mit langen Schritten davon. Und die Roten sahen Bilderserien an und spielten Ping-Pong und aßen Schnecken und rutschten das Seil runter und kletterten wieder rauf, und es machte ihnen gar nichts aus, daß die Weißen durch Abwesenheit glänzten. »Glaubt ihr, daß der Kerl da ganz richtig im Kopf ist?« fragte Sixtus, als Onkel Einar zum viertenmal vor der Bäckerei auftauchte. »Was läuft er hier rum wie ein ängstliches Huhn? Kann er sich nicht eine nützlichere Beschäftigung suchen?« Die Stunden vergingen. Und die Roten spielten Ping-Pong und besahen Bilder und rutschten das Seil runter und kletterten wieder rauf und aßen noch mehr Schnecken und machten sich nicht eine Spur daraus, daß die Weißen durch Abwesenheit glänzten. Dunkel, Dunkel überall! Hier und da findet ein Lichtstreifen den Weg durch eine Luke. Noch leuchtet die Taschenlampe, und das ist auch nötig! Es ist schwer, vorwärts zu kommen. Mitunter liegen große Steine da und versperren den Weg. Es ist feucht und glatt und kalt. Nicht auszudenken, daß man die Nacht hier verbringen soll! Viele Nächte! Anders und Kalle und Eva-Lotte haben sich gegenseitig an den Händen gefaßt. Kalle leuchtet an den Steinwänden entlang, wo die Feuchtigkeit hervorsickert. »Die Ärmsten, die früher mal hier eingesperrt waren!« sagt Eva-Lotte. »Viele Jahre vielleicht!« »Aber die bekamen wenigstens was zu essen«,knurrt Anders. Ein kleines Brötchen hält nicht lange vor, und er ist schon wieder sehr hungrig. Um diese Zeit essen sie zu Hause Mittagbrot! »Heute sollte es bei uns Fleischklopse geben«, seufzt Eva-Lotte. Kalle sagt nichts. Er ist wütend auf sich selbst, daß er sich jemals auf diese Detektivarbeit eingelassen hat. Sie hätten jetzt zu Hause auf dem Bäckereiboden sitzen können, sie hätten mit den Roten Krieg führen können, sie hätten radfahren und baden und Fleischklopse zu Mittag essen können und alles mögliche andere. Anstatt hier in Dunkel und Elend herumzulaufen. Und man kann nicht einmal wagen, daran zu denken, wie das enden soll! »Das beste ist, wir gehen wieder zum Ausgangspunkt zurück«, sagt Eva-Lotte. »Jetzt haben wir sicher alles gesehen, was zu sehen ist, und es ist überall das gleiche, den ganzen Weg lang. Dunkel und unheimlich überall.« »Wir wollen bloß noch diesen Gang hier zu Ende gehen«, schlägt Anders vor. »Dann können wir wieder umkehren.« Eva-Lotte hatte unrecht. Es ist nicht überall das gleiche. Dieser Gang hier endet mit einer Treppe. Und eine Treppe bedeutet eine Verbindung zwischen zwei Stockwerken. Es ist eine kleine, schmale Wendeltreppe, deren Steinstufen durch viele Füße abgenutzt sind. Anders und Kalle und Eva-Lotte stehen ganz still. Sie können ihren Augen nicht trauen. Kalle leuchtet mit der Taschenlampe. Dann rennt er die Treppe hinauf. Aber die Treppe ist oben zu-genagelt. Es soll niemand in den Keller hinunterkommen. Und offenbar auch nicht hinauf. Kalle wünscht, daß er mit dem Kopf durch das Holz könnte, so daß die Splitter herumflögen. »Wir müssen raus! Wir müssen raus, sage ich!« Anders ist vollkommen wild. »Ich halte es nicht eine Minute länger aus!« Er hebt einen großen Stein auf. Kalle hilft ihm. »Eins, zwei, drei – jetzt!« kommandiert Anders. Das Holz kracht. Noch einmal! »Du wirst sehen, es geht, Kalle!« Anders keucht förmlich vor Aufregung. Ein Glück, daß das Holz nicht so dick ist. Ein letztes Mal mit voller Kraft! Peng – die Holzsplitter fliegen nach allen Seiten. Es macht keine Mühe, das Zeug wegzuräumen. Anders reckt den Kopf hoch und stößt ein Freudengeheul aus. Die Treppe führt zum Erdgeschoß der Ruine. »Kalle und Eva-Lotte, kommt!« ruft er. Aber Kalle und Eva-Lotte sind bereits gekommen. Sie stehen da und starren zum Licht, zur Sonne hinauf, als ob es ein großes Wunder wäre. Eva-Lotte rennt zur Fensteröffnung. Da unten liegt die stille Stadt. Sie kann den Fluß sehen und den Wasserturm und die Kirche. Und dort, weit weg, sieht sie das rote Dach der Bäckerei. Da lehnt sie sich gegen die steinerne Wand und bricht in lautes Weinen aus. »Mädels sind schon komisch«, denken Anders und Kalle. Vorhin, im Keller unten, da hat sie nicht geweint, aber jetzt, da alle Gefahr vorüber ist, da läuft ihr das Wasser raus wie ein Springbrunnen. Ungefähr um diese Zeit haben die Roten alle Bilderserien durchgesehen, und sie haben keine Lust mehr, Ping-Pong zu spielen. Im übrigen soll bald ein Fußballmatch auf der Prärie stattfinden. »Nee, jetzt warten wir nicht länger«, sagt Sixtus. »Ich glaube, sie sind nach Amerika ausgewandert. Kommt, wir hauen ab!« Sie rutschen am Seil runter, Sixtus und Benka und Jonte, und marschieren auf Eva-Lottes Steg über den Fluß. Und nun bekommt Onkel Einar endlich die Gelegenheit, auf die er schon so viele Stunden gewartet hat. Ein schwarzer Ford parkt einige hundert Meter weiter auf der Straße. Zwei Männer sitzen darin, zwei ungeduldige und nervöse Männer. Sie haben so lange hier in der Hitze gesessen. Die Stunden haben sich hingeschlichen, und in gleichmäßigen Zwischenräumen war ihr alter Freund Einar mit dem Bericht gekommen: »Die Brut ist immer noch da! Ja, was soll ich machen? Ich kann ihnen doch nicht gut die Hälse umdrehen, so gern ich auch möchte!« Aber jetzt endlich kommt Einar, beinahe im Laufschritt. Er trägt etwas unter dem Jackett. »Alles klar«, flüstert er und springt rein. Tjomme drückt den Gashebel ganz runter, und der Ford braust mit höchster Geschwindigkeit davon. Die drei im Auto haben keinen anderen Gedanken, als so schnell wie möglich die kleine Stadt hinter sich zu lassen. Sie sehen nur vorwärts, sie sehen nur den Weg, der sie zu Reichtum und Freiheit und Unabhängigkeit führen soll. Wenn sie einen Blick zur Seite geworfen hätten, dann würden sie vielleicht drei Kinder gesehen haben, Anders und Kalle und Eva-Lotte, die gerade um die Straßenecke bogen und mit Erstaunen und Entsetzen ihren verschwindenden Feinden nachstarrten. FÜNFZEHNTES KAPITEL »Du Unglückskind, wo bis du gewesen?« fragte Lebensmittelhändler Blomquist. »Und was hast du gemacht? Hast du schon wieder Fensterscheiben kaputtgeschlagen?« Zum hundertsten Male war der Lebensmittelhändler vor die Tür gegangen und hatte nach seinem Sprößling ausgespäht. Und jetzt endlich sah er ihn an der Straßenecke, zusammen mit Anders und Eva-Lotte, und ging ihm entgegen. »Vater, laß mich los! Ich muß sofort zur Polizei!« »Das weiß ich«, sagte sein Vater. »Die Polizei sitzt bei uns zu Hause und wartet auf dich. Das wird kein Spaß für dich werden, Kalle!« Kalle konnte nicht verstehen, warum die Polizei auf ihn wartete. Aber es genügte ihm, daß sie wartete. Und er lief, wie er niemals vorher in seinem jungen Leben gelaufen war. Anders und Eva-Lotte folgten. Da saß Schutzmann Björk auf dem grünen Schaukelbrett. Gott segne ihn! Und neben ihm zwei andere Polizisten. »Verhaftet sie, verhaftet sie!« schrie Kalle. »Beeilt euch!« Björk und die beiden andern sprangen auf. »Wo? Wen?« »Die Juwelendiebe!« Kalle war so aufgeregt, daß er kaum die Worte herausbringen konnte. »Sie sind eben im Auto wegge-fahren! Um Himmels willen, beeilt euch!« Er brauchte es nicht zweimal zu sagen. Lebensmittelhändler Blomquist kam gerade die Straße entlanggetrabt, rechtzeitig genug, um Kalle und seine beiden Kameraden in das Polizeiauto hineinstürzen zu sehen, mit drei Polizisten auf den Fersen. Herr Blomquist faßte sich an den Kopf. Der Sohn in so jungen Jahren verhaftet, das war ja schrecklich! Der einzige Trost war, daß das Mädchen vom Bäcker offenbar nicht eine Spur besser war! Und der Schuhmacherjunge auch nicht. Das Polizeiauto sauste mit einer Fahrt nordwärts, die die ge-setzestreuen Bürger der kleinen Stadt entrüstet die Köpfe schütteln ließ. Kalle, Anders und Eva-Lotte saßen im Rücksitz mit Kommissar Stenberg. Sie wurde zur Seite gedrückt, je nachdem wie das Auto die Kurve nahm. Eva-Lotte saß da und fragte sich, wieviel man an einem einzigen Tag aushalten konnte, ohne daß man ohnmächtig wurde. Kalle und Anders sprachen beide zu gleicher Zeit, bis der Kommissar sagte, daß er nur einen auf einmal hören wollte. Kalle gestikulierte wild und rief mit gellender Stimme: »Einer ist blaß, und einer sieht unheimlich aus, und einer ist Onkel Einar, aber der Blasse ist eigentlich unheimlicher als der Unheimliche, und Onkel Einar ist auch unheimlich.« Der Kommissar sah etwas verwirrt aus. »Der Blasse nennt sich Ivar Redig, aber er heißt sicher Artur, und den Häßlichen nennen sie Tjomme, aber vielleicht heißt er Krok, und Onkel Einar hat zwei Namen, Lindeberg und Brane, und er schläft mit einem Revolver unter dem Kopfkissen, und er hat die Juwelen unter der Treppe in der Schloßruine vergraben, und als ich einen Fingerabdruck von ihm genommen hatte, da fiel der Blumentopf runter – Pech, was? –, und da hat er mit dem Revolver auf mich gezielt, und dann saß ich im Ahornbaum und hab’ gehört, wie Tjomme und Redig ihn mit dem Tode bedrohten, und dann haben sie ihn im Keller in der Schloßruine gefesselt, denn er war so dumm, mit ihnen hinzugehen, aber da waren die Juwelen schon weg, denn wir haben sie auf dem Bäckereiboden versteckt, aber jetzt haben sie sie leider wiedergenommen, denn sie haben uns im Keller eingeschlossen, und Himmel, so viele Gänge wie da sind, aber raus sind wir gekommen, ja, jetzt wissen Sie alles, aber fahrt um Himmels willen schneller!« Der Kommissar sah nicht so aus, als ob er alles wüßte, aber er dachte, daß man wohl später Einzelheiten klarstellen könnte. Der Kriminalpolizist sah auf den Geschwindigkeitsmesser. Der war jetzt auf hundert Kilometer, und er wagte nicht, noch schneller zu fahren, obwohl Kalle meinte, daß es zu langsam ginge. »Eine Wegscheide, Kommissar, nach rechts oder links?« Er bremste das Auto, daß es schleifte. Anders und Kalle und Eva-Lotte bissen sich in den Daumen vor Nervosität über die Verzögerung. »Ärgerlich«, sagte der Kommissar. »Schutzmann Björk, Sie kennen doch die Wege hier. Welchen, glauben Sie, können sie genommen haben?« »Das kann man unmöglich sagen«, antwortete Björk. »Sie können zum großen Kontinentalweg hinkommen, ganz gleich, welchen Weg sie nehmen.« »Einen Augenblick«, sagte Kalle und stieg aus dem Auto. Er nahm sein Notizbuch aus der Hosentasche und ging zum linken Weg. Er besah aufmerksam die Erde. »Sie sind diesen Weg hier gefahren!« schrie er voller Eifer. Björk und der Kommissar waren auch ausgestiegen. »Woher weißt du das?« fragte der Kommissar. »Ja, ihr Auto hat einen neuen Reifen aus Gislaved auf dem rechten Hinterrad, und ich hab’ hier das Muster abgezeichnet. Sehen Sie her!« Er zeigte auf einen deutlichen Abdruck in dem losen Fahrweg. »Genau das gleiche!« »Du bist sehr pfiffig«, sagte der Kommissar, während sie zum Auto zurückrannten. »Ach, das ist reine Routinearbeit«, sagte Meisterdetektiv Blomquist. Aber dann fiel ihm ein, daß er viel lieber nur Kalle sein wollte. »Ach, das war mir geradeso eingefallen«, fügte er ganz bescheiden hinzu. Die Fahrt war jetzt beinahe lebensgefährlich. Niemand sagte etwas. Aller Augen starrten durch die Windschutzscheibe. Sie rutschten um eine Kurve. »Da!« rief Schutzmann Björk. Hundert Meter vor ihnen sah man ein Auto. »Das ist es«, sagte Kalle. »Ein A-Auto! Schwarzer Ford!« Der Kriminalpolizist Santesson tat sein Äußerstes, um die Fahrgeschwindigkeit noch höher hinaufzupressen. Aber der schwarze Ford jagte vorwärts und behielt seinen Vorsprung. Man sah ein Gesicht durch die hintere Fensterscheibe heraussehen. Sie hatten offenbar begriffen, daß ihnen Verfolger auf den Fersen waren. »Es dauert sicher nur noch ein paar Minuten, bis ich ohnmächtig werde«, dachte Eva-Lotte. »Ich war noch nie ohnmächtig.« Hundertzehn Kilometer! Jetzt kam das Polizeiauto langsam, aber sicher dem schwarzen Ford näher. »Legt euch hin, Kinder!« schrie der Kommissar plötzlich. »Sie schießen!« Er drückte die drei Kinder auf den Boden des Autos nieder. Es war höchste Zeit. Eine Kugel kam pfeifend durch die Windschutzscheibe. »Björk, Sie sitzen besser, nehmen Sie meinen Revolver und geben Sie den Schweinehunden Antwort.« Der Kommissar reichte seinen Revolver dem Kollegen auf dem Vordersitz. »Die schießen, pfui Teufel, wie die schießen«, flüsterte Kalle unten auf dem Fußboden. Schutzmann Björk streckte den Arm aus dem Seitenfenster hinaus. Er war nicht nur ein guter Turner, er war auch ein guter Schütze. Er zielte sorgfältig auf den rechten Hinterreifen des Fords. Der hatte jetzt nicht mehr als fünfundzwanzig Meter Abstand. Der Schuß ging ab, und eine Sekunde später schleifte der schwarze Ford und fuhr in den Graben. Das Polizeiauto fuhr hin und hielt daneben an. »Jetzt schnell, bevor sie aus der Karre raus können!« schrie der Kommissar »Ihr bleibt liegen, Kinder!« Im Augenblick hatten die Polizeileute den Ford umringt. Nichts in dieser Welt hätte Kalle dazu kriegen können, lie-genzubleiben. Er mußte aufstehen und zusehen. »Onkel Björk und der, der am Steuer saß, halten ihre Revolver in höchster Bereitschaft«, rapportierte er an Anders und Eva-Lotte. »Und der dicke Kommissar reißt die Autotür auf Junge, wie die losschlagen! Jetzt kommt Redig, er hat auch seinen Revolver – pang – jetzt bekommt er einen Schlag von Onkel Björk, so daß er den Revolver verliert, hört bloß – ach, ist das fein – und da ist Onkel Einar, aber er hat keinen Revolver, er haut bloß um sich, aber jetzt, wahrhaftig, jetzt legen sie dem Kerl Handschellen an und auch dem Redig. Aber wo ist Tjomme? Jetzt ziehen sie ihn raus. Er ist sicher ohnmächtig geworden. Ach, ist das spannend! Und jetzt, wahrhaftig …« »Hör auf«, sagte Anders. »Wir haben wohl Augen im Kopf, wir können selbst sehen!« Der Kampf war zu Ende. Da standen Onkel Einar und der Blasse vor dem Kommissar. Tjomme lag daneben auf der Erde. Er fing wohl langsam an, wieder zu sich zu kommen. »Was sehe ich!« sagte der Kommissar. »Ist das nicht Artur Berg? Das ist wirklich eine freudige Überraschung!« »Die Freude ist ganz und gar auf Ihrer Seite«, sagte der Blasse mit einem bösen Blick. »Das kann man wohl sagen«, meinte der Kommissar. »Was sagst du dazu, Santesson, wir haben Artur Berg in der Zange!« »Man muß ein gutes Gedächtnis haben, wenn man alle Namen behalten will«, dachte Kalle. »Kalle, komm mal her!« rief der Kommissar. »Es wird dich vielleicht freuen zu hören, daß es uns gelungen ist, einen der gefährlichsten Verbrecher zu fangen, die wir hier im Lande haben, und das haben wir dir zu verdanken!« Sogar Artur Berg zog die Augenbrauen etwas hoch, als er Kalle und Anders und Eva-Lotte erblickte. »Ich hätte meinem ersten Gedanken folgen und die Bande da niederschießen sollen«, sagte er ruhig. »Es lohnt sich nicht, Menschenfreund zu sein. Das bringt einen bloß ins Elend.« Tjomme schlug die Augen auf. »Und hier haben wir noch einen alten Bekannten und treuen Polizeikunden! Wie war das, Tjomme, haben Sie nicht gesagt, daß Sie ein anständiger Kerl werden wollten, als wir uns das letzte Mal trafen?« »Ja«, sagte Tjomme, »aber ich wollte mir erst ein bißchen Startkapital verschaffen. Es kostet Geld, Herr Kommissar, wenn man anständig sein will.« »Und Sie?« Der Kommissar wandte sich an Onkel Einar. »Ist es das erste Mal, daß Sie sich auf solche Wege begeben haben?« Onkel Einar schlug den Blick nieder. »Ja«, sagte er. Dann sah er Kalle wütend an. »Ich bin jedenfalls bis jetzt noch nicht rein-geschlittert! Und es wäre auch diesmal gutgegangen, wenn nicht der Meisterdetektiv hier wäre! Meisterdetektiv Blomquist!« Er preßte etwas hervor, was wohl ein Lächeln darstellen sollte. »Und jetzt wollen wir sehen, wo wir das Diebesgut haben, Santesson! Ich vermute, es liegt im Auto.« Ja, da war der Blechkasten! »Wer hat den Schlüssel?« fragte der Kommissar. Onkel Einar reichte ihn widerstrebend hin. Alle standen in gespannter Erwartung da. »Jetzt wollen wir mal sehen«, sagte der Kommissar und drehte den Schlüssel um. Der Deckel schlug auf. Zuoberst lag ein Stück Papier. »Die heimliche Urkunde der Weißen Rose« stand mit großen Buchstaben da. Der Kommissar sperrte den Mund auf vor Erstaunen. Das taten die anderen auch, nicht zum mindesten Onkel Einar und seine beiden Kumpane. Artur Berg warf Onkel Einar einen haßerfüllten Blick zu. Der Kommissar wühlte in dem Kasten. Aber da lag nichts anderes als Papier, Steine und allerlei anderer Kram. Eva-Lotte war es, die zuerst anfing zu lachen, ein lautes, übermütiges Lachen. Das war das Signal für Kalle und Anders. Sie brachen in Gelächter aus, sie lachten, ja, sie lachten derartig, daß sie sich bogen, alle drei. Sie lachten, bis sie beinahe heulten und sich den Bauch halten mußten. »Was ist denn nur mit den Kindern los?« fragte der Kommissar verwirrt. Dann wandte er sich an Artur Berg: »Ach so, ihr habt bereits das Diebesgut beiseite schaffen können! Aber das werden wir schon aus euch rauspressen!« »Das – das – das braucht nicht rausgepreßt zu werden«, brachte Anders mühsam hervor, während er vor Lachen schluckte. »Ich weiß, wo es ist. Es ist im untersten Kommodenschubfach auf dem Bäckereiboden.« »Aber wo haben sie das hier her?« fragte der Kommissar und zeigte auf den Blechkasten. »Aus dem obersten Schubfach!« Eva-Lotte hatte plötzlich aufgehört zu lachen. Sie war am Grabenrand zusammengesunken. »Ich glaube wahrhaftig, das Mädel ist ohnmächtig geworden«, sagte Schutzmann Björk und hob Eva-Lotte auf. »Das ist auch kein Wunder.« Da schlug Eva-Lotte mühsam ihre blauen Augen auf. »Nein, das ist kein Wunder«, flüsterte sie. »Ich habe heute noch nichts weiter gegessen als ein Brötchen.« SECHZEHNTES KAPITEL Meisterdetektiv Blomquist lag auf dem Rücken unter dem Birnbaum. Ja, er war jetzt Meisterdetektiv und nicht nur Kalle. Das stand sogar in der Zeitung, die er in der Hand hatte. »Meister-detektiv Blomquist« stand da als Überschrift, und darunter war seine Fotografie. Die Fotografie stellte ganz gewiß nicht den reifen Mann mit den scharf geschnittenen Zügen und dem durchdringenden Blick dar, wie man es hätte erwarten können. Das Gesicht, das einem aus der Zeitung entgegenblickte, war auffallend Kalle-artig, aber da war nichts zu machen. Eva-Lottes und Anders’ Fotografien waren auch dabei, wenn auch etwas weiter unten. »Haben Sie bemerkt, junger Mann«, fragte Herr Blomquist seinen eingebildeten Zuhörer, »daß die ganze erste Seite nur von diesem kleinen Fall mit den gestohlenen Juwelen handelt, den aufzuklären mir kürzlich gelungen ist, als ich gerade etwas Zeit übrig hatte?« O ja, das hatte sein eingebildeter Zuhörer wohl bemerkt, und er konnte seiner Bewunderung nicht genug Ausdruck geben. »Da hat es wohl eine ordentliche Belohnung für Sie gegeben, Herr Blomquist?« vermutete er. »Tja«, sagte Herr Blomquist, »natürlich bekam ich eine schreckliche Masse Moneten – hm, ich meine, selbstverständlich bekam ich eine nicht unbeträchtliche Summe Geld, aber das habe ich mit Fräulein Lisander und Herrn Bengtsson geteilt, die mir bei den Forschungsarbeiten keine geringe Hilfe geleistet haben. Um die Wahrheit zu sagen: Wir konnten uns zehntausend Kronen teilen, die Bankier Östberg uns als Belohnung zur Verfügung gestellt hat.« Sein eingebildeter Zuhörer schlug vor Erstaunen die Hände zusammen. »Na ja«, sagte Herr Blomquist und zupfte mit überlegener Miene an einem Grashalm, »immerhin, zehntausend Kronen sind auch Geld. Aber ich will Ihnen sagen, junger Mann, ich arbeite nicht des schnöden Goldes wegen. Ich habe ein einziges Ziel: die Bekämpfung des Verbrechens in unserer Gesellschaft. Hercule Poirot, Lord Wimsey und der Unterzeichnete, ja, wir bleiben weiterhin auf dem Posten und haben nicht die Absicht, es zuzulassen, daß die Kriminalität die Oberhand gewinnt.« Der eingebildete Zuhörer betonte ganz richtig, daß die Gesellschaft den Herren Poirot, Wimsey und Blomquist für ihre aufopfernde Arbeit im Dienste des Guten zu großem Dank verpflichtet sei. »Bevor wir uns trennen, junger Mann«, sagte der Meisterdetektiv und nahm die Pfeife aus dem Mund, »eins will ich Ihnen sagen: Verbrechen lohnt sich nicht! Ehrlich währt am längsten, das hat sogar Artur Berg einmal zu mir gesagt. Und ich hoffe, er sieht es jetzt ein, wo er nun sitzt. In jedem Fall hat er viele Jahre Zeit, darüber nachzudenken. Und dann – Onkel Einar! – hm, Einar Lindeberg, ein so junger Mann schon auf der Bahn des Verbrechens! Möge seine Strafe ihm zur Besserung gereichen! Denn – wie ich schon sagte – Verbrechen lohnt sich nicht!« »Kalle!!!« Eva-Lotte steckte den Kopf durch die Zaunöffnung. »Kalle, warum liegst du hier und starrst in die Luft? Komm rüber! Anders und ich wollen in die Stadt.« »Leben Sie wohl, junger Mann«, sagte Meisterdetektiv Blomquist. »Fräulein Lisander hat mich gerufen, und – nebenbei gesagt – sie ist die junge Dame, mit der ich die Ehe einzugehen beabsichtige.« Sein eingebildeter Zuhörer beglückwünschte Fräulein Lisander zur Wahl ihres Gatten. »Ja, Fräulein Lisander weiß natürlich noch nichts davon«, sagte der Meisterdetektiv wahrheitsgemäß und hüpfte auf einem Bein zum Zaun hin, wo das besagte Fräulein mitsamt Herrn Bengtsson auf ihn wartete. Es war Samstag abend. Alles atmete tiefsten Frieden, als Kalle, Anders und Eva-Lotte die Hauptstraße entlanggeschlendert kamen. Die Kastanien hatten schon längst zu blühen aufgehört, aber in den kleinen Gärten prunkten Rosen und Levkojen und Löwenmaul. Sie gingen zur Gerberei hinunter. Friedrich mit dem Fuß war bereits betrunken und stand da und wartete auf Schutzmann Björk. Kalle, Anders und Eva-Lotte blieben eine Weile stehen, um Friedrichs Geschichten aus seinem Leben mit anzuhören. Aber dann gingen sie weiter zur Prärie hinaus. »Seht mal, da sind Sixtus und Benka und Jonte«, sagte Anders plötzlich, und seine Augen fingen an zu blitzen. Kalle und Eva-Lotte gingen dichter zu ihrem Chef hin. Und die Weißen marschierten direkt auf die Roten zu. Nun trafen sie sich. Nach dem Friedensvertrag hätte der Chef der Weißen sich jetzt dreimal vor den Roten verbeugen sollen und sagen: »Ich weiß, daß ich nicht würdig bin, den gleichen Boden zu betreten wie du, o Herr!« Der rote Chef sah den weißen auch besonders herausfordernd an. Da öffnete der weiße Chef seinen Mund, er sprach und sagte: »Rotzbengel!« Der rote Chef sah zufrieden aus. Er ging jedoch entrüstet einen Schritt rückwärts. »Das bedeutet Kampf!« sagte er. »Ja«, sagte der weiße Chef und schlug sich dramatisch an die Brust. »Jetzt herrscht Kampf zwischen der Weißen und der Roten Rose!« BAND ZWEI.  Kalle Blomquist lebt gefährlich ERSTES KAPITEL »Du kannst nicht normal sein«, sagte Anders. »Du kannst einfach nicht normal sein. Liegst da herum und träumst!« Er, der nicht normal sein sollte, sprang hastig aus dem Grase auf und blinzelte unter einem flachsgelben Haarschopf gekränkt auf die beiden am Zaun. »Lieber, kleiner, süßer Kalle«, sagte Eva-Lotte, »du wirst ein Liegegeschwür bekommen, wenn du nicht endlich damit aufhörst, unter dem Birnbaum zu liegen und zu glotzen – jeden Tag, den ganzen Sommer lang.« »Ich liege aber nicht den ganzen Tag und glotze«, wider-sprach Kalle verärgert. »Nein, Eva-Lotte, übertreibe nun mal nicht«, meinte Anders. »Besinnst du dich nicht auf den Sonntag Anfang Juni – da lag Kalle nicht ein einziges Mal unter dem Birnbaum. Er war den ganzen Tag lang nicht Detektiv. Diebe und Mörder waren un-bewacht und konnten tun, was sie wollten.« »Ach ja, jetzt erinnere ich mich«, sagte Eva-Lotte. »Die Diebe und Mörder hatten ja tatsächlich Anfang Juni einen ungestörten Sonntag.« »Haut ab!« brummte Kalle. »Genau das wollten wir«, gab Anders zu. »Aber wir wollten dich mithaben. Natürlich nur, wenn du glaubst, daß die Mörder eine Stunde ohne Aufsicht auskommen.« »Oh, das können sie sicher nicht«, stichelte Eva-Lotte. »Die müssen gewartet werden wie Säuglinge.« Kalle seufzte. Es war hoffnungslos, absolut hoffnungslos. Meisterdetektiv Blomquist – das war er. Und er verlangte Achtung vor seiner Tätigkeit. Aber bekam er, was er verlangte? Bestimmt nicht von Anders und Eva-Lotte. Dabei hatte er doch nachweislich im vorigen Sommer drei Juwelendiebe festgesetzt – er ganz allein! Gewiß, Anders und Eva-Lotte hatten ihm nachher dabei geholfen, aber es war doch er, Karl Blomquist, gewesen, der durch Scharfsinn und Beobachtungsgabe den Schurken auf die Spur gekommen war. Damals hatten Anders und Eva-Lotte begriffen, daß er wirklich ein Detektiv war, der seinen Beruf verstand; aber nun neckten sie ihn wieder, als wäre das alles nie gewesen. Als gäbe es überhaupt keine Verbrecher auf der Welt, die beobachtet werden müßten. Als wäre er ein überspannter Narr, der den Kopf voll Einbildungen hatte. »Im vorigen Sommer wart ihr ziemlich stolz«, sagte er und spuckte verdrießlich ins Gras. »Damals, als wir die Juwelendiebe festsetzten, gab es niemand, der sich über Meisterdetektiv Blomquist beklagte.« »Es gibt auch jetzt niemand, der sich über dich beklagt«, meinte Anders. »Aber du begreifst doch wohl, daß das Dinge waren, die einmal passieren und nie wieder. Seit dem Jahre 1200 liegt diese Stadt nun hier, und bis heute hat es, soviel ich weiß, keine anderen Verbrecher gegeben als gerade deine Juwelendiebe. Das ist nun ein Jahr her. Du aber liegst noch immer unter dem Birnbaum und wälzt Kriminalprobleme. Gib es auf, Kalle, gib es auf. Glaub mir, für die nächste Zeit kommen keine Schurken mehr zum Vorschein, und wenn du sie auch mit der Lupe suchst.« »Alles hat seine Zeit, das weißt du doch«, sagte Eva-Lotte. »Strolche jagen hat seine Zeit, und Fleischklöße machen hat seine Zeit.« »Ja, eben«, sagte Anders. »Und jetzt hat die Rote Rose wieder den Krieg erklärt. Benka kam vor einer Weile mit ihrer Kriegserklärung. Lies selbst!« Er zog ein großes Plakat aus der Tasche und gab es Kalle. Und Kalle las: »Krieg! Krieg! An den wahnsinnigen Chef der verbrecherischen Sippschaft, die sich ›Die Weiße Rose‹ nennt. Hiermit tun wir kund und zu wissen, daß es in ganz Schweden keinen Bauern gibt, der ein Schwein hat, das auch nur andeutungsweise so dumm ist wie der Chef der Weißen Rose. Das erwies sich, als dieser Abschaum der Menschheit gestern auf dem Großen Markt dem hochherzigen und allgemein ge-achteten Chef der Roten Rose entgegentrat. Fiel es da doch besagtem Abschaum ein, nicht zur Seite zu gehen, sondern erfrechte er sich in seiner greulichen Dummheit nicht noch, unsern edlen, hochberühmten Chef zu puffen und dabei in widerliche Schmähungen auszubrechen! Dieser Schimpf, diese Schmach kann nur mit Blut abgewaschen werden. Nun herrscht Kampf zwischen der Roten Rose und der Weißen Rose, und tausend und aber tausend Seelen werden in den Tod gehen – hinein in die Nacht des Todes. Sixtus, Edelmann und Chef der Roten Rose« »Und jetzt«, sagte Anders, »wollen wir ihnen eins auf die Qua-ste geben. Machst du mit?« Kalle grinste zufrieden. Der Krieg der Rosen, der mit kurzen Unterbrechungen nun schon seit Jahren tobte, war nicht etwas, wovon man sich freiwillig ausschloß. Das gab Spannung und Inhalt für die Sommerferien, die sonst vielleicht etwas eintönig gewesen wären. Radfahren und baden, Erdbeerbeete begießen, Besorgungen machen für Vaters Lebensmittelgeschäft, angelnd am Fluß sitzen, in Eva-Lottes Garten Ball spielen – das alles reichte nicht, die Tage auszufüllen. Die Sommerferien waren ja so lang. Ja, Sommerferien waren glücklicherweise lang. Und sie waren die beste Erfindung, die jemals gemacht worden war, fand Kalle. Seltsam zwar, sich vorzustellen, daß Erwachsene so was erdacht hatte. Da ließen sie einen tatsächlich so einfach zehn Wochen lang im Sonnenschein herumlaufen, ohne daß man sich über den Dreißigjährigen Krieg oder so etwas den Kopf zerbrach. Man konnte sich statt dessen mit dem Krieg der Rosen beschäftigen, und das war viel schöner. »Ob ich mitmache? Mußt du das überhaupt fragen?« Dünn gesät waren sie ja, die Verbrecher, in letzter Zeit. Konnte sich Meisterdetektiv Blomquist da nicht gut etwas Urlaub gönnen, um seine Freizeit der höheren Kriegführung zu widmen und zu sehen, was die Roten diesmal wieder zusam-mengebraut hatten? »Ich glaube, ich begebe mich erst mal auf einen kleinen vor-bereitenden Kundschaftergang«, sagte Anders. »Tu das«, sagte Eva-Lotte. »Und wir starten dann in etwa einer halben Stunde. Ich will nur erst die Messer schleifen.« Das hörte sich imponierend und gefährlich an. Anders und Kalle nickten einverstanden mit dem Kopf. Ja, Eva-Lotte war schon ein Krieger, auf den man sich verlassen konnte! Die Messer, die geschliffen werden sollten, waren freilich nur Bäckermeister Lisanders Brotmesser – aber trotzdem! Eva-Lotte hatte ihrem Vater versprochen, ihm den Schleifstein zu drehen, bevor sie wegging. In der brennenden Julisonne den schweren Schleifstein drehen war schon eine heiße Arbeit. Aber es kühlte ein wenig ab, wenn man sich vorstellte, daß das, womit man sich ab-rackerte, notwendige Waffen für den Krieg der Rosen waren. »Tausend und aber tausend Seelen werden in den Tod gehen – hinein in die Nacht des Todes«, murmelte Eva-Lotte vor sich hin, während sie drehend am Schleifstein stand und ihr der Schweiß von der Stirn tropfte. »Was sagst du?« fragte Bäckermeister Lisander und sah vom Schleifstein auf. »Nichts.« »Das war wohl genau das, was ich gehört habe«, sagte der Bäckermeister und fuhr prüfend mit dem Finger über die Schneide eines Brotmessers. »Du kannst laufen!« Und Eva-Lotte lief. Sie schlängelte sich durch den Zaun, der ihren Garten von Kalles trennte. An einer Stelle fehlte ein Brett. Solange sich Menschen entsinnen konnten, fehlte dort das Brett, und es würde dort fehlen, solange Eva-Lotte und Kalle etwas zu sagen hatten. Sie brauchten diesen Durchgang. Es konnte passieren, daß Lebensmittelhändler Blomquist, der ein ordentlicher Mann war, zum Bäckermeister Lisander, wenn sie an Sommerabenden in des Bäckermeisters Laube saßen, sagte: »Hör mal, Freund, wir sollten vielleicht den Zaun in Ordnung bringen. Sieht recht liederlich aus, finde ich.« »Ach, wir warten wohl, bis die Kleinen so groß geworden sind, daß sie in der Öffnung festklemmen«, erwiderte der Bäk-kermeister dann. Aber Eva-Lotte blieb unterdessen trotz hartnäckigster Milchbrötchenvertilgung weiterhin schmal wie ein Stock, und es bereitete ihr vorläufig absolut keine Schwierigkeiten, durch die enge Öffnung zu schlüpfen. Ein Pfiff war von der Straße zu hören. Anders, Chef der Weißen Rose, war von seinem Kundschaftergang zurückge-kehrt. »Sie halten sich in ihrem Hauptquartier auf«, schrie er. »Vorwärts zu Kampf und Sieg!« Kalle hatte seinen Platz unter dem Birnbaum wieder bezogen, als Eva-Lotte zum Schleifstein und Anders auf seinen Kundschaftergang verschwunden waren. Er benutzte die kurze Atem-pause, bevor der Krieg der Rosen ausbrach, zu einem wichtigen Gespräch. Ja, er hatte ein Gespräch, obwohl kein lebendes Wesen in der Nähe zu sehen war. Meisterdetektiv Blomquist sprach mit seinem erdachten Zuhörer. Seit Jahren schon hatte er diesen lieben Begleiter. Oh, das war ein wunderbarer Mensch, dieser Zuhörer! Er behandelte den berühmten Detektiv mit der hohen Achtung, die er so oft verdiente und so selten bekam, am wenigsten von Anders und Eva-Lotte. Gerade jetzt saß er, andächtig auf jedes Wort lauschend, zu des Meisters Füßen. »Herr Bengtsson und Fräulein Lisander sind von wahrhaft beklagenswerter Interessenlosigkeit gegenüber den Verbrechen in unserer Gemeinde«, versicherte Herr Blomquist und sah seinem erdachten Zuhörer ernst in die Augen. »Eine kleine Ruhe-pause nur – und sie verlieren alle Wachsamkeit. Sie verstehen nicht, daß gerade die Ruhe gefährlich ist.« »Tatsächlich?« sagte der erdachte Zuhörer und sah ganz ver-dattert aus. »Die Ruhe ist trügerisch«, fuhr der Meisterdetektiv mit Nachdruck fort. »Diese kleine friedliche Stadt, diese strahlende Sommersonne, diese idyllische Ruhe – bah! In einer Minute kann das alles verändert sein. Ganz plötzlich kann das Verbrechen seinen düsteren Schatten über uns werfen!« Der erdachte Zuhörer keuchte. »Herr Blomquist, Sie erschrecken mich«, flüsterte er und warf scheue Blicke um sich, als wollte er sehen, ob das Verbrechen nicht schon hinter einer Ecke stand und lauerte. »Überlassen Sie das alles nur mir«, sagte der Meisterdetektiv. »Beunruhigen Sie sich nicht. Ich wache.« Jetzt konnte der erdachte Zuhörer kaum noch sprechen, so gerührt und dankbar war er. Seine gestammelten Dankesworte wurden außerdem durch Anders’ Kriegsruf vom Zaun her unterbrochen: »Vorwärts zu Kampf und Sieg!« Als hätte ihn eine Biene gestochen, fuhr Meisterdetektiv Blomquist in die Höhe. Man durfte ihn nicht noch einmal unter dem Birnbaum finden. »Leben Sie wohl!« rief er dem erdachten Zuhörer zu und hatte dabei selbst das Gefühl, als wäre es ein Abschied für ziemlich lange. Der Krieg der Rosen würde ihm wohl kaum Zeit lassen, im Gras zu liegen und über Kriminalistik zu diskutieren. Und das war eigentlich gut. Ehrlich gesagt: Es war schon ein Kreuz, in dieser Stadt Verbrecher fangen zu müssen. Ein ganzes Jahr seit dem letzten Mal – kann man sich das überhaupt vorstellen? Nein, der Krieg der Rosen war sicherlich herzlich willkommen. Sein erdachter Zuhörer sah ihm lange und ängstlich nach. »Leben Sie wohl!« rief der Meisterdetektiv noch einmal. »Ich bin nun eine Weile zum Militärdienst einberufen. Aber seien Sie nicht beunruhigt. Ich denke nicht, daß gerade jetzt irgend etwas Besonderes passieren wird.« Ich denke nicht … Ich denke nicht …! Da läuft der Meisterdetektiv, der eigentlich über die Sicherheit der Stadt wachen sollte! Da läuft er nun, fröhlich pfeifend, und seine nackten braunen Füße trommeln auf den Gartenweg, wie er Anders und Eva-Lotte entgegensaust. Ich denke nicht … Diesmal dachten Sie falsch, Herr Meisterdetektiv! ZWEITES KAPITEL »In dieser Stadt gibt es nur eine Straße und eine Querstraße«, pflegte Bäckermeister Lisander zu den Leuten zu sagen, die aus einer anderen Gegend zu Besuch hierherkamen. Und der Bäk-kermeister hatte recht. Hauptstraße und Kleine Straße, das war alles, was es gab – und den Großen Markt natürlich. Der Rest waren winzige kopfsteingepflasterte, bucklige Gassen und Stra- ßenstummel, die zum Fluß hinunterführten oder auch ganz plötzlich vor einem baufälligen alten Haus aufhörten, das mit dem Recht des Alters dort stand und den Weg versperrte und sich eigensinnig jeder modernen Stadtplanung widersetzte. Gewiß fand sich am Rande der Stadt die eine oder andere moderne Villa in einem schön gepflegten Garten; aber das waren Aus-nahmen. Die meisten Gärten waren wie der des Bäckermeisters: wild gewachsen mit alten knotigen Apfel- und Birnbäumen und verwilderten Grasmatten, die nie geschnitten wurden. Auch die Häuser ähnelten meist dem des Bäckermeisters: große Holzkä-sten, die ein Baumeister längst vergangener Zeit in wildem Schönheitssinn mit ganz unerwarteten Vorsprüngen, Türmchen und Zinnen geschmückt hatte. Eine schöne Stadt war es also, strenggenommen, nicht, aber sie hatte die altväterliche gemütliche Ruhe. Kalle und Anders und Eva-Lotte, die gerade am Ufer des Flusses entlang dem Hauptquartier der Roten Rose entgegentrabten, fragten auch nicht viel danach, ob ihre Stadt schön war oder nicht. Sie wußten nur, daß sie einen ausgezeichneten Kriegsschauplatz im Krieg der Rosen abgab. Da konnte man in schmalen, winkligen Gassen die Verfolger abschütteln, Zäune gab es zum Übersprin-gen und Dächer, auf die zu klettern sich lohnte, Holzschuppen, in denen man sich verbarrikadieren konnte, und außerdem noch tau-sendundeine Gelegenheit, sich zu verstecken. Solange eine Stadt diese außerordentlichen Vorzüge besaß, brauchte sie nicht schön zu sein. Es war vollauf genug, daß die Sonne schien und die Pfla-stersteine sich unter den nackten Füßen so warm und behaglich anfühlten. Das war wie Sommer im ganzen Körper. Der leicht muffige Geruch vom Fluß, der sich ab und zu mit verirrtem Ro-senduft aus irgendeinem Garten mischte, war auch sommerlich und angenehm. Und die Eisbude hinten an der Straßenecke verschönerte das Stadtbild gerade genug, fanden Kalle und Anders und Eva-Lotte. Mehr Schönheit war hier gar nicht nötig. Sie kauften sich jeder eine Fünfundzwanzig-Öre-Portion und liefen weiter die Straße entlang. Hinten von der Flußbrücke her kam ihnen Schutzmann Björk langsam patrouillierend entgegen. Seine Uniformknöpfe blitz-ten im Sonnenschein. »Hallo, Onkel Björk«, rief Eva-Lotte. »Hallo«, erwiderte der Schutzmann. »Hallo, Meisterdetektiv«, setzte er noch hinzu und legte Kalle freundlich den Arm um den Nacken. »Keine neuen Fälle für heute?« Kalle sah ärgerlich aus. Onkel Björk war doch wohl damals dabeigewesen und hatte die Früchte von Kalles Verbrecherjagd im vorigen Sommer geerntet. Er brauchte doch nun gewiß nicht faule Witze zu machen. »Nein, keine neuen Fälle für heute«, antwortete Anders für Kalle. »Alle Diebe und Mörder haben den Befehl bekommen, ihre Arbeit bis morgen aufzuschieben. Kalle hat nämlich heute keine Zeit für sie.« »Nein, heute wollen wir den Roten Rosen die Ohren ab-schneiden«, sagte Eva-Lotte und lächelte Schutzmann Björk freundlich an. Sie konnte ihn gut leiden. »Eva-Lotte, manchmal habe ich so das Gefühl, als müßtest du etwas mädchenhafter sein«, sagte Schutzmann Björk und sah bekümmert auf die schlanke, sonnenverbrannte Amazone, die da an der Bordkante stand und spielerisch mit dem gekrümmten großen Zeh einen Zigarettenstummel aufzuheben versuchte. Es glückte, und mit kräftigem Schwung schleuderte sie den Stummel in den Fluß. »Mädchenhafter? Ja, an den Montagen«, versicherte Eva-Lotte, und ein helles, strahlendes Lachen lag auf ihrem Gesicht. »Hej, Onkel Björk, nun müssen wir aber flitzen!« Schutzmann Björk schüttelte den Kopf und wanderte weiter. Wenn man über die Brücke ging, wurde man einer schweren Versuchung ausgesetzt. Natürlich konnte man auf die allgemein übliche Weise hinübergehen. Aber da gab es Geländer, recht schmale Geländer. Und wenn man über die Brücke ging, indem man über diese Geländer balancierte, hatte man ein Weilchen einen angenehmen Kitzel in der Magengrube. Es konnte ja passieren, daß man runterfiel. Gewiß, es war trotz ausführlicher Versuche auf diesen Geländern noch nie geschehen, aber ganz sicher war man ja nicht. Und wenn auch das Ab-schneiden der Ohren der Roten Rosen eine recht eilige Angelegenheit war, fanden sowohl Kalle als Anders und Eva-Lotte doch, daß immer noch etwas Zeit für einen kleinen Balanceakt übrig sein mußte. Es war natürlich verboten; aber Schutzmann Björk war schon verschwunden, und auch sonst war kein Mensch zu sehen. Doch, einer war zu sehen. Gerade als sie, nach allen Seiten sichernd, auf die Geländer geklettert waren und das angenehm kitzelnde Gefühl im Magen sich wieder einzustellen begann, kam auf der anderen Seite der Brücke Gren, der Alte, angetrottet. Aber um ihn kümmerte man sich nicht. Gren, der Alte, blieb vor den Kindern stehen, seufzte wie gewöhnlich und sagte in seiner üblichen abwesenden Art: »Ja, ja, der Kindheit glückliche Spiele. Der Kindheit glückliche, unschuldige Spiele. Ja, ja!« So sagte Gren, der Alte, immer. Die Kinder pflegten ihn nachzuahmen. Selbstverständlich nie so, daß er es hören konnte. Aber wenn Kalle aus Versehen den Fußball genau in Vater Blomquists Schaufensterscheibe setzte oder Anders vom Fahrrad fiel und dabei haargenau mit dem Gesicht in einem Bren-nesselgestrüpp landete, konnte es sein, daß Eva-Lotte seufzte und sagte: »Ja, ja, der Kindheit glückliche Spiele. Ja, ja.« Sie erreichten glatt das andere Ende der Brücke. Auch diesmal wieder war keiner ins Wasser gefallen. Anders sah sich um, ob jemand ihr Tun beobachtet hatte. Die Kleine Straße aber war nach wie vor leer. Nur Gren, der Alte, ging dort ganz hinten. Seinen trottenden Gang konnte man nicht verkennen. »Ich weiß niemand, der so seltsam geht wie Gren«, sagte Anders. »Gren ist durch und durch seltsam«, meinte Kalle. »Aber vielleicht wird man seltsam, wenn man so allein ist.« »Der Ärmste«, sagte Eva-Lotte. »Stellt euch vor, in solch einer alten Baracke wohnen zu müssen und keinen Menschen zu haben, der auffegt oder mal Essen kocht und so.« »Tja, Fegen ist ja nicht unbedingt wichtig«, fand Anders nach kurzem überlegen. »Ein Weilchen allein sein, fände ich auch nicht schlecht. Da schafft man wenigstens etwas an seinen Basteleien.« Für einen, der wie Anders mit einer Menge von kleinen Geschwistern auf knappem Wohnraum zusammenleben mußte, war es kein übler Gedanke, ein ganzes Haus für sich zu haben. »Ach, du würdest dabei in einer Woche wunderlich werden«, sagte Kalle, »noch wunderlicher, als du jetzt schon bist, meine ich. Genauso wunderlich wie Gren.« »Vater kann diesen Gren nicht leiden«, rief Eva-Lotte. »Er sagt, Gren ist ein Prozenter!« Weder Anders noch Kalle wußten, was ein Prozenter ist, aber Eva-Lotte erklärte es schon: »Vater sagt, ein Prozenter ist so einer, der Geld ausleiht – an Leute, die es nötig haben.« »Ja, aber das ist doch nett von ihm«, staunte Anders. »Nein, das ist es nicht«, sagte Eva-Lotte. »Das ist so – versteh doch … Nimm doch einmal an, du mußt dir fünfundzwanzig Öre leihen, du mußt die fünfundzwanzig Öre unbedingt für etwas haben …« »Für ein Eis«, schlug Kalle vor. »Du nimmst mir das Wort aus dem Mund. Ich fühle direkt schon, wie ich es unbedingt haben muß!« bestätigte Anders. »Na ja, dann gehst du eben zu Gren«, sagte Eva-Lotte, »oder zu irgendeinem anderen Prozenter. Und der gibt dir dann die fünfundzwanzig Öre …« »Macht er?« fragte Anders, völlig erschlagen von dieser Möglichkeit. »Klar. Aber du mußt dich verpflichten, sie in einem Monat zurückzuzahlen«, sagte Eva-Lotte. »Und es reicht nicht, wenn du ihm fünfundzwanzig Öre zurückgibst. Du mußt ihm fünfzig Öre geben.« »Auf keinen Fall!« empörte sich Anders. »Warum muß ich das?« »Kindchen«, sagte Eva-Lotte. »Hast du denn noch nie in der Schule Prozentrechnen gehabt? Gren will Prozente für sein Geld haben. Versteh mich doch!« »Aber er kann sich doch wohl etwas mäßigen«, meinte Kalle. »Das tun die Prozenter aber nun einmal nicht«, sagte Eva-Lotte. »Die mäßigen sich nicht. Die nehmen immer zuviel Prozente. Und im Gesetzbuch steht, daß man das nicht darf. Wucher heißt es da, glaube ich. Ja, und deshalb kann Vater den Gren nicht leiden.« »Ja, aber warum sind die Leute denn so vernagelt, daß sie Geld von Prozentern leihen?« wunderte sich Kalle. »Können die sich das Geld für ihr Eis nicht woanders borgen?« »Dummchen«, sagte Eva-Lotte. »Vielleicht handelt es sich nicht nur um fünfundzwanzig Öre für ein Eis, sondern um Tausende von Kronen. Da gibt es vielleicht Menschen, die müssen durchaus fünftausend Kronen haben und gerade jetzt in dieser Sekunde, und kein Mensch ist da, der sie ihnen borgen will. Keiner, nur so ein Prozenter, so ein Wucherer wie Gren.« »Jetzt pfeifen wir auf Gren«, sagte Anders, der Chef der Weißen Rose. »Vorwärts zu Kampf und Sieg!« Da lag des Postdirektors Haus und im Garten dahinter ein Schuppen, der als Garage diente. Als Garage und als Hauptquartier der Roten Rose. Denn des Postdirektors Sixtus war der Chef dieser streitsüchtigen Bande. Augenblicklich schien die Garage verlassen und leer. Schon von weitem konnte man sehen, daß da ein weißes Plakat an der Tür festgemacht war. Der Chef der Weißen Rose gab seinen Truppen Anweisung: »Kalle, du schleichst an der Hecke entlang, bis du hinter dem Hauptquartier außer Sicht für den Feind bist. Dann hinauf auf das Dach! Schaff sie herbei, die Bekanntmachung, tot oder lebendig!« »Die Bekanntmachung – tot oder lebendig? Was meinst du damit?« fragte Kalle. »Halt den Schnabel«, sagte Anders. » Du sollst tot oder lebendig sein, kannst du doch wohl begreifen, nicht? Eva-Lotte, du liegst hier still hinter der Hecke und spähst. Wenn du irgendeine Gefahr für Kalle merkst, pfeifst du unser Signal.« »Und du? Was willst du machen?« fragte Eva-Lotte. »Ich gehe rein und frage Sixtus’ Mutter, ob sie weiß, wo Sixtus ist«, antwortete Anders. Sie setzten sich in Bewegung. Kalle hatte schnell das Hauptquartier erreicht. Auf das Dach zu kommen war kein Kunststück. Das hatte Kalle schon oft geschafft. Man brauchte nur vorher auf die Mülltonne zu klettern, die hinter der Garage stand. Er kroch über das Dach, ungemein leise, damit der Feind ihn nicht hören konnte. Natürlich wußte Kalle ganz genau, daß die Garage leer war. Das wußte auch Eva-Lotte – Anders übrigens auch. Aber der Krieg der Rosen hatte seine besonderen Regeln. Und deshalb kroch Kalle über das Dach, als gälte es das Leben. Und deshalb lag Eva-Lotte hinter der Hecke und verfolgte jede seiner Bewegungen, gespannt wie ein Tiger, jederzeit bereit, einen Warnpfiff auszustoßen, wenn es wider Erwarten nötig sein sollte. Anders kam zurück. Sixtus’ Mutter wußte nicht, wo ihr geliebter Junge gerade residierte. Kalle aber beugte sich äußerst vorsichtig über die Dachkante, und nach reichlichem Strecken gelang es ihm, das Plakat von der Tür zu reißen. Dann kehrte er auf demselben Weg genauso leise zurück. Eva-Lotte hielt bis zuletzt scharf Ausguck. »Gut gemacht, mein Tapferer«, sagte Anders anerkennend, als Kalle ihm das Plakat übergab. »Wollen doch mal sehen.« Sixtus, »Edelmann und Chef der Roten Rose«, hatte die bemerkenswerte Bekanntmachung verfaßt. Aber man mußte zugeben, für einen Edelmann war die Sprache merkwürdig saf-tig. Von einem Edelmann hätte man wohl mit Recht etwas Vor-nehmeres erwarten können. »Ihr widerlichen Läusepudel, ja, gerade Ihr, Ihr Weißen Rosen, die Ihr mit Eurer stinkenden Anwesenheit diese Stadt ver-pestet! Hiermit tun wir Euch kund und zu wissen, daß wir, die noblen Edelmänner der Roten Rose, uns auf das Schlachtfeld der Prärie begeben haben. Kommt sofort dorthin, damit wir das häßliche Unkraut, das sich Weiße Rose nennt, ausrotten können und dessen Asche auf Johannssons Misthaufen streuen, wohin es schon lange gehört. Kommt nur, Läusepudel!!« Niemand, der diese herzlichen Worte las, hätte glauben können, daß die Roten und Weißen Rosen in Wahrheit die allerbesten Freunde waren. Abgesehen von Kalle und Eva-Lotte, kannte Anders keinen prächtigeren Kameraden als Sixtus, höchstens noch Benka und Jonte, auch sie beide wunderbare Rote Rosen. Und wenn Sixtus und Benka und Jonte in dieser Stadt jemand hoch und heilig anerkannten, so waren das die Läusepudel Anders, Kalle und Eva-Lotte. »Das war das«, sagte Anders, als er die Bekanntmachung vor-gelesen hatte. »Zur Prärie! Vorwärts zu Kampf und Sieg!« DRITTES KAPITEL Die Prärie war eine große Gemeindewiese, die direkt am Au- ßenrand der Stadt lag, auf der schon Eltern und Großeltern als Kinder gespielt hatten. Sie war mit kurzem Schafgras bewachsen, diesem Gras, über das mit nackten Füßen zu laufen besonders Spaß macht. Kalle, Anders und Eva-Lotte, die eilig der freundlichen Einladung von Sixtus gefolgt waren, starrten mit von der Sonne geblendeten Augen über das Schlachtfeld und versuchten, ihre Feinde zu entdecken. Aber die Roten Rosen waren nicht zu sehen. Große Teile der Prärie waren mit Haselsträuchern und Wacholderbüschen bewachsen, zwischen denen sich ein schleichender Ritter der Roten Rose leicht verstecken konnte. Die Weißen ließen ihr entsetzliches Kriegsgeschrei ertönen und drangen zwischen die Büsche. Sie durchsuchten jedes Gestrüpp, aber kein Feind wurde gefunden. Sie suchten weiter, bis sie die äußerste Kante der Prärie, dicht beim Herrenhof, erreicht hatten, aber es nutzte nichts. »Was ist das für ein übler Scherz?« sagte Anders. »Sie sind ja nicht zu finden.« Da ertönte über die Stille der Prärie aus drei Kehlen ein schneidendes, höhnisches Gelächter. »He!« Eva-Lotte zuckte zusammen und sah sich unruhig um. »Ich glaube fast, sie sind im Herrenhof.« »Ja, sie sind bestimmt da drinnen«, sagte Kalle, und seine Stimme war voller Bewunderung. Am Rand der Prärie stand zwischen zitternden Espen ein altes Haus. Das war der Herrenhof. Ein vornehmes altes Haus aus dem siebzehnten Jahrhundert, das einst bessere Tage gesehen hatte. Und dort guckten nun aus einem Fenster an der Rückseite drei triumphierende Jungengesichter heraus. »Wehe dem, der sich dem neuen Hauptquartier der Roten Rose nähert!« schrie Sixtus. »Wie in aller Welt seid ihr …« staunte Anders. »Ja, das möchtet ihr wohl wissen«, höhnte Sixtus. »Die Tür war offen. Ganz einfach, nicht?« Der Herrenhof war lange Jahre unbewohnt gewesen und sehr verfallen. Es war beabsichtigt, ihn zu restaurieren und ein Hei-matmuseum daraus zu machen. Jetzt quietschten die alten Dielen angstvoll unter den lebenslustigen Füßen, die unbeherrscht in rasenden Freudensprüngen durch das neue Hauptquartier tobten. »Wir werden die Läusepudel gefangennehmen und hier einsperren. Sollen sie doch verhungern!« schrie Sixtus entzückt. Seine solchermaßen bedachten Opfer liefen erwartungsvoll ihrem Schicksal entgegen. Die Roten versuchten nicht, sie zu hindern. Sixtus hatte nämlich beschlossen, das obere Stockwerk, das leichter zu verteidigen war, unter Einsatz von Blut und Leben zu halten. Auf der prunkvollen Treppe, die nach oben führte, standen die Roten und gaben mit kriegerischen Gebärden zu verstehen, daß nichts ihnen lieber sei, als sich auf den Feind zu stürzen. Die Weißen gingen ruhmvoll zum Angriff über. Die Stadtväter hätten sich die Haare ausgerissen, wenn sie den Krach und Donner hätten hören können, der entstand, als die beiden streitenden Heere aufeinanderprallten. Ihr angehendes Museum zitterte in allen Fugen, und die zierlichen Holzgeländer der Treppe bogen sich. Heulende Schreie stiegen zu der schönen Stuckdecke empor. Der Chef der Weißen Rose sauste, einem Unwetter gleich, rückwärts die Treppe hinunter. Das Kriegsglück wechselte. Entweder trieben die Weißen ihre Gegner fast die ganze Treppe hinauf, oder sie befanden sich selbst unter dem ungeheuren Druck von oben in ungeordnetem Rückzug zum Erdgeschoß. Als der Kampf so gut und gern eine halbe Stunde hin und her gewogt hatte, sehnten sich alle Parteien nach etwas Abwechslung. Die Weißen zogen sich einen Augenblick zurück, um den letzten rasenden Angriff vorzubereiten. Da gab Sixtus seinen Truppen schnell einen leisen Befehl. Sekunden später verließen die Roten ohne vorherige Warnung ihren Standort auf der Treppe und zogen sich blitzschnell in das obere Stockwerk zurück. Dort gab es viele Möglichkeiten, argli-stig in Zimmern und Wandschränken zu verschwinden. Das wußten Sixtus und seine Getreuen; denn sie hatten das Haus vorher gründlich untersucht. Als nun Anders, Kalle und Eva-Lotte die Treppe heraufgestürmt kamen, waren die Roten Rosen wie weg-geblasen. Sie hatten den Vorsprung von wenigen Sekunden aus-genutzt. Gerade jetzt waren sie hinter einer geschickt verborgenen Tapetentür verschanzt und beobachteten durch einen Spalt die hastige Beratung der Weißen, die ahnungslos genau davor-standen. »Schwärmt aus«, sagte der Weiße Chef. »Sucht den Feind, in welchem Loch er auch, um sein Leben zitternd, liegen mag. Macht kurzen Prozeß mit ihm, wenn ihr ihn findet.« Die Roten Rosen hinter der Tür hörten voller Befriedigung zu. »Schwärmt aus«, hatte der Chef der Weißen gesagt. Etwas Dümmeres hätte er sich nicht ausdenken können. Das besiegelte sein Schicksal. Er selbst setzte sich unmittelbar danach in Bewegung und schwärmte aus, das heißt er verschwand hinter einer Ecke. Kaum war er außer Sicht, schlichen Kalle und Eva-Lotte in der entgegengesetzten Richtung los. Dort befand sich eine Tür, die sie öffneten. Sie fanden ein schönes sonniges Zimmer, und obwohl sie deutlich sehen konnten, daß es von Feinden leer war, gingen sie auf jeden Fall hinein und gönnten sich eine kleine Kriegspause, um aus dem Fenster zu sehen. Das aber erwies sich als ein absoluter Fehlgriff. Sie kehrten gerade noch rechtzeitig zur Tür zurück, um zu hören, wie außen ein Schlüssel im Schloß umgedreht wurde. Sie hörten auch das rohe Lachen des Roten Chefs und seine greulichen Triumphworte: »Ha, ihr Läusepudel, nun habt ihr eure letzten Kartoffeln gesetzt! Hier kommt ihr lebend nicht mehr heraus!« Und dann Benkas gellende Stimme: »Nein, hier dürft ihr hocken, bis ihr Moos ansetzt. Aber wir können ja ab und zu mal vorbeikommen und guten Tag sagen. Heiligabend zum Beispiel.« Und Jonte: »Ja, macht euch keine Sorgen. Wir kommen am Heiligabend. Was wollt ihr zu Weihnachten haben?« »Eure Köpfe auf einer Schüssel!« schrie Eva-Lotte von innen. »Und garniert, wie man Schweinsköpfe immer garniert«, half Kalle nach. »Unverschämt bis zum letzten«, sagte der Rote Chef besorgt zu seinen Waffenbrüdern. Dann erhob er seine Stimme und rief: »Adieu, ihr Läusepudel. Schreit, wenn ihr Hunger habt. Dann kommen wir und rupfen etwas Gras für euch.« Danach wandte er sich an Benka und Jonte und rieb sich zufrieden die Hände: »Und nun, meine tapferen Waffengefährten: Irgendwo in diesem Haus befindet sich in diesem Augenblick eine kleine erbärmliche Ratte, die sich Chef der Weißen Rose nennt. Einsam und wehrlos! Sucht sie! Sucht sie, sage ich!« Die Roten taten ihr Bestes. Den Chef der Gegner zu fangen, das war im Krieg der Rosen ein einzigartiges Bravourstück. Der Weiße Chef hatte sich gut versteckt. Wie die Roten auch umherschnüffelten, sie fanden nicht soviel wie eine Feder von ihm. Bis Sixtus plötzlich ein schwaches Knarren über seinem Kopf hörte. »Er ist oben auf dem Boden«, flüsterte er. Nun ging alles sehr schnell. Wohl stand Anders kampfbereit auf dem Boden und warnte in den höchsten Tönen jeden, der noch nicht sein Testament gemacht hatte, in seine Nähe zu kommen; aber es half nichts. Sixtus, der für sein Alter außergewöhnlich groß und stark war, ging an die Spitze, Benka und Jonte halfen nach Bedarf, und bald wurde Anders, wild zap-pelnd, die Treppe hinuntergeführt, einem unbekannten Schicksal entgegen. Kalle und Eva-Lotte schrien ihm durch die verschlossene Tür tröstende Worte zu: »Wow i ror kok o mom mom e non bob a lol dod u non dod ror e tot tot e non dod i choch!« schrien sie. »Wir kommen bald und retten dich«, hieß das in der heimlichen Sprache der Weißen Rosen. Etwas Besseres, die Roten zu reizen, gab es nicht. Lange hatten diese versucht, hinter das Geheimnis dieser Sprache zu kommen, die die Weißen bis zur Vollendung beherrschten und so wahnsinnig schnell sprechen konnten, daß es für den Laien wie ein absolutes Sammelsurium klang. Weder Sixtus noch Benka oder Jonte hatten etwas in dieser Sprache Geschriebenes gesehen. Sonst hätten sie bestimmt keine Schwierigkeiten gehabt, das Rätsel zu lösen. Jeder Konsonant wurde verdoppelt und ein o dazwischen eingefügt. So wurde zum Beispiel aus Kalle »Kok a lol lol e« und aus Anders »A non dod e ror sos«. Eva-Lotte hatte diese Sprache, die sogenannte Räubersprache, von ihrem Vater »geerbt«. Der Bäckermeister hatte eines Abends rein zufällig davon gesprochen, wie er und seine Spielkameraden in ihrer Jugend auf diese Weise zu sprechen pflegten, wenn sie verhindern wollten, daß sie von all und jedem verstanden wurden. Eva-Lottes Vater war einigermaßen erstaunt gewesen über die wilde Begeisterung seiner Tochter für die Räubersprache. Ein ähnliches Entzücken hatte er jedenfalls stets bei ihr vermißt, wenn es sich um unregelmäßige deutsche Verben oder derglei-chen handelte. Trotzdem hatte er den ganzen Abend stillgesessen und mit Eva-Lotte geübt, und am nächsten Tag schon konnte sie ihre neue Weisheit an Kalle und Anders weitergeben. Den Weißen den Schlüssel zu ihrer Geheimsprache zu entreißen, war eines der Kriegsziele der Roten. Ein anderes und noch wichtigeres war, den Großmummrich zurückzuerobern. »Großmummrich« war der achtunggebietende Name für einen recht unbedeutenden Gegenstand. Der Großmummrich war einfach ein Stein, ein eigentümlich geformter Stein, den Benka einmal gefunden hatte. Mit etwas gutem Willen konnte man sich einbilden, daß der Stein wie ein Mann geformt war, wie ein nachdenklicher kleiner Mann, der ähnlich wie ein Buddha dasaß und seinen Nabel betrachtete. Die Roten Rosen hatten ihn sofort zu ihrem speziellen Talisman erklärt und schrieben ihm eine Reihe außerordentlicher Eigenschaften zu. Es brauchte nicht lange, bis die Weißen Rosen herausgefun-den hatten, daß es eine erhabene Pflicht war, den Großmummrich zu besitzen. Die heftigsten Kämpfe hatten schon um den Großmummrich stattgefunden. Es klingt unglaubhaft, daß einem kleinen Stein so große Bedeutung beigemessen wurde. Aber warum sollten die Roten Rosen ihren Großmummrich nicht ebenso lieben wie beispielsweise die Schotten ihren Krönungsstein und innerlich genauso aufgerührt sein, wenn die Weißen ihn voller Tücke entwendet hatten, wie die Schotten, als die Engländer den Krönungsstein nach Westminster Abbey gebracht hatten? Es war eine traurige Wahrheit, daß die Weißen zur Zeit den Großmummrich besaßen und an einem unbekannten Ort versteckt hielten. Es wäre natürlich leicht gewesen, ihn so zu verstecken, daß keine menschliche Macht an ihn herangekonnt hätte. Aber zu den erstaunlichen Regeln, die im Krieg der Rosen galten, gehörte es auch, daß diejenigen, die den Großmummrich gerade in ihrer Hand hatten, verpflichtet waren, dem Gegner zumindest einen Anhaltspunkt über den derzeitigen Aufbewahrungsort des Kleinods zu geben. Der Anhaltspunkt konnte ein Lageplan sein, ein schwer deutbarer und teilweise irreführender, oder ein Bilderrätsel, einfach auf einen Zettel hingeschmiert. Dieser Fingerzeig mußte in einer dunklen Nacht in einen Briefkasten des Feindes gesteckt werden, der dann unter Aufbietung seines ganzen Scharfsinnes herausfinden konnte, daß der Großmummrich in einem leeren Krähennest oder unter einer Dachsparre auf Schuhmachermeister Bengtssons Holzspeicher lag. Zur Zeit befand er sich an keiner der genannten Stellen. Zur Zeit befand er sich an einem ganz anderen Platz. Und einer der Hauptgründe für das neue Auflodern der Kämpfe der Rosen war, daß die Roten genau zu wissen wünschten, wo dieser Platz nun eigentlich war. Mit dem Chef der Weißen als Geisel war es sicher leicht, diesen Platz zu erfahren. »Wir kommen bald und retten dich!« hatten sie geschrien, Eva-Lotte und Kalle. Ihr Chef konnte diese Aufpulverung bestimmt gut brauchen. Denn er wurde von starken Armen zur Folter geschleppt. Wegen des Großmummrichs und wegen der Geheimsprache. »I choch vov e ror ror a tot e non i choch tot sos«, versicherte der Weiße Chef laut und heroisch, als man ihn an der Tür vorbeiführte, hinter der seine Waffengefährten gefangen waren. »Warte nur, bald hast du ausgerort«, sagte Sixtus gehässig und packte ihn noch fester am Arm. »Wir werden es schon aus dir herauspressen, was das bedeutet. Keine Sorge!« »Sei standhaft! Sei stark!« schrie Kalle. »Halt aus! Halt aus! Wir kommen bald«, unterstützte ihn Eva-Lotte. Und durch die Tür hörten sie die letzten stolzen Worte ihres Chefs: »Lang lebe die Weiße Rose!« Und dann: »Laß meinen Arm los! Ich folge auf Ehrenwort! Ich bin bereit, meine Herren!« Danach hörten sie nichts mehr. Das große Schweigen breitete sich über ihr Gefängnis. Der Feind hatte das Haus verlassen –und ihren Chef hatte er mitgenommen. VIERTES KAPITEL Sicher hatten die Roten angedeutet, Kalle und Eva-Lotte könnten bleiben, wo sie wären, bis Moos auf ihnen wüchse. Aber das war nicht buchstäblich gemeint. Auch im Krieg der Rosen war man gezwungen, gewisse Rücksichten auf das beschwerliche und störende Element, das Eltern genannt wurde, zu nehmen. Natürlich war es ärgerlich, wenn edle Krieger ihren Kampf auf dem Höhepunkt abbrechen mußten, um nach Hause zu gehen und Koteletts und Rhabarbergrütze zu essen. Aber Eltern waren nun einmal der Meinung, Kinder müßten Mahlzeiten innehal-ten. Es war mit einberechnet im Krieg der Rosen, daß man sich diesen närrischen Elternwünschen zu fügen habe. Tat man es nicht, bestand die Gefahr bedeutend ernsterer Störungen in der Kriegführung. Eltern besaßen ein schlechtes Unterscheidungs-vermögen. Sie konnten leicht gerade an dem Abend ein Ausgeh-verbot verhängen, der ausschlaggebend für eine Schlacht um den Großmummrich war. Eltern wußten im großen und ganzen erschreckend wenig über Großmummriche, wenn auch eine Kindheitserinnerung von der Prärie manchmal wie ein zufälliger Lichtstrahl ihren verdunkelten Verstand erleuchtete. Wenn also die Roten mit Anders loszogen und Kalle und Eva-Lotte im leeren Zimmer eines unbewohnten Hauses ein-sperrten, um sie dort Hungers sterben zu lassen, so bedeutete das nur, daß sie ungefähr zwei Stunden, nämlich bis gegen sieben Uhr, schmachten mußten. Um sieben Uhr gab es Abendbrot beim Lebensmittelhändler Blomquist, beim Bäckermeister Lisander und in all den andern Familien in der Stadt. Eine gute Weile vor diesem kritischen Stundenschlag schickte Sixtus entweder Benka oder Jonte, um in aller Stille den Eingeschlossenen die Tür wieder zu öffnen. Darum sahen Kalle und Eva-Lotte dem Hungertod mit Fassung und Würde ins Auge. Aber es war eine Schmach, auf diese Weise eingesperrt worden zu sein. Au- ßerdem bedeutete es einen erdrückenden Punktsieg für die Roten. Und dieser Vorsprung war, nachdem sie auch den Weißen Chef gefangen und abgeführt hatten, in Wahrheit katastrophal. Nicht einmal der Großmummrich in der Hand der Weißen konnte ihn ausgleichen. Eva-Lotte sah den Fortziehenden verbittert aus dem Fenster nach. »Ich möchte wissen, wohin sie ihn führen«, sagte sie. »Natürlich in Sixtus’ Garage«, antwortete Kalle und fügte hinzu: »Wenn man doch nur eine Zeitung hätte!« »Eine Zeitung?« fragte Eva-Lotte irritiert. »Jetzt Zeitung lesen, wo wir versuchen müssen, hier herauszukommen?« »Du hast ja recht«, sagte Kalle. »Wir müssen hier heraus. Deshalb möchte ich ja auch eine Zeitung haben.« »Glaubst du, da steht etwas drin über die beste Art, an Hauswänden hinunterzuklettern?« Eva-Lotte beugte sich aus dem Fenster, um den Abstand vom Boden zu schätzen. »Wir brechen uns natürlich den Hals«, fuhr sie fort. »Aber es hilft ja nichts.« Kalle stieß einen zufriedenen Pfiff aus. »Die Tapete! Daran hatte ich nicht gedacht. Die wird genügen.« Rasch riß er einen Fetzen von der herabhängenden Tapete ab. Eva-Lotte sah ihm verwundert zu. Kalle bückte sich und schob das große Papierstück durch die fingerbreite Ritze unter der Tür. »Reine Routinearbeit«, murmelte er und holte sein Taschenmesser heraus. Das kleinste und dünnste Messer klappte er hoch und stocherte vorsichtig damit im Schlüsselloch herum. Man hörte ein Klirren auf der Außenseite der Tür. Es war der Schlüssel, der dort zu Boden fiel. Kalle zog die Tapete wieder herein, und richtig, darauf lag der Schlüssel. »Wie gesagt, reine Routinearbeit«, sagte der Meisterdetektiv, damit andeutend, daß seine Tätigkeit als Detektiv es eben mit sich brachte, jeden Tag verschlossene Türen auf die eine oder andere knifflige Art zu öffnen. »O Kalle, du bist unschlagbar!« stellte Eva-Lotte bewundernd fest. Kalle schloß auf. Sie waren frei. »Aber wir wollen nicht gehen, ohne die Rötlichen um Verzeihung zu bitten«, sagte Kalle. Er fischte einen Bleistiftstummel aus seiner inhaltsreichen Hosentasche und reichte ihn Eva-Lotte. Und sie schrieb auf die Rückseite der Tapete: »An die Hohlschädel der Roten Rose! Eure Moosanpflanzungsversuche sind kläglich gescheitert. Genau fünf Minuten und dreiunddreißig Sekunden haben wir gewartet, daß etwas hervorsprießen sollte. Jetzt warten wir nicht länger. Kleine Rotzbengelchen, wußtet ihr noch nicht, daß Weiße Rosen durch Wände gehen können?« Sie schlossen das Fenster sorgfältig und legten den Fensterha-ken um. Dann schlossen sie die Tür von außen ab und ließen den Schlüssel im Schloß stecken. Den Abschiedsbrief hängten sie an den Türgriff. »Das wird ihnen etwas zu denken geben: das Fenster von innen und die Tür von außen verschlossen! Die werden sich wundern, wie wir herausgekommen sind«, sagte Eva-Lotte und lief rot an vor Begeisterung. »Ein Punkt für die Weiße Rose«, sagte Kalle und lachte. Anders war in Sixtus’ Garage nicht zu finden. Die Garage lag still und leer da wie vorher. Sixtus’ Mutter war dabei, im Garten Wäsche aufzuhängen. »Wissen Sie wohl, wo Sixtus ist?« fragte Eva-Lotte. »Hm, vor einer halben Stunde war er noch hier«, sagte die Frau Postdirektor, »mit Benka und Anders und Jonte.« Es war klar, die Roten hatten ihren Gefangenen an einen Platz gebracht, der sicherer war. Aber wohin? Die Antwort befand sich dicht bei ihnen. Kalle sah sie zuerst. In das Gras ge-bohrt stand da ein Finnenmesser, die scharfe Spitze durch einen kleinen Zettel getrieben. Es war Anders’ Messer. Kalle und Eva-Lotte erkannten es sofort. Und auf dem Zettel stand ein einziges Wort: »Jonte«. Es war dem Weißen Chef offenbar gelungen, in einem unbewachten Augenblick diese lakonische Mitteilung für seine Waffenbrüder zu hinterlassen. Kalle legte die Stirn in tiefsinnige Falten. »Jonte«, sagte er, »das kann nur eins bedeuten: Anders sitzt zu Haus bei Jonte gefangen.« »Ja, was dachtest du denn sonst, was es bedeuten könnte?« höhnte Eva-Lotte. »Wenn er wirklich bei Jonte ist, so ist es natürlich schlauer, auch ›Jonte‹ zu schreiben und nicht etwa zum Beispiel ›China‹.« Darauf sagte Kalle kein Wort. Jonte wohnte in dem Teil der Stadt, der Rackerberg genannt wurde. Es waren nicht gerade die Vornehmsten, die dort in den kleinen Hütten wohnten. Jonte erhob aber gar nicht den An-spruch, zu den Vornehmen der Stadt zu gehören. Er war vollauf zufrieden mit der baufälligen Wohnung seiner Familie, die aus Stube und Küche im Erdgeschoß und einer kleinen Kammer unter dem Dach bestand. Letztere war nur im Sommer be-wohnbar. Im Winter war es dort zu kalt. Aber im Juli herrschte in der Bodenkammer eine Hitze wie unter den Bleidächern von Venedig, weshalb dort der beste Platz für ein Verhör war. Jonte hatte das alleinige Verfügungsrecht über die Bodenkammer. Hier schlief er auf einem einfachen Zeltbett, hier hatte er ein selbstgebautes Regal aus Kistenbrettern, wo er seine Detektiv-magazine und die Briefmarkensammlung, oder was ihm sonst kostbar war, aufbewahrte. Kein König konnte in seinem Palast zufriedener sein als Jonte in seiner Kammer, wo die warme Luft stillstand und die Fliegen an der Decke summten. Hierher hatten die Roten Anders gebracht. Glücklicherweise waren Jontes Eltern gerade heute außerhalb der Stadt in ihrem Schrebergarten. Sie hatten zu essen mitgenommen. Jonte sollte zu Hause für sich selber sorgen und sich Wurst und Kartoffeln braten, falls er Hunger bekam. Und weil Sixtus’ Mutter direkt vor dem Hauptquartier der Roten Rose ihre Wäsche aufhängte und weil es so wunderbar elternfrei bei Jonte zu Hause war, hatte Sixtus den großartigen Einfall gehabt, das peinliche Verhör in Jontes Kammer stattfinden zu lassen. Kalle und Eva-Lotte beratschlagten. Selbstverständlich konnten sie die Hilfsexpedition sofort starten. Nach einigem überlegen jedoch fanden sie es besser, damit noch zu warten. Es wäre dumm gewesen, sich ausgerechnet jetzt den Roten zu zeigen. Bald war Abendbrotzeit. Bald würde Sixtus Benka oder Jonte zum Herrenhof schicken. Bald würde dort entweder Benka oder Jonte über die rätselhafte Flucht von Kalle und Eva-Lotte ganz entgeistert und verstört sein. Das war ein Gedanke voll tiefer Süße. Es wäre sündhaft gewesen, einen so großen Triumph zu zerstören. Kalle und Eva-Lotte beschlossen deshalb, die Rettungsaktion bis nach dem Abendbrot zu verschieben. Sie wußten ja, daß Anders Urlaub auf Ehrenwort bekommen würde, um nach Hause zu gehen und Abendbrot zu essen. Und nichts war doch wohl peinlicher für eine Rettungsexpedition, als dann am Unglücks-platz zu erscheinen, wenn der zu Rettende sich gerade nach Hause begeben hatte, um Abendbrot zu essen. »Und im übrigen«, meinte Kalle, »wenn man jemand, der sich in einer Wohnung aufhält, zu beobachten gedenkt, soll man immer dann beobachten, wenn es dunkel wird und die Leute das Licht anmachen. Bevor sie die Jalousien herunterlassen. Das weiß jeder, der nur die geringste Ahnung von Kriminalistik hat.« »Jonte hat keine Jalousien«, stellte Eva-Lotte fest. »Um so besser«, sagte Kalle. »Aber wie sollen wir durch ein Fenster im Dach beobachten?« wunderte sich Eva-Lotte. »Gewiß habe ich sehr lange Beine, aber …« »Man merkt, daß du noch nie Kriminalistik studiert hast. Was zum Beispiel glaubst du, macht wohl die Kriminalpolizei in Stockholm? Wenn die eine Wohnung, drei Treppen hoch, beobachten wollen, weil dort Verbrecher wohnen, dann verschaffen sie sich Zutritt zu einer Wohnung auf der gegenüberliegenden Straßenseite, am besten vier Treppen hoch, damit sie etwas über den Verbrechern sind. Und dann stehen sie da, die Polizisten, mit ihren Ferngläsern und sehen haargenau zu den Verbrechern hinein, bevor diese die Jalousien herunterlassen.« »Wenn ich Verbrecher wäre, würde ich zuerst die Jalousie herunterlassen und dann Licht anmachen«, sagte die praktisch veranlagte Eva-Lotte, »Übrigens, was denkst du: Zu welcher Wohnung sollen wir uns Zutritt verschaffen, um bei Jonte zu beobachten?« Darüber hatte Kalle noch nicht nachgedacht. Für die Krimi-nalbeamten in Stockholm war es sicher ganz einfach, sich Zutritt zu einer Wohnung zu verschaffen. Sie brauchten ja nur ihre Polizeiausweise vorzuzeigen. Aber es war kaum anzunehmen, daß es hier für Kalle und Eva-Lotte genauso einfach sein würde. Außerdem stand gegenüber von Jontes Haus gar kein Haus. Da war der Fluß. Aber es war ein Haus dicht daneben. Das Haus von Gren, dem Alten. Eine Baracke von zwei Stockwerken. Gren hatte seine Tischlerwerkstatt zu ebener Erde und hauste selbst in der Wohnung im ersten Stock. Sollte man sich nicht »Zutritt verschaffen« können zu Grens Wohnung? meinte Kalle. Einfach reingehen zu ihm und artig fragen, ob man nicht ein Fenster beschlagnahmen könne, um eine Kleinigkeit zu beobachten? Kalle sah selbst ein, wie dumm dieser Gedanke war. Außerdem hatte er auch noch einen Haken. Zwar standen die Häuser von Jonte und Gren mit den Giebeln zueinander ge-kehrt, aber gerade auf der Seite zu Jonte hin war bei Gren im oberen Stockwerk kein Fenster. »Ich habe eine Idee!« rief Eva-Lotte. »Eine Möglichkeit gibt es: Wir klettern bei Gren auf das Dach!« Kalle sah sie voller Bewunderung an. »Für jemand, der noch nie in seinem Leben Kriminalistik studiert hat, ist diese Idee wirklich gut«, sagte er dann. Ja, das Dach bei Gren, das war die Lösung. Es war im Verhältnis zu Jontes Dachstubenfenster gerade richtig hoch genug. Und Jonte hatte keine Jalousien. Sie würden einen großartigen Beobachtungsplatz haben. Frohen Herzens gingen Kalle und Eva-Lotte nach Hause – zum Abendbrot. FÜNFTES KAPITEL Der Abend war dunkel und still, als sie einige Stunden später über den Rackerberg schlichen. Die kleinen Holzbaracken drängten sich dicht aneinander. Etwas von der Hitze des Julita-ges hing noch zwischen den Häuserreihen. »Hier ist es still wie in einem Grab«, fand Kalle. Und er hatte recht. Nur ab und zu hörte man ein Gemurmel von Stimmen hinter einem der Fenster. In der Ferne bellte ein Hund auf, und danach war die Stille noch tiefer als zuvor. Bei Jonte aber ging es lebhaft zu. In seiner Bodenkammer war es hell, und gellende Knabenstimmen tönten aus dem offenen Fenster. Kalle und Eva-Lotte stellten mit Befriedigung fest, daß das Verhör in vollem Gange war. Sicher spielte sich dort oben ein spannendes Drama ab, und Kalle und Eva-Lotte waren fest entschlossen, diesem Drama vom besten Platz aus, dem Gren-schen Dach, beizuwohnen. Kalle lief noch einmal um das Haus, um die Möglichkeiten zu untersuchen. Ärgerlich – bei Gren war auch Licht. Warum konnten alte Menschen abends nicht schlafen gehen, sie, die den Schlaf doch so nötig hatten! Wie sollte man sonst einigermaßen ungestört auf ihrem Dach herumspazieren? Aber es half nichts. Ungestört oder nicht – auf das Dach mußten sie. Es war gar nicht so schwer. Gren, der Alte, hatte freundlicherweise eine Leiter an den einen Giebel des Hauses gestellt. Zwar stand die Leiter dicht neben Grens Fenster, dem Fenster, das erleuchtet war, und das Fenster stand offen hinter einer zur Hälfte herabgelassenen Jalousie. Und es war nicht sicher, ob Gren besonders entzückt sein würde, wenn er den Kopf aus dem Fenster stecken und zwei Weiße Rosen sehen würde, die in voller Fahrt auf sein Dach kletterten. Aber im Krieg der Rosen durfte man sich durch derartige Bagatellen nicht stören lassen. Unbeirrt mußte man den Weg der Pflicht gehen, auch wenn er über Grens Dachfirst führte. »Geh du voran«, sagte Eva-Lotte ermunternd. Das tat Kalle. Vorsichtig, ganz vorsichtig begann er, die Leiter hinaufzuklettern. Eva-Lotte folgte ihm schnell und leise. Gefährlich konnte es ja erst werden, wenn sie sich auf gleicher Höhe mit dem er-leuchteten Fenster im oberen Stockwerk befanden. »Gren hat Besuch«, flüsterte Kalle Eva-Lotte zu. »Ich höre, wie sie zusammen sprechen.« »Steck den Kopf rein und bitte für uns um ein Stück Kuchen«, meinte Eva-Lotte und kicherte zufrieden über ihren eigenen Vorschlag. Kalle ließ sich nicht beirren. Er setzte seinen Weg zum Dach fort, so schnell er konnte. Auch Eva-Lotte hatte es eilig, als sie an der Fensteröffnung vorbei mußte. Ja, Gren hatte Besuch, man konnte es deutlich hören. Kuchen wurde aber nicht serviert. Jemand stand mit dem Rücken zum Fenster, jemand, der mit tiefer Stimme aufgeregt sprach. Eva-Lotte konnte zwar nur ein Stück von dem Sprechenden sehen, da die Jalousie ja zur Hälfte herabgelassen war; aber sie sah, daß der Besuch von Gren dunkelgrüne Gabardinehosen anhatte. Und dann hörte sie seine Stimme. »Ja, ja, ja«, sagte er ungeduldig. »Ich werde versuchen. Ich werde bezahlen. Daß ich endlich aus dieser Hölle heraus kann!« Darauf hörte sie Grens weinerliche Greisenstimme: »Das haben Sie schon oft gesagt. Jetzt will ich aber nicht länger warten. Sie werden verstehen – ich muß mein Geld haben.« »Sie werden es bekommen, sage ich.« Es war der Fremde, der nun wieder sprach. »Wir treffen uns am Mittwoch. An der gewohnten Stelle. Bringen Sie meinen Revers mit, nein, alle Reverse, jeden einzigen. Ich werde sie alle einlösen. Es muß endlich Schluß damit sein.« »Der Herr braucht sich doch nicht so aufzuregen. Sie verstehen doch, daß ich mein Geld haben muß«, antwortete Gren beruhigend. »Blutsauger!« sagte der Fremde, und man hörte, daß er es auch meinte. Eva-Lotte kletterte schnell weiter. Kalle wartete, auf dem Dachfirst sitzend, auf sie. »Die da unten hatten Krach wegen Geld«, erklärte Eva-Lotte. »Sicherlich prozentuieren die beiden«, vermutete Kalle. »Ich möchte wissen, was ein Revers ist«, sagte Eva-Lotte nachdenklich. Dann aber setzte sie hastig hinzu: »Ach, ist ja ganz egal! Komm, Kalle!« Um in die Nähe von Jontes Fenster zu kommen, mußten sie quer über das Dach zur gegenüberliegenden Seite balancieren. Recht unheimlich war es dort unter einem dunklen Himmel ohne freundliche Sterne, die den gefährlichen Weg etwas auf-hellten. Nichts zum Festhalten als den Schornstein, und der bot nur einen kurzen Halt, als sie die Hälfte des Weges hinter sich hatten. Aber sie gingen weiter auf ihrem gefahrvollen Ba-lancegang, und ihr Mut wurde belohnt durch den Anblick, der sich ihnen in Jontes Kammer bot. Da saß ihr Chef auf einem Stuhl, umringt von den Roten Rosen, die mit den Armen fuch-telten und ihn anschrien. Er aber schüttelte nur stolz den Kopf. Eva-Lotte und Kalle legten sich platt auf den Bauch und bereiteten sich auf eine genußreiche Stunde vor. Sie konnten alles, was dort drüben vor sich ging, hören und sehen. Welch ein Triumph! Welch ein Erfolg! Ihr Chef sollte nur wissen, daß die Rettung so nahe war. Nur zwei Meter von ihm entfernt lagen seine Getreuen, bereit, Blut und Leben für ihn zu opfern. Eine Kleinigkeit nur war noch zu klären. Wie sollte die Be-freiung vor sich gehen? Es war sicher gut und schön, Blut und Leben opfern zu wollen, aber wie sollte das geschehen? Über zwei Meter Abstand mit nur Luft dazwischen … »Irgend etwas wird uns schon einfallen«, meinte Kalle voller Zuversicht und legte sich, den Umständen entsprechend, so bequem wie möglich zurecht. Bei Jonte wurde das Verhör fortgesetzt. »Gefangener, ich gebe dir eine letzte Chance, dein widerliches Leben zu retten«, sagte Sixtus und riß unbarmherzig an Anders’ Arm. »Wo habt ihr den Großmummrich verborgen?« »Vergeblich erkundigst du dich!« antwortete Anders. »Seit undenklichen Zeiten halten die Weißen Rosen ihre mächtige Hand über den Großmummrich. Nie werdet ihr ihn finden, darauf kannst du springen und dir eins husten«, setzte er weniger hochtrabend hinzu. Kalle und Eva-Lotte nickten draußen auf ihrem Aussichtspo-sten stumm Beifall. Sixtus, Benka und Jonte aber sahen aufrichtig verärgert aus. »Wir werden ihn über Nacht in meine Garage setzen müssen, damit er weich wird«, meinte Sixtus. »Hahaha«, lachte Anders. »Wie Kalle und Eva-Lotte, wie? Die sind auch in fünf Minuten geflohen, wie ich gehört habe. Genauso werde ich fliehen.« Die Roten Rosen wurden etwas nachdenklich. Es blieb ein Rätsel, wie es Kalle und Eva-Lotte geglückt war, aus ihrem Gefängnis zu entkommen. Es wirkte beinahe unnatürlich. Anders gegenüber aber tat man ungerührt. »Bilde dir nur nicht ein, daß du ein Ausbrecherkönig bist«, sagte Sixtus. »Wo wir dich einsperren, da bleibst du auch. Zuerst aber möchten wir von dir noch etwas über diese Geheimsprache wissen. Du bekommst Strafnachlaß, wenn du uns die Lösung gibst.« »Kaum«, sagte Anders. »Sei nun nicht halsstarrig«, versuchte Sixtus. »Du kannst doch wohl etwas sagen. Meinen Namen zum Beispiel. Wie heiße ich in eurer Sprache?« »Kok non a lol lol kok o pop pop«, sagte Anders bereitwillig und lächelte ironisch vor sich hin, um Sixtus fühlen zu lassen, daß es sich um eine Verunglimpfung handelte. So schwer es ihm auch wurde, zu übersetzen wagte er nicht – sonst hätte er den Schlüssel zur Räubersprache preisgegeben. Daher lächelte er nur noch einmal ironisch, und draußen auf dem Dach stimmten seine Bundesgenossen herzlich und etwas lauter in das Lächeln ein. Es hätte dem Chef Freude gemacht, wenn er es gewußt hätte. So aber waren er und die Roten vorläufig noch ohne Wissen um die unsichtbaren Zuschauer. Sixtus knirschte in ohnmächtiger Wut mit den Zähnen. Es fing an für die Roten peinlich zu werden, und dieses Lolen und Koken, das sie nicht begriffen, konnte bei jedem von ihnen krampfartige Zustände hervorrufen. Den Chef der Weißen Rosen hatten sie zwar gefangen; aber sie wußten kaum, was sie mit ihm machen sollten. Geheimnisse wollte er nicht ausplaudern, und die Roten Rosen ließen sich unter keinen Umständen dazu herab, körperliche Gewalt anzuwenden, um Geständnisse zu er-zwingen. Gewiß prügelten sie sich oft, daß es nur so rauchte; aber das war in ehrlichem Kampf draußen auf dem Schlachtfeld. Sich aber drei gegen einen über einen wehrlosen Gefangenen werfen, das gab es einfach nicht. »Übrigens – wo habt ihr den Großmummrich gelassen?« fragte Sixtus plötzlich wieder in der Hoffnung, Anders zu überrumpeln. »Ja, wo habt ihr den Großmummrich gelassen?« fragte auch Jonte und piekte Anders auffordernd in die Seite. Anders kicherte auf und krümmte sich wie ein Wurm. Er war nämlich äußerst kitzlig. Als Sixtus das sah, legte sich ein verklärtes Lächeln auf sein Gesicht. Er war ein Edelmann der Roten Rose und pflegte seine Gefangenen nicht zu quälen. Wer aber hatte gesagt, daß man sie nicht kitzeln durfte? Versuchsweise stach er einen spielerischen Zeigefinger in Anders’ Magengrube. Es glückte über alles Erwarten. Anders prustete los wie ein Flußpferd und krümmte sich doppelt und dreifach. Nun kam Leben in die Roten. Alle auf einmal warfen sie sich über ihr Opfer. Und der arme Weiße Chef stöhnte, winselte und hatte Schluckauf vor Lachen. »Wo habt ihr den Großmummrich gelassen?« fragte Sixtus noch einmal und tastete prüfend zwischen den Rippen von Anders herum. »Oh … oh … oh … oh …« keuchte Anders. »Wo habt ihr den Großmummrich gelassen?« Benka kitzelte ihn ausgiebig unter der Fußsohle. Als Antwort hörte er eine Lachkaskade. »Wo habt ihr den Großmummrich gelassen?« wollte nun auch Jonte wissen und fingerte in Anders’ Kniekehle. »Ich … gebe … auf …« winselte Anders. »Draußen auf der Prärie … beim Herrenhof … geht den … kleinen Weg …« »Und weiter?« fragte Sixtus und hielt warnend seinen Zeigefinger in Bereitschaft. Aber es gab kein Weiter. Es geschah etwas völlig Unerwartetes. Man hörte ein kurzes Sausen, einen kleinen Knall – und dann lag Jontes Kammer in wahrhaft ägyptischer Finsternis da. Die Glühbirne unter der Decke, die einzige Beleuchtung für Jontes Kammer, war in tausend Stücke gesprungen. Der Weiße Chef war genauso verblüfft wie die Roten. Nur kam er schneller wieder zu sich. Im Schutz der Dunkelheit glitt er wie ein Aal zur Tür und verschwand. Er war frei. Oben auf dem Dach steckte Kalle nachdenklich sein Katapult wieder in die Hosentasche. »Ich werde Geld aus meinem Sparschwein nehmen und eine neue Birne für Jonte kaufen«, meinte er reumütig. Beschädi-gung von fremdem Eigentum war etwas, was einem edlen Ritter der Weißen Rose schlecht anstand, und es war deshalb für Kalle vollkommen klar, daß der Schaden zu ersetzen war. »Aber du verstehst doch wohl, daß es notwendig wurde«, sagte er zu Eva-Lotte. Eva-Lotte nickte zustimmend. »Es war absolut notwendig«, beruhigte sie ihn. »Unser Chef war in großer Gefahr. Und der Großmummrich auch. Es war also wirklich nötig.« Bei Jonte hatten sie inzwischen eine Taschenlampe hervorge-kramt. Mit Verbitterung stellten die Roten fest, daß ihr Gefangener entwischt war. »Verschwunden!« schrie Sixtus und raste zum Fenster. »Welcher verdammte Läusepudel hat die Lampe zerschossen?« Er hätte nicht zu fragen brauchen. Die Sünder standen, zwei schwarze schmale Silhouetten, auf dem Dach gegenüber. Die Silhouetten begannen einen schnellen Rückzug. Sie hatten soeben Anders’ Pfeifsignal gehört und verstanden, daß er frei war. Nun sausten sie in lebensgefährlicher Hast über das Dach. Es galt, von dem Dach herunter und in Sicherheit zu kommen, bevor die Roten unten waren, um sie in Empfang zu nehmen. Sie liefen ohne Furcht im Dunkel den Dachfirst entlang und bewegten sich mit der Geschmeidigkeit, die ein wildes und glückliches Leben ihren mutigen jungen Körpern geschenkt hatte. Sie erreichten die Leiter und kletterten in rasender Eile abwärts. Eva-Lotte zuerst, danach Kalle, dicht hinterdrein. An Gren dachten sie überhaupt nicht mehr. Ihre Gedanken waren bei den Roten. Grens Fenster war ohne Licht. Der Fremde schien gegangen zu sein. »Beeile dich, ich hab’s eilig«, flüsterte Kalle inständig über Eva-Lotte. Da fuhr mit einem Knall Grens Jalousie in die Höhe, und der Alte sah heraus. Das geschah so unerwartet und erschreckte sie so furchtbar, daß Kalle plötzlich seinen Halt verlor. Mit kra-chendem Plumps schlug er unten auf und hätte beinahe Eva-Lotte mit sich gerissen. » So eilig hast du es nun doch wieder nicht«, sagte Eva-Lotte sarkastisch. Sie hielt sich krampfhaft an der Leiter fest, um nicht auch noch hinunterzufallen, und wandte dabei Gren ein bitten-des Gesicht zu. Gren aber sah mit seinen traurigen Greisenaugen auf Kalle, der am Boden lag und nach Luft schnappte, und sagte mit noch traurigerer Greisenstimme: »Ja, ja, der Kindheit glückliche Spiele. Der Kindheit glückliche, unschuldige Spiele. Ja, ja.« SECHSTES KAPITEL Eva-Lotte und Kalle hatten keine Zeit, Gren zu erklären, warum sie seine Leiter benutzten, und er selbst schien nichts sonderlich Bemerkenswertes oder Unnatürliches daran zu finden. Wahrscheinlich sah er ein, daß der Kindheit glückliche, unschuldige Spiele es ab und zu erforderlich machten, hier und dort in der Nachbarschaft auf Leitern und auf Dächern herumzuklettern. Kalle und Eva-Lotte verabschiedeten sich hastig und liefen davon, so schnell sie konnten. Aber Gren schien es nicht zu bemerken. Er seufzte nur still in sich hinein und ließ die Jalousie herunter. In der dunklen Gasse hinter Grens Haus vereinigten sich die drei Streiter der Weißen Rose. Sie drückten sich die Hände, und der Chef sagte: »Gut gemacht, ihr Tapferen!« Dann aber galt es zu fliehen. Schon hörte man am andern Ende der Gasse einen Lärm, der ständig an Stärke zunahm. Das waren die Roten, die endlich zur Besinnung gekommen waren und nun nach Rache schrien. Um diese Zeit waren die Bewohner des Rackerberges schon zu Bett gegangen und schliefen. Nun schossen sie schlaftrunken und aufgescheucht in ihren Betten hoch. War es die Wilde Jagd, die dort draußen vorüberraste? Ach, es waren nur drei edle Ritter der Weißen Rose, die mit gewaltigen Sprüngen über das Kopfsteinpflaster der Gasse setzten. Und fünfzig Meter hinter ihnen taten drei gleich edle Ritter der Roten Rose dasselbe. Deren Sprünge waren nicht minder gewaltig, und deren gellende und giftige Schreie hatten eine Tragweite, die kaum von der modernsten Feuerwehrsirene erreicht wurde. Kalle fühlte ein wildes Entzücken in der Brust, als er so durch das Dunkel lief. Das war ein Leben – oh, fast so spannend wie Verbrecher fangen. Verbrecher fangen konnte man nur in der Phantasie. In Wirklichkeit gab es sicher keine, so wie es zur Zeit hier aussah. Aber das hier war Wirklichkeit: das Dröhnen der Fü- ße der Verfolger hinter ihm, Anders’ und Eva-Lottes keuchende Atemzüge, das holprige Straßenpflaster unter seinen Sohlen, die dunklen kleinen Gassen und die düster lockenden Höfe und Schlupfwinkel, wo man sich verstecken konnte – ja, das alles zusammen war herrlich, und es würde eine spannende Jagd werden. Das Allerschönste aber war, zu spüren, wie genau sein Körper ihm gehorchte, wie schnell seine Beine sich bewegten und wie leicht sein Atem ging. So hätte er die ganze Nacht laufen können. Er fühlte sich kräftig genug, einer ganzen Koppel von Bluthunden zu entlaufen, wenn es nötig sein sollte. Es fiel ihm ein, daß es noch spannender wäre, allein gejagt zu werden. Dann könnte man seine Verfolger noch mehr reizen und auf die eine oder andere Weise noch kühner manövrieren. »Versteckt euch«, sagte er schnell zu Anders und Eva-Lotte. Anders fand diesen Vorschlag großartig. Alle Möglichkeiten, die Roten anzuführen, waren herzlich willkommen. Als sie die nächste Ecke erreicht hatten, tauchten deshalb Anders und Eva-Lotte blitzschnell in einem Torweg unter und blieben dort still, wenn auch heftig atmend, stehen. Es brauchte einige Sekunden, bevor die Roten um die Ecke kamen. Sie liefen so nahe an Anders und Eva-Lotte vorbei, daß man sie beinahe hätte anfassen können. »Anzuführen wie Kleinkinder«, stellte Anders fest. »Waren wohl noch nie im Kino, um zu sehen, wie man so was macht.« »Aber für Kalle wird es schwer werden«, sagte Eva-Lotte und horchte nachdenklich auf das Geräusch der springenden Füße, das jetzt in der Dunkelheit davonlief. Drei böse rote Wölfe, die ein armes, zartes weißes Kaninchen hetzen, dachte sie und war ganz erfüllt von plötzlichem Mitleid. Eine Weile dauerte es, bis die Roten bemerkten, daß ihnen ein Teil ihrer Beute entging. Aber da war es bereits zu spät. Das einzige, was sie tun konnten, war, ihre Jagd auf Kalle fortzusetzen. Keiner kann sagen, daß sie nicht das Äußerste leisteten. Sixtus lief wie ein Besessener, und während er lief, schwor er sich hoch und heilig, daß, wenn Kalle diesmal seinem Schicksal entsprin-gen sollte, er, Sixtus, sich einen knallroten Vollbart stehen lassen würde als äußeres Zeichen seiner erbärmlichen Niederlage. Er dachte allerdings nicht weiter darüber nach, wie er es anstellen sollte, den Bart auf seinem kahlen Jungengesicht zum Sprie- ßen zu bringen, – er lief und lief. Das tat Kalle auch. Hin und her in den Gassen des ganzen Rackerberges und immer in wohlüberlegten Winkelsprüngen. Nie war sein Vorsprung so groß, daß er seine Verfolger abschütteln konnte. Vielleicht wollte er es auch nicht. Sie folgten ihm dicht auf den Fersen, und die ganze Zeit hatte er seine Freude daran, sie sich so nahe zu halten, daß es gefährlich schien. Es war überall still. Aber durch diese Stille klang plötzlich das Geräusch eines Automotors, der irgendwo in der Nähe angelas-sen wurde. Das setzte Kalle in Erstaunen; denn Autos waren eine Seltenheit auf dem Rackerberg. Wäre der Meisterdetektiv nur nicht so mit dem Krieg der Rosen beschäftigt gewesen und hätte er nicht den Schwarm von Roten Rosen an den Fersen gehabt, so hätte er sicherlich versucht, einen Schimmer von dem Auto zu erwischen. Denn das hatte er seinem erdachten Zuhörer oft genug eingeschärft: »Man kann nicht aufmerksam genug sein, wenn es unerwartete Erscheinungen betrifft.« Leider war jetzt der Meisterdetektiv, wie gesagt, zum Militärdienst einberufen, und er stürmte blindlings weiter, nur schwach an dem Auto interessiert, das sich deutlich entfernte und verschwand. Sixtus fing an ungeduldig zu werden. Jonte, der den Schulre-kord über hundert Meter hielt, sollte einen günstigen Augenblick abpassen und versuchen, Kalle zu kreuzen und in Sixtus’ wartende Arme zu treiben. Und der günstige Augenblick kam. Es gab an einer Stelle eine Sackgasse, und da nahm Jonte seine Chance wahr: In diese Richtung sollte Kalle abbiegen. So geschah es zu Kalles Überraschung, daß er plötzlich in seinem Lauf durch Jonte, der wie aus dem Nichts vor ihm auftauchte, abgestoppt wurde. Er wagte nicht, sich durchzuschlagen, denn selbst wenn ihm dies glücken sollte, würde es doch so viele kostbare Sekunden kosten, daß Sixtus und Benka es geschafft hätten, zu Jontes Unterstützung heranzukommen. »Na«, schrie Sixtus aus weniger als zehn Schritt Entfernung, »jetzt bist du reingefallen, jetzt knallt es, glaube ich!« »Denkst du dir so«, sagte Kalle und schwang sich im letzten Bruchteil einer Sekunde über den Zaun, der die Straße nach der einen Seite abgrenzte. Er landete in einem dunklen Hof, und schnell wie ein aufgescheuchter Troll rannte er quer hinüber. Die Roten waren ihm auf den Fersen! Er hörte dumpf, wie sie über den Zaun setzten. Aber er blieb nicht stehen, um zu horchen. Er war zu sehr damit beschäftigt, nach einer Gelegenheit auszuspähen, wie er wieder auf die Straße hinauskommen konnte, ohne hier an der anderen Seite über den Zaun zu müssen. Denn wie nun auch der Besitzer dieses Zaunes heißen mochte – er hatte auf jeden Fall eine sehr verkehrte Einstellung zu dem Krieg zwischen den Weißen und Roten Rosen. Sonst hätte er bestimmt nicht seinen Zaun mit einem so widerlichen Stacheldraht gesichert. »Lieber Himmel, was tue ich nur?« flüsterte Kalle ratlos vor sich hin. Zeit zum Überlegen hatte er nicht. Was geschehen sollte, mußte augenblicklich geschehen. Er kroch schnell hinter eine Kehrichttonne und hockte dort mit wild klopfendem Herzen. Vielleicht gab es den Schimmer einer Möglichkeit, daß ihn die Roten nicht entdeckten. Aber sie waren absolut in seiner Nähe. Sie flüsterten halblaut miteinander und suchten, suchten nach ihm in der Dunkelheit. »Über den Zaun kann er nicht geklettert sein«, sagte Jonte. »Sonst würde er noch im Stacheldraht hängen. Das weiß ich genau – ich habe Erfahrung, weil ich es selbst einmal versucht habe.« »Der einzige Ausgang aus dem Hof ist dort durch die Veranda des Hauses«, sagte Sixtus. »Die Veranda der alten Karlsson – schrecklich!« stöhnte Jonte, der den Rackerberg und seine Bewohner nach Strich und Faden kannte. »Die alte Karlsson ist wie eine giftige Spinne –schrecklich!« Was ist schlimmer, dachte Kalle hinter seiner Tonne, von den Roten oder von der Karlsson geschnappt zu werden? Das möchte ich zu gern wissen. Die Roten suchten weiter. »Ich bin sicher, daß er hier irgendwo auf dem Hof steckt«, beteuerte Benka. Er schnüffelte überall umher, und schließlich entdeckte er Kalles Schatten hinter der Kehrichttonne. Benkas Jubelschrei, wild, aber gedämpft, erweckte neues Leben in Sixtus und Jonte. Noch mehr: erweckte es auch bei Frau Karlsson! Diese Dame war schon seit geraumer Zeit durch eigenartiges Gepolter in ihrem Hinterhof beunruhigt worden, und sie war nicht gewillt, das eigenartige Gepolter in ihrem Hinterhof zu dulden, wenn sich dagegen etwas tun ließ. Kalle hatte sich zu diesem Zeitpunkt dafür entschieden, daß selbst das größte Risiko immer noch besser war, als von den Roten gefangengenommen zu werden, und mochte daraus auch ein ausgewachsener Hausfriedensbruch bei der auf dem Rackerberg am meisten gefürchteten Person entstehen. Er entglitt mit einigen Millimetern Zwischenraum Sixtus’ greifenden Fäusten und setzte mit einem Hechtsprung in Frau Karlssons Veranda, um von dort weiter auf die Straße zu schlüpfen. Aber jemand kam ihm in der Dunkelheit entgegen. Und dieser Jemand war Frau Karlsson! Sie war in persönlicher Angelegenheit unterwegs: Sie wollte dem geheimnisvollen Gepolter ein Ende bereiten, gleichviel, ob Ratten oder Einbrecher oder seine Majestät der König selbst die Urheber waren. Frau Karlsson war nämlich der Meinung, daß auf gerade diesem Hinterhof kein anderer berechtigt war, geheimnisvoll zu poltern als nur sie selbst. Als Kalle wie ein aufgeschreckter Hase angesaust kam, war Frau Karlsson allerdings so überrascht, daß sie ihn vor Erstaunen glatt an sich vorbeiließ. Aber ihm auf den Fersen folgten Sixtus und Benka und Jonte, und sie alle landeten in Frau Karlssons ausgebreiteten Armen. Sie preßte sie an sich und schrie mit der Stimme eines Feldwebels: »Aha, hier rennen kleine Strolche umher! Auf meinem Grund und Boden! Das geht zu weit! Das geht entschieden zu weit!« »Verzeihung«, sagte Sixtus, »wir wollten nur …« » Was wolltet ihr nur?« schrie Frau Karlsson. »Was wolltet ihr nur … nur auf meinem Hof – was?« Mit einiger Mühe gelang es den dreien, sich aus ihrer eisernen Umarmung zu befreien. »Wir wollten nur …« stammelte Sixtus, »wir wollten … Wir haben uns verirrt … Es war so dunkel, ja!« Und damit rannten sie weiter, ohne auf Wiedersehen zu sagen. »So! Versucht es nur, euch noch einmal auf meinem Hof zu verirren!« rief ihnen Frau Karlsson nach. »Dann werde ich euch von der Polizei auf den rechten Weg bringen lassen – damit ihr es wißt!« Aber die Roten Rosen hörten nichts mehr. Sie waren schon draußen auf der Straße. Wo war jetzt Kalle? Sie blieben stehen und horchten. In einiger Entfernung hörten sie das leichte Tapp-Tapp seiner Füße und folgten ihm schnell. Zu spät entdeckte Kalle, daß er wieder in einer Sackgasse war. Diese kleine Straße endete ja unten am Fluß – das hatte er vergessen! Natürlich konnte er sich ins Wasser stürzen und an das andere Ufer schwimmen, aber das brachte unnötigen Ärger wegen der nassen Kleider mit sich, wenn man nach Hause kam. Auf jeden Fall wollte er erst andere noch mögliche Auswege bedenken. Friedrich mit dem Fuß! Das war der rettende Gedanke. Friedrich mit dem Fuß wohnt in dem kleinen Haus. Er wird mich sicher verstecken, wenn ich ihn darum bitte. Friedrich mit dem Fuß war der gutmütigste Strolch der Stadt und ein großer Gönner der Weißen Rosen. Wach war er noch, denn es schien Licht aus seinem Fenster. Ein Auto stand vor der Tür. Merkwürdig, wie viele Autos heute abend auf dem Rackerberg waren! Hatte er dieses vorhin gehört? wunderte sich Kalle. Lange Zeit zum Überlegen hatte er aber nicht. Schon hörte er, wie seine Feinde die Straße entlanggaloppierten. Er besann sich also nicht mehr lange, sondern riß die Tür zu Friedrichs Wohnung auf und stürzte hinein. »Guten Abend, Friedrich«, begann er eilig, unterbrach sich aber sofort. Friedrich war nicht allein. Friedrich lag in seinem Bett, und bei ihm saß Doktor Forsberg und fühlte Friedrichs Puls. Und Doktor Forsberg, der Stadtarzt, war niemand anders als Benkas Vater. »Ergebenster Diener, Karlchen«, sagte Friedrich mit dem Fuß matt. »Hier liegt ein fremder Friedrich. Elend und schlechter als schlecht. Sterbe sicher bald. Du solltest nur mal hören, wie es in meinem Bauch rumort.« Bei anderer Gelegenheit wäre es für Kalle ein Vergnügen gewesen zu hören, wie es in Friedrichs Bauch rumorte, aber im Augenblick war es das nicht. Doktor Forsberg schien ein wenig nervös über die Unterbrechung, und Kalle konnte verstehen, daß er mit Friedrich allein sein wollte, wenn er ihn untersuchte. Es blieb ihm anscheinend nichts anderes übrig, als sich erneut in die Gefahren der Straße zu stürzen. Aber Kalle hatte die Intelligenz der Roten unterschätzt. Sie rechneten sich sofort aus, daß er zu Friedrich geflohen war, und nun kamen sie eilends hinterher. Benka war der erste. »Ha, du Läusepudel, habe ich dich endlich auf frischer Tat ertappt?« schrie er. Doktor Forsberg wandte sich um und sah direkt in das erhitz-te Gesicht seines Sohnes. »Sprichst du mit mir?« fragte er. Benkas Kinnlade verlor vor Bestürzung ihren Halt – antworten konnte er nicht. »Handelt es sich um eine Art Stafettenlauf durch Friedrichs Krankenzimmer«, fuhr Doktor Forsberg fort, »oder warum rennst du so spät noch umher?« »Ich … ich … ich wollte nur sehen, ob du einen Krankenbesuch machst«, sagte Benka endlich. »Ja, ich mache einen Krankenbesuch«, versicherte ihm sein Vater. »Du hast also tatsächlich, wie du sagtest, den Läusepudel auf frischer Tat ertappt. Aber jetzt ist er fertig, und du gehst mit ihm nach Hause.« »Nein … aber … Vater!« schrie Benka in höchster Verzweiflung. Doktor Forsberg schloß in aller Ruhe seine Tasche und griff sodann mild, aber fest in Benkas helles Kraushaar. »Komm nun, mein Kleiner«, sagte er. »Gute Nacht, Friedrichs-son. Vorläufig sterben Sie noch nicht. Das kann ich Ihnen versprechen.« Während des ganzen Gesprächs hatte Kalle abseits gestanden, und über sein Gesicht legte sich ein Lächeln, das langsam breiter und breiter wurde. Welch ein Pech für Benka, welch ein großartiges Pech! Genau in die Arme seines Vaters zu laufen! Nach Hause geführt zu werden wie ein Baby! Gerade jetzt, wo er Kalle schnappen wollte. Das sollte Benka noch oft im Krieg der Rosen schlucken müssen. »Komm nun, mein Kleiner« –mehr brauchte man gar nicht zu sagen. Und Benka, als er von starken Vaterarmen zur Tür geführt wurde, empfand dies in seiner ganzen Entsetzlichkeit. Oh, ganz bestimmt, diesmal würde er einen »Leserbrief« an die Ortszeitung senden: »Muß man Eltern haben?« Gewiß, er hatte nichts gegen Vater und Mutter. Er schätzte sie sehr. Aber diese un-wahrscheinliche Pünktlichkeit, mit der Eltern stets im unpas-sendsten Augenblick auftauchten, konnte ja das friedlichste Kind zur Raserei bringen. Sixtus und Jonte kamen schnaubend die Straße entlang, und Benka flüsterte ihnen zu: »Er ist dort drinnen.« Danach wurde Benka zu dem wartenden Auto geführt – warum, ach, warum hatte er es nicht vorher gesehen? –, und Sixtus und Jonte starrten ihm nach, die Augen angefüllt mit einem Mitleid ohnegleichen. »Armer Kerl«, sagte Jonte und seufzte tief. Dann aber war keine Zeit mehr für Mitleid und Seufzen. Dreifache Schmerzen über die Weißen Rosen, die sie andau-ernd foppten! Kalle mußte erwischt werden, und das sofort, auf der Stelle! Sixtus und Jonte flitzten hinein zu Friedrich. Dort aber war kein Kalle zu sehen. »Hallo, Sixtus! Hallo, kleiner Jonte«, sagte Friedrich schwach. »Ihr solltet nur hören, wie es in meinem Bauch rumort. Krank und schlechter als schlecht …« »Friedrich, hast du Kalle Blomquist gesehen?« unterbrach ihn Sixtus. »Den Kalle? Ja, der war eben noch hier. Er ist aus dem Fenster gesprungen«, sagte Friedrich und lächelte verschmitzt. So, der Schurke war aus dem Fenster gesprungen! Richtig, Friedrichs beide Fenster waren geöffnet, und die Gardinen flat-terten im Abendwind. »Komm, Jonte!« schrie Sixtus aufgeregt. »Hinterher! Es geht um Sekunden!« Und mit einem Hechtsprung sauste jeder aus einem Fenster. Es ging, wie gesagt, um Sekunden. Im selben Moment hörte man Geplansche und Gebrüll. Sogar Jonte, der doch auf dem Rackerberg geboren war, hatte vergessen, daß die Rückwand von Friedrichs Haus direkt am Fluß stand. »Kalle, komm jetzt raus«, sagte Friedrich matt, »damit du hören kannst, wie es in meinem Bauch rumort.« Und Kalle kletterte aus dem Wandschrank, vor Vergnügen zitternd. Er lief zum Fenster und beugte sich hinaus. »Seid ihr sicher, daß ihr schwimmen könnt?« rief er. »Oder soll ich euch Korkwesten holen?« »Es genügt, wenn du uns deinen Korkschädel herschmeißt!« Sixtus war wütend und spritzte einen kräftigen Wasserstrahl in Kalles lachendes Gesicht. Kalle wischte sich unbekümmert das Wasser ab und sagte: »Scheint mollig warm zu sein in der Brühe. Ich denke, ihr solltet eine nervenstärkende Schwimmstunde einlegen.« »Nee, kommt rein zu mir«, rief Friedrich matt und schwach. »Kommt rein. Dann könnt ihr hören, wie es bei mir im Bauch rumort.« »Hej, jetzt haue ich ab«, rief Kalle. »Ja, hau nur ab, ehe ich dich abhaue«, sagte Jonte bitter und nahm Kurs auf ein Waschhaus in der Nähe. Die Jagd war zu Ende. Sixtus und Jonte wußten das wohl. Kalle verabschiedete sich von Friedrich und begab sich auf frohen und leichten Füßen nach Hause und in den Nachbargar-ten zu Eva-Lotte. Auf dem Boden über der Bäckerei hatten die Weißen Rosen noch immer ihr Hauptquartier, und aus einer der Bodenluken am Giebel hing noch immer das Seil herab. Da sich ein Ritter der Weißen Rose nicht eines so simplen Weges, wie es die Treppe war, bedienen konnte, kletterte Kalle pflicht-gemäß am Seil hoch, und als Anders und Eva-Lotte ihn hörten, steckten sie eilends die Köpfe durch die offene Bodenluke. »Aha, du hast es geschafft«, sagte Anders zufrieden. »Ja, ihr sollt gleich hören«, sagte Kalle. Über das Hauptquartier, wo allerlei Plunder sich an den Wänden drängte, warf eine Taschenlampe ihren dürftigen Schein. In diesem Schein saßen die drei Weißen Rosen mit gekreuzten Beinen und genossen die Geschichte von Kalles wun-dersamer Rettung. »Gut gemacht, mein Tapferer«, lobte Anders, als Kalle aufgehört hatte. »Für den ersten Kriegstag, finde ich, hat die Weiße Rose tadellos abgeschnitten«, sagte Eva-Lotte. Da hörte man eine Frauenstimme: »Eva-Lotte, wenn du nicht augenblicklich hereinkommst und zu Bett gehst, bitte ich Vater, daß er dich holt.« »Ja, ja, ich komme«, antwortete Eva-Lotte, und ihre treuen Mitkämpfer erhoben sich, um zu gehen. »Also wir sehen uns dann morgen«, sagte Eva-Lotte und lachte zufrieden in sich hinein. »Die Rötlichen dachten, sie könnten den Großmummrich erwischen, hahaha!« »Da haben sie sich aber schön in den Finger geschnitten«, meinte Kalle, ebenfalls lachend. »Siehe, in dieser Nacht, da fingen sie nichts«, sagte Anders und ließ sich übertrieben würdevoll als letzter am Seil herab. SIEBTES KAPITEL Kann es wohl auf der Welt einen Platz geben, der noch schläfriger, ruhiger und an Sensationen ärmer ist als diese kleine Stadt? dachte Frau Lisander. Aber wie sollte auch in einer solchen Hitze etwas passieren? Sie schlenderte langsam zwischen den Marktständen umher und wählte zerstreut unter den Waren, die dort für die Beschauer ausgebreitet lagen. Es war Markttag, und viele Menschen waren auf den Straßen und dem Markt, und eigentlich hätte die ganze Stadt vor Leben und Treiben bersten müssen. Aber das tat sie nicht. Sie duselte wie immer. Das Wasser im Springbrunnen vor dem Rathaus rieselte schläfrig und leise aus dem Rachen der Bronzelöwen, und die Bronzelöwen selbst sahen auch schläfrig aus. Die Musik im Konditoreigarten unten am Fluß spielte schläfrig und leise eine Art Nachtmusik –mitten am hellen Vormittag. Die Sperlinge, die zwischen den Tischen heruntergefallene Kuchenkrümel aufpickten, hüpften hier und da mit kleinen aufgedunsenen Sprüngen, aber auch sie sahen schläfrig aus. Alles schläfrig hier, dachte Frau Lisander. »Es scheint, als wolle es ein Gewitter geben«, sagten die Menschen zueinander. Da kam Eva-Lotte angesprungen. Endlich ein Mensch, der nicht schläfrig aussieht! dachte Frau Lisander. Sie betrachtete ihre kleine Tochter zärtlich und fing in ihrem Blick alle Einzelheiten auf: das fröhliche Gesicht, die munteren blauen Augen, das blonde zerzauste Haar und die langen braungebrannten Beine, die unter einem hellen, frisch gebügelten Sommerkleid hervorsahen. »Wo willst du hin?« fragte Frau Lisander und gab ihr eine Handvoll Kirschen. »Das darfst du nicht wissen«, sagte Eva-Lotte, Kerne aus-spuckend. »Geheimer Auftrag! Ungeheuer geheimer Auftrag!« »Aha! Na, sieh nur zu, daß du rechtzeitig zum Mittagessen zurück bist.« »Für wen hältst du mich eigentlich?« fragte Eva-Lotte. »Ich bin noch nie zu einem Mittagessen zu spät gekommen, seit ich den Zwiebackbrei versäumte – damals am Tag meiner Taufe!« Frau Lisander lachte ihr zu. »Du bist mein Liebes«, sagte sie. Eva-Lotte nickte zu dieser selbstverständlichen Tatsache und setzte ihre Reise über den Markt fort. Kirschkerne markierten ihren Weg. Die Mutter stand noch einen Augenblick und sah ihr nach. Und auf einmal hatte sie ein ängstliches Gefühl in der Herzge-gend. Herr Gott, wie schmal war das Mädchen im Genick! Wie sah sie auf irgendeine Weise doch so klein und hilflos aus. Es war wirklich nicht allzulange her, seit sie ihren Zwiebackbrei gegessen hatte, und nun lief sie da umher mit »geheimen Aufträgen«! War das richtig? Sollte man nicht etwas besser auf sie achten? Frau Lisander seufzte und ging langsam heimwärts. Sie hatte das Gefühl, daß die Wärme sie bald verrückt machen würde, und da war es doch wohl besser, sich in des eigenen Hauses Schutz und Mauern zu befinden. Eva-Lotte litt gar nicht unter der Hitze. Sie genoß sie genauso, wie sie das Treiben in den Straßen und den Saft der herrlichen Kirschen genoß, der durch ihre Kehle rann. Es war Markttag, und sie mochte Markttage gern. Ja, wenn sie genau nachdachte, mochte sie alle Tage – außer denen, an welchen in der Schule Handarbeitsstunde war. Aber jetzt waren ja Sommerferien! Sie bummelte langsam über den Markt und die Kleine Straße hinunter zum Fluß, am Konditoreigarten vorbei und der Brücke zu. Eigentlich hatte sie nicht viel Lust, sich vom Zentrum der Ereignisse zu entfernen; aber da war der geheime Auftrag, und der mußte ausgeführt werden. Der Chef hatte ihr nämlich befohlen, den Großmummrich zu holen und an einen günstigeren Platz zu bringen. Bei dem peinlichen Verhör hatte Anders ja beinahe verraten, wo der Großmummrich lag. Und man konnte wetten, daß die Roten jeden Quadratmillimeter Boden untersuchen würden – dort unten am kleinen Pfad hinter dem Herren-haus. Da aber bislang noch kein Jubelschrei aus ihren Kehlen erklungen war, war es doch wohl sicher, daß der Großmummrich noch immer dort war, wo ihn die Weißen hingelegt hatten. Oben auf einem großen Stein, genau neben dem Pfad, dort lag er in einer kleinen Vertiefung des Steins. Eigentlich war es ja schändlich einfach, ihn zu finden, meinte Anders. Es war nur eine Frage der Zeit, wann die Roten ihre Krallen um das kostbare Kleinod schlagen würden. Da aber heute Markt war, durfte man annehmen, daß Sixtus und Benka und Jonte am Karussell und an der Schießbude unten auf dem Rummelplatz hinter der Eisenbahnstation festklebten. Heute hatte Eva-Lotte die Chance, den Großmummrich ungestört von seinem nunmehr recht unsicheren Aufbewahrungsplatz holen zu können. Der Chef hatte außerdem schon den neuen Platz für das Kleinod bestimmt: oben in der Schloßruine bei dem Brunnen im Burghof. Das bedeutete, Eva-Lotte sollte in der drük-kenden Gewitterschwüle zuerst den langen Weg über die Prärie machen, dann wieder zurück quer durch die ganze Stadt und danach den steilen Weg zur Ruine empor, die in ansehnlicher Höhe über der Stadt und genau entgegengesetzt vom Herrenhof lag. Tatsächlich, man mußte schon ein hingegebener Ritter der Weißen Rose sein, um sich derartiger Mühsal ohne Murren zu unterziehen. Und Eva-Lotte war hingegeben. Warum wurde übrigens ausgerechnet Eva-Lotte dieser Auftrag erteilt? Hätte der Chef nicht Kalle schicken können? Nein, ein Vater ohne Einsicht hatte aus Kalle an diesem wichtigen Tag einen Laufburschen und Aushilfsverkäufer für das Lebensmittelgeschäft gemacht. Denn heute kamen die Bauern in die Stadt, um ihre Vorräte an Einmachzucker, Kaffee und Salzheringen zu ergänzen. Hätte da der Chef der Weißen Rose nicht selbst gehen können? Nein, der Chef mußte seinen Vater in der Schuhmacherwerkstatt vertreten. Es gefiel dem Schuhmachermeister Bengtsson nicht, an Markttagen zu arbeiten und dadurch den Tag zu entweihen. An solchen Tagen nahm er sich frei und »fei-erte«. Deshalb konnte aber nicht die Werkstatt geschlossen sein. Es konnte doch, obwohl Markttag war, jemand kommen und Schuhe bringen, oder es konnte jemand kommen und Schuhe holen. Und deshalb hatte er seinem Sohn fest versprochen, ihn grün und blau zu schlagen, wenn er sich unterstehen würde, auch nur fünf Minuten aus der Werkstatt zu entweichen. Eva-Lotte, hingegebener Ritter der Weißen Rose, ist es also, die den Auftrag bekommen hat, den geheimen und heiligen Auftrag, den verehrten Großmummrich von einem Versteck in das andere zu überführen. Das ist nicht irgend so ein Auftrag, das ist eine rituelle Handlung, eine Mission. Was macht es da schon, daß die Sonne verzehrend über der Prärie brennt und schwarzblaue Wolken sich am Horizont zusammenzuziehen beginnen? Was macht es da schon, daß man nicht am Marktleben teilnehmen kann, daß man »das Zentrum der Ereignisse« verlassen muß – denn das tat sie doch, als sie bei der Brücke abbog und den Weg zur Prärie nahm … Tat sie das? Nein, das Zentrum der Ereignisse liegt nicht immer dort, wo das Markttreiben ist. An diesem Tag liegt das Zentrum der Ereignisse woanders. Und Eva-Lotte wandert gerade jetzt auf ihren nackten braunen Beinen genau hinein. Die Wolken dort fangen an, wirklich drohend auszusehen. Blauschwarz, häßlich – sie machen einen geradezu etwas ängstlich. Eva-Lotte geht langsam, denn hier draußen auf der Prärie ist es so heiß, daß die Luft zittert. Hu, die Prärie ist so groß und weit – es kostet ja eine Ewigkeit hinüberzukommen! Aber Eva-Lotte geht nicht allein in dem Sonnenbrand. Sie wird beinahe fröhlich, als sie weit vor sich Gren, den Alten, entdeckt. Man kann sich nicht irren, man sieht, daß das Gren ist. Keiner trottet so wie er. Gren ist, wie es scheint, auch auf dem Weg zum Herrenhof. Sieh an, jetzt biegt er in den kleinen Pfad, der zwischen den Haselnußsträuchern entlangführt, und verschwindet Eva-Lotte aus den Augen. Du großer Nebukadnezar, er ist doch wohl nicht etwa auch drau- ßen, um den Großmummrich zu suchen – er auch! Eva-Lotte grinst sich eins bei diesem Gedanken. Dann aber blinzelt sie aufmerksam durch den Sonnendunst. Von der anderen Seite kommt noch jemand, jemand, der gewiß nicht aus der Stadt sein kann, weil er an dem Weg auftaucht, der sich am Herrenhof vorbei in das flache Land hineinschlängelt. Ach, das ist ja bestimmt der in den grünen Gabardinehosen! Klar, heute ist ja Mittwoch. Heute wollte er doch »seine Reser-ven einlösen« oder was er damals sagte, nein, seine »Reverse«, so hießen die Dinger. Eva-Lotte überlegt, wie es wohl sein mag, wenn man Reverse einlöst. O ja, Prozenterei und Ähnliches, das ist sicher sehr verwik-kelt. Mit was für Blödsinn sich große Menschen beschäftigen … »Wir treffen uns an der gewohnten Stelle«, hatte er gesagt, der Gabardinejunge. Hier ist das also, hier draußen. Muß es aber durchaus neben dem Großmummrich sein, wie? Gibt es keine anderen Sträucher, wo die beiden sich treffen können, um zu prozenten? Nein, anscheinend nicht. Jetzt verschwinden die Gabardinehosen zwischen den Sträuchern, sie auch. Eva-Lotte geht noch langsamer. Sie hat keine sonderliche Eile, und es ist wohl besser, wenn der Junge erst in Ruhe und Frieden seine Reverse einlösen kann, bevor sie den Großmummrich holt. Sie geht für ein Weilchen in den Herrenhof hinein. Während sie wartet, schnüffelt sie ein wenig in den Winkeln herum. Bald wird sicher der Herrenhof wieder Kriegsschauplatz sein, und dann kann es nur gut sein, hier Bescheid zu wissen. Sie sieht aus einem Fenster an der Rückseite. Oh, der ganze Himmel ist schwarz! Die Sonne ist verschwunden, und von ferne hört man ein gehässiges Grollen. Die ganze Prärie sieht so unheimlich und verlassen aus. Sie muß sich beeilen, sie muß den Großmummrich holen, sie muß nach Hause, bevor das Gewitter ausbricht. Und sie läuft zur Tür hinaus, sie läuft, so schnell sie kann, sie läuft hinein in den kleinen Pfad zwischen den Haselsträuchern, sie hört die ganze Zeit das gehässige Gewitter grollen, sie läuft weiter, läuft – – nein, jetzt hält sie plötzlich verwirrt an. Sie ist genau jemand in die Arme gelaufen, der von der entgegengesetzten Seite kam und es ebenso eilig hatte wie sie. Zuerst sieht sie nur die dunkelgrünen Gabardinehosen und das weiße Hemd. Dann sieht sie auf und in sein Gesicht. Mein Gott, welch ein Gesicht! So bleich, so voller Angst – kann ein großer Kerl wirklich solche Angst vor dem Gewitter haben? Eva-Lotte hat fast Mitleid mit ihm. Aber es scheint, als wolle er gar nichts von ihr wissen. Er wirft ihr einen schnellen Blick zu, er sieht erschrocken und böse zugleich aus, und jetzt beeilt er sich, auf dem schmalen Pfad an ihr vorbeizukommen. Eva-Lotte mag es nicht, daß man sie auf diese Art ansieht –als sei sie etwas Lästiges. Sie ist es gewohnt, Gesichter aufleuchten zu sehen, wenn sie bemerkt wird. Und sie wünscht nicht, daß der Kerl verschwindet, ohne daß sie ihm irgendwie klarge-macht hat, daß sie ein freundlicher Mensch ist und wie ein solcher behandelt sein will. »Verzeihung, wie spät ist es?« fragt sie deshalb höflich, nur um etwas zu sagen und um zu zeigen – ja, daß sie doch eigentlich gut erzogene Menschen sind, wenn sie auch zwischen den Büschen zusammengestoßen sind. Der Mann zuckt zusammen und bleibt unwillig stehen. Zuerst scheint es so, als wolle er ihre Frage nicht beantworten; aber dann sieht er doch auf seine Armbanduhr und murmelt undeutlich: »Viertel vor eins.« Dann läuft er weiter. Eva-Lotte sieht ihm nach. Sie bemerkt, daß eine Menge Papier aus seiner Hosentasche heraussieht, aus einer seiner dunkelgrünen Gabar-dinehosentaschen. Nun ist der Mann verschwunden. Aber da liegt ein weißes, zerknittertes Papier auf dem Weg. Er hat es in der Eile verloren. Eva-Lotte hebt es auf und liest neugierig. »Revers« steht ganz zuoberst darauf. Aha, so sehen also die Reverse aus, olala! War das nun schon etwas, um so ein Theater darum zu machen? Dann kracht es, kracht entsetzlich, und Eva-Lotte springt vor Schreck in die Luft. Eigentlich hat sie vor Gewittern keine Angst. Aber jetzt, gerade jetzt, hier draußen, ganz allein auf der Prärie! Alles macht plötzlich so einen düsteren, unbehaglichen Eindruck. Zwischen den Sträuchern hier ist es so dunkel. Und selbst in der Luft liegt etwas so Unheimliches, etwas so Unheilverkündendes. Ach, wenn man doch nur zu Hause wäre! Sie muß sich beeilen, riesig beeilen! Aber zuerst der Großmummrich! Ein Ritter der Weißen Rose tut seine Pflicht, und wenn ihm auch das Herz bis in den Hals hinauf schlägt. Nur noch einige Schritte sind es bis zu dem Stein. Bloß noch an den Büschen vorbei. Eva-Lotte rennt … Zuerst kommt es nur wie ein Wimmern über ihre Lippen. Vollkommen steif steht sie da, sieht, sieht und wimmert leise vor sich hin. Vielleicht, oh, vielleicht ist das hier alles nur ein Traum, ein böser Traum. Vielleicht liegt da gar nichts – nichts Zusammengesunkenes – dort – neben dem Stein – – Dann schlägt sie die Hände vors Gesicht, dreht sich um und läuft, und seltsam entsetzte Laute kommen aus ihrer Kehle. Sie rennt, obwohl die Beine unter ihr zittern. Sie hört nicht den Donner und spürt nicht den Regen, der ihr das Gesicht peitscht. Sie rennt, wie man in schweren Träumen rennt, um der unbekannten Gefahr hinter sich zu entkommen. Über die Prärie. Über die Brücke. Durch die bekannten Straßen, die plötzlich leer und verlassen im Gewitterregen liegen. Zu Hause! Zu Hause! Endlich! Sie stößt die Gartentür auf. Dort in der Bäckerei ist Vater. Dort steht er an seinen Blechen in seinem weißen Bäckeranzug. Er ist groß und ruhig wie immer, und man wird mehlig, wenn man in seine Nähe kommt. Vater ist immer derselbe, wenn die Welt auch sonst häßlich und verändert ist, wenn es auch unmöglich geworden ist, in ihr noch zu leben. Wild wirft sich Eva-Lotte in seine Arme, preßt sich an ihn, schlingt ihre Arme um seinen Hals, ganz fest, ganz fest, versteckt ihr tränenüberströmtes Gesicht an seiner Achsel und wimmert leise: »Vater, lieber guter Vater! Hilf mir! Der alte Gren …« »Kindchen, Kleines, was ist mit Gren?« Und noch leiser, fast erstickt, kommt es von Eva-Lottes Lippen: »Er liegt draußen auf der Prärie – tot …« ACHTES KAPITEL War das die Stadt, die so schläfrig war, so ruhig und so still? Jetzt nicht mehr. Innerhalb einer Stunde hatte sich alles verändert. Die ganze Stadt summte wie ein Bienenschwarm, Polizeiautos fuhren hin und her, Fernsprecher klingelten, die Menschen redeten und rätselten herum und waren aufgeregt und wunderten sich und fragten Schutzmann Björk, ob es wahr sei, daß man den Mörder schon gefaßt habe. Und sie schüttelten bekümmert die Köpfe und sagten: »Ja, ja, daß es dem armen alten Gren einmal so ergeben würde …« Oder: »Ja, ja, es wurde so allerhand über ihn gemunkelt … Wer sich mit dem Teufel abgibt … Jedenfalls kein Wunder, daß ihm das passiert ist …« Und: »Auf jeden Fall … eine entsetzliche Sache!« Ganze Scharen neugieriger Menschen strömten hinaus zur Prärie. Das ganze Gebiet um den Herrenhof aber war inzwischen durch die Polizei abgesperrt worden. Da kam niemand hindurch. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit hatte die Staatspolizei ihre Leute an den Tatort gebracht. Die Untersuchung war in vollem Gang. Alles wurde fotografiert, jeder Meter Boden wurde untersucht, jede Beobachtung protokolliert. Gab es Spuren des Mörders, Fußspuren oder andere? Nein, nichts! Wenn es jemals welche gegeben hatte, waren sie durch den heftigen Regen zerstört worden. Es fand sich nichts, nicht so viel wie ein weggeworfener Zigarettenstummel, als Spur des Verbrechers. Der Gerichtsarzt, der die gerichtsmedizinische Untersuchung der Leiche vornahm, stellte fest, daß Gren durch einen Schuß in den Rücken getötet worden war. Die Brieftasche und die Uhr wurden bei dem Ermordeten gefunden. Ein Raubmord schien nicht vorzuliegen. Der Kriminalkommissar hatte versucht, die »Kleine, die das Verbrechen entdeckt hatte«, zu sprechen; aber Doktor Forsberg ließ es nicht zu. Sie hatte einen Nervenschock erlitten und mußte Ruhe haben. Der Kommissar war über diese Verzögerung enttäuscht; aber er mußte sich dem ärztlichen Verbot fügen. Doktor Forsberg konnte ihm allerdings erzählen, daß das Mädchen geweint und mehrere Male gesagt habe: »Er hat grüne Gabardinehosen an.« Sie konnte damit nur den Mörder meinen. Aber man konnte doch wohl nicht den Fahndungsdienst über das ganze Land in Bewegung setzen – nur wegen ein Paar grüner Gabardinehosen. War es wirklich der Mörder gewesen, den das Mädchen gesehen hatte (für den Kommissar war das nicht ganz sicher), so hatte er sicherlich jetzt seine grünen Hosen schon längst gegen andere vertauscht. Trotzdem ließ der Kommissar sämtliche Polizeistationen benachrichtigen, man solle auf alle grünen Gabardinehosen, die sich verdächtig machten, ein Auge haben. Im übrigen galt es, alle nur möglichen Routinear-beiten zu erledigen und zu hoffen, das Mädchen möchte sich schnell wieder so weit erholen, daß es verhört werden konnte. Eva-Lotte lag in Mutters Bett, an dem ruhigsten Platz, den es gab. Doktor Forsberg war bei ihr gewesen, und sie hatte ein Pulver bekommen, damit sie »ohne böse Träume« schlafen könne. Außerdem hatten Vater und Mutter versprochen, jeder auf einer Seite des Bettes zu sitzen – die ganze Nacht über. Und dennoch – wild jagten sich die Gedanken hinter ihrer Stirn. Oh, wäre sie doch nie zum Herrenhof gegangen! Jetzt war alles zu Ende. Nie mehr würde es etwas Schönes in der Welt geben. Wie konnte noch etwas schön sein, wenn Menschen sich so Böses antaten? Gewiß, sie hatte vorher schon gewußt, daß solche Dinge geschehen konnten; aber sie hatte es nicht so wie jetzt gewußt. Ach, wie oft hatten sie und Anders Kalle geärgert und von Mördern gesprochen, so leicht, als sei es etwas Lustiges und Komisches, etwas, womit man Witze machen konnte. Es war entsetzlich, jetzt daran zu denken. Nie mehr würde sie so etwas mitmachen. So etwas durfte man nicht, zum Spaß sagen. Damit zog man vielleicht das Böse an, so daß es dann in Wirklichkeit geschah. Oh, daran zu denken, daß es womöglich ihre Schuld war, daß Gren … daß Gren … Nein, sie wollte nicht daran denken. Aber sie wollte ein anderer Mensch werden. Ja, ja, das wollte sie. Sie wollte etwas mehr Frau sein, mädchenhafter, wie Onkel Björk gesagt hatte. Nie mehr wollte sie in einem Krieg der Rosen mitmachen. Denn war nicht gerade der Krieg der Rosen die Ursache, daß sie in diese Dinge hineingeraten war – diese Dinge, an die man nicht denken durfte, wenn einem der Schädel nicht platzen sollte? Nein, für sie sollte Schluß sein mit dem Krieg. Sie wollte nie mehr spielen. Nie mehr! Oh, wie trostlos würde das sein! Tränen stiegen ihr aufs neue in die Augen, und sie nahm die Hand der Mutter. »Mutti, ich fühle mich so alt«, sagte sie und weinte. »Ich fühle mich beinahe wie sechzehn.« Dann schlief sie ein. Aber bevor sie in die barmherzige Bewußtlosigkeit sank, überlegte sie noch ein wenig, was wohl Kalle jetzt denken mochte. Kalle, der jahrelang Mörder gejagt hatte! Was tat er wohl, wenn wirklich einer auftauchte? Meisterdetektiv Blomquist erfuhr davon, als er hinter seines Vaters Ladentisch dabei war, zwei Salzheringe für einen Kunden in eine Zeitung zu wickeln. In dem Augenblick nämlich kam Frau Karlsson vom Rackerberg durch die Tür gesegelt, zum Platzen gefüllt mit Neuigkeiten und berstend vor Sensati-onslust. Und innerhalb von zwei Minuten war der ganze Laden ein kochender Topf voll von Fragen und Ausrufen und Grauen. Jeder Verkauf stockte. Alle im Laden drängten sich um Frau Karlsson. Und sie plapperte und erzählte, daß der Speichel schäumte. Alles, was sie wußte, und mehr dazu. Meisterdetektiv Blomquist, er, der über die Sicherheit der Stadt wachen sollte, stand hinter dem Ladentisch und hörte zu. Er sagte nichts. Er fragte nichts. Er war wie versteinert. Als er genug gehört hatte, schlich er sich unbemerkt hinaus in den La-gerraum und sank auf eine leere Kiste. Lange saß er da. Sprach er vielleicht mit seinem erdachten Zuhörer? Das wäre doch jetzt so passend gewesen. Nein, das tat er nicht. Er sprach überhaupt nicht. Aber er dachte an das eine und das andere. Kalle Blomquist, dachte er, du bist ein Wicht, ein lächerlicher kleiner Wicht. Das bist du haargenau! Meisterdetektiv – nicht viel mehr als meine alten Pantoffeln! Hier können die verab-scheuungswürdigsten Verbrechen geschehen; aber du stehst ruhig hinter dem Ladentisch und wickelst Salzheringe ein. Weiter so, nur weiter so, dann tust du doch wenigstens etwas Nützliches! Da saß er nun, den Kopf in die Hände gestützt, düster grü-belnd. Ach, warum hatte er nur gerade heute im Geschäft sein müssen! Sonst hätte Anders sicher ihn an Stelle von Eva-Lotte geschickt. Und dann wäre er es gewesen, der das Verbrechen entdeckt hätte. Oder wer weiß – vielleicht wäre er so rechtzeitig gekommen, daß er es verhindert hätte? Er hätte dann den Verbrecher unter vielen guten Ermahnungen hinter Schloß und Riegel gebracht. So, wie er es immer tat. Aber mit einem tiefen Seufzer erinnerte er sich, daß es nur in der Phantasie war, daß er es »immer so tat«. Und dann begriff Kalle erst tatsächlich, was geschehen war. Er begriff es mit einem Ruck, der ihm die Lust nahm, weiterhin Meisterdetektiv zu spielen. Das hier war kein Phantasiemord, den man auf elegante, leichte Art aufklären konnte, um sich vor seinem erdachten Zuhörer wichtig zu machen. Das hier war eine erschreckende, häßliche, widersinnige Wirklichkeit, die ihn fast krank machte. Er verachtete sich zwar dafür, aber es war Tatsache, daß er froh war, aufrichtig froh, daß er heute nicht an Eva-Lottes Stelle gewesen war. Arme Eva-Lotte! Ohne jemand um Erlaubnis zu bitten, verließ er das Haus. Er fühlte, er mußte zu Anders gehen, um mit ihm zu sprechen. Zu versuchen, mit Eva-Lotte zu sprechen, war aussichtslos, das verstand er. »Der Doktor ist bei der Kleinen«, hatte Frau Karlsson gesagt. Anders wußte gar nichts. Er saß in der Schuhmacherwerkstatt und las »Die Schatzinsel«. Seit dem Vormittag war kein Mensch mehr gekommen. Ein Glück! Anders befand sich nämlich zur Zeit, umringt von bösartigen Piraten, auf einer Insel in der Süd-see und hatte für Riester und Kernledersohlen gar kein Interesse. Als Kalle die Tür ohne vorherige Warnung aufstieß, starrte ihn Anders daher an, als fürchte er, der einbeinige John Silver stürze herein. Er war total überrascht, als er begriff, daß es nur Kalle war. Er sprang von seinem Dreibein auf und schmetterte unbeschwert: »Fünfzehn Mann auf des toten Mannes Kiste – Johoho und die Flasche voll Rum.« Kalle schauderte. »Schweig«, flüsterte er, »schweig, sage ich.« »Das sagt der Gesangslehrer auch immer, wenn ich anfange zu singen«, bestätigte Anders friedfertig. Es schien, als wolle Kalle etwas sagen, aber Anders kam ihm zuvor. »Hast du gehört, ob Eva-Lotte schon den Großmummrich geholt hat?« Kalle sah ihn erstaunt an. Wieviel Blödsinn würde Anders noch vom Stapel lassen, bevor Kalle dazu kam, etwas zu berichten? Wieder nahm Kalle einen Anlauf, aber Anders hinderte ihn wieder. Zu lange hatte er stillsitzen müssen, und jetzt sprudelte die Redelust in ihm. Er nahm die »Schatzinsel« und hielt sie Kalle unter die Nase. »Junge, Junge, das ist ein Buch«, sagte er. »Das ist spannend, irrsinnig spannend! Mensch, damals hätte man leben sollen! Welche Abenteuer! Heutzutage passiert rein gar nichts mehr!« »So, gar nichts passiert?« sagte Kalle. »Du weißt nicht, was du sprichst.« Und dann erzählte er Anders, was »heutzutage passiert«. Anders’ dunkle Augen verdunkelten sich noch mehr, als er hörte, was sein Befehl zur Platzverlegung des Großmummrich angerichtet hatte. Er wollte sofort zu Eva-Lotte rennen, um, wenn sie auch nicht direkt zu trösten, so ihr doch auf irgendeine Art zu zeigen, daß er selbst sich für einen Idioten hielt, weil er sie mit dem Auftrag losgeschickt hatte. »Aber ich konnte doch wirklich nicht wissen, daß dort draußen Tote herumliegen«, sagte er ganz niedergeschlagen zu Kalle. Kalle saß ihm gegenüber und hämmerte nachdenklich ganze Reihen von Schuhmachernägeln in den Schuhmachertisch. »Nein, klar, wie solltest du das wissen können«, sagte er dabei. »Es kommt ja nicht oft vor.« »Was kommt nicht oft vor?« »Daß Tote rumliegen draußen beim Herrenhof.« »Klar, meinte ich doch«, sagte Anders, »Übrigens schafft Eva-Lotte das ganz bestimmt. Jedes andere Mädchen würde dabei durchdrehen, aber nicht sie. Du wirst sehen, sie wird der Polizei einen ganzen Berg Fingerzeige geben.« Kalle nickte. »Vielleicht hat sie jemand gesehen, der … der … es getan haben kann.« Anders schauderte. Aber er war nicht annähernd so benommen wie Kalle. Er war ein froher, zukunftsträchtiger und sehr aktiver Junge, und außergewöhnliche Ereignisse weckten seinen Tätigkeitsdrang, auch wenn sie erschreckend waren. Er wollte etwas tun, und das sofort. Loslegen mit den Nachforschungen und den Mörder festsetzen, und zwar möglichst im Verlauf der nächsten Stunde. Er war kein Träumer wie Kalle. Es wäre unrecht zu behaupten, daß Kalle nicht auch, trotz seiner Träume-reien, besonders wirksam sein konnte – es gab ja welche, die das bereits erfahren hatten-, aber Kalles Wirksamkeit begann stets mit langatmigen Meditationen. Kalle saß dann da und dachte sich Dinge aus – recht einfallsreiche Dinge mitunter, das mußte man bestätigen –, aber oftmals waren es doch nur Phantasien ins Blaue hinein. Anders phantasierte nicht. Er verschwendete keine Zeit mit Meditationen. Sein Körper war so erfüllt von Energie, daß es eine wahre Plage für ihn war, eine Weile stillsitzen zu müssen. Es war kein Zufall, daß er der Chef der Weißen Rose war. Er war selbst-sicher, fröhlich und redegewandt, erfindungsreich und immer bereit, an der Spitze zu gehen. Das war Anders. Ein wehleidigerer Typ als er hätte an den häuslichen Verhältnissen Schaden genommen – der Vater war ein unerträglicher Tyrann –, Anders aber nicht. Er hielt sich nur, soviel er irgend konnte, fern von zu Hause, und die Zusammenstöße mit seinem Vater nahm er gleichmütig hin. Alle Schelte glitt an ihm ab wie das Wasser an einer Gans, und fünf Minuten nach der stärksten Abreibung war Anders schon draußen und sprang fröhlich umher wie immer. Ganz unmöglich also, daß er jetzt mit den Händen im Schoß da-sitzen sollte, wenn wichtige Sachen sein Eingreifen erforderten. »Komm, Kalle«, sagte er deshalb. »Ich schließe die Werkstatt. Vater kann sagen, was er will.« »Traust du dich wirklich?« fragte Kalle, der den Schuhmachermeister kannte. »Pfff«, machte Anders. Natürlich getraute er sich. Er mußte nur eventuellen Kunden auf irgendeine Art klarmachen, warum das Geschäft an einem Werktag geschlossen war. Er nahm einen Blaustift und schrieb auf ein Stück Papier: GESCHLOSSEN WEGEN MORD Dann heftete er das Papier mit einer Reißzwecke außen an die Ladentür und wollte abschließen. »Aber Anders, du bist wohl nicht ganz normal«, sagte Kalle, als er auf das Papier sah. »Das kannst du doch nicht schreiben!« »Kann ich nicht?« fragte Anders zögernd. Er legte den Kopf auf die Seite und dachte nach. Möglicherweise hatte Kalle recht. Man konnte den Zettel vielleicht mißverstehen. Er riß ihn ab, lief in die Werkstatt zurück und schrieb einen neuen. Den heftete er dann an die Tür und ging rasch davon. Kalle folgte seinem Chef. Frau Magnussen kam bald darauf über die Straße, um ihre neubesohlten Schuhe abzuholen. Sie blieb stehen und las mit vor Verwunderung kugelrunden Augen: AUS ANLASS DES PASSENDEN WETTERS   BLEIBT DIESE WERKSTATT HEUTE GESCHLOSSEN Frau Magnussen schüttelte den Kopf. Richtig bei Troste war er ja nie gewesen, der Schuhmacher, aber jetzt war er bestimmt übergeschnappt. »Passenden Wetters« – hatte man so etwas schon gehört? Anders eilte zur Prärie. Äußerst unwillig folgte ihm Kalle. Er hatte nicht die geringste Lust, dorthin zu gehen. Anders aber wollte wissen, daß die Polizei schon unruhig auf Kalles Hilfe wartete. Sicher hatte Anders Kalle seiner Grillen wegen gehän-selt, aber das vergaß er, da ja jetzt ein akuter Kriminalfall tatsächlich eingetreten war. Jetzt entsann er sich nur des bemerkenswerten Einsatzes von Kalle im vorigen Jahr. Es war unbe-streitbar Kalles Verdienst gewesen, daß die drei Juwelendiebe verhaftet worden waren. Ja, Kalle war ein hervorragender Detektiv, und Anders erkannte diese Überlegenheit willig an. Und er war überzeugt, daß auch die Polizei so dachte. »Du verstehst doch, die müssen sich ja freuen, wenn du dich ihnen zur Verfügung stellst«, sagte er. »Im Handumdrehen wirst du das Rätsel lösen. Und ich werde dein Gehilfe.« Kalle war in der Zwickmühle. Er konnte Anders nicht eingestehen, daß er nur Phantasiemorde vollendet aufklären konnte und daß er es einfach entsetzlich fand, jetzt mit einem richtigen Mord in Berührung zu kommen. Er schleppte die Beine immer langsamer nach, so daß Anders unruhig und ungeduldig wurde. »Beeile dich«, sagte er. »Jede Sekunde ist kostbar in solch einem Fall. Das müßtest du doch am besten wissen!« »Ach, ich glaube, wir lassen die Polizei das allein machen«, sagte Kalle, um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. »Das sagst du?« rief Anders ganz verstört. »Wo du genau weißt, wie die alle Sachen und Dinge verwechseln! Das hast du selbst oft genug gesagt. Sei nicht dumm und komm mit.« Er nahm den widerstrebenden Meisterdetektiv an die Hand und zog ihn hinter sich her. Langsam kamen sie zu dem abge-sperrten Gebiet. »Du«, sagte Anders, »weißt du, was los ist?« »Nein, was denn?« »Der Großmummrich ist umzingelt! Wenn die Roten ihn haben wollen, müssen sie erst die Polizei überwältigen.« Kalle nickte nachdenklich. Viel hatte der Großmummrich schon erlebt, aber es war das erste Mal, daß er unter Polizei-schutz stand. Schutzmann Björk patrouillierte bei der Absperrung, und Anders ging geradewegs auf ihn zu. Er zog Kalle mit sich und stellte ihn vor Björk hin, so wie ein Hund einen apportierten Gegenstand hinlegt und dann auf ein Lob wartet. »Onkel Björk, hier ist Kalle«, sagte er erwartungsvoll. »Das sehe ich«, sagte Björk. »Und was will Kalle?« »Lassen Sie ihn durch, damit er losschnüffeln kann«, forderte Anders. »Den Tatort des Verbrechens untersuchen …« Aber Björk schüttelte den Kopf. Er sah ungemein amtlich aus. »Macht euch nach Hause, Jungen«, sagte er. »Geht nach Hause. Dankt Gott, daß ihr noch so klein seid und von alledem nichts begreift.« Kalle errötete. Er begriff sehr gut. Er begriff, daß hier kein Platz war für den Meisterdetektiv mit den scharfgeschnittenen Gesichtszügen und den großen Worten. Wenn er das doch nur auch Anders begreiflich machen könnte! »Typisch«, sagte Anders verbittert, als sie nach der Stadt zurückwanderten. »Und wenn du, seit Kain den Abel erschlug, jeden einzigen Mord aufgeklärt hättest – die würden niemals zugeben, daß ein Privatdetektiv etwas taugt.« Kalle schüttelte sich vor Unbehagen. So ungefähr hatte er selbst viele Male geredet. Er wünschte von ganzem Herzen, daß Anders das Gesprächsthema wechseln möge. Aber Anders fuhr fort: »Früher oder später fährt sich die Polizei sicher fest. Bitte, versprich mir, daß du den Fall dann nicht eher übernimmst, bevor sie dich auf den Knien darum bitten!« Das versprach Kalle bereitwilligst. Wehmütig wanderten sie weiter der Stadt zu. Sixtus, Benka und Jonte waren auch auf dem Heimweg von der Prärie. Vor einer Stunde hatte die furchtbare Nachricht sie erreicht, und sie waren auch zur Prärie gestürzt –nur um enttäuscht festzustellen, daß es ebensogut war, wieder nach Hause zu gehen. Gerade als sie zu diesem Entschluß gekommen waren, trafen sie Anders und Kalle. Heute tauschten die Weißen und die Roten keine Gehässig-keiten miteinander. Die gewaltigen Krieger waren alle ziemlich still und sahen um die Nasen recht blaß aus. Gemeinsam trabten sie zur Stadt zurück und dachten mehr an den Tod, als sie es bisher in ihrem Jungenleben getan hatten. Sie fühlten tiefes Mitleid mit Eva-Lotte. »Leid tut sie mir, wahrhaftig«, sagte Sixtus. »Sie sagen, daß sie total mit den Nerven runter ist. Liegt bloß da und heult.« Anders wurde davon beinahe mehr ergriffen als von der übrigen Scheußlichkeit. Er schluckte einige Male. Es war ja seine Schuld, wenn Eva-Lotte dalag und heulte. »Man müßte sich wohl um sie kümmern«, sagte er schließlich, »’ne Blume hinschicken oder so was …« Die andern vier starrten ihn an, als ob sie ihren Ohren nicht trauten. War die Situation wirklich so ernst? Dem Mädchen Blumen schicken – er mußte davon überzeugt sein, daß Eva-Lotte verloren war. Aber je länger sie darüber nachdachten, desto nobler schien ihnen der Vorschlag. Eva-Lotte sollte eine Blume haben. Sie war es, ehrlich gesagt, wert. Sixtus ging tief ergriffen nach Hause und klaute eine von den roten Pelargonien seiner Mutter, und, den Blumentopf zwischen sich tragend, zogen sie alle fünf zu Bäckermeisters. Eva-Lotte schlief und durfte nicht gestört werden. Aber ihre Mutter nahm ihnen die Pelargonie ab und stellte die Gabe der fünf in Eva-Lottes Zimmer. Es war nicht die letzte Gabe, die Eva-Lotte für ihren Einsatz in diesem Drama bekommen sollte. NEUNTES KAPITEL Da saßen sie nun und warteten auf der Veranda, der nette Kriminalkommissar und Schutzmann Björk und noch einer. Es sei wichtig, daß das kleine Mädchen nicht nervös werde vor dem Verhör, meinte der Kommissar. Jedenfalls nicht noch nervöser, als sie schon war. Deshalb war es gut, Schutzmann Björk bei sich zu haben, der das Mädchen kannte. Und um dem ganzen Verhör den Charakter eines freundlichen kleinen Gesprächs zu geben, sollte es hier, in der Wohnung bei dem Mädchen, stattfinden, hier auf der sonnigen Veranda und nicht auf dem Polizeirevier. Eine fremde Umgebung wirkt immer beunruhigend auf Kinder, fand der Kommissar. Während sie warteten, brachte Frau Lisander starken Kaffee und frisches Gebäck. Es war ein wundervoller Morgen. Die Luft war frisch und klar nach dem gestrigen Gewitter. Die Rosen in des Bäckermeisters Garten sahen wie frisch gewaschen aus, und die Meisen und Buchfinken zwitscherten munter in dem alten Apfelbaum. Der Kommissar nahm das dritte Gebäckstück und sagte: »Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, daß wir sehr viel aus dem Mädchen herausholen werden – hieß sie nicht Eva-Lotte? Ich glaube nicht, daß ihre Aussagen uns bedeutend weiterbringen werden. Kinder können nicht sachlich beobachten. Sie phantasieren zuviel.« »Eva-Lotte ist aber recht sachlich«, sagte Schutzmann Björk. Bäckermeister Lisander erschien auf der Veranda. Er hatte eine kleine Falte auf der Stirn, die sonst nie dort zu sehen war. Diese Falte bedeutete, daß er um sein einziges, geliebtes Kind in Sorge war. »Sie kommt jetzt«, sagte er kurz. »Darf ich bei dem Verhör zugegen sein?« Nach einigem Zögern willigte der Kommissar ein. Bedingung war allerdings, daß der Bäckermeister sich absolut still verhielt und auf keine Weise in das Verhör eingriff. »Na ja, es ist übrigens nicht schlecht, wenn das Mädchen ihren Vater hier sieht. Es wird sie beruhigen. Könnte ja sein, daß sie Angst vor mir hat.« »Warum sollte ich«, sagte eine ruhige Stimme von der Tür her, und Eva-Lotte kam in das Sonnenlicht hinaus. Sie sah den Kommissar aufmerksam an. Warum sollte sie Angst vor ihm haben? Eva-Lotte hatte keine Angst vor Menschen. Nach ihrer Erfahrung waren die Menschen nett und freundlich und wollten einem wohl. Es war erst seit gestern, daß sie im Ernst verstanden hatte, es könne auch böse Menschen geben. Sie sah aber nicht ein, weshalb sie auch den Kriminalkommissar dazu rechnen sollte. Sie wußte, er war hier, weil er hier sein mußte. Sie wußte, daß sie ihm alles von dem Entsetzlichen drau- ßen auf der Prärie erzählen mußte, und sie war bereit, es zu tun. Warum also sollte sie Angst haben? »Guten Morgen, kleine Lisa-Lotte«, sagte der Kommissar hastig. »Eva-Lotte«, sagte sie. »Guten Morgen!« »Ach ja, natürlich – Eva-Lotte! Komm und setz dich hierher, Eva-Lotte. Wir wollen ein wenig miteinander reden. Es wird nicht lange dauern. Und dann kannst du gleich wieder mit deinen Puppen spielen.« Das sagte er zu Eva-Lotte, die sich so alt vorkam, beinahe wie sechzehn! »Ich habe schon vor zehn Jahren aufgehört, mit Puppen zu spielen«, sagte sie aufklärend. Schutzmann Björk hatte recht – das war tatsächlich ein sachliches Kind. Der Kommissar verstand: Hier mußte er einen anderen Ton finden und Eva-Lotte wie eine Erwachsene behan-deln. »Erzähle mir nun alles«, sagte er. »Du warst also bei dem Mor… also draußen auf der Prärie? Wie kam es eigentlich, daß du gestern mittag so ganz allein dorthin gegangen bist?« Eva-Lotte kniff die Lippen zusammen. »Das … das darf ich nicht sagen. Das ist vollkommen geheim. Ich war draußen in geheimem Auftrag.« »Kind … komm«, sagte der Kommissar. »Wir versuchen doch, einen Mord aufzuklären. Da gibt es nichts, was geheim ist. Was solltest du also gestern beim Herrenhof draußen tun?« »Ich sollte den Großmummrich holen«, sagte Eva-Lotte widerstrebend. Es war eine ziemlich eingehende Aufklärung nötig, bis der Kommissar endlich begriff, was ein Großmummrich war. »Hast du dort irgendeinen Menschen gesehen?« wollte der Kommissar wissen, nachdem das Rätsel des Großmummrich geklärt war. »Ja«, sagte Eva-Lotte. »Ich sah … Gren … und noch einen.« Der Kommissar wurde lebhaft: »Erzähle ganz genau, wie und wo du sie gesehen hast!« Und Eva-Lotte erzählte. Wie sie Gren aus ungefähr hundert Meter Entfernung von hinten gesehen hatte … »Halt«, unterbrach der Kommissar. »Wie konntest du dann sehen, daß es Gren war?« »Man merkt, Herr Kommissar, daß Sie nicht aus unserer Stadt sind«, sagte Eva-Lotte. »Jeder Mensch hier würde Gren sofort an seinem Gang erkennen. Stimmt das, Onkel Björk?« Björk bestätigte es. Eva-Lotte setzte ihren Bericht fort. Wie sie Gren in den Pfad hatte einbiegen sehen und wie er in den Büschen verschwand. Wie der mit den dunkelgrünen Gabardinehosen von der anderen Seite gekommen war und auf demselben Pfad verschwunden sei. »Hast du eine Ahnung, wie spät es da wohl war?« fragte der Kommissar, obwohl er doch wußte, daß Kinder selten sachliche Beobachtungen machen konnten. »Halb eins«, antwortete Eva-Lotte schnell. »Woher weißt du das? Hast du auf die Uhr gesehen?« »Nein«, sagte Eva-Lotte und wurde blaß. »Aber ich habe den Mör… den Mörder danach gefragt – ungefähr eine Viertelstunde später.« Der Kommissar sah seine Kollegen an. Hatten sie so etwas schon erlebt? Dies Verhör schien doch wertvoller zu werden, als er es sich vorgestellt hatte. Er beugte sich nach vorn und sah Eva-Lotte durchbohrend in die Augen: »Du hast den Mörder gefragt, sagst du? Wagst du wirklich zu behaupten, du wüßtest, wer Gren ermordet hat? Hast du vielleicht auch gesehen, wie es geschah?« »Nein«, sagte Eva-Lotte, »aber wenn ich sehe, wie erst ein Mensch zwischen Büschen verschwindet und gleich danach ein anderer Mensch auch dorthin verschwindet und ich nach kurzer Zeit den zuerst erwähnten Menschen dort tot vorfinde, dann kann es nur eins geben: Ich muß den anderen, den übriggebliebenen Menschen, verdächtigen. Gren kann natürlich auch gestürzt und dadurch umgekommen sein. Aber das muß man mir erst beweisen.« Björk hatte recht. Das hier war wirklich ein unglaublich sachliches Kind. Sie berichtete weiter, wie sie, als sie die beiden Männer dorthin hatte verschwinden sehen, wo der Großmummrich lag, in den Herrenhof gegangen war, um sich die Wartezeit zu vertreiben, und daß sie dort höchstens eine Viertelstunde geblieben war. »Und danach?« fragte der Kommissar. Eva-Lottes Augen verengten sich. Sie sahen gequält aus. Das, was jetzt kommen sollte, war am schwersten zu erzählen. »Ich prallte genau auf ihn – da auf dem kleinen Pfad«, flüsterte sie. »Ich fragte ihn, wie spät es sei, und er sagte: ›Viertel vor eins‹.« Der Kommissar sah zufrieden aus. Der Gerichtsarzt hatte als den Zeitpunkt der Tat die Zeit etwa zwischen zwölf und zwei festgesetzt. Die Angaben der Kleinen aber machten es möglich, die Zeit genau festzulegen: etwa zwischen halb eins und Viertel vor eins. Diese Tatsache konnte wichtig werden. Bestimmt, Eva-Lotte war ein unschätzbarer Zeuge! Er fragte weiter: »Wie sah der Mann aus? Erzähle alles, wor-an du dich erinnern kannst. Alle Einzelheiten.« Eva-Lotte holte wieder die dunkelgrünen Gabardinehosen hervor. Dann das weiße Hemd. Und den dunkelroten Schlips. Die Armbanduhr. Eine ganze Menge schwarzer Haare auf den Händen. »Wie sah er im Gesicht aus?« wollte der Kommissar wissen. »Er hatte einen Schnurrbart«, antwortete Eva-Lotte. »Und langes schwarzes Haar, das ihm in die Stirn hing. So sehr alt war er nicht. Er sah gut aus. Aber ängstlich und böse. Er lief von mir fort, so schnell er konnte. Er hatte es so eilig, daß er einen Revers verlor – und das hat er nicht einmal bemerkt.« Der Kommissar hielt einen Moment den Atem an. Dann stieß er hervor: »Um Himmels willen, was sagst du da? Was hat er verloren?« »Einen Revers«, sagte Eva-Lotte stolz. »Wissen Sie nicht, was das ist, Herr Kommissar? Das ist nur ein kleines Stück Papier, und ganz oben steht ›Revers‹ drauf. Ich sage Ihnen, das ist nichts als ein kleines Stück Papier. Aber die Menschen, glauben Sie mir, machen oft viel Wesens um solche Reverse.« Der Kommissar sah erneut seine Kollegen an. Die gestrigen Vernehmungen bei Grens Nachbarn oben auf dem Rackerberg hatten ja klar ergeben, daß Gren als lohnenden Nebenverdienst einen kleinen Wucher betrieb. Viele hatten bemerkt, daß er abends in seinem Haus geheimnisvolle Besucher empfangen hatte – allerdings nicht oft. Gewiß hatte er es vorgezogen, seine Kunden irgendwo in der Umgebung der Stadt zu treffen. Bei der Haussuchung hatte man eine ganze Menge Reverse gefunden, mit verschiedenen Namen unterzeichnet. Alle Namen waren notiert worden, und man bereitete sich darauf vor, notfalls alle geheimnisvollen Kunden von Gren aufzuspüren. Einer von ihnen konnte der Mörder sein. Der Kommissar hatte sofort den Gedanken gehabt, daß sich einer von ihnen durch den Mord aus der Geldverlegenheit, in die er durch Gren hineingepreßt war, hatte retten wollen. Das mußte das Motiv zu dem Verbrechen sein. Aber so etwas tat niemand, wenn er nicht sicher war, sämtliche Papiere an sich bringen zu können, die für ihn verräterisch werden konnten. Und nun saß das Mädchen hier und erzählte, daß der Mörder dort zwischen den Büschen einen Revers verloren hatte. Einen Revers, auf dem sein Name stand! Einen Revers mit dem Namen des Mörders … Der Kommissar war so erregt, daß seine Stimme zitterte, als er sich zu Eva-Lotte vorbeugte: »Hast du den Revers aufgehoben?« »Ja, natürlich«, sagte Eva-Lotte. »Was hast du damit gemacht?« Der Kommissar hielt wieder den Atem an. Eva-Lotte dachte nach. Es war totenstill, während sie nachdachte. Nur die Buchfinken und Meisen setzten ihr Konzert im Apfelbaum fort. »Das weiß ich nicht mehr«, brachte Eva-Lotte schließlich langsam hervor. Der Kommissar stöhnte leise. »Aber ich sage Ihnen ja, das war nichts weiter als nur so ein kleines Stück Papier«, wiederholte Eva-Lotte, um ihn zu trösten. Da nahm der Kommissar ihre Hand und erklärte ihr langsam und deutlich, daß ein Revers ein recht wichtiges Stück Papier sei, auf dem man anerkannte, daß man sich von jemand Geld geborgt hatte und daß man nun verpflichtet war, dies geborgte Geld auch wieder zurückzuzahlen. Und das bekräftigte man, indem man unter den Revers seinen Namen schrieb. Der Mann, der Gren ermordet hatte, hatte das bestimmt getan, weil er eben kein Geld besaß, um das geborgte zurückzuzahlen. Kaltblütig hatte er einen Menschen umgebracht, um seine Reverse zurück-zubekommen, auf denen er seine Schulden an Gren einmal anerkannt hatte. Dieses Stück Papier, das Eva-Lotte für so un-wichtig hielt, war so ein Schuldschein, so ein Revers. Und sein Name mußte auf dem Papier gestanden haben, das er auf dem Pfad verloren hatte. Verstand Eva-Lotte nun, wie wichtig es war und daß sie einfach gezwungen war, sich zu erinnern, was sie mit dem Revers – mit dem Schuldschein – gemacht hatte? Das verstand Eva-Lotte, und sie bemühte sich wirklich. Sie erinnerte sich, wie sie dagestanden hatte mit dem Schuldschein in der Hand. Sie erinnerte sich, daß gerade da ein furchtbarer Donner gekracht hatte. Aber an mehr erinnerte sie sich nicht. Wohl an das Schreckliche nachher. Aber von dem Schuldschein wußte sie nicht ein bißchen mehr. Enttäuscht bekannte sie das dem Kommissar. »Und den Namen, der darauf stand, den hast du nicht zufällig gelesen?« forschte der Kommissar. »Nein, das habe ich nicht«, sagte Eva-Lotte. Der Kommissar seufzte. In Gedanken aber sagte er sich: So leicht darf die Arbeit eines Polizeimannes ja auch nicht sein. Dies Verhör mit dem Mädchen hatte trotzdem viel ergeben. Man konnte wirklich nicht verlangen, nun auch noch den Namen des Mörders als Gratiszugabe zu bekommen. Bevor er mit Eva-Lotte weitersprach, gab er telefonisch den Befehl an das Polizeirevier, jedes Stück der Prärie zu untersuchen. Gewiß war der Tatort selbst sehr genau untersucht worden; aber ein Stück Papier konnte weit weg geweht werden. Und der Schuldschein sollte und mußte gefunden werden. Anschließend erzählte Eva-Lotte, wie sie Gren gefunden hatte. Sie schluckte wiederholt und sprach jetzt sehr, sehr leise. Und ihr Vater bedeckte sein Gesicht mit den Händen, um den ver- ängstigten Ausdruck in ihren Augen nicht sehen zu müssen. Aber nun mußte das Ganze wohl bald zu Ende sein. Der Kommissar hatte nur noch einige Fragen zu stellen. Eva-Lotte hatte beteuert, der Mörder könne unmöglich aus dieser Stadt sein, sie hätte ihn sonst bestimmt gekannt. Und nun fragte der Kommissar sie: »Glaubst du, daß du ihn wiedererkennen könntest, wenn du ihn noch einmal sehen würdest?« »Ja«, sagte Eva-Lotte langsam, »unter Tausenden würde ich ihn wiedererkennen.« »Und du hast ihn vorher nie gesehen?« »Nein«, sagte Eva-Lotte. Sie bedachte sich einen Augenblick. »Doch – teilweise …« setzte sie dann hinzu. Der Kommissar riß die Augen auf. Dies Verhör war voller Überraschungen. »Was meinst du mit ›teilweise‹?« »Ich habe früher schon von ihm seine Hosen gesehen«, sagte sie widerstrebend. »Das mußt du mir näher erklären.« Eva-Lotte zierte sich. »Muß ich das?« »Du weißt doch, daß du es mußt. Wo hingen also seine Hosen?« »Sie hingen nicht«, sagte Eva-Lotte. »Sie sahen unter einer Jalousie hervor. Er hatte sie an.« Der Kommissar griff schnell nach einem übriggebliebenen Stück Kaffeegebäck. Er fühlte, daß er etwas Stärkendes nötig hatte. Und er überlegte, ob Eva-Lotte wirklich so sachlich war, wie es zuerst den Anschein gehabt hatte. Fing sie nun nicht doch an zu phantasieren? »Also«, sagte er, »die Hosen des Mörders sahen unter einer Jalousie hervor. Wessen Jalousie?« »Natürlich Grens.« »Und du? Wo warst du?« »Ich war draußen auf der Leiter. Kalle und ich waren dort. Am Dienstagabend nach neun Uhr.« Der Kommissar hatte keine Kinder, und in diesem Augenblick stieg ein frohes und dankbares Gefühl dafür in ihm auf. »Was in aller Welt habt ihr am Dienstagabend auf Grens Leiter gemacht?« fragte er, setzte aber gleich hinzu, wohl um seine neue Weisheit anzubringen: »Ach so, ich verstehe. Es war natürlich wieder irgend so ein Großmummrich, hinter dem ihr her wart.« Es lag etwas wie Verachtung in Eva-Lottes Blick, als sie ihn fest ansah und sagte: »Herr Kommissar, Sie glauben wohl, Großmummriche wachsen auf den Bäumen. Aber es gibt nur einen Großmummrich – in Ewigkeit – Amen.« Dann berichtete sie von dem Nachtmarsch über Grens Dach. Der arme Bäckermeister schüttelte kummervoll sein Haupt, als er davon hörte. Und da sagen die Leute, für Eltern sei es so viel friedlicher, Mädchen zu haben … »Woher wußtest du, daß es die Hosen des Mörders waren, die du sahst?« staunte der Kommissar. »Das wußte ich gar nicht«, sagte Eva-Lotte. »Hätte ich das gewußt, wäre ich hineingegangen und hätte ihn verhaftet.« »Ja, aber sagtest du nicht …« wandte der Kommissar betreten ein. »Nein, das habe ich mir nachher ausgerechnet«, beteuerte Eva-Lotte. »Ich hörte doch, wie sie sich da drinnen im Zimmer über diese Reverse zankten und wie der in den Hosen sagte: ›Wir treffen uns am Mittwoch an der gewohnten Stelle! Bringen Sie dann meine Reverse mit!‹ Und nun rechnen Sie sich doch einmal selbst aus, mit wie vielen dunkelgrünen Gabardinehosen konnte Gren sich wohl am Mittwoch treffen?« Der Kommissar war überzeugt davon, daß Eva-Lotte recht hatte. Das Puzzlespiel ging auf. Alles war jetzt klar: das Motiv, der Zeitpunkt, die Tat selbst. Es blieb nur noch eine Kleinigkeit übrig: den Mörder zu verhaften. Der Kommissar erhob sich und tätschelte Eva-Lotte das Kinn. »Vielen Dank auch«. sagte er. »Du bist sehr tüchtig gewesen. Du hast uns mehr geholfen, als du, wie ich glaube, selbst verstehst. Vergiß nun alles wieder.« »Danke«, sagte Eva-Lotte. Dann wandte sich der Kommissar an Schutzmann Björk. »Nun müssen wir noch diesen Kalle erwischen«, sagte er, »damit er uns Eva-Lottes Aussagen über die Geschehnisse am Dienstagabend bestätigt. Wo finden wir ihn?« »Hier«, sagte eine sichere Stimme vom Balkon über der Veranda. Der Kommissar sah erstaunt dort hinauf und bemerkte zwei Köpfe, einen dunklen und einen hellen, die über dem Bal-kongeländer hervorlugten. Ritter der Weißen Rose können einen Kameraden während eines Polizeiverhörs oder während anderer Prüfungen nicht im Stich lassen. Ebenso wie der Bäckermeister hatten auch Kalle und Anders den Wunsch gehabt, bei dem Verhör zugegen zu sein. Aber um der Sicherheit willen fanden sie, daß es klüger war, vorher nicht erst um Erlaubnis zu fragen. ZEHNTES KAPITEL Auf den ersten Seiten aller Zeitungen des Landes nahm der Mord einen großen Platz ein, und auch Eva-Lottes Aussage wurde besonders erwähnt. Ihr Name wurde nicht genannt, aber es wurden viele Worte gemacht über »die tüchtige Vierzehnjährige«, die so gründlich ihre Beobachtungen am Tatort wieder-gegeben und damit der Polizei wichtige Hinweise vermittelt hatte. Die Ortszeitung war nicht so verschwiegen, wenn es Namen galt. In der kleinen Stadt wußte ja sowieso jeder, daß die tüchtige Vierzehnjährige Eva-Lotte Lisander war, und der Redakteur sah nicht ein, was ihn hindern sollte, über alles ausführlich und mit vollem Namen zu berichten. Eine so prachtvolle Möglichkeit zu schreiben hatte er lange nicht gehabt, und das nutzte er aus. Er schrieb einen langen, überschwenglichen Artikel über »die kleine, niedliche Eva-Lotte, die heute wieder zwischen den Blumen in der Eltern Garten spielt und aussieht, als habe sie all die schrecklichen Erlebnisse des Mittwochs dort draußen auf der stürmischen Prärie wieder vergessen«. Der Redakteur breitete vor dem Leser in den weiteren Sätzen aus, wie tüchtig Eva-Lotte gewesen war, wie genau sie den Mörder beobachtet und beschrieben hatte. Das heißt, er schrieb nicht wirklich »der Mörder«, sondern »der Mann, bei dem man die Lösung dieses furchtbaren Geheimnisses vermutet«. Er erwähnte auch, daß Eva-Lotte den Unbekannten wiedererkennen würde, falls sie ihn sähe, und er wies hochtrabend besonders darauf hin, daß die kleine Eva-Lotte möglicherweise ein Werkzeug sei, durch das eines Tages der Verbrecher seiner wohlver-dienten Strafe zugeführt werden könne. Ja, er schrieb tatsächlich alles, was er eigentlich nicht hätte schreiben dürfen. Ein sehr bekümmerter Schutzmann Björk gab dem Kommissar auf dem Polizeirevier ein Exemplar der Zeitung, noch feucht von Druckerschwärze. Der Kommissar las, und dann brüllte er: »Es ist eine Schweinerei, so etwas zu schreiben! Ehrlich gesagt: eine glatte Schweinerei!« Bäckermeister Lisander gebrauchte noch wesentlich kräftige-re Ausdrücke, als er eine Stunde später in die Redaktion der Zeitung stürmte. Die Adern auf seiner Stirn Waren vor Wut ge-schwollen, und er schlug mit der Faust auf den Tisch des Redakteurs. »Begreifst du nicht, daß es verbrecherisch ist, so zu schreiben?« schrie er. »Begreifst du denn gar nicht, wie gefährlich das für meine Tochter werden kann?« Nein, darüber hatte der Redakteur sich keine Gedanken gemacht. Wieso gefährlich? »Mach dich nicht dümmer, als du schon bist! Das ist nicht nötig, weißt du«, polterte der Bäckermeister weiter. »Begreifst du nicht, daß ein Kerl, der einmal morden kann, das sehr gut auch ein zweites Mal fertigbringt, wenn er glaubt, daß es für ihn notwendig ist? Und deshalb ist es ein sträflicher Leichtsinn von dir, den Namen und die Adresse von Eva-Lotte anzugeben. Hättest du nicht auch noch die Telefonnummer bekanntmachen können? Dann hätte der Kerl vorher anrufen und die Zeit verabreden können!« Auch Eva-Lotte fand, daß der Artikel verbrecherisch war, zumindest einzelne Teile davon. Sie saß mit Anders und Kalle zusammen auf dem Bäckereiboden und las: »Die kleine, niedliche Eva-Lotte, die heute wieder zwischen den Blumen in der Eltern Garten …« »Himmel, mich beißt der Affe! Darf man denn so irrsinnig sein, wie man will, wenn man in der Zeitung schreibt?« Kalle nahm ihr die Zeitung weg und las den ganzen Artikel und schüttelte dann besorgt den Kopf. So viel Detektiv war er ja auf jeden Fall, daß er verstehen konnte, wie wahnwitzig dieser Artikel war. Den anderen aber sagte er davon nichts. In einem hatte der Redakteur allerdings recht: damit, daß Eva-Lotte ihre schrecklichen Abenteuer anscheinend vergessen hatte. Glücklicherweise hatte sie die Begabung junger Gemüter, Dinge, die ihnen unbehaglich sind, beinahe von einem Tag auf den anderen auszulöschen. Nur wenn der Abend kam und sie in ihrem Bett lag, hielten die Gedanken sich schwer von dem Geschehenen fern, das sie vergessen wollte. In den ersten Nächten schlief sie unruhig, und zuweilen schrie sie im Schlaf auf, so daß ihre Mutter kommen mußte, um sie zu beruhigen. Im klaren Sonnenschein des Tages aber war Eva-Lotte ruhig und froh wie zuvor. Dem Krieg der Rosen konnte sie auch nicht lange fernblei-ben. Sie fühlte selbst: Je wilder die Spiele waren, in die sie sich warf, um so schneller würde all das andere in ihrem Unterbe-wußtsein versinken. Die Polizeisperre draußen am Herrenhof hatte aufgehört. Aber bereits vorher war der Großmummrich von dort weggeholt worden. Schutzmann Björk hatte den ehrenvollen Auftrag bekommen, ihn aus der Sperrzone zu holen. Nach dem Verhör auf der Veranda, als die Existenz des Großmummrich verraten werden mußte, nahm Anders Björk beiseite und fragte ihn, ob er nicht so nett sein wollte, den Großmummrich aus der Gefangenschaft zu befreien. Björk tat das gern. Ehrlich gesagt, er war sogar sehr interessiert daran, einmal zu sehen, wie ein Großmummrich aussah. So geschah es, daß der Großmummrich unter Polizeieskorte von seinem unheimlichen Aufbewahrungsort fortgebracht und dem Chef der Weißen Rose übergeben wurde. Und jetzt lag er in einer der Kommodenschubladen oben auf dem Bäckereiboden, wo die Weißen ihre Heiligtümer zu verwahren pflegten. Dieser Platz war aber nur ein vorläufiger, denn der Großmummrich sollte erneut verlegt werden. Anders fand nach längerem Nachdenken die Idee, ihn bei dem Brunnen oben im Schloßhof zu verstecken, gar nicht mehr so gut. »Ich wünsche ihn mir an einem spannenderen Platz«, sagte er. »Armer Großmummrich«, meinte Eva-Lotte. »Ich finde, sein letzter Platz war gerade spannend genug.« »Nein … ich meine eine andere Art von spannendem Platz«, sagte Anders. Er zog die Schublade auf und betrachtete zärtlich den Großmummrich, wie er da auf Watte in einer Zigarrenkiste lag. »Vieles sahen deine weisen Augen schon, o du Großmummrich«, flüsterte er. Und mehr als je zuvor war er überzeugt von der magischen Kraft des Heiligtums. »Ich weiß etwas«, sagte Kalle. »Wir geben ihn einem der Rötlichen!« »Was meinst du damit?« fuhr Eva-Lotte auf. »Sollen wir ihn etwa freiwillig an die Roten zurückgeben?« »Nein«, beruhigte Kalle. »Wir verstecken ihn bei einem von ihnen. Sie sollen ihn eine Zeitlang haben dürfen, ohne es zu wissen. Und wenn sie von ihm nichts wissen, ist es doch genauso, als hätten sie ihn nicht. Und denkt nur, wie wild die werden, wenn wir es ihnen nachher erzählen!« Anders und Eva-Lotte sahen ein, daß dieser Einfall genial war. Nach einem hinreißenden Wortwechsel über die verschiedenen Möglichkeiten wurde bestimmt, daß der Großmummrich in Sixtus’ Zimmer versteckt werden sollte, und sie beschlossen, sofort dorthin zu gehen, um einen passenden Platz ausfindig zu machen. Schnellstens ließen sie sich am Seil hinunter, und mit Windeseile ging es zum Hauptquartier der Roten in Sixtus’ Garage. Ziemlich atemlos kamen sie bei der Postdirektorsvilla an. Sixtus, Benka und Jonte saßen im Garten und tranken Fruchtsaft, als die Weißen hineinstürmten. Anders verkündete die frohe Botschaft, daß Eva-Lotte nicht länger den Dienst mit der Waffe verweigere und daß deshalb der Krieg der Rosen erneut ausbre-chen könne. Die Roten hörten diese Botschaft voll innerer Zufriedenheit. Eva-Lottes Entschluß, fraulicher zu werden, hatte tiefe Miß-stimmung bei ihnen hervorgerufen, und etwas Langweiligeres als die letzten Tage hatten sie noch nicht erlebt. Gastfreundlich bot Sixtus den Feinden Platz und Fruchtsaft an. Die Feinde ließen sich dazu nicht zweimal auffordern – aber Anders sagte, listig wie eine Schlange: »Könnten wir den Fruchtsaft nicht oben in deinem Zimmer trinken, Sixtus?« »Was ist los mit dir, hast du einen Sonnenstich?« fragte ihn sein Gastgeber herzlich. »Oben sitzen, bei dem wunderbaren Wetter?« Sie tranken den Fruchtsaft draußen in dem wunderbaren Wetter. »Ich hätte mir gern dein Luftgewehr angesehen«, bat Kalle dann. Dieses Luftgewehr hing immer an der Wand in Sixtus’ Zimmer und war sein kostbarster Besitz. Er hatte es gezeigt und gezeigt und gezeigt, bis es schon zur Landplage geworden war. Es gab auf der Welt für Kalle nichts Langweiligeres anzusehen als dieses Luftgewehr. Aber jetzt galt es eine gute Sache. Sixtus sprang auf. »Mein Luftgewehr möchtest du sehen?« fragte er erfreut. »Natürlich kannst du das!« Und er lief in die Garage und holte es. »Was ist denn nun los?« sagte Kalle mißmutig, »Hast du das Luftgewehr jetzt in der Garage?« »Schön, nicht? Ein Glück, daß ich es so schnell zur Hand habe!« sagte Sixtus und begann, Kalle seinen Schatz umständlich zu erklären. Anders und Eva-Lotte lachten, daß sie beinahe erstickten. Eva-Lotte sah ein: Wenn sie heute überhaupt noch in Sixtus’ Zimmer kommen wollten, war weibliche List nötig. Sie sah zu Sixtus’ Fenster hoch und meinte unschuldig: »Du hast doch sicher eine prima Aussicht von deinem Fenster – wie?« »Ja, da kannst du, was du willst, draus sehen«, bestätigte Sixtus stolz. »Kann ich verstehen«, sagte Eva-Lotte. »Wenn die Bäume dort nicht so hoch wären, könntest du beinahe den Wasserturm sehen.« »Ich kann doch wohl zum Kuckuck den Wasserturm sehen!« empörte sich Sixtus. »Ja, beim Kuckuck kann er den Wasserturm sehen«, bestätigte Benka, hilfsbereit wie immer. »Kann er?« fragte Eva-Lotte. »Das mußt du mir nicht einre-den wollen.« »Lauter Lügen!« sagten Kalle und Anders mit brennender Überzeugung in den Stimmen. »Er kann den Wasserturm einfach nicht sehen, bestimmt nicht!« »Bestimmt nicht«, äffte Sixtus nach. »Kommt bloß mit rauf! Dann will ich euch Wassertürme zeigen, daß euch der Hut hochgeht, ihr blinden Bumsköpfe!« Er ging voran, und alle sechs zogen ins Haus. Ein großer Hund, der im schattigen Vorraum auf dem Boden lag, sprang hoch und bellte, als sie kamen. »Gut, gut, Beppo!« sagte Sixtus. »Das hier sind doch nur ein paar minderbegabte Idioten, die den Wasserturm sehen wollen.« Sie stiegen die Treppe empor in Sixtus’ Zimmer, und er führte sie im Triumph an das Fenster. »Da!« sagte er stolz. »So etwas nenne ich immer noch einen Wasserturm. Ihr könnt das meinetwegen einen Glockenturm oder sonstwie nennen.« »Das hat gesessen, was?« meinte Jonte. »Hm, tatsächlich«, sagte Eva-Lotte mit einem verächtlichen Lachen. »Du kannst den Wasserturm sehen. Bist du damit zufrieden?« »Was meinst du damit?« fragte Sixtus ärgerlich. »Ooch – ich meine nur so … Denk doch bloß mal an, einen Wasserturm sehen zu können …« Und sie lachte aufreizend. Anders und Kalle waren an der Aussicht gar nicht interessiert. Ihre Augen jagten statt dessen rund durch das Zimmer, eifrig nach einem passenden Versteck für den Großmummrich ausspähend. »Hübsches Zimmer hast du«, sagten sie zu Sixtus, als wären sie nicht schon mehr als hundertmal hier gewesen. Sie kreisten rings um das Zimmer, sie drückten sich an den Wänden und an Sixtus’ Bett herum, und wie zerstreut zogen sie die Schubladen seines Schreibtisches heraus. Eva-Lotte war eifrig damit beschäftigt, die anderen am Fenster aufzuhalten. Sie zeigte auf alles, was noch irgendwie vom Fenster aus zu erkennen war, und das war nicht wenig. Auf der Kommode stand Sixtus’ Globus. Anders und Kalle hatten zu gleicher Zeit den gleichen Einfall: der Globus, natürlich! Sie sahen sich in die Augen und nickten dann bekräftigend. Von früheren Besuchen bei Sixtus wußten sie, daß der Globus in zwei Hälften zu zerlegen war. Sixtus hatte das aus Spaß ab und zu getan, und der Globus war deshalb rund um den Äquator leicht beschädigt. Nach diesem Globus zu urteilen, waren grö- ßere Teile von Äquatorialafrika noch nicht erforscht – so viele weiße Flecken waren dort. Natürlich bestand das Risiko, daß Sixtus auf den Einfall kam, seine Weltkugel wieder einmal zu halbieren, und dann den Großmummrich fand, das sahen sowohl Anders als auch Kalle ein. Aber was wäre ein Krieg der Rosen gewesen, wenn man keine Gefahren hätte auf sich nehmen wollen? »Ich glaube, wir haben nun alles gesehen«, sagte Anders in unbestimmtem Tonfall zu Eva-Lotte, und sie verließ erleichtert ihren Platz am Fenster. »Ich denke, jetzt haben wir genug Aussichten gehabt. Mehr ist nicht nötig«, sagte Kalle und grinste zufrieden. »Kommt, wir hauen ab!« »Wow o?« fragte Eva-Lotte neugierig. »Gog lol o bob u sos« sagte Kalle schnell. »Fof ei non!« lobte Eva-Lotte. Sixtus glotzte sie wild und wütend an, als sie wieder zu roren anfingen, wie er es nannte. »Kommt wieder mal vorbei, wenn ihr mehr Wassertürme sehen wollt«, war schließlich alles, was er sagte. »Ja, tut das«, sagte Jonte und gönnte ihnen einen überlege-nen Blick aus seinen pfefferbraunen Augen. »Läusepudel«, meinte Benka zusammenfassend. Die Weißen Rosen gingen zur Tür. Sie quietschte jämmerlich, als sie sie öffneten. »Vornehmer Leute Türen quietschen, sagte die alte Mutter Pietschen …« deklamierte Anders. »Wie wäre es, wenn du das Gequietsche mal ein wenig schmieren würdest?« »Wie wäre es, wenn du nach Hause gehen und dir die Decke über den Kopf ziehen würdest?« sprach nun Sixtus in deklamie-rendem Ton. Die Weißen kehrten in ihr Hauptquartier zurück. Das Versteck war gefunden. Nun galt es zu überlegen, wann und wie der Großmummrich dorthin kommen sollte. »Wenn der Vollmond um Mitternacht leuchtet«, sagte Anders mit seiner tiefsten Stimme, »dann soll der Großmummrich an seinen neuen Ruheplatz geführt werden. Und hier steht der Mann, der es tun wird!« Eva-Lotte und Kalle nickten bestätigend. Es war natürlich ein Punkt mehr für die Weißen, wenn die Überführung des Großmummrichs in Sixtus’ Zimmer geschah, während Sixtus dort lag und schlief. »Das hört sich gut an«, meinte Eva-Lotte und reichte eine große Pralinenschachtel herum, die sie aus der Kommode geholt hatte. Sie konnte jetzt in Leckerbissen schwelgen, denn sie hatte Massen davon bekommen. Der Redakteur hatte richtig geschrieben: »Die kleine populäre Eva-Lotte kann in diesen Tagen Beweise der Anerkennung von allen Seiten entge-gennehmen. Bekannte und Unbekannte erinnern sich ihrer und senden ihr Geschenke. Bonbons, Schokolade, Spielsachen, Bücher –das ist nur eine kleine Auswahl von all den guten Dingen, die ihr der nette Briefträger Petersson täglich ins Haus trägt.« »Was machst du aber, wenn Sixtus aufwacht?« fragte Kalle. Unberührt sah Anders ihn an: »Ich sage, ich wäre gekommen, um ihm Wiegenlieder vorzusingen und um nachzusehen, ob er sich nicht bloßgestrampelt hat.« »Hihihi«, lachte Kalle. »Hör mal, kleine populäre Eva-Lotte, gib mir noch ein Stück Konfekt! Dann wirst du noch einmal so populär.« Sie aßen, bis die Schachtel leer war, und machten Pläne für den Abend. Sie begeisterten sich an dem neuen Schlag gegen die Roten. Ja, der Krieg der Rosen war doch eine wundervolle Einrichtung! Schließlich verließen sie das Hauptquartier. Sie mußten noch »auf das Feld«, wie Anders es nannte. Irgendein Stichwort konnte möglicherweise auftauchen. Wenn nicht, fand sich vielleicht die Gelegenheit, ein kleines Scharmützel mit den Roten zu provozieren. Sie ließen sich am Seil hinunter, und Eva-Lotte sagte gedankenlos: »Ja, ja, der Kindheit glückliche Spiele, der Kindh…« Sie brach ihren Satz ab und wurde bleich. Ein Stöhnen kam von ihren Lippen, und sie lief schnell davon. An diesem Tag spielte sie nicht mehr. ELFTES KAPITEL »Heute nacht wird es passieren!« sagte Anders ein paar Tage später. Verschiedene Umstände hatten es mit sich gebracht, daß das Unternehmen, den Großmummrich in Sixtus’ Globus zu überführen, etwas aufgeschoben wurde. Erstens mußte man ja den Vollmond abwarten. Vollmond mußte sein. Das war magisch und gut und hatte außerdem den Vorteil, daß man sich in einem Zimmer zurechtfinden konnte, ohne die Taschenlampe zu gebrauchen. Zweitens hatten sie beim Postdirektor in den letzten Tagen Besuch gehabt. Die beiden jungen Tanten von Sixtus waren gekommen. »Und man kann sich unmöglich in ein Haus wagen, wo aus allen Ecken und Winkeln eine kleine Tante hervorsieht«, sagte Anders, als Kalle ihn fragte, ob es nun etwas werde oder nicht. »Je mehr Tanten in einem Haus sind, desto größer ist die Möglichkeit, daß eine aufwacht und alles zuschanden schreit, verstehst du?« »Ja, Tanten können einen sehr leichten Schlaf haben«, bestätigte Kalle. Sixtus bekam jetzt zu seiner größten Verwunderung häufig unruhige Fragen gestellt, wie es seinen Tanten gehe und wie lange sie noch bleiben wollten. Schließlich wurde er nervös. »Was soll das ewige Gefrage nach meinen Tanten?« sagte er, als Anders zum zehntenmal davon anfing. »Haben sie dir was getan?« »Nein, natürlich nicht«, sagte Anders zahm. »Na also«, sagte Sixtus. »Ich glaube, sie fahren am Montag wieder ab. Traurig genug. Ich kann sie gut leiden, besonders Tante Ada.« Nach diesem Bescheid getraute sich Anders nicht, wieder zu fragen. Sixtus konnte mißtrauisch werden. Jetzt aber war Montag. Anders hatte gesehen, wie die Frau Postdirektor mit ihren Schwestern zum Frühzug gegangen war, und heute nacht sollte Vollmond sein. »Heute nacht wird es passieren!« sagte Anders entschlossen. Sie saßen in der Laube beim Bäckermeister und aßen frische Schnecken, die Eva-Lotte gerade ihrem schwachen Vater in der Backstube abgeluchst hatte. Vor einer Weile waren die Roten vorbeigezogen. Sie wollten zu ihrem neuen Hauptquartier im Herrenhof. Es waren ja nun dort keine Polizisten mehr. Die Prärie lag wieder friedlich und still. Der Herrenhof war als Un-terschlupf viel zu gut, um aufgegeben zu werden, und die Roten hatten alles, was in der Nähe geschehen war, aus ihrem Gedächtnis gestrichen. »Wenn ihr Appetit auf die Rute habt, kommt nur raus zum Herrenhof«, schrie Sixtus, als er bei Bäckermeisters vorbeiging. Eva-Lotte schüttelte sich. Zum Herrenhof wollte sie nicht hinaus, unter keinen Umständen! »Puh, bin ich satt!« sagte Kalle, als die Roten verschwunden waren und er seine siebente Schnecke verzehrt hatte. »Aber ich erst!« sagte Anders und beklopfte seinen Magen. »Schadet aber nichts, wir haben heute gekochten Schellfisch zu Mittag.« »Man soll so intelligent werden nach Fisch«, meinte Eva-Lotte. »Du solltest ruhig mehr gekochten Schellfisch essen, Anders.« »Kaum«, meinte Anders. »Erst muß ich einmal wissen, wie intelligent ich davon werde und wieviel Fisch ich essen muß.« »Es kommt natürlich etwas darauf an, wie intelligent man vorher ist«, mischte sich Kalle ein. »Für dich, Anders, reicht sicher ein normalgroßer Walfisch in der Woche ganz bequem aus.« Als Anders Kalle dreimal um die Laube gejagt hatte und der Frieden wiederhergestellt war, sagte Eva-Lotte: »Ich bin neugierig, ob heute einige neue Gaben im Postkasten liegen. Ich verstehe nicht, was die Menschen sich so denken. In dieser Woche habe ich nur sechs Pfund Schokolade bekommen. Ich werde die Post anrufen und mich beschweren.« »Rede bitte nicht von Schokolade!« sagte Anders voller Abscheu, und auch Kalle verzog das Gesicht. Sie hatten tapfer gegen die Sturmflut von Süßigkeiten, die über Eva-Lotte herein-gebrochen war, angekämpft, aber jetzt schafften sie es nicht mehr. Trotzdem kam Eva-Lotte vom Postkasten unten am Zaun mit einem dicken Umschlag in der Hand zurück. Sie riß ihn auf, und da hatte sie tatsächlich eine Tafel Schokolade, eine große, stattliche Tafel Milchschokolade. Kalle und Anders sahen auf die Tafel, als ob es Rizinusöl sei. »Schrecklich!« stöhnten sie. »Oho!« Eva-Lotte tat harmlos. »Der Tag kann kommen, wo ihr Borke unter die Schokolade mischen müßt.« Sie brach die Tafel auseinander und zwang erbarmungslos jedem eine Hälfte auf. Sie nahmen sie entgegen ohne eine Spur von Begeisterung, nur um ihr gefällig zu sein. Gleichgültig stopften sie ihre Schokoladenstücke in die sowieso schon überfüllten Hosentaschen. »So ist es recht«, lobte Eva-Lotte sie. »Spare in der Zeit, so hast du in der Not.« Den Umschlag warf sie zusammengeknüllt über den Zaun auf die Straße. »Was machen wir nun?« fragte sie. »Hört mal, wir radeln los und baden«, sagte Kalle. »Mehr bekommen wir heute doch nicht zu tun.« »Du hast recht«, meinte Anders. »Wir können wahrhaftig bis zum Abend Waffenstillstand eintreten lassen.« Zwei Minuten später kam Benka, von Sixtus ausgeschickt, um mit zweckmäßigen Schmähungen die Weißen zum Kampf zu reizen. Aber die Laube war leer. Nur eine kleine Bachstelze saß auf der Schaukel und pickte ein paar Krümel auf. Um Mitternacht, als der Vollmond leuchtete, schliefen Kalle und Eva-Lotte ruhig in ihren Betten. Nur Anders war wach. Auch er war in gewohnter Weise zu Bett gegangen. Er brachte höchst kunstvolle Schnarchtöne hervor, damit seine Eltern glaubten, er schlafe. Der Erfolg war, daß seine Mutter ganz beunruhigt an sein Bett kam und ihn fragte: »Was hast du, Junge, ist dir schlecht?« »I wo«, sagte Anders und bemühte sich anschließend, nicht ganz so laut zu schnarchen. Als er endlich das leichte Atmen seiner kleinen Geschwister und die tiefen, gleichmäßigen Atemzüge seiner Eltern hörte, wußte er, daß alles schlief. Er schlich vorsichtig in die Küche. Dort lagen seine Kleider auf einem Stuhl. Unruhig horchte er in das Zimmer zurück. Aber alles schlief weiter, und schnell fuhr er in Hose und Hemd. Dann tappte er leise und vorsichtig die Treppe hinunter. Und er brauchte nicht viel Zeit, bis er auf dem Bäckereiboden stand, um den Großmummrich zu holen. »O erhabener Großmummrich«, flüsterte er, als er die Kommodenschublade wieder zuschob, »halte nun deine mächtige, starke Hand über mein Beginnen; denn weißt du, ich glaube, es ist nötig.« Die Nachtluft war kühl, und er fröstelte unter seinen dünnen Kleidern. Ein wenig war wohl auch die Aufregung schuld. Es war schon ein merkwürdiges Gefühl, hier so in der Nacht unterwegs zu sein, während andere Menschen schliefen. Fest um-spannte seine Hand den Großmummrich, als er über Eva-Lottes Zaun sprang. Wie dunkel die Erlen am Ufer standen. Der Fluß aber glitzerte im Mondschein. »Bald sind wir am Ziel, o Großmummrich«, flüsterte er für den Fall, daß der Großmummrich ungeduldig werden sollte. Ja, bald waren sie am Ziel. Da lag die Villa des Postdirektors so dunkel und still, als wenn auch sie schliefe. Alles war ruhig. Nur die Heimchen zirpten. Anders hatte damit gerechnet, daß mindestens ein Fenster im Hause offenstehen würde, und seine Hoffnung erfüllte sich. Für einen durchtrainierten Jungen wie Anders dürfte es nicht schwer sein, in das Küchenfenster hineinzukommen. Den Großmummrich steckte er in die Hosentasche. Sicher war dieser Platz nicht eines Großmummrichs würdig; aber es mußte sein – Anders brauchte beide Hände frei. »Verzeih mir, o Großmummrich«, bat er ihn leise. Seine Finger fuhren in die Tasche, und er war sehr erstaunt, als sie sich um etwas Klebriges legten, das vorher ein Stück Schokolade gewesen war. Anders war nicht mehr so überfüttert wie am Morgen, und er fühlte schon, wie dieser klebrige Kloß ihm großartig schmecken würde. Aber es sollte eine Belohnung werden nach vollbrachter Tat. Er schob den Großmummrich in die andere Hosentasche und leckte vorerst nur die Finger ab. Dann zog er sich behutsam zum Küchenfenster hoch und wollte hinein. Ein dumpfes Knurren erschreckte ihn so furchtbar, daß er dachte: Jetzt werde ich wahnsinnig – Beppo! Nicht einen Augenblick lang hatte er an Beppo gedacht! Und doch hätte er sofort wissen müssen, daß dieses Fenster nur offengelassen war, um Beppo Gelegenheit zu geben, des Nachts aus dem Hause zu kommen – falls er mußte und wollte. »Beppo«, flüsterte Anders beruhigend. »Beppo, ich bin es doch bloß.« Als Beppo merkte, daß es nur einer von den Spaßmachern war, die Herrchen immer mitzubringen pflegte, ging sein Knurren in entzücktes Gebell über. »Ach du gutes, kleines, süßes, liebes Beppochen, kannst du nicht leise sein?« bat Anders. Aber Beppo fand, wenn man fröhlich war, sollte man es auch zeigen und tüchtig bellen und mit dem Schwanz wedeln. Und beides tat er ganz energisch. In seiner Not fischte Anders das Schokoladenstück hervor und hielt es ihm unter die Nase. »Hier, sei nur still, dann bekommst du es«, flüsterte er. Beppo schnüffelte an der Schokolade. Und da er fand, daß die Begrüßungsfeierlichkeiten gerade so lange gedauert hatten, wie es die Würde und der Anstand des Hauses erforderten, hörte er auf zu bellen und legte sich zufrieden nieder, um den herrlichen Klebekloß zu genießen, den ihm sein Gast – sicher für den freundlichen und lautstarken Empfang – spendiert hatte. Anders seufzte erleichtert auf und öffnete die Tür, die in den Vorraum führte, so behutsam wie irgend möglich. Da war die Treppe, auf der er nach oben wollte … Da ging oben jemand! Jemand kam mit schweren Schritten die Treppe herunter. Der Postdirektor kam, in eigener Person, barfuß und im Nachthemd. Beppos Bellen hatte ihn geweckt, und nun wollte er sehen, was los war. Einen Augenblick stand Anders wie versteinert. Dann aber sammelte er all seine seelische Kraft, und im selben Moment kroch er auch schon schnell hinter einige Mäntel, die in einer Ecke des Vorraums an ihren Haken hingen. Wenn ich nach diesem Unternehmen nicht in einer Nerven-heilanstalt lande, habe ich Nerven wie Tarzan, dachte er. Erst jetzt fiel ihm ein, daß die Postdirektorfamilie möglicherweise gar nichts davon hielt, wenn man nachts durch ihre offenen Fenster ins Haus kletterte. Daß Sixtus so etwas nur natürlich finden würde, war klar; aber er war ja auch am Krieg der Rosen beteiligt. Anders schauderte bei dem Gedanken, was der Postdirektor wohl mit ihm machen würde, wenn er ihn fand. Er schloß die Augen und betete still vor sich hin, als der Postdirektor, böse murmelnd, ganz dicht an den Mänteln vorüberging, hinter denen er stand. Der Postdirektor öffnete die Tür zur Küche. Da lag Beppo im Mondschein und sah ihn an. »Na, mein Junge«, sagte der Postdirektor, »was schimpfst du denn hier in der Nacht herum?« Beppo antwortete nicht. Vorsichtig legte er seine Pfote auf den herrlichen Klebekloß. Herrchens Vater hatte nämlich oft wunderliche Einfälle. Gestern erst hatte er Beppo einen fetten alten Knochen weggenommen, den Beppo gerade auf dem Her-renzimmerteppich verzehren wollte. Niemand konnte daher wissen, ob er die richtige Einstellung zu so einem Schokoladenkloß hatte. Um ganz sicherzugehen, gähnte Beppo und legte eine gleichgültige Miene auf sein Hundegesicht. Der Postdirektor beruhigte sich. Der Ordnung wegen sah er aber doch noch aus dem Fenster. »Ist dort jemand?« rief er leise. Nur der Nachtwind antwortete ihm. Das Gemurmel von Anders hinter den Mänteln konnte er nicht hören: »Nein, nein, hier ist niemand. Ich erkläre, hier findet sich nicht einmal eine Laus.« Lange stand Anders in seinem Versteck. Er getraute sich nicht eher, eine Bewegung zu machen, als bis er sicher war, daß der Postdirektor wieder eingeschlafen war. Es war sehr langweilig für ihn. Bald hatte er das Gefühl, als habe er die beste Zeit seiner Jugend hier hinter den Mänteln zugebracht – und immer mit den kitzelnden Wollfusseln vor seiner Nase. Er war eine be-triebsame Natur, und untätig sein war eine Qual für ihn. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Er kam aus seinem Gefängnis hervor und begann, vorsichtig die Treppe hinauf zuklimmen. Bei jedem Schritt blieb er stehen und lauschte, aber es war kein Laut zu hören. »Das geht ja großartig«, sagte er, opti-mistisch wie immer. Die quietschende Tür in Sixtus’ Zimmer beunruhigte ihn ein wenig. Sachte drückte er die Türklinke herunter, um zu probieren. Die Tür öffnete sich lautlos – sie war tatsächlich geölt worden. Anders lachte in sich hinein. Nun hatte Sixtus die Tür zu seinem eigenen Schaden geölt. Was hatte man doch für nette Feinde! Man brauchte nur auf eine kleine Unbequemlichkeit hinzuweisen, und – schwupp – schon halfen sie einem, so daß man sich bestens bei ihnen einschleichen konnte. »Vielen Dank, mein lieber Sixtus«, dachte Anders und warf einen Blick zu Sixtus’ Bett hinüber. Da schlief er nun, der arme Kerl, und ahnte nichts davon, daß heute nacht der Großmummrich in sein Haus einzog. Der Globus stand mitten im fließenden Mondlicht auf der Kommode. Anders’ flinke Finger hatten ihn schnell auseinan-dergenommen. Welch ein großartiger Platz für einen Großmummrich! Eifrig nahm er das Heiligtum aus seiner Hosentasche und legte es an seinen Platz. »Eine kurze Zeit nur, o Großmummrich!« sagte er, als er fertig war. »Eine Weile mußt du unter den Heiden, die das Gesetz nicht anerkennen, leben. Dann aber werden dir die Weißen Rosen wieder eine Freistatt bei christlichen und ehrlichen Menschen geben.« Eine Schere lag neben dem Globus. Und als Anders sie sah, hatte er einen Genieblitz. Wenn ein Mann in der Nähe seines schlafenden Feindes war, so war es doch üblich, daß er einen Zipfel von dessen Mantel abschnitt zum Zeichen dafür, wie nahe er ihm gewesen war. So geschah es stets in alten Zeiten. Jedenfalls schrieben die Bücher davon. Das war eine hervorragende Art, dem Feinde zu zeigen, daß man ihn in der Gewalt gehabt, aber voller Edelmut Abstand davon genommen hatte, ihm etwas zu tun. Am nächsten Tag konnte man dann erscheinen und seinem Feind mit dem Mantelflicken vor der Nase herum-fuchteln und sagen: »Danke mir auf den Knien, daß du noch lebst, du elender Flegel.« Das war genau das, was Anders tun wollte. Nun trug ja Sixtus allerdings im Bett keinen Mantel. Aber er hatte Haare, einen großen, prächtigen Schopf roter Haare. Und eine Locke von diesem Schopf gedachte Anders zu kappen. Ha, wenn dann der Tag kam, an dem der Großmummrich wieder woanders in gutem Verwahr lag, sollten die Roten zu fühlen bekommen, daß sie noch lebten! Da sollten sie die bittere Wahrheit über den Großmummrich im Globus erfahren! Und dann sollten sie diese Haarlocke sehen, die der Chef der Weißen Rosen um Mitternacht, als der Vollmond schien, von der Stirn des Häuptlings der Roten Rosen geschnitten hatte. Welch ein gigantischer Doppeltriumph! Der Vollmond schien indessen nicht auf Sixtus’ Bett. Das Bett stand hinten an der Wand, wo es vollständig dunkel war. Aber Anders tastete sich mit einer Hand vorsichtig näher. In der anderen hatte er die Schere. Wehrlos lag er da, der Häuptling der Roten. Da lag sein Kopf auf dem Kissen. Anders nahm mit zärtlichem, aber doch festem Griff eine Locke und schnitt sie ab. Da gellte ein wilder Schrei durch die Stille der Nacht. Und das war kein Schrei aus einer rauhen, unebenen Stimmbruch-kehle – das war ein heller Frauenschrei! Anders fühlte das Blut in seinen Adern einfrieren. Ein nie ge-kanntes Entsetzen ergriff ihn, und er warf sich blindlings gegen die Tür. Er sprang auf das Treppengeländer, und wie ein Blitz rutschte er abwärts. Er riß die Küchentür auf und war mit zwei Riesenschritten am Fenster. Und er sprang ins Freie mit einem so rasenden Satz, als liefen alle zur Zeit vorhandenen bösen Geister und Gespenster hinter ihm her. Nicht eher stand er still, als bis er an der Brücke war. Da mußte er etwas Atem schöpfen. Die Locke hatte er noch immer in seiner Faust. Er hatte nicht gewagt, sie fortzuwerfen. Japsend stand er da im Mondlicht und sah verzweifelt auf das Entsetzliche, was er in der Hand hatte. Es war nicht eine, es waren viele blonde Locken, und sie hatten einst zweifellos einer Tante gehört, gleichviel welcher. Wahrscheinlich war nur eine mit dem Frühzug abgefahren. Wer konnte das auch ahnen! Hatte er es nicht gesagt: Es war lebensgefährlich, sich in ein Haus zu wagen, wo aus jeder Ecke eine kleine Tante hervorsah. Welche Schmach! Welche Schande! Auf den Skalp des Roten Häuptlings aus zu sein und nach Hause zu kommen mit den Locken einer blonden Tante! Anders zitterte. Das war das Schlimmste, was ihm jemals passiert war. Und er beschloß, keinem lebenden Menschen ein Sterbenswort davon zu erzählen. Bis an das Ende seiner Tage sollte dies sein fürchterliches Geheimnis bleiben, und dann wollte er es mit hinunter in sein Grab nehmen. Die Locken aber mußte er sofort loswerden. Er streckte die Hand über das Brückengeländer und ließ die Haare los. Und das schwarze Wasser nahm sein Geschenk schweigend entgegen. Es brodelte nur ein wenig unter dem Brückenbogen, wie es immer tat. In der Postdirektorsvilla herrschte unterdessen wilder Auf-ruhr. Ängstlich kamen der Postdirektor und seine Frau zu Tante Ada gelaufen. Auch Sixtus kam vom Boden, wo er während des Tantenbesuchs hausen mußte, angeschossen. Warum in aller Welt schrie Tante Ada mitten in der Nacht so laut? wollte der Postdirektor wissen. Ja, weil ein Einbrecher hier gewesen war, behauptete Tante Ada. Der Postdirektor machte im ganzen Haus Licht, überall wurde gesucht, aber von einem Einbrecher fand sich keine Spur. Das Tischsilber war noch da. Nicht ein Stück fehlte. Ja, Beppo! Er war wohl ein bißchen in den Garten gegangen, wie er es ab und zu tat. Wäre wirklich ein Einbrecher hier gewesen, hätte Beppo bestimmt Lärm gemacht, das könnte Tante Ada schon glauben. Sicher hatte sie nur einen unangenehmen Traum oder Alpdrücken gehabt – das war wohl alles. Und sie streichelten sie tröstend und sagten, nun solle sie nur ruhig weiterschlafen. Es sei gewiß alles gut. Als aber Tante Ada wieder allein war, konnte sie vor Unruhe nicht einschlafen. Keiner sollte sie Lügen strafen, keiner sagen, es sei niemand in ihrem Zimmer gewesen! Um sich zu beruhigen, zündete sie sich eine Zigarette an. Dann nahm sie ihren Spiegel hervor, um nachzusehen, ob der ausgestandene Schreck Spuren auf ihrem hübschen Gesicht hinterlassen hatte. Da sah sie es! Der Besuch hatte Spuren hinterlassen! Sie hatte eine neue Frisur bekommen! Eine ganze Strähne von ihrem Haar war fortgeschnitten worden. Sie hatte plötzlich eine nette, pikante Ponyfrisur. Verstört sah sie auf ihr Spiegelbild. Langsam aber verklärte sich ihr Gesicht. Irgend jemand, wer es auch war, war so närrisch gewesen, sich mitten in der Nacht in das Haus zu schleichen, nur um eine Locke von ihrer Stirn zu erha-schen. Eine Weile dachte sie darüber nach, wer wohl der unbekannte Bewunderer sein könnte; aber es war und blieb ein Rätsel für sie. Tante Ada beschloß großmütig, dem »Wer-es-auch-war« zu verzeihen. Und verraten würde sie ihn auch nicht. Mochten die anderen es nur weiter für einen Traum halten. Tante Ada seufzte und kroch wieder in ihr Bett. Sie beschloß, morgen zum Friseur zu gehen und die Ponyfrisur noch ein Spürchen kürzer machen zu lassen. ZWÖLFTES KAPITEL Ein neuer Tag begann, und im Garten des Bäckermeisters warteten Kalle und Eva-Lotte schon seit dem frühen Morgen auf Anders und seinen Bericht über das nächtliche Unternehmen. Aber die Stunden gingen, und von Anders hörten sie nichts. »Eigenartig«, sagte Kalle. »Er ist doch wohl nicht wieder gefangen worden?« Sie wollten sich gerade auf die Suche nach ihm begeben, als er endlich kam. Er lief nicht, wie er es sonst tat, sondern ging langsam und war seltsam blaß. »Wie siehst du elend aus«, sagte Eva-Lotte. »Bist du auch so ein ›Opfer der Hitze‹, wie immer in der Zeitung steht?« »Ich bin ein Opfer von gekochtem Schellfisch«, sagte Anders. »Gekochten Schellfisch, das habe ich meiner Mutter schon wer weiß wie oft gesagt, vertrage ich nicht. Und jetzt ist es endlich bewiesen.« »Wie denn?« wollte Kalle wissen. »Raus aus dem Bett – rein ins Bett. Die ganze Nacht erbrochen.« »Und der Großmummrich?« fragte Kalle. »Der liegt wohl immer noch in der Kommode, was?« »Jungchen, das habe ich natürlich vorher erledigt! Ich erledige alles, was zu erledigen ist, mögen die Stürme auch in mir toben. Der Großmummrich liegt in Sixtus’ Globus!« »Fein!« sagte Kalle. »Erzähle! Ist Sixtus aufgewacht?« »Beruhigt euch! Ihr werdet schon hören!« sagte Anders. Sie saßen zu dritt auf Eva-Lottes Steg. Hier unten am Fluß war es kühl, und die Erlen gaben einen behaglichen Schatten. Mit den Beinen baumelten sie in dem lauen Wasser. Anders sagte, das habe eine beruhigende Wirkung auf den Schellfisch in seinem Magen. »Vielleicht, wenn ich so darüber nachdenke, war es nicht nur der Schellfisch. Vielleicht waren es auch noch die Nerven. Denn heute nacht bin ich im Haus der Schrecken gewesen.« »Erzähle alles von Anfang an«, sagte Eva-Lotte. Das tat Anders. Sehr dramatisch schilderte er seine Begeg-nung mit Beppo und wie er ihn zum Schweigen gebracht hatte. Kalle und Eva-Lotte waren ein paar ideale Zuhörer. Sie freuten sich über alles und brüllten vor Lachen, und Anders genoß es, ihnen seine Abenteuer zu erzählen. »Ihr versteht doch, hätte ich Beppo nicht die Schokolade gegeben – ich wäre verloren gewesen!« »Gut, daß die Leute mir so viel Schokolade schicken«, sagte Eva-Lotte. Dann schilderte Anders die beinahe noch schlimmere Begeg-nung mit dem Postdirektor. »Hättest du ihm nicht auch etwas Schokolade geben können?« fragte Kalle. »Nein, Beppo hatte alles bekommen«, sagte Anders. »Und wie ging es weiter?« Eva-Lotte war ganz aufgeregt vor Neugier. Anders erzählte, wie es weitergegangen war. Er erzählte alles, von Sixtus’ Tür, die nicht mehr quietschte, und von Sixtus’ Tante, die um so mehr quietschte, und wie ihm das Blut eingefroren war, als er es hörte, und wie er Hals über Kopf hatte fliehen müssen. Das einzige, wovon er nicht sprach, waren die tantli-chen Locken, die er in den Fluß versenkt hatte. Kalle und Eva-Lotte fanden alles spannender als eine Abenteuergeschichte, und sie wurden nicht müde, winzige Einzelheiten immer wieder hören zu wollen. »Was für eine Nacht!« schwärmte Eva-Lotte, als Anders endlich fertig war. »Ja, es ist gar kein Wunder, wenn man vorzeitig altert«, sagte Anders. »Aber die Hauptsache ist doch, daß der Großmummrich dort liegt, wo er liegen soll.« Kalle planschte wild mit den Füßen im Wasser. »Ja, der Großmummrich liegt bei Sixtus im Globus«, triumphierte er. »Könntet ihr euch etwas ausdenken, was so raffiniert ist wie gerade das?« Nein, das konnten weder Anders noch Eva-Lotte. Und ihr Entzücken wurde noch größer, als sie sahen, wie Sixtus, Benka und Jonte am Fluß auf sie zutrabten. »Sieh mal einer an, was sitzen denn da für niedliche Weiße Rosen auf dem Ast?« sagte Sixtus, als sie den Steg erreicht hatten. Benka versuchte sofort, die Weißen Rosen in den Fluß zu wälzen, aber Sixtus hinderte ihn daran. Die Roten waren nicht gekommen, um zu streiten, sondern um zu klagen. Nach den Gesetzen, die im Krieg der Rosen herrschten, war doch der, der im Augenblick den Großmummrich besaß, verpflichtet, zumindest einen Fingerzeig darüber zu geben, wo das Heiligtum eventuell zu finden sei. Hatten die Weißen das getan? Gewiß hatte der Chef der Weißen, als er gekitzelt wurde, etwas von dem kleinen Pfad hinter dem Herrenhof hervorgestoßen, und der Sicherheit wegen hatten die Roten gestern die ganze Nachbarschaft dort draußen noch einmal durchsucht. Jetzt aber waren sie überzeugt davon, daß die Weißen den Großmummrich an einen neuen Platz gebracht hatten, und verlangten nun höflich, aber bestimmt den schuldigen Hinweis. Anders kletterte ins Wasser. Es reichte ihm nicht weiter als bis an die Knie. Breitbeinig stand er dort, die Hände in die Seiten gestemmt, und seine dunklen Augen glänzten munter und voller Freude. »Gut, ihr sollt einen Fingerzeig haben«, sagte er. »Sucht im Innern der Erde!« »Danke, das ist ja sehr freundlich«, meinte Sixtus sarkastisch. »Sollen wir hier anfangen oder auf der Königstraße in Stockholm?« »Wirklich ein feiner Fingerzeig«, sagte Jonte. »Ihr sollt sehen, sicher finden unsere Kindeskinder den Großmummrich, bevor sie ins Grab steigen.« »Ja, aber dann haben sie schon Schwielen an den Händen«, meinte Benka. »Benutzt euren Verstand, rote Zwerge, falls ihr so etwas überhaupt besitzt«, sagte Anders lachend. Und dramatisch setzte er hinzu: »Wenn der Rote Chef zu sich nach Hause geht und im Innern der Erde sucht, wird alles offenbar werden.« Kalle und Eva-Lotte zappelten übermütig mit den Füßen im Wasser herum und kicherten heftig. »Sehr wahr! Sucht im Innern der Erde«, sagten sie und sahen sehr geheimnisvoll aus. »Läusepudel!« sagte Sixtus. Dann gingen die Roten zu Sixtus und begannen umfangrei-che Ausgrabungen im Garten des Postdirektors. Den ganzen Vormittag gruben und wühlten sie an allen Stellen, die nur im geringsten verdächtig aussahen. Endlich kam der Postdirektor und fragte, ob es notwendig sei, seinen Rasen völlig zu zerstören, oder ob sie freundlicherweise auch mal einen anderen Garten heimsuchen wollten. »Übrigens finde ich, Sixtus, du solltest lieber Beppo suchen«, sagte er. »Ist Beppo noch immer nicht da?« fragte Sixtus und ließ den Spaten fallen. »Wo kann er denn nur sein?« »Das, glaubte ich ja, solltest du herausbekommen«, meinte sein Vater. Sixtus sprang auf. »Kommt ihr mit?« fragte er Benka und Jonte. Ohne Frage wollten Benka und Jonte mit. Und es gab noch andere, die helfen wollten, Beppo zu suchen. Kalle, Eva-Lotte und Anders, die die letzte Stunde über hinter der Hecke gelegen und die beharrliche Graberei der Roten bewundert hatten, kamen hervor und boten ihre Hilfe an. Sixtus nahm das Angebot dankbar an. In der Stunde der Not gab es keine Feinde. Voll inneren Einverständnisses zog die Gemeinde von dannen. »Er geht sonst nie weg«, sagte Sixtus bekümmert, »jedenfalls niemals mehr als ein paar Stunden. Aber jetzt ist er ja seit gestern abend elf Uhr weg!« »Nein, seit zwölf ungefähr«, sagte Anders, »denn …« Er unterbrach sich und wurde knallrot. »Na ja, meinetwegen seit zwölf dann«, sprach Sixtus gedankenlos nach. Dann aber sah er plötzlich Anders mißtrauisch an: »Na, bei allen Katzen, woher weißt du das übrigens?« »Ich bin so ein Hellseher, weißt du«, sagte Anders hastig. Er hoffte, daß Sixtus nicht näher auf das Thema eingehen würde. Denn er konnte doch unmöglich erzählen, daß er Beppo ungefähr um zwölf Uhr, als er mit dem Großmummrich unterwegs war, in der Küche gesehen hatte, daß er aber fort war, als er ungefähr eine Stunde später aus dem Fenster entfloh. »Ist ja reizend, daß man so bei kleinem die Hellseher zusam-menbekommt«, sagte Sixtus. »Sei so gut und sieh mal hell, wo Beppo jetzt gerade steckt.« Anders aber erklärte, daß er nur Hellseher für Zeit, aber nicht für Orte sei. »Und wie spät wird es sein, wenn wir Beppo finden?« »Wir finden ihn in ungefähr einer Stunde«, sagte Anders überzeugt. Hierin aber irrte sich der Hellseher. Ganz so schnell ging es nun doch nicht. Sie suchten überall. Sie suchten in der ganzen Stadt. Sie fragten an allen Stellen, wo es Hunde gab, die Beppo zu begrüßen pflegte. Sie fragten jeden, den sie trafen. Niemand hatte Beppo gesehen. Er war verschwunden. Sixtus war nun völlig still geworden. Die Tränen kamen ihm vor Unruhe. Aber zeigen konnte er das auf keinen Fall. Er putzte sich nur auffallend oft die Nase. »Es muß ihm etwas passiert sein«, sagte er immer wieder. »Niemals war er so lange weg.« Die anderen versuchten, ihn zu trösten. »Ach, ihm ist schon nichts passiert«, sagten sie. Aber sie waren selbst weit entfernt davon, so überzeugt zu sein, wie sie vortäuschten. Stumm gingen sie eine Weile nebeneinanderher. »Er war so ein feiner Hund«, sagte Sixtus schließlich mit zitternder Stimme. »Er verstand alles, was man zu ihm sagte.« Dann mußte er sich wieder die Nase putzen. »Laß das sein, so zu reden«, sagte Eva-Lotte. »Du redest, als ob er tot wäre.« Sixtus antwortete darauf nicht. »Er hatte so treue Augen«, fand Kalle. »Ich meine: Er hat so treue Augen«, beeilte er sich zu verbessern. Dann war wieder eine lange Zeit alles still. Als es zu drückend wurde, sagte Jonte: »Ja, Hunde sind feine Tiere.« Sie waren jetzt auf dem Heimweg. Es lohnte sich nicht mehr zu suchen. Sixtus ging einen halben Meter vor den anderen und stieß einen Stein vor sich her. Und sie verstanden genau, wie traurig er war. »Denk nur, Sixtus, wenn Beppo nach Hause gekommen ist, während wir unterwegs waren und so lange suchten«, sagte Eva-Lotte hoffnungsvoll. Sixtus blieb mitten auf der Straße stehen. »Wenn das wahr ist, wenn Beppo nach Hause gekommen ist, dann werde ich ein guter Mensch. Oh, welch ein guter Mensch will ich werden! Ich will mir jeden Tag die Ohren waschen, und immer, wenn Mutter etwas von mir will …« Voll neuer Hoffnung begann er zu laufen. Die anderen folgten ihm, und sie wünschten alle brennend, daß Beppo am Zaun stehen und bellen möge, wenn sie zur Postdirektorsvilla kamen. Aber da stand kein Beppo. Sixtus’ großzügiges Versprechen der Ohrenwaschung hatte auf die Mächte, die das Leben und die Schritte der Hunde lenkten, keinen Einfluß gehabt. Und die Hoffnung war bereits in Sixtus’ Brust gestorben, als er seiner Mutter, die auf der Veranda saß, zurief: »Ist Beppo zurückgekommen?« Sie schüttelte den Kopf. Sixtus sagte nichts. Er ging in den Garten und setzte sich ins Gras. Die anderen folgten ihm. Sie lagerten sich stumm um ihn. Es gab ja keine Worte, so eifrig sie auch danach suchten. »Ich hatte ihn, seit er ein kleiner Welpe war«, erklärte Sixtus mit undeutlicher Stimme. Sie mußten doch verstehen: Wenn man einen Hund gehabt hatte, seit er ein kleiner Welpe war, dann war man schon berechtigt, rote Augen zu haben, wenn er verschwand. »Und wißt ihr, was er mal tat?« fuhr Sixtus fort, wie um sich selbst zu quälen. »Damals, als ich nach der Blind-darmoperation aus dem Krankenhaus kam? Da kam mir Beppo am Zaun entgegen, und da war er so froh, mich zu sehen, daß er mich doch umschmiß, und die ganze Wunde sprang wieder auf!« Alle waren davon tief gerührt. Einen größeren Beweis von Liebe konnte ein Hund gewiß nicht erbringen, als seinen Herrn umzuschmeißen, so daß die Blinddarmnaht wieder aufriß. »Ja, Hunde sind feine Tiere«, bestätigte Jonte noch einmal. »Besonders Beppo«, sagte Sixtus und putzte sich die Nase. Kalle wußte nachher nicht mehr, woher ihm der Einfall gekommen war, in den Holzschuppen des Postdirektors zu sehen. Eigentlich war es richtig närrisch, das fand er selbst. Denn wenn Beppo dort eingeschlossen worden wäre, dann hätte er sicher so lange gebellt, bis man ihn wieder herausgelassen hätte. Aber auch wenn es keinen vernünftigen Grund dafür gab, in den Holzschuppen zu sehen, – Kalle tat es trotzdem. Er öffnete die Türen ganz weit, so daß das Tageslicht den ganzen Schuppen erfüllte. Und weit hinten in einer Ecke lag Beppo. Ganz still lag er dort, und eine verzweifelte Sekunde lang war Kalle sicher, daß er tot war. Aber als Kalle näher kam, hob der Hund mühsam den Kopf und winselte schwach. Da stürzte Kalle ins Freie und schrie mit der ganzen Kraft seiner Lungen: »Sixtus! Sixtus! Er ist hier! Er liegt im Holzschuppen!« »Mein Beppo! Mein armer kleiner Beppo«, sagte Sixtus mit zitternder Stimme. Er lag auf den Knien neben dem Hund, und Beppo sah ihn an, als wollte er ihn fragen, warum Herrchen nicht früher gekommen sei. Er hatte doch hier schon so unendlich lange gelegen und war so krank, so krank, daß er nicht einmal bellen konnte. Ach, wie krank war er die ganze Zeit gewesen! All dies versuchte er Herrchen zu erzählen, und es klang ganz erbärmlich. »Hört doch, er weint ja«, sagte Eva-Lotte und begann auch zu weinen. Ja, Beppo war krank, das konnte man sehen. Er lag in einem See von Auswurf und Exkrementen und war so schwach, daß er sich nicht rühren konnte. Stumm leckte er Sixtus die Hand. Er wollte wohl dafür danken, daß er in seinem Elend nicht mehr allein zu sein brauchte. »Ich muß zum Tierarzt laufen, und das sofort!« rief Sixtus. Aber als er aufsprang, heulte Beppo verzweifelt auf. »Er hat Angst, daß du ihn allein läßt«, sagte Kalle. »Ich laufe für dich!« »Sag ihm, daß er sich beeilen möchte«, bat Sixtus. »Und sag ihm, daß Beppo Rattengift gefressen hat.« »Woher weißt du das?« fragte Benka. »Das weiß ich«, sagte Sixtus. »Das sehe ich doch. Das ist die verdammte Schlachterei gewesen. Die legen, um die Ratten loszuwerden, überall Meerzwiebeln aus. Beppo ging manchmal hin und holte sich einen Knochen.« »Kann Beppo … kann ein Hund davon sterben?« fragte Anders mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen. »Schweig!« sagte Sixtus böse. »Beppo nicht! Ein Beppo stirbt nicht. Ich habe ihn, seit er ein kleiner Welpe war. O Beppo, warum mußtest du nur hingehen und am Rattengift schnüffeln?« Beppo leckte ergeben seine Hand und antwortete darauf nichts. DREIZEHNTES KAPITEL Kalle schlief in der Nacht unruhig. Er träumte, er sei draußen und suche wieder nach Beppo. Einsam wanderte er auf dunklen, öden Wegen, die sich vor ihm in schauerlicher Endlosigkeit ausdehnten und in einer erschreckenden Düsternis weit, weit vorn verschwanden. Er hoffte, einen Menschen zu treffen, den er nach Beppo fragen konnte, aber niemand kam. Die ganze Welt war menschenleer und dunkel und vollkommen öde. Und plötzlich war es nicht mehr Beppo, den er suchte. Es war etwas anderes, etwas viel Wichtigeres. Aber er konnte sich nicht erinnern, was es war. Er fühlte, daß er sich dessen erinnern mußte, es war ihm, als hinge das Leben davon ab. Es befand sich irgendwo dort in dem Dunkel vor ihm, aber er konnte es nicht finden. Und es kam deswegen eine so große Angst über ihn, daß er davon erwachte. Gott sei Dank, daß es nur ein Traum war! Er sah auf die Uhr. Es war erst fünf. Es war besser zu versuchen, wieder einzuschlafen. Er wühlte den Kopf tiefer in das Kissen und versuchte es. Aber das war doch eigentümlich – dieser Traum wollte ihn nicht loslassen. Auch jetzt, wo er wach lag, spürte er, daß da etwas war, auf das er sich besinnen mußte. Es lag irgendwo tief innen in seinem Gehirn und wartete darauf, herauskommen zu dürfen. Ein kleines, kleines Stückchen dort drinnen wußte, was es war, worauf er sich besinnen mußte. Nachdenklich rieb er sich den Schädel und brummte böse vor sich hin: »Na los, komm doch schon raus!« Aber es kam nicht, und Kalle wurde müde. Er wollte wieder schlafen. Und langsam be-schlich ihn diese behagliche Benommenheit, die anzeigte, daß der Schlaf in der Nähe war. Aber da, gerade als er schon zur Hälfte schlief, ließ sein Gehirn das kleine Stückchen, das es so lange festgehalten hatte, los. Es war nur ein Satz, und es war die Stimme von Anders, die ihn sprach: »Hätte ich Beppo nicht die Schokolade gegeben – ich wäre verloren gewesen.« Kalle war hellwach, als er sich jetzt kerzengerade im Bett auf-richtete. »Hätte ich Beppo nicht die Schokolade gegeben – ich wäre verloren gewesen«, wiederholte er langsam. Was war daran so merkwürdig? Warum mußte er sich so notwendig darauf besinnen? Ja, darum, weil … Darum, weil … Es gab eine entsetzliche Möglichkeit … Als er so weit gekommen war, legte er sich wieder hin und zog nachdrücklich die Decke über den Kopf. »Kalle Blomquist«, sagte er warnend zu sich selbst, »fang nun nicht wieder so an! Komm nicht noch einmal mit diesen de-tektivischen Grillen! Mit dieser Sorte von Dummheiten sind wir fertig. Darüber waren wir uns doch wohl einig.« Nun wollte er aber schlafen. Das wollte er! »Ich bin ein Opfer von gekochtem Schellfisch.« Wieder war es die Stimme von Anders, die er hörte. Zum Teufel, daß man ihn nicht in Ruhe lassen konnte! Was hatte Anders hier nur immer herumzukrabbeln? Konnte er nicht zu Hause liegen und mit sich selber reden, wenn er so verzweifelt redelustig war? Aber jetzt half nichts mehr. Die unheimlichen Gedanken wollten heraus. Er konnte sie nicht länger zurückhalten. Zu denken, daß es vielleicht nicht der Fisch war, weswegen sich Anders übergeben hatte! Gekochter Schellfisch war ekelhaft, das fand Kalle auch. Aber sich davon eine Nacht lang zu übergeben, das war nicht üblich. Und – wenn es nun nicht Meerzwiebeln gewesen waren, die Beppo gefressen hatte? Wenn es nun … wenn es nun … etwas anderes war … Wenn es nun … vergiftete Schokolade war? Er versuchte wieder, sich selbst zu mäßigen. »Der Meisterdetektiv hat Zeitungen gelesen, ich merke es«, höhnte er. »Es scheint, er hat die Kriminalfälle der letzten Jahre zu gut verfolgt. Und wenn es auch schon vorgekommen ist, daß jemand durch vergiftete Schokolade getötet wurde, so bedeutet das nicht, daß jede verdammte Schokoladentafel nur noch aus Arsenik besteht.« Eine Zeitlang lag er ganz still und dachte. Und es waren be- ängstigende Gedanken. »Es gibt noch mehr Menschen als nur mich, die Zeitungen gelesen und Kriminalfälle verfolgt haben. Noch einer kann das getan haben. Einer in grünen Gabardinehosen. Einer, der Angst hat. Er kann den Artikel über Eva-Lotte auch gelesen haben. Da wurde ja von Schokolade und Bonbons geschrieben, die man ihr per Post schickt. Diesen Artikel, in dem auch gestanden hat, daß Eva-Lotte möglicherweise ein Werkzeug sei, dazu bestimmt, den Mörder festzusetzen oder so ähnlich. Du großer Nebukadnezar, wenn es so gewesen ist!« Kalle sprang aus dem Bett. Die andere Hälfte der Schokoladentafel – die hatte er doch bekommen! Er hatte sie völlig vergessen gehabt. Wo war sie? Selbstverständlich war sie noch immer in der Hosentasche. Diese blauen Hosen, die er neulich angehabt hatte … Er hatte sie seitdem nicht mehr angezogen. Welch ein Glück für ihn, welch sagenhaftes Glück – wenn es wirklich so war, wie er mutmaßte. Man kann sich viel einbilden, wenn man im Halbschlaf dahindämmert. Das Unwahrscheinlichste wird dann glaubhaft. Als Kalle jetzt in seinem Pyjama in der Schrankkammer stand, wo die Morgensonne durch das Fenster lugte, fand er wieder, daß er einfach närrisch sei. Es war alles natürlich nur Einbildung –genau wie immer. »Und trotzdem«, sagte er, »eine kleine Routineuntersuchung kann ich ja immerhin machen.« Sein erdachter Zuhörer, der sich lange verborgen gehalten hatte, wartete sichtlich nur auf dieses Stichwort. Eifrig kam er angelaufen, um zu sehen, womit der große Meisterdetektiv sich beschäftigte. »Was wollen Sie tun, Herr Blomquist?« fragte er andächtig. »Wie ich schon sagte – eine kleine Routineuntersuchung.« Plötzlich war Kalle wieder Meisterdetektiv, es war nicht zu ändern. Lange hatte er es nicht sein dürfen, auch keine Lust gehabt, es zu sein. Wenn tatsächlich Ernst mit im Spiel war, wollte er nicht Detektiv sein. Aber gerade jetzt zweifelte er selbst, einen berechtigten Verdacht zu haben, zweifelte so stark daran, daß er hilflos der Versuchung verfiel, wieder in der alten Weise zu markieren. Er nahm die halbe Tafel Schokolade aus der Hosentasche und hielt sie seinem erdachten Zuhörer hin. »Aus bestimmten Gründen habe ich den Verdacht, daß sie mit Arsenik vergiftet ist.« Sein erdachter Zuhörer krümmte sich vor Schreck. »Sie wissen, so etwas ist schon passiert«, fuhr der Meisterdetektiv unbarmherzig fort. »Und es gibt etwas, das nennt man ›Verbrechen aus Nachahmung‹. Es ist ja eine ziemlich gewöhnliche Sache, daß ein Verbrecher seine Anregungen aus bereits geschehenen Verbrechen nimmt.« »Aber wie kann man wissen, ob wirklich Arsenik darin ist?« fragte der erdachte Zuhörer und sah hilflos und ratsuchend auf das Schokoladenstück. »Man macht eine kleine Probe«, sagte der Meisterdetektiv ruhig. »Die Marshsche Arsenikprobe. Und die gedenke ich jetzt vorzunehmen.« Sein erdachter Zuhörer sah sich mit bewundernden Blicken in der Schrankkammer um. »Ein erstklassiges Laboratorium haben Sie hier, Herr Blomquist«, sagte er. »Sie sind sicher ein ausgezeichneter Chemiker, wie ich mir denken kann?« »Na ja … ausgezeichnet … ich habe mir in meinem langen Leben ein gut Teil chemischer Kenntnisse angeeignet«, bestätigte der Meisterdetektiv bescheiden. »Die Chemie und die Kriminalistik müssen Hand in Hand arbeiten. Verstehen Sie, junger Freund?« Seine armen Eltern hätten, wenn sie jetzt dabeigewesen wären, bestätigen können, daß ein großer Teil in des Meisterdetektivs langem Leben tatsächlich chemischen Versuchen ge-widmet gewesen waren. Sie hätten es wahrscheinlich anders ausgedrückt. Wahrscheinlich fanden sie, daß man der Wahrheit näher kam, wenn man sagte, er habe unzählige Male versucht, sich selbst und den gesamten Haushalt in die Luft zu sprengen, um einen Forschereifer zu befriedigen, der nicht immer von ex-aktem Wissen begleitet war. Aber der erdachte Zuhörer besaß nichts von diesem Unglauben, der Eltern auszeichnet. Interessiert sah er zu, wie der Meisterdetektiv von einem Regal eine Anzahl Geräte, einen Spiritusbrenner und verschiedene Glasröhren und Büchsen nahm. »Wie wird die Probe gemacht, von der Sie vorhin sprachen, Herr Blomquist?« »Zuerst benötigen wir dazu einen Wasserstoffapparat«, sagte Kalle in dozierendem Ton. »Einen Apparat dieser Art habe ich hier. Es ist ganz einfach eine Büchse. In diese Büchse, die Schwefelsäure enthält, lege ich einige Zinkstückchen. Dabei bildet sich Wasserstoff, verstehen Sie? Wenn wir dort hinein Arsen in irgendeiner Form geben, bildet sich ein Gas, das man Ar-senwasserstoff nennt. AsH . Das entstehende Gas leiten wir durch diese Glasröhre, lassen es weitergleiten und in einer Röhre mit wasserfreiem Kalziumchlorid trocknen. Dieser Vorgang wiederholt sich anschließend in der engeren Röhre. Unter Zu-hilfenahme des Spiritusbrenners erhitzen wir das Gas genau hier an der Verengung. Und dort, verstehen Sie, zerlegt sich das Gas in Feuchtigkeit und freies Arsenik, und das Arsen schlägt sich auf den Wänden der Glasröhre als ein grauschwarz schimmernder Belag nieder. Der sogenannte Arsenspiegel. Ich vermute, daß Sie davon bereits gehört haben, mein junger Freund?« Sein junger Freund hatte von rein gar nichts gehört; aber er verfolgte mit gespannter Aufmerksamkeit die Manipulationen des Meisterdetektivs. »Bitte, erinnern Sie sich«, sagte der Meisterdetektiv, als er zum Schluß den Spiritusbrenner anzündete, »daß ich nicht ge-sagte habe, das Schokoladenstück enthalte wirklich Arsenik. Ich stelle nur eine Routineuntersuchung an und hoffe inständig, daß mein Verdacht gänzlich aus der Luft gegriffen ist.« Dann war es eine Weile ruhig in der sonnigen Schrankkammer. Der Meisterdetektiv war so beschäftigt, daß er ganz einfach seinen jungen Freund vergaß. Jetzt war die Glasröhre erwärmt. Ein Teil der Schokolade wurde pulverisiert, und durch einen Trichter schüttete Kalle das Pulver in den Wasserstoffapparat. Dann wartete er und hielt den Atem an. – Großer Gott, tatsächlich! Da war er! Der Arsenspiegel! Der schreckliche Beweis dafür, wie recht er gehabt hatte. Er starrte auf die Glasröhre, als könne er seinen Augen nicht trauen. In seinem Innern hatte er die ganze Zeit über gezweifelt. Jetzt aber war kein Zweifel mehr möglich. Das bedeutete etwas Furchtbares. Zitternd löschte er den Spiritusbrenner. Sein erdachter Zuhörer war fort. Er verschwand, sowie sich der ver-dienstvolle Meisterdetektiv in einen geängstigten Kalle verwandelte. Anders wurde davon geweckt, daß jemand unter seinem Fenster das Signal der Weißen Rose pfiff. Er streckte ein verschlafenes Gesicht zwischen den Blumentöpfen hervor, um zu sehen, wer dort war. Kalle stand da draußen vor der Schuhmacherwerkstatt und winkte ihm zu. »Wo brennt es?« fragte Anders. »Warum mußt du Menschen um diese Zeit wecken?« »Quatsch nicht, sondern komm herunter«, sagte Kalle. Und als Anders endlich kam, sah er ihm scharf in die Augen und forschte: »Hast du von der Schokolade gekostet, bevor du sie Beppo gegeben hast?« Anders starrte ihn betroffen an: »Um halb sieben Uhr morgens kommst du hier angetigert, nur um so was zu fragen?« »Ja. Denn sie war vergiftet. Mit Arsenik.« Kalle sagte es ganz ruhig. Anders’ Gesicht wurde schmal und blaß. »Ich besinne mich nicht«, murmelte er. »Doch, ich habe die Finger abgeleckt. Ich habe doch zuerst den Großmummrich in die Klebe in meiner Tasche gesteckt … Bist du ganz sicher?« »Ja«, sagte Kalle hart. »Und jetzt gehen wir zur Polizei.« Eilig erzählte er Anders von dem Versuch, den er gemacht hatte, und von der schrecklichen Gewißheit, die sich ihm enthüllt hatte. Sie dachten an Eva-Lotte und fühlten sich so scheußlich wie noch nie. Eva-Lotte durfte davon nichts wissen. Sie mußte vorläufig – darüber waren sie sich einig – aus dieser Sache herausgehalten werden. Anders dachte auch an Beppo. »Ich war es, der ihn vergiftet hat«, sagte er verzweifelt. »Wenn Beppo stirbt, kann ich Sixtus nie mehr ins Gesicht sehen.« »Beppo stirbt nicht, das hat doch der Tierarzt gesagt«, tröstete Kalle ihn. »Hat er nicht genug Medizin und Magenspü-lungen bekommen? Und es war doch wohl besser, daß Beppo die Schokolade gefressen hat als Eva-Lotte oder du?« »Oder du«, sagte Anders. Sie schüttelten sich alle beide. »Eines jedenfalls ist ganz klar«, sagte Anders, als sie Kurs auf das Polizeirevier nahmen. »Und was?« fragte Kalle. »Du mußt endlich diesen Fall in die Hand nehmen, Kalle. Eher kommt da keine Ordnung hinein. Das sage ich nun schon die ganze Zeit über.« VIERZEHNTES KAPITEL »Dieser Mord muß aufgeklärt werden«, sagte der Kriminalkommissar und ließ seine Hand schwer auf den Tisch fallen. Vierzehn Tage lang hatte er sich mit dieser ausnehmend ver-zwickten Angelegenheit befaßt. Nun sollte er die Stadt verlassen. Der Arbeitsbereich der Staatspolizei war groß, und an anderen Stellen warteten neue Aufgaben auf ihn. Er ließ allerdings drei seiner Männer hier und hatte jetzt zusammen mit ihnen und der Ortspolizei eine Morgenbesprechung auf der Polizeistation. »Aber soviel ich sehen kann«, fuhr er fort, »ist das einzige greifbare Ergebnis dieser vierzehn Arbeitstage nur, daß kein Mensch jetzt mehr wagt, dunkelgrüne Gabardinehosen anzuziehen.« Mißmutig schüttelte er den Kopf. Sie hatten gearbeitet und hart gearbeitet. Jeder möglichen Anregung waren sie gefolgt. Die Lösung des Rätsels aber schien genauso fern zu liegen wie am ersten Tag. Der Mörder war aus dem Nichts aufgetaucht und wieder in das Nichts verschwunden. Niemand hatte ihn gesehen, nur ein Mensch – Eva-Lotte Lisander. Die Allgemeinheit hatte ihr Bestes getan, ihm zu helfen. Es waren viele Hinweise gekommen auf Menschen, die dunkelgrüne Gabardinehosen zu tragen pflegten. Eva-Lotte war mehrere Male Individuen gegenübergestellt worden, denen der Kommissar etwas mehr auf den Zahn fühlen wollte. Die Männer waren mit einigen anderen ungefähr gleichgekleideten in eine Reihe gestellt worden, und Eva-Lotte wurde gefragt, ob einer von ihnen derjenige sei, dem sie damals auf der Prärie begegnet sei. »Nein, von diesen ist es keiner«, hatte sie jedesmal geantwortet. Eine Unmenge von Bildern waren ihr vorgelegt worden; aber auch da fand sich niemand, den sie kannte. Jeder Mensch oben auf dem Rackerberg war über seine Beobachtungen, Grens Privatleben betreffend, befragt worden. Spezielles Interesse hatte die Polizei an außergewöhnlichen Vor-kommnissen an jenem Dienstagabend vor dem Mord, als der Mann in den Gabardinehosen Gren nachweislich besucht hatte. Und beinahe alle hatten etwas ganz Außergewöhnliches gerade von diesem Abend zu berichten. Es hatte einen Lärm gegeben, als hätten sich wenigstens zehn Mörder gegenseitig umgebracht. Das war natürlich sehr interessant. Aber der Kommissar hatte bald heraus gefunden, daß der Lärm vom Krieg der Rosen verursacht worden war. Mehrere Personen, darunter auch Kalle Blomquist, hatten allerdings erklärt, daß sie ein Auto zu dem bestimmten Zeitpunkt hätten anfahren hören. Und es wurde festgestellt, daß Doktor Forsbergs Auto, in dem er an diesem Abend seinen Krankenbesuch bei Friedrich mit dem Fuß gemacht hatte, dafür nicht in Frage kam. Schutzmann Björn hatte Kalle scherzend aufgezogen und gemeint, Kalle hätte doch auf dieses seltsame Auto etwas besser achtgeben können. »Du als Meisterdetektiv«, sagte er, »hättest dir doch die Nummer des Autos aufschreiben müssen! Was machst du eigentlich im Augenblick?« »Ich hatte doch damals drei wilde Rote hinter mir her«, hatte Kalle verschämt zu seiner Verteidigung gesagt. »Ein Mann mit Auto – wunderbar!« sagte der Kommissar und schüttelte sich wie ein wütender Terrier. »Er kann ja gut hundert Meilen von hier entfernt wohnen. Er kann den Wagen in der Nähe des Herrenhofes geparkt haben und ist dann nach der Tat hineingesprungen und hatte bereits einige Meilen Vorsprung, bevor wir überhaupt wußten, daß etwas passiert war.« Man hatte unmittelbar nach dem Mord überall auf den Wegen beim Herrenhof nach Autospuren gesucht. Aber es fanden sich keine. Der heftige Regen war dem Verbrecher sicher ein unschätzbarer Helfer gewesen. Und wie sie nach dem Schuldschein gesucht hatten! Jeder Busch, jeder Stein, jedes Erdloch war untersucht worden. Das wichtige Papier jedoch war und blieb unauffindbar. »Unauffindbar wie der Mörder«, sagte der Kommissar mit einem Seufzer. »Stellt euch vor, daß der Kerl nicht das geringste Lebenszeichen von sich gibt!« In dem Moment hörte man im Vorraum ein paar eifrige Jun-genstimmen. Sie wollten deutlich den Kommissar sprechen, wurden aber von dem diensthabenden Schutzmann abgewiesen. Die Stimmen der Jungen wurden nur noch eigensinniger: »Wir müssen ihn sprechen, sage ich Ihnen!« Schutzmann Björk erkannte die Stimme von Anders und ging hinaus. »Onkel Björk«, sagte Anders, als er ihn sah, »es handelt sich um den Mord … Kalle hat das jetzt in die Hand genommen …« »Das habe ich gewiß nicht«, protestierte Kalle ärgerlich, »aber …« Björk sah sie mißbilligend an: »Ich dachte, ich hätte euch ganz deutlich gesagt, daß das hier nichts ist für kleine Jungen und Meisterdetektive in spe«, sagte er. »Überlaßt das Ganze ruhig der Staatspolizei. Das ist ihre Arbeit. Nach Hause mit euch!« Jetzt aber wurde Anders auch auf Björk, den er sonst so gut leiden konnte, böse. »Nach Hause!« schrie er. »Nach Hause gehen und dem Mörder erlauben, die ganze Stadt mit Arsenik zu vergiften, wie?« Kalle kam ihm zu Hilfe. Er zog ein wohlverpacktes Stück Schokolade hervor und sagte ernst: »Onkel Björk, jemand hat Eva-Lotte vergiftete Schokolade geschickt.« Hilfesuchend sah er den großen, langen Schutzmann an, der da vor ihm stand und ihn hindern wollte. Aber Björk hinderte ihn nicht mehr. »Kommt rein«, sagte er und schob die Jungen vor sich her. Es wurde still, als Kalle und Anders mit ihrem Bericht zu Ende waren. Dann sagte der Kommissar: »War ich es, der ein Lebenszeichen von dem Mörder haben wollte?« Er wog das Schokoladenstück in seiner Hand. Ein solches Lebenszeichen hatte er sich allerdings nicht gewünscht. Dann sah er Anders und Kalle prüfend an. Gewiß, es war möglich, daß diese Jungen in einem leeren Teich fischten. Er wußte ja nicht, für wie tüchtig er Kalle als Chemiker halten durfte und ob man seinem Bericht über den Arsenspiegel glauben konnte: Vielleicht war seine Phantasie mit ihm durchgegangen. Nun, darauf mußte eine gerichtschemische Untersuchung Antwort geben. Das mit dem Hund war ja unzweifelhaft seltsam. Es wäre wichtig, auch eine Probe von der anderen Schokoladenhälfte zu bekommen. Aber die Jungen hatten erklärt, daß sie gestern abend sorgfältig allen Auswurf des Hundes beseitigt hatten. Alles, was getan werden konnte, um die Spur zu verwischen, war getan worden. Und um das Unglück vollzumachen, hatte Eva-Lotte auch noch den Umschlag, in dem, wie die Jungen sagten, die Schokolade gewesen war, fortgeworfen. Ja, die Kleine schmeißt mit wertvollem Papier nur so um sich, dachte der Kommissar. Aber woher sollte sie eigentlich wissen, daß der Umschlag so wichtig war? Wie es auch sein mochte, danach suchen mußte man selbstverständlich. Aber ob man ihn finden würde? Er wandte sich an Anders: »Du hast wohl nicht zufällig noch so ein kleines Stück von deiner Hälfte aufbewahrt?« Anders schüttelte den Kopf: »Nein, Beppo hat alles bekommen! Ich habe nur abgeleckt, was an meinem Finger klebte.« »Ja, aber dann in deiner Hosentasche? Kann dort nichts kleben?« »Oh! Mutter hat diese Hosen gestern gewaschen!« sagte Anders. »Schade«, seufzte der Kommissar. Er schwieg eine Weile. Dann aber sah er Anders durchdringend an: »Da ist noch etwas, was ich gerade überlege. Du hattest etwas in der Küche des Postdirektors zu tun in der Nacht zu gestern, sagtest du. Du bist durch das Fenster geklettert, als alles schlief. Für einen alten Polizeimann klingt das ziemlich beunruhigend. Dürfte man einmal ganz genau wissen, was du dort zu tun hattest?« »Na ja … also …« sagte Anders und wand sich. »Na …« sagte der Kommissar. »Da war also der Großmummrich …« »Sachte, sachte, sag mir nur nicht, der Großmummrich habe wieder damit etwas zu tun«, bat der Kommissar bewegt. »Dieser Großmummrich fängt an, mir unheimlich zu werden, tatsächlich. Immer, wenn etwas passiert, dann taucht er auf.« »Ich wollte ihn doch nur bei Sixtus in den Globus legen«, sagte Anders entschuldigend. Kalle unterbrach ihn mit einem Pfiff. »Der Großmummrich!« schrie er auf. »Auf ihm klebt vielleicht Schokolade! Anders hat ihn doch in den Schokoladenkloß, den er in der Tasche hatte, gedrückt!« Über das Gesicht des Kommissars legte sich ein Lachen. »Ich glaube, es wird Zeit, daß sich der Herr Großmummrich der Polizei zur Verfügung stellt«, sagte er. Und so bekam der Großmummrich noch einmal Polizeige-leit. Schutzmann Björk begab sich eilig zur Villa des Postdirektors, und in seinem Kielwasser folgten ihm Kalle und Anders. »Der Großmummrich wird auf diese Weise reichlich verwöhnt«, sagte Kalle. »Nächstens verlangt er noch berittene Polizei zur Begleitung, wenn er mal verlegt wird.« Mit der Entdeckung, daß es Anders gewesen war, der, ohne es zu wissen, Beppo vergiftet hatte, mußte auch das Geheimnis des Großmummrich im Globus preisgegeben werden. Sie mußten ja jetzt Sixtus alles erzählen, und das bedeutete, daß er das Kleinod sofort mit Beschlag belegen würde – wenn nicht die Polizei mitkommen und es unter ihren Schutz stellen würde. Und wie betrüblich die Angelegenheit vorher für Eva-Lotte und Beppo auch gewesen war, so konnten Anders und Kalle doch nicht unterlassen, die Abholung des Großmummrich durch die Polizei als eine Art Triumphzug zu betrachten. »Übrigens ist der Großmummrich ein Lebensretter«, sagte Kalle. »Denn wenn du, Anders, ihn nicht in den Globus gelegt hättest, hätte Beppo nie die Schokolade bekommen. Und wenn Beppo die Schokolade nicht bekommen hätte, wäre sicher etwas viel Schlimmeres damit passiert. Und es ist nicht sicher, ob alle Arsen so gut vertragen wie Beppo.« Das fanden Björk und Anders auch. »Der Großmummrich ist eine ziemlich beachtliche Person«, sagte Björk und öffnete die Gartentür beim Postdirektor. Beppo lag in einem Korb auf der Veranda, noch schwach, aber unleugbar lebendig. Sixtus saß neben ihm und sah ihn lie-bevoll an. Als er jemand kommen hörte, sah er auf, und seine Augen wurden rund vor Staunen. »Guten Tag, Sixtus«, sagte Schutzmann Björk. »Ich komme, um den Großmummrich zu holen.« FÜNFZEHNTES KAPITEL Wie schnell wird ein Mord vergessen? Ach, das dauert nicht allzu lange! Die Menschen reden eine Zeitlang davon, reden und rätseln, regen sich auf und schaudern und werfen der Polizei vor, nichts zu tun. Und dann hört es auf, interessant zu sein, und sie regen sich über andere Dinge auf, die Menschen. Zuallererst vergessen natürlich die Kinder, die Kriege zwischen Rosen führen, die Eroberer des Großmummrich. Man hat viel zu tun. Man hat anderes zu denken. Wer hat gesagt, daß Sommerferien lang sind? Falsch! Vollkommen falsch! Sommerferien sind so besorgniserregend, so unbarmherzig kurz, zum Weinen kurz. Einer nach dem anderen laufen die goldenen Tage weg. Es gilt, jede Stunde auszunutzen. Da kann man die letzte sonnengetränkte Woche der Sommerferien nicht durch die Gedanken an düstere Gewalttat verdunkeln lassen. Die Mütter aber vergessen nicht so schnell. Sie halten ihre hellhaarige Tochter eine Weile im Haus, sie wagen nicht, sie aus den Augen zu lassen. Unruhig spähen sie aus dem Fenster, wenn sie ihre Söhne nicht in der Nähe toben hören. Ab und zu laufen sie aus dem Haus, um nachzusehen, ob ihren Lieblingen nichts geschehen ist. Aber schließlich schaffen sie es nicht mehr, sich zu beunruhigen. Auch sie müssen an andere Dinge denken. Und die beaufsichtigten Kinder begeben sich wieder mit tiefen Seufzern der Erleichterung an ihre gewohnten Spielplätze und Schlachtfelder, die ihnen eine Zeitlang verboten gewesen waren. Der Großmummrich war noch nicht von der gerichtschemi-schen Untersuchung in Stockholm zurückgekommen. Der Un-tersuchungsbescheid aber war bereits hier: Die äußerst winzigen Schokoladenmengen, die am Großmummrich gefunden worden waren, hatten tatsächlich Spuren von Arsenik gezeigt, und Kalles Schokolade enthielt auch Arsen. Hätte Eva-Lotte die Tafel allein aufgegessen, sie hätte wenig Aussicht gehabt weiterzule-ben. Eva-Lotte wußte um das Attentat auf sie. Es wäre unmöglich gewesen, ihr etwas zu verheimlichen, wovon alle Zeitungen be-richteten. Außerdem hielt der Kriminalkommissar es für seine Pflicht, sie zu warnen. Gewiß war der Strom von Gaben und Leckereien nach dringender Ermahnung in der Presse abgestoppt worden; aber Eva-Lotte mußte sich doch in acht nehmen. Für einen gewalttätigen Menschen gab es sicher noch andere Wege, ihr zu schaden. Und deshalb hatte der Kommissar Eva-Lotte alles über die vergiftete Schokolade erzählt. Wenn er gefürchtet hatte, Eva-Lotte würde erneut einen Schock erleiden, so hatte er sich, Gott sei Dank, geirrt. Eva-Lotte erlitt nicht den geringsten Schock. Sie wurde nur wütend, so wütend, daß sie knisterte. »Beppo hätte ja sterben können«, schrie sie. »Eine Gemeinheit, beinahe einen unschuldigen Hund zu töten, der niemand etwas getan hat!« In Eva-Lottes Augen war das eine Freveltat, die alles übertraf. Eine armselige Woche lang waren die Sommerferien nur noch. Alle Ritter der Weißen und Roten Rose waren sich einig, die kurze Gnadenfrist mußte zu etwas Besserem verwendet werden, als über vergangene Dinge, die nicht zu ändern waren, nachzu-grübeln. Beppo war wieder ganz gesund. Und Sixtus, der bisher, wie festgeklebt, nicht von seiner Seite gewichen war, wurde wieder von seiner alten Betriebsamkeit ergriffen. Aufs neue rief er seine Truppen unter die Fahnen. Sie versammelten sich in seiner Garage und schmiedeten neue Pläne. Denn nun war die Zeit der Rache gekommen. Jetzt sollte abgerechnet werden für den Großmummrich im Globus und für ähnliche Bosheiten. Daß Anders beinahe Beppo vergiftet hatte, gehörte nicht dazu. Das hatte Sixtus ihm bereits von ganzem Herzen vergeben, und Anders hatte in ganz rührender Weise Anteil genommen an Beppos Krankheit. Lange vor der Ära des Großmummrich hatten schon Kriege zwischen Roten und Weißen Rosen getobt. Und wenn auch der Großmummrich mit all den magischen Eigenschaften, die man ihm zuschrieb, ein unübertroffenes Kriegsobjekt war, so gab es doch noch andere Kostbarkeiten, die man dem Gegner rauben konnte. Da hatten die Weißen zum Beispiel die Stahlkassette, angefüllt mit geheimen Dokumenten. Anders fand, daß man ohne große Gefahr diese Kassette in der Kommode auf dem Bäckereiboden aufbewahren konnte. Das konnte man sicher auch – zu normalen Zeiten. Jetzt aber, wo der Großmummrich auf einer Dienstreise war, kam Sixtus auf den Gedanken, daß die Kassette der Weißen Rosen eine ganz außerordentliche Kostbarkeit sei, die geraubt werden mußte, und wenn die Roten Rosen bis zum letzten Mann dafür kämpfen mußten. Benka und Jonte stimmten sofort zu, und selten waren sich zwei Jungen so einig, bis zum letzten Mann zu kämpfen. Nachdem der heroi-sche Entschluß durch heilige Eide bekräftigt worden war, ging Sixtus abends in aller Ruhe in das Hauptquartier der Weißen Rosen und nahm auf dem Bäckereiboden die Kassette an sich. Die erwarteten Entsetzensschreie der Weißen blieben allerdings aus, und zwar weil sie gar nicht bemerkten, daß die Kassette verschwunden war. Zum Schluß verlor Sixtus die Geduld, und er schickte Benka mit einem Handschreiben zu den Weißen, um sie zum Erwachen zu bringen. Das Schreiben hatte folgenden Wortlaut: »Wo ist wohl die Geheimkassette der Weißen Rosen? Ja, wo sind sie wohl, die geheimen Dokumente? Dort, wo die Prärie zu Ende geht, da steht ein Haus. In dem Haus ist ein Zimmer. In dem Zimmer ist eine Ecke. In der Ecke liegt ein Papier. Auf dem Papier ist eine Landkarte. Auf der Landkarte – – – Ja, genau so! O du Weiße Laus, such nur in dem Haus!« »Nie in meinem Leben gehe ich dorthin«, sagte Eva-Lotte zuerst. Bei näherem Überlegen aber sagte sie sich selbst, daß sie sich doch unmöglich ihr Leben lang von der Prärie, dem Spiel-platz aller Spielplätze, fernhalten konnte. Frühling oder Herbst, Sommer oder Winter, die Prärie behielt ihre Anziehungskraft, sie blieb voller Möglichkeiten. Durfte sie nicht mehr auf der Prärie spielen – ja, dann konnte sie ebensogut sofort in ein Klo-ster gehen. »Ich gehe mit«, sagte sie nach einem kurzen inneren Streit mit sich selbst. »Besser sofort, als daß es zur fixen Idee bei mir wird.« Und am Morgen danach standen die Weißen Rosen unnatürlich früh auf, um zu vermeiden, daß sie während ihres Suchens von den Feinden überrascht wurden. Der Sicherheit wegen erzählte Eva-Lotte zu Hause nicht, wohin sie ging. In aller Stille schlich sie aus dem Haus und vereinigte sich mit Anders und Kalle, die schon eine Weile am Zaun auf sie gewartet hatten. Die Prärie war gar nicht so erschreckend, wie Eva-Lotte gedacht hatte. Und der Herrenhof sah beinahe einladend aus, gar nicht, als wäre er ein armes, unbewohntes Haus, sondern wie ein Heim, in dem die Menschen nur noch nicht aufgewacht waren. Bald würden sie vielleicht die Fenster öffnen, die Gardinen würden sich im Morgenwind bauschen, die Zimmer von fröhli-chen Stimmen widerhallen, und aus der Küche würde ein freundliches Rumoren zu hören sein, welches Frühstück bedeutete. Hier gab es wirklich nichts, wovor man sich ängstigen konnte. »O du Weiße Laus, such nur in dem Haus«, hatten die Roten sie aufgefordert, und sie taten ihr Bestes. Sie mußten lange suchen. Das Haus war sehr groß und hatte viele Zimmer und Ek-ken und Nischen. Aber schließlich wurde ihr Suchen von Erfolg gekrönt – genau wie die Roten es berechnet hatten. Jetzt sollten die Weißen aber gründlich angeführt werden! Das Papier enthielt tatsächlich eine Landkarte, und es war nicht schwer, den Garten des Postdirektors darauf zu erkennen. Da war das Wohnhaus und die Garage und der Holzschuppen und das geheime Örtchen und alles andere und dann an einer Stelle ein Kreis mit dem Hinweis »Grabt hier!« »Man kann von den Roten sagen, was man will; aber besonders witzig ist das hier nicht«, fand Anders, als er die Karte gründlich angesehen hatte. »Bestimmt, das hier wirkt direkt kindisch«, sagte Kalle. »Das ist so lächerlich einfach, man schämt sich richtig. Aber wir werden wohl hingehen müssen und graben glaub’ ich.« Ja, sie wollten dorthin und graben. Aber zuerst wollten sie noch etwas anderes tun Weder Anders noch Kalle waren seit dem denkwürdigen Mittwoch hier draußen gewesen. Damals waren sie von Schutzmann Björk abgewiesen worden. Nun ergriff sie eine kleine häßliche Neugierde. Sollte man nicht auf jeden Fall mal hingehen und sich die Stelle ansehen, wenn man schon hier war? »Ich nicht«, sagte Eva-Lotte nachdrücklich. Lieber wollte sie sterben als den kleinen Pfad zwischen den Haselnußsträuchern noch einmal gehen. Aber wenn Anders und Kalle durchaus wollten – sie hatte nichts dagegen. Nur abholen mußten sie sie nachher. »Gut, wir sind in zehn Minuten zurück«, sagte Kalle. Dann gingen die beiden. Als Eva-Lotte allein war, begann sie das Haus einzurichten. In ihrer Phantasie möblierte sie es und bevölkerte es mit einer großen, kinderreichen Familie. Eva-Lotte hatte selbst keine Geschwister, und kleine Kinder waren das Schönste, was sie sich denken konnte. Hier ist das Eßzimmer, dachte sie. Hier ist der Tisch. Es sind so viele Kinder, daß sie sich drängen. Und Krister und Kristine prügeln sich und müssen zur Strafe ins Kinderzimmer. Bertil ist so klein, daß er in einem hohen Kinderstuhl sitzen muß. Die Mutter füttert ihn, aber oh, wie er sabbert! Da ist die große Schwester Liliane. Sie ist so schön, sie hat ganz schwarze Haare und schwarze Augen und will abends auf den Ball gehen. Sie soll hier unter dem Kristalleuchter stehen, in einem weißer Seiden-kleid, und mit den Augen funkeln. Eva-Lotte funkelte mit den Augen und war die große Schwester Liliane. Der große Bruder Klaus kommt gerade heute aus Upsala zurück. Er hat sein Examen gemacht. Der Gutsherr ist sehr glücklich darüber. Er steht am Fenster und sieht hinaus und wartet auf seinen Sohn. Eva-Lotte streckte den Bauch vor und war der Gutsherr, der am Fenster stand und auf seinen Sohn wartete. Sieh mal an, da kommt er ja schon! Wie gut er doch aussieht – wenn er auch etwas jünger sein könnte. Es dauerte einige Sekunden, bevor Eva-Lotte aus ihrer Phan-tasiewelt in die Wirklichkeit zurückkam und begriff, daß das dort nicht der große Bruder Klaus war, der mit langen, schnellen Schritten ankam, sondern ein richtiger Mensch aus Fleisch und Blut. Sie kicherte in sich hinein. Wie peinlich, wenn sie »Hej, Klaus!« zu ihm hinuntergerufen hätte. Jetzt sah er auf und sah sie am Fenster stehen. Er zuckte zusammen, der Bruder Klaus. Er mochte es wohl nicht, daß dort der Gutsherr stand und ihn ansah. Er hatte es plötzlich eilig. So eilig! Dann aber besann er sich und kam zurück. Ja, er kam zurück! Eva-Lotte dachte nicht daran, ihn weiterhin nervös zu machen, indem sie ihn aus dem Fenster heraus ansah. Sie ging wieder in das Eßzimmer, um zu sehen, ob Bertil mit seinem Süpp-chen fertig war. Das war er nicht, und die große Schwester Liliane mußte ihm helfen. Sie war so damit beschäftigt, daß sie gar nicht hörte, wie die Tür geöffnet wurde. Und sie schrie leicht auf vor Schreck, als sie hochsah und bemerkte, daß der große Bruder Klaus ins Zimmer kam. »Guten Tag«, sagte er – der große Bruder Klaus oder wer er nun sonst war. »Guten Tag«, sagte Eva-Lotte. »Ich dachte tatsächlich, es wäre eine alte Bekannte, die ich vorhin am Fenster stehen sah«, meinte der große Bruder Klaus. »Nein, das war nur ich«, sagte Eva-Lotte. Er sah sie prüfend an. »Aber haben wir uns nicht schon einmal getroffen, du und ich?« fragte er. Eva-Lotte schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht«, sagte sie. »Daran kann ich mich nicht erinnern.« »Unter Tausenden würde ich ihn wiedererkennen«, hatte sie einmal gesagt. Aber da wußte sie nicht, daß das Aussehen eines Menschen vollkommen verändert werden kann, wenn ein Bart abrasiert und langes, in die Stirn hängendes Haar zu einer kurzen, aufrecht stehenden Bürste geschnitten wird. Der Mann, dem sie einmal auf dem schmalen Pfad begegnet war und dessen Bild ihrer Netzhaut unauslöschlich eingeprägt war, hatte damals außerdem dunkelgrüne Gabardinehosen getragen, und es war ihr unmöglich, sich vorzustellen, daß er irgendwie anders gekleidet sein konnte. Der große Klaus trug einen kleinkarierten grauen Anzug. Er sah sie mit unruhigen Augen an, und dann fragte er: »Wie kann so ein kleines Fräulein wohl heißen?« »Eva-Lotte Lisander«, sagte Eva-Lotte. Der große Klaus nickte. »Eva-Lotte Lisander«, sagte er nachdenklich. Eva-Lotte hatte keine Ahnung, wie gut es war, daß sie den großen Klaus nicht wiedererkannte. Auch ein Verbrecher scheut sich, einem Kind unnötig Böses zu tun. Aber dieser Mann gedachte sich um jeden Preis zu retten. Er wußte, jemand, der Eva-Lotte Lisander hieß, konnte alles für ihn zerstören, und er war bereit, alles zu tun, um das zu verhindern. Und jetzt stand sie hier vor ihm, diese Eva-Lotte Lisander, die er schon durch das Fenster erkannt zu haben glaubte, als er ihr helles Haar gesehen hatte, stand hier vor ihm und sagte ganz ruhig, daß sie ihn nie vorher getroffen hätte. Und er fühlte eine Erleichterung, daß er hätte schreien mögen. Er brauchte also diesen plappern-den Mund nicht zu schließen, diesen Mund, der ihm so viel Sorgen gemacht hatte. Er brauchte nicht mehr zu fürchten, daß diese Eva-Lotte Lisander eines Tages in der Nachbarstadt, wo er wohnte, auftauchte und ihn wiedererkannte und mit dem Finger auf ihn zeigte und sagte: »Da geht der Mörder!« Denn sie kannte ihn nicht. Sie war nicht länger mehr ein Zeuge gegen ihn. Er war so erleichtert, er war beinahe froh darüber, daß sie seinem Attentat mit der Schokolade entgangen war. Der große Klaus wollte gehen. Er wollte gehen und nie wieder an diesen verdammten Platz zurückkehren. Als er aber die Türklinke in der Hand hielt, erwachte sein Mißtrauen. Sie war doch wohl nicht etwa eine ausgekochte kleine Schauspielerin, die die Unschuldige markierte und nur so tat, als kenne sie ihn nicht mehr? Er warf ihr einen lauernden Blick zu. Aber sie stand da mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen, und ihr Kinderblick war offen und zuverlässig. Da gab es keine Verstellung, das konnte er deutlich sehen. Trotzdem fragte er: »Was machst du hier so allein?« »Ich bin nicht allein«, sagte Eva-Lotte freundlich. »Anders und Kalle sind auch hier. Meine Freunde, verstehen Sie?« »Spielt ihr hier?« wollte der große Klaus wissen. »Nein«, sagte Eva-Lotte, »wir haben bloß ein Papier gesucht.« »Ein Papier?« fragte der große Klaus, und sein Blick wurde hart. »Ein Papier habt ihr gesucht?« »Ja, und so lange«, sagte Eva-Lotte, die fand, daß eine Stunde lang war, wenn es galt, die kindische Landkarte der Roten aufzuspüren. »Sie glauben gar nicht, wie wir gesucht haben! Aber wir haben es gefunden.« Er war verloren. Ein paar Kinder hatten ihn gefunden, den Schuldschein, den er selbst immer wieder gesucht hatte und den er heute zum allerletztenmal hatte suchen wollen. Er war verloren, und das jetzt, da er glaubte, in Sicherheit zu sein! Er zwang sich zur Ruhe. Noch wollte er nicht alle Hoffnung aufgeben. Er mußte nur dieses Papier haben – mußte es haben! »Wo sind Anders und Kalle denn jetzt?« fragte er so unbeteiligt wie möglich. »Die kommen gleich wieder«, antwortete Eva-Lotte. Sie sah aus dem Fenster. »Ja, da hinten kommen sie schon«, fuhr sie fort. Der große Klaus stellte sich hinter sie, um aus dem Fenster zu sehen. Mit der Hand stützte er sich auf das Fensterbrett, und als Eva-Lotte den Kopf ein wenig senkte, sah sie zufällig auf seine Hand. Und sie erkannte seine Hand wieder. Diese Hand erkannte sie. Sie war wohlgeformt und reichlich mit dunklen Härchen bewachsen. Jetzt wußte sie, wer der große Klaus war. Und der Schreck, der sie ergriff, war so groß, daß er sie fast zu Boden warf. Alles Blut schoß ihr aus dem Gesicht, nur um Sekunden später mit solcher Gewalt wieder zurückzuschießen, daß es in ihren Ohren dröhnte. Es war gut, daß sie mit dem Rücken zu ihm stand. So konnte er das wilde Entsetzen in ihren Augen nicht sehen und auch ihren Mund nicht, der anfing zu zittern. Aber gleichzeitig war es furchtbar, ihn hinter sich zu fühlen und nicht zu wissen, was er tat. Aber da kamen Anders und Kalle – Gott segne sie! Sie war nicht mehr allein auf der Welt. Die beiden Gestalten, die dort in ausgeblichenen blauen Hosen und nicht ganz sauberen Hemden und mit ungekämmten Haaren angetrabt kamen, waren wie ein Geschenk des Himmels für sie. Ritter der Weißen Rose, Gott segne euch! Aber sie war auch ein Ritter der Weißen Rose, und der durfte die Besinnung nicht verlieren. Ihr Gehirn arbeitete so fieber-haft, daß sie glaubte, der Mann hinter ihr müsse es hören. Etwas war ihr klar: Er durfte nicht bemerken, daß sie ihn wiedererkannt hatte. Was auch geschah, sie mußte ruhig aussehen. Sie öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus. Ihre ganze Verzweiflung lag in ihren Augen. Die beiden da draußen aber merkten nichts davon. »Aufgepaßt, gleich kommen sie!« schrie Anders hinauf. Der große Klaus zuckte zusammen. War die Polizei schon unterwegs, um den Revers zu holen? Wer von den Kindern hatte ihn? Er mußte sich beeilen. Die Zeit drängte. Es mußte sofort etwas geschehen. Er ging nach vorn, dicht an das Fenster. Er hatte keine Wahl. Wenn sich auch sein Inneres dagegen sträubte, er mußte sich offen zeigen. Er lächelte den Jungen freundlich zu. »Hallo, ihr dort!« sagte er. Sie sahen fragend zu ihm auf. »Dürft ihr denn eine kleine Dame so allein lassen?« fragte er in einem Ton, der scherzhaft sein sollte, der ihm aber nicht gelang. »Ich war direkt gezwungen, hier hineinzugehen und ein wenig mit Eva-Lotte zu plaudern, während ihr draußen Altpa-piersammlung spieltet.« Darauf gab es kaum etwas zu antworten, und Kalle und Anders schwiegen abwartend. »Kommt rein, Jungen«, sprach der Mann hinter Eva-Lotte weiter. »Ich habe euch einen Vorschlag zu machen. Einen guten Vorschlag. Ihr könnt Geld dabei verdienen.« Nun wurden Anders und Kalle lebhaft. Wenn es darum ging, Geld zu verdienen waren sie immer bereit, sich sofort in die Startlöcher zu legen. Eva-Lotte saß jetzt auf dem Fensterbrett und sah sie so son-derbar an. Und sie machte mit der Hand das Geheimzeichen der Weißen Rose. Und dieses geheime Zeichen bedeutete »Gefahr«. Anders und Kalle zögerten verwirrt. Da begann Eva-Lotte zu singen. »Sommer ist, die Sonne scheint«, sang sie, wenn auch mit etwas zitternder Stimme. Und sie sang dieselbe frohe Melodie weiter – nur der Text war ein wenig verändert. »Mom ö ror dod e ror«, sang sie. Das klang wie ein zusammenhangloser Singsang, wie ihn Kinder sich ausdenken. Anders und Kalle aber wurden stocksteif, als sie es hörten. Sie standen wie angenagelt. Dann aber nahmen sie sich zusammen und kniffen sich wie unabsichtlich ins Ohrläppchen – das geheime Zeichen der Weißen Rose dafür, daß eine Botschaft verstanden worden war. »Na, beeilt euch!« sagte der Mann am Fenster ungeduldig. Unschlüssig standen die beiden. Aber plötzlich drehte sich Kalle um und ging mit raschen Schritten auf ein Gebüsch zu, das in der Nähe war. »Wo willst du hin?« schrie der Mann im Fenster ärgerlich. »Willst du nicht dabeisein, wenn es Geld zu verdienen gibt?« »Na klar«, sagte Kalle ruhig. »Aber deshalb darf man doch die natürlichen Bedürfnisse nicht vergessen, meine ich.« Der Mann biß sich auf die Lippen. »Beeil dich!« schrie er. »Ja, ja, werde ich machen«, rief Kalle zurück. Es dauerte eine ganze Weile. Dann aber kam er doch wieder, demonstrativ seine Hosen zuknöpfend. Anders stand noch auf demselben Platz. Bei ihm war nicht der Schatten des Gedankens aufgetaucht, Eva-Lotte etwa im Stich zu lassen. Er mußte zu ihr in das Haus hinein, wo sich der Mörder befand; aber er wollte Kalle dabei haben. Und nun gingen sie hinein. Anders ging vor zu Eva-Lotte und legte seinen Arm um ihre Schulter. Er sah auf ihre Armbanduhr, und dann sagte er: »Donner noch mal, ist das aber spät! Wir müssen nach Haus, aber schnell!« Er nahm Eva-Lotte an die Hand und ging mit ihr zur Tür. »Ja, ich glaube auch, das Geld, von dem Sie sprachen, verdienen wir uns wohl besser ein andermal«, meinte Kalle. »Jetzt müssen wir rennen.« Wenn sie aber dachten, der große Klaus hätte nichts dagegen, so irrten sie sich. Plötzlich stand er vor der Tür und hinderte sie. »Moment mal«, sagte er. »So eilig habt ihr es doch nicht!« Er fühlte mit der Hand in seine Gesäßtasche. Ja, er war dort. Seit dem Mittwoch im Juli trug er ihn immer bei sich – für alle Fälle. Die Gedanken jagten sich in seinem Kopf. Es gab kein Zurück mehr. Er hatte ein hohes Spiel begonnen und mußte es zu Ende spielen, auch wenn es noch ein paar Menschenleben kosten sollte. Als er die drei Kinder vor sich ansah, haßte er sie für das, was zu tun er gezwungen war. Aber er konnte keine drei Zeugen brauchen, die hingingen, um auszusagen, wie der Mann aussah, der ihnen den Schuldschein weggenommen hatte. Nein, sie sollten niemals Gelegenheit bekommen, etwas darüber zu erzählen. Dafür wollte er sorgen, wenn es ihm auch fast übel war vor Schreck. Zuerst mußte er jetzt wissen, wer von ihnen das Papier hatte, damit er nicht noch lange in ihren Taschen herumzusu-chen brauchte – nachher. »Hört mal«, sagte er, und seine Stimme war heiser und unklar, »gebt das Papier her, das ihr da vorhin gefunden habt. Ich will es haben – aber schnell.« Die drei vor ihm gafften vor Erstaunen. Sie hätten nicht erstaunter sein können, wenn er gesagt hätte: »Los, singt: ›Bäh, bäh, weißes Lamm‹!« Man hatte ja schon von wahnsinnigen Mördern gehört; aber nicht einmal ein Wahnsinniger konnte doch Spaß an der Landkarte der Roten Rosen mit dem Hinweis »Grabt hier« haben. Natürlich, eigentlich konnte er die Landkarte getrost bekommen, wenn er so wild danach war, dachte Anders, der die Karte in seiner Hosentasche fühlte. Man konnte sie ihm ja geben. In wirklich kritischen Situationen aber war es trotz allem der Meisterdetektiv Blomquist, der am schnellsten dachte. Im Laufe einer kurzen Sekunde ging ihm auf, was für ein Papier es war, von dem der Mann dachte, daß sie es hätten. Und noch mehr stand im selben Moment ganz klar vor Kalle. Dieser Mann hatte kaltblütig einen Menschen niedergeschossen, und gewiß war er auch jetzt bewaffnet. Die Zeugin Eva-Lotte hatte er durch vergiftete Schokolade aus dem Weg räumen wollen. Kalle begriff, wie gering ihre Chancen waren, lebend von hier wegzukommen. Wenn Anders jetzt die Karte aus der Tasche nehmen würde und wenn es ihnen auch glücken würde, den Mörder davon zu überzeugen, daß sie nie im Leben seinen Revers gesehen hatten, so waren sie doch verloren. Der Mörder wußte sicher, daß er sich durch seine heftigen Fragen verraten hatte, und Kalle begriff, daß, wenn er damals versucht hatte, einen Zeugen loszuwerden, er noch weniger zulassen würde, daß es drei gab, die lebend umherliefen und ihn identifizieren konnten. Darüber dachte Kalle nicht in klaren, deutlichen Worten; aber es befand sich als Bewußtsein innen in seinem Gehirn. Und diese Bewußtheit machte ihn ohnmachtsreif vor Angst. Aber er sagte wütend zu sich selbst: Du hast nachher Zeit, Angst zu haben – wenn es ein Nachher noch gibt! Es galt, Zeit zu gewinnen, oh, nur Zeit mußte gewonnen werden! Anders wollte gerade die Karte aus seiner Taschen ziehen, als er plötzlich einen Puff von Kalle bekam. »Non ei non«, zischte Kalle. »Lol a ßoß sos ei non!« »Hört ihr nicht, was ich sage?« fragte der große Klaus böse. »Wer von euch hat das Papier?« »Wir haben es nicht hier«, sagte Kalle ruhig. Anders fand wohl, es wäre besser gewesen, dem Mann das Papier zu geben. Dann hätten sie vielleicht gehen dürfen. Aber er wußte auch, daß Kalle es besser gewohnt war, mit kriminellen Personen umzugehen, und deshalb schwieg er. Der Mann an der Tür wurde vollkommen wild über Kalles Worte. »Wo habt ihr es?« schrie er. »Her damit! Schnell! Sofort!« Kalle überlegte, so schnell er konnte. Wenn er jetzt sagte, das Papier sei auf dem Polizeirevier oder zu Hause bei Eva-Lotte oder weit draußen irgendwo auf der Prärie, so war wahrscheinlich sofort alles aus. Er begriff, daß sie sich so lange sicher fühlen konnten, wie der Mörder noch Hoffnung hatte, das Papier rechtzeitig zu bekommen. »Wir haben es im oberen Stockwerk«, sagte er zögernd. Der große Klaus zitterte vor Erregung am ganzen Körper. Er zog den Revolver aus der Tasche. Eva-Lotte schloß die Augen. »Beeilt euch!« schrie er. »Vielleicht hilft euch dies hier, ein wenig Tempo in die Beine zu legen!« Und er trieb sie vor sich her aus dem Zimmer. »Gog e hoh tot lol a non gog sos a mom«, sagte Kalle leise. »Pop o lol i zoz ei kok o mom mom tot bob a lol dod!« Anders und Eva-Lotte sahen ihn verwundert an. Wie sollte die Polizei bald kommen? Glaubte er, sie durch Gedankenüber-tragung hierher zu lenken? Aber sie gehorchten und gingen langsam. Sie zogen die Beine nach, stolperten über Türschwel-len, und Anders rutschte aus und sauste rückwärts die Treppe hinunter wie vor tausend Jahren, als sie gerade an derselben Stelle mit den Roten gekämpft hatten. Ihre Langsamkeit brachte den großen Klaus außer Rand und Band. Er war so nahe an der Grenze, die Nerven zu verlieren, daß er fürchtete, es jetzt schon zu tun – das, was er tun wollte. Aber er mußte zuerst den Schuldschein haben. Oh, wie er diese Kinder haßte! Die wußten anscheinend nicht einmal mehr, in welcher Ek-ke sie das Papier versteckt hatten. Langsam, ganz langsam trödel-ten sie sich von dem einen Zimmer in das andere und sahen sich um und sagten dann nachdenklich: »Nein, hier war es nicht.« Eine verwilderte Viehherde wäre leichter vor sich her zu treiben gewesen. Die verdammten Satanskinder blieben stehen, um sich die Nasen zu putzen oder um sich zu kratzen oder um zu weinen – ja, es war natürlich das Mädchen, das weinte. Dann kamen sie in ein kleines Zimmer mit herunterhängen-der Tapete. Und Eva-Lotte schluchzte auf, als ihr einfiel, wie sie und Kalle hier eingeschlossen gewesen waren vor langer Zeit, damals, als sie noch jung und glücklich waren. Kalle sah prüfend an den Wänden entlang. »Nee, hier war es doch wohl nicht«, sagte er. »Nee, hier war es sicher nicht«, sagte Anders. Dieses Zimmer war aber das letzte im ganzen oberen Stockwerk, und der große Klaus stieß einen unartikulierten Schrei aus. »Glaubt ihr, ihr könnt mich zum Narren halten?« schrie er los. »Glaubt ihr, daß ich nicht merke, wie ihr mich an der Nase herumführt? Aber jetzt sollt ihr mal auf mich hören, sage ich euch! Ihr holt sofort das Papier raus. Jetzt sofort. Und wenn ihr vergessen habt, wo es ist, wird es für euch am schlimmsten. Bekomme ich es nicht in genau fünf Sekunden, schieße ich euch alle drei nieder.« Er stand mit dem Rücken zum Fenster und zielte auf sie. Kalle verstand, daß er es ernst meinte und daß seine Taktik nun nicht mehr taugte. Er nickte Anders zu. Anders ging hinüber zu der Wand, an der die Tapete in Fetzen herunterhing. Die Hand, die er in der Tasche hielt, zog er heraus und steckte sie hinter die Tapete. Als er sie nach einem Augenblick wieder hervornahm, hatte er ein Papier zwischen den Fingern. »Hier ist es ja«, sagte er. »Das ist gut«, sagte der große Klaus. »Bleibt dort dicht beieinander stehen. Und du streckst deine Hand aus und gibst mir das Papier.« »Wow e ror fof tot eu choch zoz u Bob o dod e non, wow e non non i choch non ie sos e«, sagte Kalle zungenzerbrechend. Anders und Eva-Lotte faßten sich an die Ohrläppchen zum Zeichen, daß sie verstanden hatten. Der große Klaus hörte zwar, daß eines der Kinder eine Art Kauderwelsch redete; was es aber war, interessierte ihn nicht. Er wußte, daß er nun bald damit fertig war. Wenn er erst das Papier hatte, sollte es geschehen. Er streckte seine Hand nach dem Papier aus, das Anders ihm entgegenhielt, und hatte die ganze Zeit seinen Revolver in Bereitschaft. Aber seine Finger zitterten, als er mit nur einer Hand versuchte, den zusammengeknüllten Schuldschein zu glätten. Schuldschein? Welcher Schuldschein? »Grabt hier« – das ist ja wohl nicht gerade das, was man auf einem Revers zu finden glaubt. Sein Verstand setzte eine halbe Sekunde aus, und genau da hörte man Kalle kräftig niesen. Im selben Augenblick warfen sich die drei auf den Boden. Kalle und Anders schmissen sich nach vorn und bekamen die Beine vom großen Klaus zu fassen. Er plumpste zu Boden und schrie, als er fiel. Der Revolver rollte ihm aus der Hand, und Kalle hatte ihn im Bruchteil einer Se- kunde, bevor der Gegner sich recht besinnen konnte, an sich gerissen und war aufgesprungen. Das war also so eine Gelegenheit, wo der Meisterdetektiv Blomquist einen Mörder entwaffnete. So etwas tat er ja oft –und stets mit der gleichen Eleganz. Und dann pflegte er lässig den Revolver auf den Verbrecher zu richten und zu sagen: »Vorsicht in der Kurve, mein Guter!« Und so geschah es jetzt wohl auch? Nein, so geschah es nicht. In voller Panik nahm er das häßliche schwarze Ding und warf es aus dem Fenster, so daß die Glassplitter flogen. Das war es, was er tat. Und das war doch wohl schlecht bedacht von einem Meisterdetektiv. Einen Revolver zur Hand zu haben, wäre doch sicher gut gewesen. Die Wahrheit war aber, daß dem Meisterdetektiv jetzt himmelangst war vor allem, was sich Schußwaffe nannte, sein Katapult ausgenommen. Vielleicht tat er auch ganz recht. Ein Revolver in der Hand eines zitternden Jungen ist wohl doch nicht die geeignete Drohung einem Mörder gegen- über. Die Rollen wären sicher sofort wieder getauscht worden. Und darum war es besser, der Revolver lag für beide außer Reichweite. Der große Klaus war inzwischen aufgesprungen und starrte verwirrt und mit wildem Blick aus dem Fenster, seine Waffe suchend. Das war sein größter und schlimmster Fehler, und die drei Ritter der Weißen Rose zögerten nicht, ihn auszunutzen. Sie sausten zur Tür. Der einzigen Tür im Haus, die wirklich zu verschließen war – das wußten sie ja aus eigener bitterer Erfahrung. Der große Klaus war ihnen auf den Fersen. Aber sie schafften es im letzten Augen blick und preßten die Tür zu und setzten ihre Füße dagegen, so daß Kalle den Schlüssel umdrehen konnte. Sie hörten Gebrüll hinter der Tür und wildes Klopfen. Kalle nahm sicherheitshalber den Schlüssel heraus für den Fall, daß zufällig der Mörder auch wußte, wie man eine von außen abgeschlosse-ne Tür von innen öffnen konnte. Sie rasten die zierliche Treppe hinunter, immer noch angst-gehetzt und am ganzen Körper zitternd. Zugleich quetschten sie sich durch die Außentür. Sie rannten besinnungslos. Aber Kalle sagte beinahe weinend: »Wir müssen den Revolver holen.« Die Mordwaffe mußte sichergestellt werden, das war klar. Im selben Augenblick aber, als sie sich umwandten, geschah es. Etwas kam aus dem geöffneten Fenster gesaust und landete genau vor ihnen. Der große Klaus war gesprungen. Es war ein Sprung aus sieben Meter Höhe; aber in seiner Raserei hatte er diese Kleinigkeit nicht bedacht. Jetzt würde er ohne viel Lamento handeln. Da hörte er eine Stimme, in der Tränen und Jubel miteinander um den Vorrang kämpften. Es war das Mädchen, das schrie: »Die Polizei! Da kommen sie! Schnell, beeilt euch! Kommt! Onkel Björk! Schnell, hierher!« Er sah über die Prärie. Tatsächlich, bei allen schwarzen Mächten, da kamen sie, in ganzen Scharen! Zu spät, die Kinder zum Schweigen zu bringen. Aber vielleicht noch nicht zu spät zum Fliehen. Er schnaufte vor Angst. Zu seinem Auto! Sich hineinwerfen! Aufdrehen und losrasen! Weit weg, in ein anderes Land! Er lief in der Richtung zu seinem Wagen. Er holte das Letzte aus seinen Beinen heraus. Denn dort kamen sie hinter ihm her, die Polizisten, genau wie in seinen schrecklichen Träumen. Aber sein Vorsprung war gut. Wenn er nur erst am Auto war … Da, da stand seine Rettung! Er fühlte einen wilden Triumph in der Brust, als er die letzten Meter in langen Sprüngen nahm. Er würde durchkommen … Er drehte den Zündschlüssel, und der Motor lief an. Adieu alle, die ihn halten wollten! Aber das Auto bewegte sich mit dumpfem Gepolter mühevoll wie eine Schnecke vorwärts. Er stieß einen Fluch zwischen den Zähnen hervor. Als er sich aus dem Wagen beugte, sah er es: Seine Reifen waren platt! Die Verfolger näherten sich immer mehr. Er sprang aus dem Auto. Er hätte schießen können, aber er tat es nicht. Sie würden ihn trotzdem fassen, das wußte er. In seiner Nähe standen einige Büsche, und dicht dahinter war ein Pfuhl, der trotz der Dürre des Sommers mit schlammigem Wasser gefüllt war. Dorthin lief er. Und in die morastige Tiefe versenkte er den Revolver. Die Mordwaffe sollten sie nicht finden. Dieses Beweisstück sollte nicht gegen ihn zeugen. Dann lief er in einem großen Bogen zum Weg zurück. Dort blieb er stehen und wartete. Er war jetzt bereit. Nun konnten sie ihn haben. SECHZEHNTES KAPITEL Der verhaftete junge Mann, der nach Eva-Lottes Aussagen der Mörder war, leugnete hartnäckig und geschickt, jemals etwas mit Gren zu tun gehabt, ja, ihn überhaupt gekannt zu haben. Seine Spielerei mit den Kindern sei nicht böse gemeint gewesen – ja, sicherlich etwas dumm, und er habe sie wohl erschreckt, das gebe er zu. Wo sein Revolver sei? Ja, das würde er selbst gern wissen … eine gute Waffe, von seinem Vater geerbt … sicher habe eins der Kinder ihn genommen … Grüne Gabardinehosen seien in seinem Schrank gefunden worden? Ja, er habe nie gehört, daß es verboten sei, solche zu tragen … Und seinen Bart habe er sich abrasiert, weil er ihm langweilig geworden war. Er könnte es nicht ändern, daß am Tage davor ein armer Greis erschossen worden war. Er hatte den Mut, so lange zu lügen, bis der Kommissar beinahe die Geduld verlor. Der große Bruder Klaus war aus hartem Holz. Ja, großer Bruder Klaus – ein eigenartiger Zufall wollte es, daß er tatsächlich Klaus mit Vornamen hieß. Eva-Lotte hatte ihn richtig getauft. Die dramatischen Ereignisse draußen im Herrenhof hatten Störungen im Krieg der Rosen zur Folge. Wieder einmal hatte die Angst die Mütter ergriffen. Wieder einmal bekamen die Kinder strenge Anweisung, sich im Haus zu halten. Und diese selbst waren noch so angegriffen, daß sie kaum Lust zu etwas verspür-ten. Sie saßen im Garten des Bäckermeisters, die Roten und die Weißen Rosen, und gingen noch einmal in der Erinnerung die entsetzlichen Minuten auf der Prärie durch. Und Kalle bekam wieder und wieder Lobesworte für seine Klugheit zu hören; denn das war doch wohl der Gipfel der Klugheit, sich das mit dem »natürlichen Bedürfnis« auszutüfteln! Er hatte gewußt, daß die Roten unterwegs waren, und sie auch gesehen, wie sie sich in den Büschen herumdrückten. Deshalb war er ihnen entge-gengerannt, so schnell er konnte, und hatte ihnen den kurzen, aber unmißverständlichen Befehl gegeben: »Der Mörder ist im Herrenhof! Lauft und holt die Polizei! Und einer von euch rennt zu seinem Auto an der Wegbiegung und schraubt alle Ventile aus den Reifen und versteckt sie.« Während die Geduld des Kommissars nach einem weiteren Verhörtag mit dem großen Klaus erneut um einige Grade gesunken war, saß Benka friedlich zu Hause und war mit seiner Briefmarkensammlung beschäftigt. An diesem regnerischen Nachmittag konnte man sich, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, friedlichen Innenraumbeschäftigungen hingeben, und Benka gab sich seinen Briefmarken hin. Er betrachtete sie liebe-voll. Er hatte eine fast vollständige Serie schwedischer Marken und wollte gerade eine Anzahl von Neuerwerbungen einkleben, als sein Blick auf einen zerknitterten Umschlag fiel. Ach ja, das hatte er ja vor Lisanders Garten gefunden, vor einiger Zeit. Benka hatte den Umschlag aufgehoben, weil er eine neue, soeben herausgegebene Marke, die er noch nicht hatte, darauf sah. Nun glättete er den Umschlag zum erstenmal. Er hatte ihn vor-dem einfach so, wie er war, in den Karton gelegt, wo er seine Marken aufbewahrte. »Fräulein Eva-Lotte Lisander« stand in Maschinenschrift auf dem Umschlag. Ja, sie hatte sehr viel Post gehabt in letzter Zeit, die Eva-Lotte. Er sah in den Umschlag hinein. Natürlich leer! Als er die Marke noch einmal sah, freute er sich. Sie war wirklich sehr schön. Wo der Brief abgesandt war, konnte man nicht sehen. »B. P.« stand auf dem Stempel. Das bedeutete »Bahn-post«. Das Datum aber konnte man deutlich erkennen. Und plötzlich kam ihm wie der Blitz ein Gedanke. Wenn das nun der Umschlag war, nach dem die Polizei so sehr gesucht hatte? Mal sehen … Der Tag, als die Weißen in der Laube gesessen hatten und Sixtus ihn ausgeschickt hatte, die Weißen zu reizen, – war das nicht der Tag, an dem Eva-Lotte die Schokolade bekommen hatte? Ja, klar, das war der Tag! Und an dem Tag hatte er auch den Umschlag gefunden. Was für eine Nuß er doch war, nicht schon früher den Umschlag etwas genauer anzusehen! In zwei Minuten war er bei Sixtus, der auch zu Hause saß. Er spielte Schach mit Jonte. Und in zwei Minuten waren sie alle bei Eva-Lotte, die auch zu Hause saß. Oben auf dem Bäckereiboden mit Anders und Kalle. Sie hörten sich an, wie der Regen auf das Dach tropfte, und lasen Witzblätter. Und in zwei Minuten waren die sechs auf dem Polizeirevier. Aber es kostete die Durchnäßten beinahe eine Viertelstunde, hineinzugelangen, um Onkel Björk und dem Kriminalkommissar klarzumachen, weshalb sie gekommen waren. Der Kommissar betrachtete den Umschlag durch die Lupe. Der Buchstabe t war deutlich sichtbar auf der Schreibmaschine, die man zur Beschriftung benutzt hatte, fehlerhaft. Jedes t hatte eine winzige Scharte. »Kinder sind wie Hunde«, schmunzelte der Kommissar, als die sechs gegangen waren. »Sie schnüffeln überall umher und wühlen in einer Menge Plunder rum, aber dann, hast du nicht gesehen, kommen sie doch mit etwas Genießbarem nach Haus!« Der Umschlag erwies sich als in hohem Maße genießbar. Der große Klaus hatte tatsächlich eine Schreibmaschine, und als festgestellt wurde, daß der Buchstabe t auf seiner Maschine den-selben Fehler aufwies wie die entsprechenden Buchstaben auf dem Umschlag, hielt der Kommissar die Zeit für reif, ihn unter Mordanklage zu stellen. Aber nach wie vor weigerte sich der Verhaftete, zu gestehen. Man war gezwungen, ihn auf Indizien hin anzuklagen. Sixtus hatte eine neue Karte mit einem neuen »Grabt hier« angefertigt. Und eines schönen Abends kam er und übergab sie den Rittern der Weißen Rose, die vollzählig im Garten des Bäk-kermeisters versammelt waren. »Grabt hier«, sagte Anders, als Sixtus ihm die Karte in die Hand steckte. »Ja, das sagst du. Aber was wird dein Vater sagen, wenn wir seinen Rasen umpflügen?« »Wer hat gesagt, daß es Rasen ist? Folgt ihr nur der Karte, und ich garantiere dafür, daß kein Vater schimpfen wird. Benka und Jonte und ich, wir sausen jetzt. Wir werden inzwischen baden gehen.« Die Weißen zogen zum Garten des Postdirektors. Sie rechneten die Abstände aus und verglichen mit der Skizze auf der Karte und kamen schließlich dahinter, daß die Kassette in einem alten, fast völlig zugewachsenen Erdbeerbeet eingegraben sein mußte. Munter begannen sie zu graben, und bei jedem Stein, an den sie stießen, jubelten sie laut auf in dem Glauben, es sei die Kassette, die von einem Spaten getroffen war. Aber jedesmal wurden sie enttäuscht und gruben von neuem, so daß der Schweiß nur so rann. Als sie schließlich fast das ganze Erdbeerbeet durchgeackert hatten, sagte Kalle plötzlich mit einem Seufzer: »Na endlich, hier haben wir sie.« Und er grub die Finger in den Sand und holte die erdige Kassette hervor, die so heimtük-kisch in die äußerste Ecke verlagert worden war. Anders und Eva-Lotte warfen ihre Spaten beiseite und eilten hinzu. Vorsichtig säuberte Eva-Lotte mit dem Taschentuch ihren kostbaren Reliquienschrein, und Anders nahm den Schlüssel, den er an seinem Hals trug, heraus. Die Kassette war so unheimlich leicht. War es denkbar, daß die Roten einen falschen Schlüssel benutzt und einige der Kostbarkeiten einfach gestohlen hatten? Um sich zu überzeugen, öffneten sie schnell ihre Kassette. Tatsächlich, da lagen keine Geheimdokumente und Kostbarkeiten mehr. Da lag nur ein Zettel, beschrieben mit der verab-scheuungswürdigen Handschrift von Sixtus. Und der Zettel enthielt folgende Aufforderung: »Grabt hier mehr! Macht weiter, wie Ihr angefangen habt! Ihr braucht nur noch ein paar tausend Meilen zu graben, dann kommt Ihr in Neuseeland raus. Dort könnt Ihr dann bleiben!« Die Weißen stießen einen Ruf der Verbitterung aus. Und hinter der Hecke hörte man ein entzückt gluckerndes Lachen. Sixtus, Benka und Jonte kamen hervor. »Ihr Lümmel, wo habt ihr unsere Urkunden gelassen?« schrie Anders sie an. Sixtus schlug sich auf die Knie und lachte erst ausgiebig, bevor er antwortete. »Maulwürfe!« sagte er. »Glaubt ihr, wir haben irgendein Interesse an euren schmierigen Urkunden? Die liegen unter all dem anderen Plunder in eurer Kommodenschublade. Aber ihr hört ja weder noch seht ihr.« »Nein, sie graben nur und graben und graben«, sagte Jonte. »Ja, graben könnt ihr großartig«, lobte Sixtus. »Wie wird Vater zufrieden sein, wenn er mich nicht mehr mit dem Umgraben dieses alten Erdbeerbeetes zu quälen braucht! Ich hatte nämlich in der Sommerwärme keine rechte Lust dazu.« »Na, du hast ja wahrscheinlich auch Blasen an den Händen, seit du so tüchtig nach dem Großmummrich gegraben hast«, vermutete Kalle. »Das wird euch teuer zu stehen kommen, meine Herren«, sagte Anders. »Ja, darauf könnt ihr die Kurve nehmen«, sagte Eva-Lotte. Sie schüttelte das erdige Taschentuch aus und stopfte es wieder in ihre Tasche. Da steckte schon etwas, ganz unten in der Tiefe der Tasche. Es war ein Stück Papier. Sie nahm es heraus und sah es an. »Revers« stand ganz oben. Eva-Lotte lachte auf. »Nee, kann man sich so etwas vorstellen!« sagte sie. »Hier steckt doch dieser olle Revers! Die ganze Zeit über muß er schon hier gesteckt haben, während alle möglichen Leute drau- ßen auf der Prärie zwischen den Büschen rumkrochen und danach suchten. Habe ich es nicht immer gesagt – es ist irgendwie blödsinnig mit Reversen!« Sie sah sich das Papier genauer an. »Klaus«, sagte sie. »Ja, stimmt. Übrigens hat er eine ganz nette Handschrift.« Dabei knitterte sie das Papier wieder zu einem Ball zusammen und warf es ins Gras, wo der Sommerwind damit zu spielen begann. »Nun ist er ja verhaftet«, sagte sie. »Jetzt ist es ja gleich, was für eine Handschrift er hat.« Kalle schrie auf und warf sich über das kostbare Papier. Er sah Eva-Lotte vorwurfsvoll an: »Ich will dir mal etwas sagen, Eva-Lotte. Es wird einmal sehr unglücklich mit dir enden, wenn du nicht endlich damit aufhörst, so mit wichtigen Papieren umherzuwerfen.« SIEBZEHNTES KAPITEL »Ei non Hoh o choch dod e non Ror o tot e non Ror o sos e non«, sagte Sixtus mit einiger Anstrengung. »Eigentlich eine verflixt einfache Sprache, wenn man darüber nachdenkt.« »Ja, das kannst du jetzt sagen, wo du den Trick kennst«, sagte Anders lachend. »Und außerdem müßt ihr noch lernen, sie viel, viel schneller zu sprechen« sagte Kalle. »Ja, nicht einen Buchstaben heute und einen morgen«, stichelte Eva-Lotte. »Die Rors müssen nur so knattern!« Wieder saßen sie alle auf dem Bäckereiboden, die Ritter der Weißen und die der Roten Rose. Die Roten hatten soeben ihre erste Lektion in der Räubersprache bekommen. Bei näherer Überlegung hatten nämlich die Weißen eingesehen, daß es ein Gebot der Nächstenliebe war, die Roten in das Geheimnis ihrer Sprache einzuweihen. Der Nutzen durch die Kenntnisse in fremden Sprachen kann nicht hoch genug gewertet werden, pflegte ja auch der Lehrer in der Schule stets zu sagen. Oh, wie hatte er recht! Denn wie wären wohl Anders, Kalle und Eva-Lotte im Herrenhof klargekommen, wenn sie nicht die Räubersprache beherrscht hätten! Kalle hatte einige Tage darüber nachgedacht und schließlich zu Eva-Lotte und Anders gesagt: »Wir können es einfach nicht verantworten, die Roten in einer so bodenlosen Unwissenheit leben zu lassen. Es muß glatt schiefgehen, wenn sie mal mit Mördern zu tun haben.« Und deshalb hatten die Weißen nun ihren Sprachunterricht auf dem Bäckereiboden gestartet. Sixtus hatte ein wunderbar schlechtes Zeugnis in Englisch, und eigentlich hätte er von morgens bis abends ununterbrochen englische Grammatik üben müssen. Aber er hielt es für wichtiger, sich ganz der Räubersprache zu widmen. »Englisch kann jeder Mörder«, sagte er. »Davon hat man also keinen besonderen Nutzen. Ohne die Räubersprache aber ist man glatt verkauft.« Und folglich saßen er und Benka und Jonte stundenlang zwischen dem Plunder auf dem Bäckereiboden und trainierten mit rührendem Eifer. Der Sprachunterricht wurde durch Eva-Lottes Vater unterbrochen, der von der Bäckerei her die Treppe emporgeklettert war. Er hielt einen Teller mit frisch gebackenen Schnecken in der Hand, reichte ihn Eva-Lotte und sagte: »Schutzmann Björk hat eben angerufen. Der Großmummrich ist zurückgekommen.« »Fof ei non«, sagte Eva-Lotte entzückt und nahm sich eine Schnecke. »Kommt, wir flitzen zum Polizeirevier!« »Fof ei non, non a tot ü ror lol i choch«, sagte der Bäckermeister. »Aber verfahrt in Zukunft etwas vorsichtiger mit dem Großmummrich!« Alle Ritter der Weißen und der Roten Rose beteuerten, daß sie in Zukunft vorsichtiger verfahren würden, viel vorsichtiger. Und gemächlich stieg der Bäckermeister wieder die Treppe hinunter, »Übrigens dieser Klaus – das wollte ich euch noch erzählen –, der hat endlich gestanden«, sagte er noch, bevor er ganz entschwand. Ja, der große Klaus hatte gestanden. Die Beweiskraft des Schuldscheins mit seiner Unterschrift konnte er nicht bestreiten. »Der Großmummrich?« sagte Schutzmann Björk zögernd, als die sechs Rosen kamen und begehrten, das Kleinod ausgeliefert zu erhalten. »Der Großmummrich ist nicht hier.« Sie starrten ihn entgeistert an. Was meinte er? Hatte er nicht eben noch selbst angerufen und gesagt, er wäre zurückgekommen? Björk sah sie ernst an. »Sucht hoch über der Erde«, sagte er mit feierlicher Stimme. »Laßt die Vögel des Himmels euch den Weg weisen. Fragt die Krähen, ob sie den ehrwürdigen Großmummrich gesehen haben!« Ein verklärtes Lächeln breitete sich über die jungen Gesichter der Rosen aus. Und Jonte sagte unter zufriedenem Glucksen: »Fof ei non! Der Kampf geht weiter!« »Der Kampf geht weiter!« sagte Benka entschlossen. Eva-Lotte sah anerkennend auf Schutzmann Björk, der dort saß und so gut aussah in seiner Uniform und der versuchte, sein gutmütiges Großejungengesicht in ernsthafte Falten zu legen. »Onkel Björk«, sagte sie, »wenn du nicht so ungeheuer alt wärst – Onkel Björk, du könntest direkt den Krieg der Rosen mitmachen.« »Ja, Onkel Björk wäre eine feine Rote Rose«, sagte Sixtus. »Kaum«, sagte Anders. »Eine Weiße!« »Bloß nicht, nein!« wehrte Schutzmann Björk ab. »An so lebensgefährliche Sachen wage ich mich nicht heran. Die ruhige, sichere Arbeit eines Polizeimannes paßt viel besser zu mir ungeheuer altem Mann!« »Bah, man muß doch auch mal gefährlich leben«, sagte Kalle mit Überzeugung und wölbte die Brust vor. Einige Stunden später lag er in seiner Lieblingsstellung unter dem Birnbaum und dachte über dieses »Gefährlich-Leben« nach. Er dachte nach und starrte so beharrlich hinauf in die ziehenden Sommerwolken, daß er kaum bemerkte, wie sein erdachter Zuhörer vorsichtig angeschlichen kam und sich zögernd neben ihn setzte. »Stimmt es, Herr Blomquist, Sie haben da schon wieder einen Mörder festgesetzt?« fragte er einschmeichelnd. Da plusterte plötzlich die helle Wut in Kalle Blomquist hoch. »Habe ich?« fragte er und starrte böse auf den erdachten Zuhörer, der sich nicht fernhalten konnte. »Reden Sie nicht so dummes Zeug! Ich habe keinen Mörder festgesetzt. Die Polizei hat das getan, weil das ihre Arbeit ist. Ich gedenke auch in meinem ganzen Leben keinen Mörder festzusetzen. Ich gedenke mit der Detektiverei Schluß zu machen. Man bekommt nur einen Haufen Ärger davon.« »Aber ich dachte, Herr Blomquist, Sie lieben es, gefährlich zu leben?« sagte der erdachte Zuhörer, und es hörte sich, ehrlich gesagt, ein wenig vorwurfsvoll an. »Als ob ich nicht trotzdem gefährlich leben kann!« sagte der Meisterdetektiv. »Junger Freund, Sie sollten nur ahnen, wie es im Krieg der Rosen zugeht …« Hier wurde der Fluß seiner Gedanken jäh durch einen Pflaumenstein unterbrochen. der seinen Kopf traf. Mit der Schlauheit eines Meisterdetektivs rechnete er sich sofort aus, daß ein Pflaumenstein nicht gut von einem Birnbaum herunter-fallen kann, und wandte sich suchend nach dem Täter um. Anders und Eva-Lotte standen am Zaun. »Wach auf, der du dort schläfst!« schrie Anders. »Wir wollen den Großmummrich erjagen!« »Und weißt du, was wir glauben?« rief Eva-Lotte. »Wir glauben, daß Onkel Björk ihn auf dem Aussichtsturm im Stadtpark versteckt hat. Du weißt doch, wie viele Krähen dort zur Zeit hausen.« »Pop ror i mom i sos sos i mom a!« schrie Kalle begeistert. »Die Rötlichen schlagen uns zu Brei, wenn wir ihn zuerst finden«, sagte Anders. »Das ist egal«, meinte Kalle. »Man muß doch auch mal gefährlich leben!« Fragend sah Kalle seinen erdachten Zuhörer an. Verstand er nun endlich, daß man gefährlich leben konnte, ohne Meisterdetektiv zu sein? Heimlich winkte er einen Abschiedsgruß zu dem netten jungen Mann hinüber, der noch dastand und ihn genauso bewundernd ansah wie immer. Dann trommelten Kalles nackte braune Füße fröhlich auf den Gartenweg, als er hinauslief zu Anders und Eva-Lotte. Und sein erdachter Zuhörer verschwand – verschwand so still und un-merklich, als hätte ihn der leichte Sommerwind verweht. BAND DREI.  Kalle Blomquist, Eva-Lotte und Rasmus ERSTES KAPITEL »Kalle! Anders! Eva-Lotte! Seid ihr da?« Sixtus sah zum Bäckereiboden hinauf und wartete, ob jemand von den Weißen Rosen den Kopf aus der Luke stecken und auf seinen Ruf antworten würde. »Darf man fragen, warum ihr nicht da seid?« schrie Jonte, als sich im Hauptquartier der Weißen nichts regte. »Seid ihr wirklich nicht da?« wunderte sich Sixtus, diesmal sehr ungläubig. In der Bodenluke wurde Kalle Blomquists strohgelber Kopf sichtbar. »Nein, wir sind nicht hier«, versicherte er in aller Ruhe. »Wir tun nur so.« Die feine Ironie dieser Sätze war an Sixtus einfach verschwendet. »Was macht ihr?« wollte er wissen. »Ja, was meinst du?« fragte Kalle. »Glaubst du, wir spielen Vater, Mutter, Kind?« »Euch kann man doch alles zutrauen«, entgegnete Sixtus. »Sind Anders und Eva-Lotte auch oben?« Zwei andere Köpfe tauchten in der Bodenluke auf. »Nein, wir sind auch nicht hier«, sagte Eva-Lotte. »Was wollt ihr übrigens, ihr Roten?« »Ach, euch nur so ein wenig auf den Kopf klopfen«, sagte Sixtus sanft. »Und endlich wissen, was mit dem Großmummrich werden soll«, ergänzte Benka. »Oder sollen etwa die ganzen Sommerferien draufgehen, ehe ihr euch entscheiden könnt?« brummte Jonte. »Habt ihr ihn nun versteckt oder nicht?« Anders rutschte am Seil hinab, dem Seil, das die Weißen Rosen stets benutzten, um schnell von ihrem Boden-Hauptquartier auf die Erde zu kommen. »Klar, daß wir den Großmummrich versteckt haben«, sagte er. Er ging auf den Chef der Roten Rosen zu, sah ihm ruhig ins Gesicht und sprach, jedes Wort betonend: »Schwarz und weiß der Vogel, baut ein Nest, nicht weit von öder Burg. Sucht heute nacht!« »Läusepudel!« war das einzige, was der Rote Chef auf diese nachdrückliche Mahnung erwiderte. Aber er nahm sofort seine Getreuen mit an einen geschützten Platz hinter den Johannis-beerstäuchern, um sich mit ihnen zu beraten. »Bah, das ist natürlich ’ne Elster«, rief Jonte. »Der Großmummrich liegt in einem Elsternnest! Das kann sich doch ein Säugling an den zehn Fingern ausrechnen.« »Ja, ja, kleiner Jonte, das kann sich ein Säugling ausrechnen«, rief Eva-Lotte vom Bäckereiboden herunter. »Sogar ein so kleiner, winziger Säugling wie du kann sich das ausrechnen.« »Kann ich nicht schnell einmal Urlaub haben, um sie zu verprügeln, Chef?« fragte Jonte. Aber Sixtus hielt den Großmummrich für das Wichtigste auf der Welt, und Jonte mußte auf seine Strafexpedition verzichten. »… nicht weit von öder Burg. Damit kann nur die Schloßruine gemeint sein«, flüsterte Benka leise und vorsichtig, damit Eva-Lotte diesmal nichts hören konnte. »In einem Elsternnest nahe bei der Schloßruine«, sagte Sixtus, denkbar zufrieden. »Kommt, wir hauen ab, und zwar sofort.« Hinter den drei Rittern der Roten Rose flog die Tür im Zaun des Bäckermeisters mit einem Knall zu. Eva-Lottes Katze auf der Veranda fuhr erschrocken aus ihrem Vormittagsschlaf hoch. Bäckermeister Lisander steckte sein gutmütiges Gesicht aus dem Fenster und rief seiner Tochter zu: »Na, Eva-Lotte, wie lange, glaubst du, wird es noch dauern, bis ihr die Bäckerei zerstört habt?« »Ihr?« Eva-Lotte war sehr erstaunt. »Können wir dafür, wenn die Roten das Grundstück wie eine Herde Bisonochsen verlassen? Wir knallen nicht so mit der Tür.« »Glaube ich«, sagte der Bäckermeister und hielt den Weißen Rosen aufreizend ein Backblech mit zuckerbegossenen Schnek-ken vor die Nasen: »Ihr knallt keine Gartentüren zu.« Wenige Augenblicke später rasten auch die Weißen Rosen aus dem Garten, und die Zauntür flog mit einem Knall zu, daß die Blumen auf den Rabatten mit einem wehmütigen Seufzer ein paar welke Blätter zu Boden fallen ließen. Der Bäckermeister seufzte auch wehmütig. »Bisonochsen« hatte Eva-Lotte doch wohl gesagt. »Ja, ja …« An einem friedlichen Sommerabend vor Jahren war der Krieg zwischen den Weißen und den Roten Rosen ausgebrochen. Lange währte er nun, und keine der kriegführenden Parteien zeigte Ermüdungserscheinungen. Im Gegenteil! Anders sprach in letzter Zeit sehr oft vom Dreißigjährigen Krieg als einem nachahmenswerten Beispiel. »Wenn die früher so lange durchhalten konnten«, beteuerte er voller Enthusiasmus, »so können wir noch viel länger.« Eva-Lotte sah die Sache nüchterner. »Stell dir vor, wenn du als dicker Brocken von vierzig durch die Gräben kriechst, um den Großmummrich zu suchen! Die Gören der ganzen Stadt werden aus dem Kichern nicht herauskommen.« Der Gedanke war nicht angenehm. Ausgelacht und – schlimmer noch – vierzig Jahre alt zu werden, während es gleichzeitig Glückliche gab, die nicht mehr als dreizehn, vierzehn waren! Anders empfand einen ausgesprochenen Widerwillen gegen diese Kleinen, die einmal die Spielplätze, die Verstecke und den Krieg der Rosen übernehmen würden und außerdem so unverschämt sein durften, über ihn zu lachen. Über ihn, den Chef der Weißen Rosen aus vergangenen großen, stolzen Tagen, als diese Rotznasen noch nicht einmal geboren waren. Anders war bekümmert. Eva-Lottes Worte hatten ihn erkennen lassen, daß das Leben kurz war und daß es darauf ankam, zu spielen, solange man das konnte – ohne ausgelacht zu werden. »Auf jeden Fall wird niemand so viel Spaß haben wie wir«, tröstete Kalle seinen Chef. »Den echten Krieg zwischen den Weißen und Roten Rosen wird es nie mehr geben! Das können die kleinen Kleckerchen sich merken.« Eva-Lotte war derselben Meinung. Nichts konnte sich mit dem Krieg der Rosen messen. Selbst wenn sie einmal so beklagenswerte Vierziger wurden, wie sie eben geschildert hatte, blieb ihnen eines: die unauslöschliche Erinnerung an ihre herrlichen Sommerspiele. Das wundervolle Gefühl, wie man mit nackten Füßen über das weiche Gras der Prärie lief, wie das Wasser beim Baden einem warm und freundlich zwischen den Zehen perlte oder wie die Sonne durch die offenen Luken so lange in den Bäckereiboden schien, bis sogar die Holzbalken nach Sommer rochen, – das alles konnte nie aus ihrer Erinnerung getilgt werden. Ja, der Krieg der Rosen war für ewige Zeiten mit Sommerferien, milden Winden und hellem Sonnenschein verknüpft. Herbstdunkel und Winterkälte brachten unwillkürlich Waffenruhe in den Kampf um den Großmummrich. Wenn die Schule begann, wurden die Feindseligkeiten einge-stellt, und der Krieg flackerte nicht eher wieder auf, als bis die Kastanien in der Hauptstraße wieder in voller Blüte standen und die Frühjahrszeugnisse an den kritischen Elternaugen vorbeige-rutscht waren. Jetzt aber war Sommer, und der Rosenkrieg blühte mit den echten Rosen im Garten des Bäckermeisters um die Wette. Schutzmann Björk, der die Kleine Straße entlangschlenderte, wußte, was im Gange war, als er zuerst die Roten den Weg zur Schloßruine galoppieren sah und einige Minuten später die Weißen in sausender Fahrt an ihm vorbeistürmten. Eva-Lotte konnte gerade noch »Hej, Onkel Björk!« rufen, bevor ihr heller Haarschopf hinter der nächsten Ecke verschwand. Schutzmann Björk lächelte vor sich hin. Dieser Großmummrich – mit wie wenig die Kleinen doch zufrieden waren! Der Großmummrich war ja nur ein Stein, nichts anderes als ein seltsam geformter kleiner Stein, und doch reichte er aus, den Krieg der Rosen in Gang zu halten. Ja, ja, es war oft sehr wenig nötig, um einen Krieg zu entfesseln. Schutzmann Björk seufzte, als er daran dachte, wie wenig tatsächlich dazu nötig war. Dann ging er mit bedachtsamen Schritten weiter, um sich ein Auto anzusehen, das auf der anderen Seite des Flusses falsch parkte. Auf halbem Weg blieb er stehen und starrte philoso-phierend in das Wasser, das langsam unter dem Brückenbogen hervorglitt. Da kam eine alte Zeitung mit dem Strom angese-gelt. Sie schaukelte sacht auf den Wellen. Die großen Buchstaben ihrer Schlagzeile verkündeten, was gestern oder vorgestern oder vor einer Woche neu gewesen war. Björk las sie zerstreut. UNZERSTÖRBARES LEICHTMETALL REVOLUTION IN DER KRIEGSINDUSTRIE Schwedischer Wissenschaftler löst das Problem, das die Wissenschaft der ganzen Welt beschäftigt hat. Wieder seufzte Schutzmann Björk: »Wie schön wäre es, wenn die Menschheit sich auf den Kampf um Großmummriche beschränken würde. Dann hätte man eine Kriegsindustrie gar nicht nötig …« Jetzt aber mußte er sich um das falsch parkende Auto kümmern. »Hinter der Schloßruine werden sie bestimmt zuerst suchen«, versicherte Kalle und machte bei diesem Gedanken einen munteren Luftsprung. »Deshalb habe ich auch dort eine kleine Mitteilung für die Rötlichen hingelegt«, grinste Anders. »Wenn sie die gelesen haben, werden sie schön wild werden. Ich glaube, wir können in der Nähe warten und uns ihren Anfall ansehen.« Auf einer Anhöhe vor ihnen reckte die alte Schloßruine ihre geborstenen Mauern in den blaßblauen Sommerhimmel. Einsam lag sie dort, eine häßliche alte Burg, seit Jahrzehnten der Verlassenheit und dem Verfall anheimgegeben. Tief unter sich hatte sie die anderen Bauten der Stadt gelassen. Nur das eine oder andere Haus war vorwitzig ein wenig den Berg hinaufge-klettert, um sich der Großen, Gewaltigen oben auf der Höhe zu nähern. Als letzter Posten stand auf halbem Weg zur Ruine eine altertümliche Villa, fast versteckt hinter einer üppigen Hecke aus Hagedorn, Fliederbüschen und Kirschbäumen. Ein wackliger Zaun umgab das kleine Idyll. Gleich hinter der Villa zweigte ein Pfad vom Fahrweg ab und lief durch den Wald zur Schloßruine hinauf. Anders hatte beschlossen, hier die Rückkehr der Roten abzuwarten. Er lehnte sich mit dem Rücken bequem an den Zaun. »Nicht weit von öder Burg …« sagte Kalle und warf sich neben Anders ins Gras. »Kommt ganz darauf an, wie man es ansieht. Wenn wir den Abstand von hier zum Südpol als Vergleich nehmen, können wir den Großmummrich in der Gegend von Jönköping verstecken und doch behaupten, es sei nicht weit von öder Burg.« »Vollkommen richtig«, stimmte Eva-Lotte zu. »Wir haben nie behauptet, daß das Elsternnest sich durchaus am Rand der Schloßruine befinden müsse. Aber die Roten sind viel zu vernagelt, um das zu begreifen.« »Eigentlich müßten sie uns auf bloßen Knien danken«, sagte Anders erbittert. »Es hätte nahegelegen, den Großmummrich in der Gegend von Jönköping zu verstecken. Aber wir haben ihn freundlicherweise ganz in der Nähe – bei Eklunds Villa – versteckt. Das ist doch wirklich anständig.« »Klar sind wir anständig.« Eva-Lotte lachte zufrieden. Und dann sagte sie etwas völlig Unerwartetes: »Seht mal, da drinnen auf der Verandatreppe sitzt ein kleiner Knirps.« Wirklich, da saß ein Knirps auf der Verandatreppe. Mehr war nicht nötig, um Eva-Lotte ein Weilchen den Großmummrich vergessen zu lassen. Die berühmte Eva-Lotte die ein so tapferer Krieger war, hatte eben einen Augenblick weiblicher Schwäche. Es hatte noch nie etwas geholfen, wenn der Anführer ihr klarzumachen versuchte, daß für so etwas im Krieg der Rosen kein Platz war. Anders und Kalle waren immer wieder erstaunt über Eva-Lottes Veränderung, sowie sie in die Nähe kleiner Kinder kam. Für Anders und Kalle waren Kleinkinder nur beschwerlich, naß und rotznäsig. Aber auf Eva-Lotte wirkten sie, als wären es alles kleine entzückende Lichtelfen. Kam sie in den Zau-berkreis einer dieser Elfen, so veränderte sich ihr jungenhafter kleiner Amazonenkörper, und sie benahm sich in einer Weise, die nach Anders’ Meinung völlig unbeherrscht war. Sie stieß wunderliche weiche Laute aus, die Kalle und Anders einfach auf die Nerven gingen. Die lebendige, übermütige Eva-Lotte, Ritter der Weißen Rose, war wie fortgeblasen. Es fehlte nur noch, daß die Roten sie einmal in einer solchen Stunde der Schwäche überraschten – der Fleck auf dem Wappenschild der Weißen Rose konnte so schnell nicht weggewaschen werden, meinten Kalle und Anders. Der Kleine auf der Verandatreppe hatte wohl bemerkt, daß vor seinem Zaun etwas Ungewöhnliches geschah, denn er trottete jetzt langsam zur Gartenpforte. Er blieb stehen, als er Eva-Lotte sah. »Hej«, sagte er etwas schüchtern. Eva-Lotte stand am Zaun und hatte das im Gesicht, was Anders und Kalle Idiotenlachen nannten. »Hej«, sagte sie. »Wie heißt du?« Der Kleine sah sie mit ruhigen, dunklen blauen Augen an und schien für das Idiotenlachen nicht sonderlich empfänglich. »Rasmus heiß’ ich«, antwortete er und malte mit dem großen Zeh im Sand des Gartenweges. Dann kam er näher. Er steckte ein kleines, stumpfes, sommersprossiges Naschen durch die Latten im Zaun und sah Kalle und Anders, die draußen im Gras sa- ßen. Sein ruhiges Gesicht wurde von einem breiten, entzückten Grinsen gespalten. »Hej«, sagte er. »Ich heiße Rasmus!« »Ja, haben wir gehört«, erwiderte Kalle gnädig. »Wie alt bist du?« fragte Eva-Lotte. »Fünf Jahre«, antwortete Rasmus. »Aber nächstes Jahr, da werde ich sechs. Wie alt wirst du denn nächstes Jahr?« Eva-Lotte lachte. »Nächstes Jahr werde ich eine alte Tante«, sagte sie. »Was machst du übrigens hier? Wohnst du bei Eklunds?« »Das gerade nicht«, antwortete Rasmus. »Ich wohne bei meinem Vater.« »Wohnt er in Eklunds Villa?« »Klar macht er das«, sagte Rasmus energisch. »Ich könnte doch sonst nicht hier bei ihm wohnen. Das verstehst du doch wohl!« »Das ist reinste und feinste Logik, Eva-Lotte«, kicherte Anders. »Heißt sie Eva-Lotte?« fragte Rasmus und zeigte mit dem großen Zeh auf Eva-Lotte. »Ja, sie heißt Eva-Lotte«, sagte Eva-Lotte. »Und sie findet dich prima!« Da die Roten noch nicht in Sicht waren, kletterte sie über den Zaun und näherte sich dem reizenden Kleinen in Eklunds Garten. Es konnte Rasmus nicht entgehen, daß zumindest einer da war, der an ihm interessiert war, und er beschloß, als Gegenleistung artig zu sein. Nun kam es nur noch darauf an, einen passenden Gesprächsstoff zu finden. »Mein Vater macht Bleche«, begann er nach kurzer Überlegung. »Bleche macht er?« fragte Eva-Lotte. »Ist er Schmied?« »Nein, Schmied ist er nicht«, sagte Rasmus. »Er ist ein Professor, der Bleche macht.« »Wunderbar«, sagte Eva-Lotte. »Dann kann er vielleicht für meinen Vater Bleche machen. Der ist Bäcker, verstehst du, und der kann eine Menge Bleche brauchen.« »Ich werde meinen Vater bitten, daß er ein Blech für deinen Vater macht«, versicherte Rasmus freundlich und legte seine Hand in Eva-Lottes. »Ach, Eva-Lotte, laß doch bloß den Bengel sausen«, sagte Anders. »Die Roten können jeden Moment kommen.« »Immer ruhig«, beschwichtigte ihn Eva-Lotte. »Ich werde die erste sein, die ihnen auf den Kopf klopft.« Rasmus starrte Eva-Lotte voller Bewunderung an. »Wem wirst du als erste auf den Kopf klopfen?« fragte er. Und Eva-Lotte erzählte. Vom ehrenvollen Krieg zwischen den Roten und den Weißen Rosen. Von wilden Verfolgungsjag-den durch Straßen und über Zäune. Von gefahrvollen Aufträgen, heimlichen Befehlen und spannendem Schleichen in dunklen Nächten. Von dem verehrten Großmummrich, und daß nun bald die Roten auftauchen würden, wild wie die Hornissen, und welch einen großartigen Kampf es dann geben würde. Das verstand Rasmus gut. Endlich, endlich verstand er den eigentlichen Sinn des Lebens! Eine Weiße Rose mußte man sein! Etwas Herrlicheres konnte es nicht geben. Tief unten in seiner fünfjährigen Seele wurde in dieser Stunde der Wunsch geboren, so sein zu dürfen wie diese Eva-Lotte und Anders und der andere – wie hieß er doch …? Kalle! Genauso stark und groß zu sein, den Roten auf den Kopf zu klopfen, Haarsträuben zu bekommen, auf dunklen Wegen zu schleichen – und all das andere noch. Mit Augen, die voll waren von all seinen Wünschen, sah er begeistert zu Eva-Lotte auf und fragte beschwörend: »Eva-Lotte, darf ich auch eine Weiße Rose werden?« Eva-Lotte gab seiner sommersprossigen Nase spielerisch einen leichten Stups. »Nein, Rasmus«, sagte sie. »Dafür bist du noch zu klein!« Da wurde Rasmus böse. Eine heilige Wut packte ihn, als er die verhaßten Worte »Dafür bist du noch zu klein« hörte. Immer und immer und immer wieder bekam man sie zu hören! Wütend starrte er Eva-Lotte an. »Dann finde ich, daß du blöd bist«, sagte er. Als er das festgestellt hatte, überließ er sie ihrem Schicksal. Jetzt wollte er zu diesen Jungen gehen und dort fragen, ob er nicht eine Weiße Rose werden dürfe. Sie standen am Zaun und sahen interessiert zum Schuppen hinüber. »Du, Rasmus«, fragte der, der Kalle hieß, »wem gehört denn das Motorrad da?« »Vater natürlich«, sagte Rasmus. »Donner!« murmelte Kalle. »Ein Professor, der Motorrad fährt! Wie sieht das wohl aus? Ich denke, sein Bart wird sich in den Rädern verwickeln.« »Was für ein Bart?« fragte Rasmus wütend. »Mein Vater hat keinen Bart!« »Hat keinen?« grunzte Anders. »Jeder Professor hat doch wohl einen Bart?« »Na bitte, stell dir vor, hat nicht jeder Professor«, sagte Rasmus und ging mit würdigen Schritten zur Veranda zurück. Diese Kinder dort waren alle blöd, und er dachte nicht mehr daran, mit ihnen zu sprechen! Als er in die Sicherheit der Veranda gekommen war, drehte er sich um und schrie den dreien am Zaun zu: »Pfui Blase, was seid ihr blöd! Mein Vater ist ein Professor und ohne Bart, und er macht Bleche!« Kalle, Anders und Eva-Lotte sahen belustigt auf die böse kleine Gestalt oben auf der Veranda. Sie wollten ihn doch nicht reizen. Eva-Lotte machte einige schnelle Schritte, um ihm nachzueilen und ihn ein bißchen zu trösten, aber sie blieb gleich wieder stehen. Denn hinter Rasmus öffnete sich die Tür, und jemand kam heraus. Es war ein sonnenverbrannter Mann in den Dreißigern. Mit festem Griff packte er Rasmus und schwang ihn sich auf die Schulter. »Du hast recht, Rasmus«, sagte er. »Dein Vater ist ein Professor ohne Bart, und er macht Bleche.« Er kam den Weg herunter, Rasmus auf der Schulter, und Eva-Lotte schämte sich ein wenig: Sie war ja auf privatem Grund und Boden. »Siehst du nun wenigstens, daß er keinen Bart hat!« schrie Rasmus triumphierend Kalle zu, der sich vorsichtig an der Zauntür herumdrückte. »Dann kann er also auch Motorrad fahren«, setzte er stolz hinzu. Vor seinem inneren Auge sah er seinen Vater mit langem, wallendem Bart, der sich um die Radach-sen wickelte, und es war ein äußerst empörender Anblick für ihn. Kalle und Anders machten höflich ihre Verbeugungen. »Rasmus sagt, Sie machen Bleche, Herr Professor«, sagte Kalle schnell, um von der Sache mit dem Bart abzukommen. Der Professor lachte: »Ja, das kann man beinahe sagen. Bleche … Leichtmetall … Ich habe eine kleine Erfindung gemacht, versteht ihr?« »Eine Erfindung?« fragte Kalle interessiert. »Ich habe eine Möglichkeit gefunden, Leichtmetall unzerstörbar zu machen«, erklärte der Professor. »Das nennt Rasmus nun ›Bleche machen‹.« »Oh, davon habe ich in der Zeitung gelesen«, sagte Anders eifrig. »Dann sind Sie ja direkt berühmt!« »Klar, sicher ist er berühmt«, bestätigte Rasmus von seinem erhöhten Platz aus. »Und einen Bart hat er auch nicht, bitte sehr!« Der Professor ließ sich auf keine Diskussion über seine Berühmtheit ein. »Na, Rasmus«, sagte er, »wollen wir ins Haus gehen und frühstücken? Ich könnte dir Schinken braten.« »Ich habe gar nicht gewußt, Herr Professor, daß Sie hier in der Stadt wohnen«, sagte Eva-Lotte. »Nur während des Sommers«, gab der Professor zurück. »Ich habe diese Zuflucht für den Sommer gemietet, um in Ruhe arbeiten zu können.« »Ja, Vati und ich machen hier Sommerferien, wir beide ganz allein«, sagte Rasmus, »und Mutti ist bei Großvater in Indien. Stell dir vor, da wohnen nämlich Großvater und Großmutter. Und ich hab’ sie noch nie gesehen, bloß als ich ganz klein war. Aber nächstes Jahr hat Vati mehr Zeit, und dann fahren wir zu Weihnachten alle hin, Vati und Mutti und ich – bitte sehr!« ZWEITES KAPITEL Eltern sind oft hinderlich, wenn man Krieg führen will. Sie greifen auf verschiedene Weise störend in den Gang der Geschehnisse ein. Manchmal bekam der Lebensmittelhändler Blomquist den Einfall, daß sein Sohn in den schwersten Stunden im Geschäft helfen sollte. Und der Postdirektor kam einfach daher und wünschte, daß Sixtus die Gartenwege harke und den Rasen sauber schneide. Vergeblich versuchte Sixtus, seinem Vater klarzumachen, daß ein wildwachsender Garten viel, viel schöner sei. Der Postdirektor schüttelte nur verständnislos den Kopf und zeigte stumm auf den Rasenmäher. Noch verstockter in seinen Forderungen war der Schuhmacher Bengtsson. Er hatte von seinem dreizehnten Lebensjahr an selbst für sich sorgen müssen, und das sollte sein Sohn auch, meinte der Schuhmachermeister. Deshalb versuchte er, mit äu- ßerster Strenge Anders während der Sommerferien an den Schuhmacherhocker zu fesseln. Anders hatte im Laufe der Zeit eine komplizierte Technik entwickelt, allen Attentaten auf seine goldene Freiheit zu entgehen. Der Hocker, auf dem Anders sitzen sollte, war deshalb meistens leer, wenn der Schuhmacher in die Werkstatt kam, um seinen ältesten Sprößling in die Geheimnisse seiner Kunst einzuweihen. Richtig menschlich dachte nur Eva-Lottes Vater. »Wenn du nur glücklich bist – und nicht zuviel Unfug anstellst, will ich mich nicht weiter darum kümmern, was du treibst«, sagte der Bäckermeister und legte sanft seine väterliche Hand auf Eva-Lottes blonden Schopf. »Solch einen Vater müßte man haben«, sagte Sixtus verbittert und mit lauter Stimme, um das Klippklippklipp des Rasenmähers zu übertönen. Das war nun seit kurzer Zeit das zweite Mal, daß sein unbarmherziger Vater ihn zur Gartenarbeit zwang. Benka und Jonte hingen am Zaun und sahen Sixtus teilnahmsvoll bei seinen Anstrengungen zu. Sie versuchten, ihn mit glühenden Schilde-rungen eigener Leiden zu trösten. Hatte Benka nicht tatsächlich den ganzen Vormittag Himbeeren gepflückt, und hatte Jonte nicht den ganzen Vormittag auf seine kleinen Geschwister auf-passen müssen? »Klar, auf diese Weise wird man ja gezwungen, die Nächte zu Hilfe zu nehmen, wenn man den Weißen an den Kragen will«, sagte Sixtus betrübt. »Man hat ja tagsüber kaum eine Stunde für das Notwendigste übrig.« Jonte nickte zustimmend: »Du hast das richtige Wort gesagt. Wollen wir nun heute nacht den Weißen an den Kragen?« Sixtus warf sofort die Rasenmähmaschine beiseite. »Da hast du gar nicht so unrecht, Jonte«, rief er. »Kommt, wir wollen in das Hauptquartier und Kriegsrat halten.« Und im Hauptquartier der Roten Rosen in Sixtus’ Garage wurde der Plan für die kommende Nacht entworfen. Dann wurde Benka mit der Botschaft des Roten Chefs zu den Weißen geschickt. Anders und Eva-Lotte saßen in der Laube des Bäckermeisters und warteten darauf, daß der Lebensmittelladen geschlossen und Kalle für diesen Tag frei wurde. In der warmen Julisonne sah der Weiße Chef reichlich faul und nicht besonders kriegerisch aus. Aber er zuckte doch zusammen, als er Benka über Eva-Lottes Steg springen sah, daß das Wasser nur so über seine nackten Füße spritzte. Benka hielt ein Papier in der Hand, und dieses Papier überreichte er dem Chef der Weißen Rosen mit abgemessener Verbeugung. Dann verschwand er schnell auf demselben Weg, auf dem er gekommen war. Anders spuckte einen Kirschstein aus, bevor er mit lauter Stimme las: »In dieser Nacht bei des Mondes Schein wird ein Fest in meiner Väter Burg sein. Denn die Rote Rose wird die glor-reiche Wiedereroberung des Großmummrich aus den Händen der Heiden feiern. WARNUNG: Stört uns nicht!!! Alles schleichende Ungezie-fer der Weißen Rose wird schonungslos zertreten werden. Sixtus, Edelmann und Chef der Roten Rose P.S. Punkt 12 Uhr in der Schloßruine.« Anders und Eva-Lotte grinsten zufrieden. »Komm, dann sausen wir und warnen Kalle«, sagte Anders. Er stopfte den Zettel in die Hosentasche. »Denk an meine Worte: Hier zieht es sich zusammen zu einer Nacht der Schrek-ken.« »Bei des Mondes Schein« schlief die kleine Stadt unbekümmert und tief. Von der »Nacht der Schrecken« ahnte sie nichts. Schutzmann Björk, der durch die menschenleeren Straßen schlenderte, ahnte auch nichts davon. Alles war still. Er hörte nur den Laut seiner eigenen Absätze auf dem Pflaster. Die Stadt schlief in einer Flut aus Mondschein; aber zwischen den schlafenden Häusern und den Gärten lag die dunkle Schwärze der Schatten, und wenn Schutzmann Björk etwas aufmerksamer gewesen wäre, hätte er merken müssen, daß in dieser Schwärze Leben war. Er hätte hören müssen, wie dort jemand schlich und sich vorbei-schlängelte und flüsterte. Er hätte sehen müssen, wie im Haus des Bäckermeisters Lisander vorsichtig ein Fenster geöffnet wurde und wie Eva-Lotte die Leiter hinunterkletterte. Er hätte an der Blomquistschen Ecke Kalle leise das Signal der Weißen Rosen pfeifen hören und den Schimmer von Anders sehen müssen, bevor er im schützenden Schatten der Fliederhecke verschwand. Schutzmann Björk war nur leider sehr müde und wünschte sich, daß sein Rundgang endlich ein Ende nehmen möge. Deshalb begriff er nicht, daß dies die Nacht der Schrecken war. Die armen, unwissenden Eltern der Weißen und Roten Rosen schliefen ruhig in ihren Betten. Keiner hatte sie nach ihrer Meinung über die nächtlichen Übungen ihrer Kinder gefragt. Nur Eva-Lotte hatte für alle Fälle einen Zettel geschrieben und auf ihr Kopfkissen gelegt. Sollte bei ihr zu Hause jemand auf den Einfall kommen, zu bemerken, daß sie verschwunden war, bitte, dort standen die beruhigenden Zeilen: »Hej, alle miteinander! Stellt Euch bloß jetzt nicht an. Ich bin draußen und kämpfe und komme bald zurück, glaube ich. Eva-Lotte« »Nur eine kleine Beruhigungspille«, erklärte sie Kalle und Anders, während sie den steilen Weg zur Schloßruine hinaufklet-terten. Eben schlug die Rathausuhr zwölf. Die Zeit war da. »Meiner Väter Burg …« sagte Kalle. »Was meint Sixtus damit? Soviel mir bekannt ist, hat hier noch nie ein Postdirektor gewohnt.« Vor ihnen lag im Mondlicht die Schloßruine und sah wirklich nicht besonders postalisch aus. »Die gewöhnliche Angabe der Roten. Ist dir doch klar?« sagte Anders. »Sie müssen Prügel haben. Diese Angabe, weil sie nun schon mal den Großmummrich gefunden haben!« In seinem Innern war Anders gar nicht so unzufrieden damit, daß die Roten schließlich das rechte Elsternnest gefunden und den Großmummrich zurückerobert hatten. Die Voraussetzung für den Krieg der Rosen war ja, daß das Kleinod dann und wann den Besitzer wechselte. Ziemlich atemlos nach dem ermüdenden Aufstieg standen die drei ein kleines Weilchen vor dem Eingang zur Ruine herum. Sie standen da und horchten auf die Stille und fanden, daß es drinnen unter den tiefen Gewölben recht düster und gefährlich aussah. Da hörten sie aus dem Dunkel eine Gespensterstimme, die rief: »Nun herrscht Kampf zwischen der Roten und der Weißen Rose, und tausend und aber tausend Seelen werden in den Tod gehen – hinein in die Nacht des Todes.« Darauf folgte ein entsetzlich grausiges Lachen, dessen Echo zwischen den Steinwänden hin und her geworfen wurde. Und dann Stille, eine furchtbare Stille, als sei der, der vorher gelacht hatte, selber von Entsetzen über etwas Unbekannt-Grausiges in der Dunkelheit gepackt worden. »Vorwärts zu Kampf und Sieg!« schrie Anders entschlossen und stürzte sich kopfüber in die Ruine. Kalle und Eva-Lotte folgten ihm. Unzählige Male waren sie tagsüber hier gewesen. Aber nie zuvor in der Nacht. Sie erinnerten sich gut, daß sie sogar schon einmal im Keller der Schloßruine von Verbrechern eingeschlossen gewesen waren. Das war damals gewesen; und doch schien es ihnen jetzt, daß es nicht so schaurig gewesen war wie heute, wo sie sich mitten in der Nacht durch eine völlig ungewisse Dunkelheit zwängten und wo überall in den Schatten etwas Unheimliches verborgen sein konnte. Nicht nur die Roten! Nein, bestimmt nicht nur die! Gab es nicht auch Geister und Gespenster, die vielleicht ihre gestörte Nachtruhe dadurch rächten, daß sie aus irgendeinem Loch in der Wand, natürlich dort, wo man es am wenigsten vermutete, eine Knochenhand hervorstreckten, um einen zu erwürgen? Noch einmal schrie Anders: »Vorwärts zu Kampf und Sieg!« Er wollte wohl ihren Mut beleben, aber es klang in der Stille so entsetzlich, daß Eva-Lotte ihn zitternd bat, nicht noch einmal zu rufen. »Und laßt mich nicht allein, was ihr auch tun mögt«, setzte sie hinzu, »denn ich fühle mich unter Gespenstern nun einmal nicht besonders wohl.« Kalle stieß sie beruhigend in den Rücken, und sie schlichen vorsichtig weiter. Nach jedem Schritt hielten sie an und horchten. Irgendwo in der Dunkelheit waren die Roten – denn es waren doch wohl hoffentlich ihre schleichenden Schritte, die man hörte. Ab und zu schien der Mond durch ein gewölbtes Fenster, und dann sah man alles fast so deutlich wie am Tage: die verwit-terten Wände und den ausgetretenen Boden. Wo aber das Mondlicht nicht hinkam, da waren nur beängstigende Schatten und erschreckendes Dunkel und taube Stille. Und aus dieser Stille konnte man, wenn man ganz genau hinhorchte, schwaches Geflüster auffangen, flatterndes kleines Geflüster, das einem ins Ohr floß und es mit Schrecken erfüllte. Eva-Lotte hatte Angst. Ihre Schritte wurden langsamer. Wer flüsterte dort? Waren es die Roten, oder war es das Echo längst gestorbener Stimmen, das jetzt noch unruhig zwischen den Schloßmauern umhergeisterte? Sie streckte die Hand aus, um sich zu vergewissern, daß sie nicht allein war. Sie mußte Kalles Windjacke mit ihren Fingerspitzen fühlen können – als einen Schutz gegen die lauernde Angst. Aber da war keine Windjacke, und da war auch kein Kalle, nur ein schwarzer Hohlraum! Eva-Lotte stieß vor Entsetzen einen schrillen Schrei aus. Da schoß aus einer tiefen Nische in der Wand ein Arm hervor und fing sie mit festem Griff. Eva-Lotte schrie. Sie schrie, weil sie wirklich glaubte, dies seien die letzten Minuten ihres Lebens. »Halt den Schnabel!« sagte Jonte. »Das hört sich ja an, als ob ein Idiot schreit.« »Liebster, bester alter Jonte!« Plötzlich hielt Eva-Lotte ihren Gegner für den herrlichsten aller Menschen. Innerlich wunderte sie sich verbittert, wo Anders und Kalle geblieben waren. Aber dann hörte sie, nicht allzu weit entfernt, die Stimme ihres Chefs: »Was schreist du nur so ’rum, Eva-Lotte? Sag uns lieber, wo das Fest hier eigentlich stattfindet.« Jonte war nicht besonders stark, und Eva-Lotte hatte sich mit ihren kleinen, harten Fäusten bald befreit. Sie eilte in dem langen, dunklen Gang, so schnell sie konnte, vorwärts, und Jonte blieb ihr eifrig auf den Fersen. Jetzt kam von der anderen Seite auch noch jemand, und Eva-Lotte schlug wild um sich, damit sie den Weg frei bekam. Aber dieser Gegner war stärker. Eva-Lotte spürte den Griff der Fäuste wie eine eiserne Zange um ihre Handgelenke – sicher war das Sixtus –, aber einen leichten Match wollte ihm Eva-Lotte bestimmt nicht gönnen, nein, bestimmt nicht! Sie spannte jeden Muskel ihres Körpers an und stieß zu einer Art gewaltigem Kinnhaken ihren Kopf unter das Kinn ihres Gegners. »Ajajajaj!« stöhnte er, der Gegner. Und es war Kalles Stimme, die stöhnte. »Was ist bloß los mit dir?« fragte Eva-Lotte. »Du bist so streitsüchtig.« »Und warum prügelst du mich?« gab Kalle zurück. »Wenn man schon kommt, um dir zu helfen?« Jonte grinste vor Behagen und bekam es mit der Eile, der gefährlichen Gesellschaft zu entkommen. Das war nichts für ihn: einsam mit zwei Weißen Rosen in einem dunklen Gang. Er rannte, so schnell er konnte, auf die helle Maueröffnung zu, um auf den Schloßhof zu kommen. Zum Abschied hetzte er: »Wunderbar! Herrlich! Schlagt euch nur richtig zusammen! Wir sparen dann viel Arbeit.« »Ihm nach!« schrie Kalle, und sie rasten dem Ausgang zu. Aber draußen im Schloßhof hatten sich nun die beiden Anführer getroffen und kämpften miteinander. Jeder mit seinem Holzschwert bewaffnet, fochten sie im Mondlicht gegenein-ander. Eva-Lotte und Kalle zitterten vor Spannung, als sie die schwarzen Schatten um den kreisförmigen Hof hasten sahen. Ja, das war in Wahrheit der Krieg der Rosen! Gerade zwischen solchen mittelalterlichen Mauern mußten sich die Käm-pen in nächtlichem Streite treffen. So war es doch gewesen, als der richtige Krieg zwischen den richtigen Roten und Weißen Rosen getobt hatte und tausend und aber tausend Seelen in den Tod gegangen waren – hinein in die Nacht des Todes! Wie ein häßlicher kalter Luftzug streifte sie eine Ahnung, wie es wohl sein würde, wenn der Krieg der Rosen nicht mehr nur ein lustiges Spiel wäre. Denn dieses Duell im Mondschein war für sie plötzlich kein Spiel. Ein Kampf auf Leben und Tod war es, und er konnte damit enden, daß einer der schwarzen Schatten, die jetzt noch an der Burgmauer hin und her jagten, schließlich re-gungslos liegenblieb und nicht mehr aufstand. »Tausend und aber tausend Seelen …« flüsterte Kalle vor sich hin. »Ach, sei bloß ruhig«, sagte Eva-Lotte. Ihre Augen hingen an den kämpfenden Schatten, sie flog am ganzen Körper vor Aufregung. Dicht bei ihr standen Benka und Jonte, und sie verfolgten genauso aufgeregt und atemlos den bewegten Kampf. Die Schatten machten Ausfälle, parierten und gingen in den Nahkampf, zogen sich zurück, um sofort wieder zur Attacke überzugehen. Sie waren völlig stumm. Man hörte nur das dumpfe Klappen, wenn sich die Schwerter kreuzten. »Wiege sie zur ew’gen Ruh mit der Schwerter Wiegenlied«, deklamierte Benka. »Und gib’s ihm, daß es nur so hagelt«, fügte er hinzu, um die seltsame Verzauberung, die die gleitenden Schatten auf ihn ausübten, zu brechen. Da erwachte Eva-Lotte, und befreit atmete sie auf. Quatsch, das waren doch bloß Anders und Sixtus, die da ihre hölzernen Klingen kreuzten. »Jag ihn hinaus aus seiner Väter Burg!« rief Kalle seinem Chef aufmunternd zu. Der Chef tat, was er konnte. Aus seiner Väter Burg konnte er Sixtus zwar nicht vertreiben, aber mit der Kraft seines Schwertes trieb er ihn rückwärts gegen die Pumpe in der Mitte des Schloß-hofes. Neben der Pumpe war eine alte Fontäne in einem schmutzigen Wasserbecken. Und etwas Besseres konnte es gar nicht geben, als was jetzt geschah: daß der Rote Chef durch einen unvor-sichtigen Schritt rückwärts in das Becken fiel. Mit ihren Jubelschreien übertönten Kalle und Eva-Lotte die zornigen Protestrufe der Roten. Aber Sixtus erhob sich aus seinem Bad, und jetzt war er richtig wild. Wie ein gereizter Stier stürzte er sich auf Anders, der der Abwechslung halber kehrt-machte und ausrückte. Vor Lachen glucksend, sauste er auf die Schloßhofmauer zu und begann sie zu erklettern. Bevor er es aber geschafft hatte, war Sixtus bei ihm und kletterte ihm nach. »Wohin mit dir?« reizte Anders und sah auf seinen Verfolger hinunter. »Du willst wohl zu dem Fest auf deiner Väter Burg?« »Zuerst will ich dich aber skalpieren«, versicherte Sixtus. Auf leichten Füßen sprang Anders auf der Mauer entlang. Er dachte allerdings verwundert daran, was wohl geschehen sollte, wenn Sixtus ihn erreichen würde. Hier oben kämpfen war ausgesprochen lebensgefährlich: An einer Seite der Burgmauer gähnte ein Abgrund. Sixtus brauchte ihn nur zwanzig Meter weit nach Osten zu jagen, und schon gab es nicht mehr die weiche Grasmatte in Mannshöhe unterhalb der Mauer, sondern nur noch die erschreckende Tiefe von mindestens dreißig Metern. Diese zu erwartenden dreißig Meter konnten ja eigentlich Anders nicht daran hindern, von der Mauer zu klettern, bevor er über der grausigen Tiefe war; aber er hatte einfach keinen Gedanken dafür übrig. Was gefährlich war, machte Spaß, und diese Nacht war für Schrecken bestimmt. Vielleicht hatte ihn auch eine besondere Art von Mondwahnsinn gepackt, denn er spürte eine wilde Lust, Handlungen von äußerster Verwegenheit zu begehen. Er wollte etwas anstellen, was die Roten so richtig nach Luft schnappen ließ. »Komm, komm, komm, kleiner Sixtus«, lockte er. »Wie wär’s mit einer netten Mondscheinpromenade?« »Halt du bloß die Luft an! Ich komme schon«, brummte Sixtus. Er begriff sehr gut, was Anders vorhatte. Aber er war nicht einer von denen, die man so im Handumdrehen dazu bringen konnte, nach Luft zu schnappen. Der Pfad auf der Mauer war ungefähr vierzig Zentimeter breit, also eine richtige Promenade für den, der es gewohnt war, in der Turnstunde auf dem viel schmaleren Schwebebalken zu balancieren. Jetzt hatte Anders die östliche Ecke erreicht. Er stand auf einer kleinen runden Plattform, einer Schutzwehr, und von hier ab schwenkte die Mauer nach Süden und folgte der jähen Tiefe. Anders machte einige Probeschritte. In diesem Augenblick hörte er in seinem Innern die Stimme der Vernunft, und noch war es nicht zu spät, ihr zu folgen. Sollte er – oder sollte er nicht? Lieber nicht! Sixtus hatte sich beunruhigend genähert. Er grinste entzückt, als er Anders zaudern sah. »Hier naht einer, der dein Herzblut sehen will«, sagte er zartfühlend. »Du hast doch nicht etwa Angst?« »Angst?« schrie Anders und bedachte sich nicht länger. Mit ein paar schnellen Schritten war er wieder draußen auf der Mauer. Ein Zurück gab es jetzt nicht mehr. Mindestens fünfzig Meter mußte er an der grauenhaften Tiefe entlangbalancieren. Er versuchte, nicht hinunterzusehen, sah nur den Mauerpfad entlang, der sich wie ein Silberband im Mondlicht ausstreckte. Ein sehr langes Silberband – und sehr schmal. Plötzlich so be- ängstigend schmal! Hatte er deshalb so ein weiches Gefühl in den Beinen? Gern hätte er sich umgedreht, um zu sehen, wo Sixtus war. Aber er getraute es sich nicht. Jetzt war es auch nicht mehr nötig, denn jetzt hörte er Sixtus’ Atemzüge dicht hinter sich. Sehr nervöse Atemzüge, stellte er fest. Sixtus war bestimmt ängstlich, er auch! Anders selbst schwebte jetzt in völliger Todesangst. Es war nutzlos, etwas anderes zu behaupten. Und hinten waren die anderen Rosen auf die Schutzwehr geklettert. Dort standen sie und starrten voller Entsetzen auf die Wahnsinnstat ihrer Anführer. »Hier naht – ei – ner, der dei – n Herzblut – se – hen will«, murmelte Sixtus. Aber seine blutdürstigen Reden hörten sich nicht mehr sehr überzeugend an. Anders überlegte. Natürlich konnte man noch in den Burghof springen. Das würde aber auf jeden Fall ein Sprung von drei Metern, hinunter auf unebene Steine. Man konnte sich nicht langsam und vorsichtig hinuntergleiten lassen, denn dazu wäre immer vorher auf der Mauer eine Kniebeuge nötig gewesen. Und Anders verspürte wirklich keine Lust, in der Nähe einer gähnenden Tiefe Kniebeugen zu machen. Nein, es gab nur eine Möglichkeit: weiterzulaufen und die Augen eisern auf die rettende Schutzwehr am anderen Ende der Mauer zu richten. Möglich, daß Sixtus doch gar nicht so ängstlich war. Er hatte noch etwas von seinem grausigen Humor übrig. Anders hörte dicht hinter sich seine Stimme. »Ich komme näher«, sagte er. »Immer näher komme ich, und bald werde – ich – dir – ein – Bein stellen«. Das war natürlich nicht ernst gemeint. Aber für Anders wurde es verhängnisvoll. Allein die Vorstellung, daß ihm jetzt jemand von hinten ein Bein stellen könnte, jagte ihm einen wahnsinnigen Schrecken ein. Er drehte sich halb zu Sixtus um –und wackelte. »Paß auf!« schrie Sixtus unruhig. Da wackelte Anders noch einmal – und von der Schutzwehr erklang in derselben Sekunde ein gellender Schrei. Zu ihrem Entsetzen sahen die Rosen den Weißen Chef in die Tiefe stürzen. Eva-Lotte hatte die Augen geschlossen. Verzweifelte Gedanken rasten durch ihren Kopf. Wo, oh, wo gab es einen Menschen, der ihnen jetzt helfen konnte? – Wer würde zu Frau Bengtsson gehen und ihr erzählen, daß Anders tot war? – Was sollten sie zu Hause sagen? Da hörte sie Kalles Stimme, schrill und grell vor Aufregung: »Seht, er hängt im Busch!« Eva-Lotte öffnete die Augen und starrte ängstlich in die Tiefe. Tatsächlich, dort hing Anders! Ein Busch hatte in der Berg-wand ein Stück unterhalb der Mauer Wurzeln geschlagen und hatte vorsorglich den Weißen Chef aufgefangen, als er so plötzlich in einen sicheren Tod fallen wollte. Von Sixtus sah Eva-Lotte zuerst nichts. Der Schreck hatte auch ihn zu Fall gebracht. Aber mit viel Geistesgegenwart hatte er sich in den Burghof fallen lassen, wo er sich zwar Knie und Hände blutig geschlagen hatte, aber am Leben geblieben war. Ob Anders am Leben bleiben würde, war mehr als zu bezweifeln. Der Busch bog sich beängstigend unter seiner Last. Eva-Lotte stöhnte. »Was machen wir? Was in aller Welt sollen wir tun?« wimmerte sie und starrte Kalle mit verzweifelten Augen an. Wie gewöhnlich mußte Meisterdetektiv Blomquist die Leitung übernehmen, wenn Gefahr drohte. »Festhalten, Anders!« schrie er. »Ich hole ein Seil!« In der vorigen Woche hatten sie hier oben bei der Schloßruine Lassowerfen geübt. Irgendwo mußte das Seil noch herumliegen. Es mußte. »Beeil dich, Kalle!« rief Jonte, als Kalle aus der Burgpforte lief. »Beeil dich, beeil dich, beeil dich!« Alle schrien sie diese eigentlich überflüssige Ermahnung. Kalle konnte sich nicht mehr beeilen, als er tat. Unterdessen versuchte man, Anders den Mut zu stärken. »Sei nur ruhig«, tröstete Eva-Lotte ihn. »Bald kommt ja Kalle mit einem Seil.« Anders benötigte viel Trost. Seine Situation war wirklich gefährlich, wie er auf dem Busch ritt wie die Hexe auf ihrem Be-sen. Er getraute sich nicht, in die Tiefe zu sehen. Er getraute sich nicht, zu schreien. Er getraute sich nicht, sich zu bewegen. Er getraute sich überhaupt nichts. Er konnte nur warten. Er starrte an der Mauer hoch. Wenn Kalle das Seil nicht finden würde, konnten ihm diese kleinen Mauervorsprünge auch nicht viel helfen. Er starrte auf den Busch, der sich bog und knackte. »Warum kommt er denn bloß nicht?« schluchzte Eva-Lotte. »Warum beeilt er sich denn nicht?« Sie hätten nur sehen sollen, wie sehr sich Kalle beeilte. Wie eine Wespe schwirrte er umher und suchte überall. Suchte, suchte, suchte … Aber es fand sich kein Seil. »Hilfe!« murmelte Kalle ängstlich. »Hilfe!« murmelte Anders mit bleichen Lippen und saß dort auf seinem Busch. »Ojojojoj«, murmelte Sixtus oben auf der Schutzwehr, »ojo-jojoj!« Aber da kam – endlich! – Kalle, und das Seil hatte er auch. »Eva-Lotte, du bleibst dort oben und hältst Ausschau!« kommandierte er. »Ihr anderen kommt herunter!« Jetzt muß alles schnell gehen. Kalle weiß, was er zu tun hat. Einen Stein aussuchen und an einem Ende des Seiles festbinden. Ihn dann über die Mauer schleudern, möglichst ohne Anders’ Schädel zu treffen. Hoffen, bitten, wünschen, daß Anders das Seil packen kann, ehe es zu spät ist. Hände und Finger werden so fahrig, wenn es eilig ist. So entsetzlich eilig … Da unten klebt Anders an der Mauer und starrt mit brennenden Augen hoch. Wird die Rettung nicht endlich kommen? Ja, sie kommt. Da fliegt das Seil über die Mauer. Viel zu weit weg. Unerreichbar für seine sehnsüchtigen Hände. »Mehr nach rechts!« schreit Eva-Lotte von ihrem Aussichts-posten. Kalle und die anderen unten an der Mauer reißen und zerren am Strick und versuchen, ihn dichter an Anders heranzube-kommen. Es ist unmöglich. Das Seil muß sich an irgendeiner Unebenheit auf dem Mauersims verfangen haben. »Ich halte es nicht mehr aus«, flüsterte Eva-Lotte. »Ich halte es nicht mehr aus.« Sie sieht, wie die Jungen vergeblich an dem Seil zerren. Sie sieht Anders in seiner Angst – – o Anders, weißeste Weiße Rose, Edelmann unserer Weißen Rose! »Ich halte es keine Sekunde mehr aus!« Mit schnellen, leichten nackten Füßen läuft sie auf die Mauer hinaus. Mut Eva-Lotte! Nicht nach unten sehen! Nur vorwärts laufen bis zu dem Seil und sich bücken ja, ja, sich bücken, wenn die Beine auch noch so sehr zittern! Das Seil lösen, es auf Anders zuschieben, sich auf der schmalen Mauer umdrehen und zur Schutzwehr zurücklaufen. Das tut sie – und heult nachher los wie ein Schloßhund. Die Jungen haben sie mit keinem Wort gestört. Jetzt läßt Kalle das Seil sachte abwärtsgleiten. Der Stein schaukelt vor Anders. Vorsichtig, ganz, ganz vorsichtig streckt er seine Finger danach aus, und Eva-Lotte verbirgt ihr Gesicht in den Händen. Aber sie soll ja Ausschau halten. Sie muß sich zum Sehen zwingen. Und da – da hat Anders das Seil in den Händen. »Er hat es!« schreit Eva-Lotte gellend. »Er hat es!« Nachher stehen sie um Anders herum und haben ihn alle so gern und sind so froh, daß er gerettet ist. Er ist famos, dieser Anders! Auf jeden Fall ist es herrlich, daß er lebt! »Was hattest du eigentlich unten im Busch zu tun?« fragt Sixtus. »Hast du Vogeleier gesucht?« »Ja, ich dachte, daß du vielleicht einige Verlorene Eier zu dem Fest auf deiner Väter Burg brauchen könntest«, entgegnete Anders. »Und da bist du beinahe selbst ein Verlorenes Ei geworden«, sagt Kalle. Und darüber lachen sie sehr: Haha, da wäre doch Anders beinahe ein Verlorenes Ei geworden! Sixtus schlägt sich beim Lachen auf die Knie. Da fühlte er, daß seine verwundeten Kniescheiben weh tun. Außerdem friert er in seinen nassen Kleidern. »Kommt, Benka und Jonte, jetzt hauen wir ab!« »Ja«, sagt Eva-Lotte. »Jetzt muß der Chef der Roten endlich trockengelegt werden. Hoffentlich bekommt ihm das Bad, das er auf seiner Väter Burg genommen hat!« »Schlaft gut!« ruft Benka im Davonlaufen. »Und wenn wir wieder mal Verlorene Eier brauchen, wenden wir uns an euch.« Sixtus legt ein schönes Tempo vor, und seine Getreuen folgen ihm zur Burghoftür. Im Tor dreht er sich um und winkt Kalle und Anders und Eva-Lotte zu. »Hallo, ihr alle, ihr Würmchen der Weißen Rose«, ruft er zurück. »Morgen werden wir euch von der Erdoberfläche ver-tilgen!« Hier irrt der Rote Chef. Es wird eine Zeit dauern, bis die Rosen sich wieder treffen werden. DRITTES KAPITEL Glücklich und zufrieden wanderten die drei Weißen Rosen heimwärts. Die Nacht hatte ihnen allerlei beschert, aber Anders’ Abenteuer hatte ihr Gleichgewicht nicht durcheinanderge-bracht. Solange Anders auf dem Busch gesessen hatte, waren sie vor Angst außer sich gewesen. Aber wozu mußte man hinterher noch Angst haben? Es war doch alles gutgegangen, und Anders hatte wahrhaftig keinen Nervenschock davongetragen. Er nahm sich gar nicht erst vor, wegen dieses kleinen Erlebnisses Alp-träume zu haben. Er gedachte, nach Hause zu gehen, ruhig zu schlafen und voller Vertrauen am nächsten gefährlichen Tag aufzuwachen. Aber in den Sternen stand geschrieben, daß keine der Weißen Rosen in dieser Nacht Schlaf finden sollte. Im Gänsemarsch liefen sie den kleinen, schmalen Pfad zur Stadt zurück. Besonders müde waren sie nicht, aber Kalle gähnte doch sehr lange und laut und sagte, das Schlafen in der Nacht sei bei vielen Leuten tatsächlich richtig populär geworden, und man könnte es ja schließlich auch einmal versuchen, um zu sehen, was »da eigentlich dran« sei. »Dem Rasmus gefällt es bestimmt«, flüsterte Eva-Lotte zärtlich und blieb stehen. Sie waren im Wald neben Eklunds Villa angelangt, kurz bevor der Pfad auf den Fahrweg mündete, und konnten das Haus durch die Bäume sehen. »Oh, wie wird Rasmus süß aussehen, wenn er schläft«, fuhr Eva-Lotte fort. »Nein, nein, nein, Eva-Lotte«, sagte Anders beschwörend, »fang doch bitte nicht wieder damit an!« Sicher schliefen Rasmus und sein Vater um diese Zeit in ihrem einsamen Haus. Im oberen Stockwerk stand ein Fenster offen, und eine weiße Gardine wehte leicht, als wollte sie den drei Nachtwanderern unten auf dem Pfad nur schnell einmal zuwin-ken. So still, so leise war es, daß Anders unwillkürlich die Stimme gesenkt hatte, um die Menschen, die dort oben hinter der leicht wehenden Gardine schliefen, nicht zu wecken. Aber es gab jemand, der weniger rücksichtsvoll war, wenn es anderer Menschen Schlaf galt. Jemand, der Auto fuhr. An- und abschwellendes Brummen fraß sich in die Stille, man konnte den Gangwechsel hören. Dann wurde nervenaufpeitschend ge-bremst – und dann war alles wieder wie zuvor: nur Stille. »Wer, zum Teufel, kutschiert um diese Zeit mit dem Auto hier herum?« wunderte sich Kalle. »Was geht’s dich an?« sagte Anders kurz. »Komm jetzt. Worauf warten wir eigentlich?« Aber tief, tief unten in Kalles Seele reckte Meisterdetektiv Blomquist hellwach seinen Kopf in die Höhe. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in welcher Kalle ausschließlich »Herr Karl Blomquist, Meisterdetektiv« gewesen war: der scharfsinnige, unbestechliche Meisterdetektiv, der über die Sicherheit der Stadt wachte und seine Mitmenschen hauptsächlich in zwei Ka-tegorien, »die Verhafteten« und »die noch nicht Verhafteten«, einteilte. Aber inzwischen war auch Kalles Verstand gewachsen, und jetzt kam es nur bei ganz bestimmten Begebenheiten vor, daß er sich wie ein Meisterdetektiv fühlte. Und hier war eine solche Begebenheit. Tatsächlich: Hier war eine solche Begebenheit! Wo will er hin, der im Auto kommt? Hier oben gibt es nur ein Haus, Eklunds Villa. Wie ein vorgeschobener Posten liegt sie ein weites Stück über allen übrigen Häusern der Stadt. Es kann nicht sein, daß der Professor jetzt Besuch erwartet: Das Haus schläft doch. Kann in dem Auto ein verliebtes Paar sitzen? Ein Paar, das hier heraufgefahren ist, um den Mond anzu-schwärmen? Lokalkenntnis fehlt ihnen dann aber. Der richtige Schwärmplatz der Stadt liegt genau in entgegengesetzter Richtung. Und man muß schon vor lauter Liebe geistig ziemlich umnachtet sein, wenn man sich diesen steilen, schmalen und krummen Weg zu einer Autoschwärmerei ausgesucht hat. Aber wer ist es dann, der mit dem Auto hier heraufkommt? Kein echter Detektiv kann diese Frage ungelöst liegenlassen. Das geht einfach nicht. Sie waren an den Fahrweg gekommen. »He, hört mal, können wir nicht noch ein Weilchen warten, um zu sehen, wer kommt?« fragte Kalle. »Warum bloß?« fragte Eva-Lotte. »Glaubst du im Ernst, hier laufen Mondmörder herum?« Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als vor dem Zaun der Villa, ungefähr fünfundzwanzig Meter von ihnen entfernt, zwei Männer auftauchten. Man konnte die Gartentür schwach in ihren Angeln quietschen hören, als die beiden vorsichtig die Tür öffneten und hineingingen. Ja, sie gingen tatsächlich hinein! »Runter mit euch in den Graben!« flüsterte Kalle erregt, und Sekunden später lugten die Köpfe der drei Rosen gerade noch so weit über den Grabenrand, daß ihre Augen verfolgen konnten, was im Garten des Professors geschah. »Ach, so ein Quatsch – wenn die nun vom Professor eingela-den sind«, zischelte Anders. »Denkst du«, sagte Kalle leise. Wenn es tatsächlich Gäste des Professors waren, benahmen sie sich wahrhaftig eigentümlich. Wenn man ein gern gesehener Gast ist, schleicht man doch nicht, als sei man ängstlich, ertappt zu werden. Man umkreist nicht das Haus. Man geht nicht hin und her und betastet Türen und Fenster. Ein lieber Gast, der das Haus verschlossen findet, stellt doch wohl keine Leiter gegen ein offenes Fenster im oberen Stockwerk und klettert dort hinein! Aber gerade all diese Dinge taten die nächtlichen Besucher. »Ich gehe ein«, keuchte Eva-Lotte. »Die klettern tatsächlich durchs Fenster!« Und das taten die Männer zweifellos, soweit man seinen eigenen Augen trauen konnte. Die drei lagen im Graben und starrten erschrocken auf das offene Fenster mit seiner spielerisch gebauschten Gardine. Es dauerte eine Ewigkeit. Eine Ewigkeit an Warten. Eine Ewigkeit an Stille ohne andere Laute als ihre unruhigen Atemzüge und das schwache Rascheln des Nachtwindes in den Kirschbäumen. Endlich kam einer der beiden wieder auf die Leiter. Er trug etwas im Arm. Um aller Barmherzigkeit willen – was trug er da? »Rasmus«,flüsterte Eva-Lotte und wurde schneeweiß im Gesicht. »Seht, sie rauben Rasmus!« Aber nein, dachte Kalle, das war ja unmöglich. So etwas konnte hier doch gar nicht passieren. Hier nicht! In Amerika vielleicht – davon hatte man ja schließlich schon einiges in den Zeitungen gelesen –, aber hier: nein! Aber anscheinend konnte es auch hier geschehen. Der Mann dort – trug Rasmus. Wahrhaftig, das war Rasmus. Er hielt ihn sorgfältig im Arm, und Rasmus schlief. Als der Mann mit seiner kleinen Last den Fahrweg hinunter verschwunden war, begann Eva-Lotte leise zu wimmern. Sie wandte Kalle ihr leichenblasses Gesicht zu und beschwor ihn, genau wie vorhin, als Anders auf dem Busch gesessen hatte. »Was machen wir? Was in aller Welt sollen wir tun, Kalle?« Kalle war zu aufgewühlt, um eine vernünftige Antwort zu geben. Er fuhr sich mit den Fingern nervös durch das Haar und stammelte: »Ich weiß nicht. Wir … wir … müssen Schutzmann Björk holen … wir müssen …« Wild kämpfte er gegen die furchtbare Lähmung in seinem Innern an. Er mußte doch klar denken! Irgend etwas mußte sofort geschehen, aber jetzt war er nicht der Mensch, zu bestimmen, was. Niemals würden sie es schaffen, die Polizei zu holen. So viel konnte er noch begreifen. Die Banditen würden Zeit haben, noch ein Dutzend Kinder zu rauben, bevor die Polizei hier war. Da kam der Mann zurück. Rasmus hatte er nicht mehr auf dem Arm. »Natürlich in das Auto gelegt«, flüsterte Anders. Eva-Lotte antwortete darauf mit einem erstickten Stöhnen. Sie sahen dem Kindesräuber mit vor Schreck ganz runden Augen nach. Nein, daß es derartig verabscheuenswerte Menschen gab – solche satanischen Schurken … Jetzt öffnete sich die Verandatür, und der andere wurde sichtbar. »Schnell, Nicke«, rief er mit tiefer Stimme. »Wir haben es bald geschafft!« Der Mann, der Nicke hieß, war mit ein paar schnellen Schritten oben auf der Veranda, und dann verschwanden beide wieder in der Villa. Jetzt kam Leben in Kalle. »Kommt«, flüsterte er hastig. »Kommt, wir müssen Rasmus zurückrauben.« »Wenn wir es schaffen«, sagte Anders. »Wenn wir es schaffen, jaja, natürlich – wenn wir es schaffen«, erwiderte Kalle. »Los! Wo steht das Auto?« Es stand gleich unterhalb einer steilen Stelle des Fahrweges und hatte dort gewendet. Sie rannten hin. Schnell und leise liefen sie in der Grabenvertiefung, und sie fühlten bei dem Gedanken, daß sie nun Rasmus den Klauen der Banditen entreißen würden, einen wilden Triumph. Einen wilden Triumph und eine gleich wilde Angst. In diesem Augenblick entdeckten sie, daß das Auto bewacht wurde. An der gegenüberliegenden Straßenseite stand ein Mann. Er wandte ihnen glücklicherweise den Rücken zu und war in höchst privater Weise beschäftigt. Sie wären ihm sonst sicher nicht entgangen. Nun konnten sie sich blitzschnell hinter einige schützende Büsche werfen. Etwas Beunruhigendes hatte der Mann sicher gehört, denn er drehte sich um und kam auf ihre Straßenseite herüber. Mißtrauisch starrte er genau in die Büsche hinein, hinter denen sie lagen. Hörte er wirklich ihre hämmernden Herzen und ihren keuchenden Atem nicht? Es kam ihnen wie ein Wunder vor, daß er es nicht tat. Er stand ein Weilchen und horchte, machte einen kleinen Gang zum Auto und sah durch ein Seitenfenster hinein. Schlenderte etwas aufgeregt auf der Straße hin und zurück. Blieb mal stehen und starrte wie gebannt zur Villa hinüber. Fand er, daß seine Kumpane zu lange blieben? Hinter den Büschen herrschte Verzweiflung. Was konnte man schon für Rasmus tun, solange die Figur dort umherlief? Eva-Lotte weinte. Kalle mußte ihr einen kräftigen Puff geben, um sie zum Schweigen zu bringen, und schließlich nahm er sich mit dem Puff auch etwas von seiner eigenen Angst. »Jammer und Elend«, sagte Anders. »Was sollen wir denn bloß tun?« Da schluckte Eva-Lotte energisch einen Schluchzer hinunter und sagte: »Ich, auf jeden Fall – ich muß zu Rasmus in das Auto. Wird er geraubt, so werde ich auch geraubt! Er soll nicht ganz allein mit einem Haufen Räuber sein, wenn er aufwacht.« »Ja aber …« wollte Kalle einwenden. »Ruhig! Red nicht!« wehrte Eva-Lotte ab. »Geht und macht verdächtige Geräusche in den Büschen – etwas weiter weg natürlich –, damit der Kerl das Auto eine Weile vergißt.« Anders und Kalle sahen sie erschrocken an, aber sie merkten, Eva-Lotte war entschlossen. Und wenn Eva-Lotte entschlossen war, konnte man nichts dagegen tun. Das wußten sie aus Erfahrung. »Laß mich das für dich machen«, schlug Kalle vor, obwohl er genau wußte, daß es zwecklos war. »Los, los, lauft schon!« sagte Eva-Lotte. »Beeilt euch! Beeilt euch!« Sie gehorchten ihr. Bevor sie verschwanden, hörten sie hinter sich noch Eva-Lottes flüsternde Stimme: »Wie eine Mutter werde ich zu Rasmus sein. Und dann werde ich, wenn ich kann, Spuren zurücklassen. Ihr wißt doch: so wie in ›Hänsel und Gretel‹.« »Fein«, sagte Kalle. »Wir werden dir wie zwei Bluthunde folgen.« Sie winkten ihr noch einmal zu und liefen dann lautlos zwischen den Büschen fort. Wie gut, wenn man bei solchen Gelegenheiten leise schleichen kann! Also ist er doch nicht nutzlos gewesen, der Krieg der Rosen. Man hat sich eine gewisse Übung darin erworben, Wacht-posten zu täuschen. Diesen Idioten auf der Straße zum Beispiel. Er hat den Auftrag bekommen, Rasmus zu bewachen. Und treu und brav schlendert er nun auf der Straße um das Auto herum. Hin und her. Hin und her. Dann aber hört er plötzlich weiter entfernt in den Büschen ein verdächtiges Geknacke. Und dann muß er natürlich dorthin und sehen, was das wohl sein kann. Springt also resolut über den Graben und taucht hinein in die Haselnußsträucher. Sehr aufmerksam, sehr wachsam, klar, klar, er ist ja so wachsam! Aber es ist doch das Auto, auf das er achtgeben soll, der Dumme! Was kann nicht alles am Auto passieren, während er zwischen den Haselnußsträuchern sucht! Völlig sinnlos sucht. Denn er findet dort nichts, einfach gar nichts. Freilich liegen da zusammengekauert hinter einem Gebüsch zwei Jungen versteckt, aber die sieht er natürlich nicht. Und in seiner Einfalt glaubt er, falsch gehört zu haben, oder er glaubt, daß da ein Tier zwischen den Büschen geraschelt hat. Er ist schon ein wachsamer Bursche! Er hat es jedenfalls bewiesen. Und als er zum Auto zurückgeht, ist er richtig zufrieden mit sich selbst. Und nun kommen auch endlich seine Kumpane. Die beiden Jungen, die vorsichtig aus dem Haselnußbusch hervorlugen, sehen sie auch. »Guck, der Professor«, flüsterte Kalle. »Sieh bloß, die rauben auch den Professor!« Ist das überhaupt wahr? Ist das alles nur ein Traum? Ist das wirklich der Professor, der da zum Auto gezerrt wird? Ein wilder, wütender, sich wehrender, widerspenstiger Professor mit auf dem Rücken gebundenen Händen und einem Knebel im Mund. Es ist wie im Traum und unheimlich. Aber ist es denn ein Traum? Jetzt, da es anfängt hell zu werden, sieht man alles so entsetzlich klar. Der Staub, den der Professor mit seinen widerstrebenden Füßen aufwirbelt, der ist kein Traum. Der Knall, als die Autotür hinter ihm zugeworfen wird, ist auch Wirklichkeit. Nun rast der Wagen die abschüssige Straße hinunter und verschwindet. In dem klaren Dämmerlicht liegt die Straße jetzt einsam und leer da. Es könnte alles ein Traum gewesen sein, wenn nicht noch ein schwacher Dunst von Benzin in der Luft hängen würde. Und wenn nicht dort am Straßenrand ein kleines feuchtes Taschentuch liegen würde. Eva-Lottes Taschentuch. »Ob sie Eva-Lotte rauswerfen, wenn sie sie entdecken?« fragt Anders. »Die werden sich hüten«, murmelt Kalle, »den einzigen Augenzeugen, den es ihrer Meinung nach gibt, in Freiheit zu setzen.« Unten schläft die Stadt. Sie wird bald erwachen. Die ersten Sonnenstrahlen blitzen bereits auf den vergoldeten Turmspitzen des Rathauses. »Guter Moses!« sagt Kalle und schüttelt sich. »Ja, du guter Moses!« sagt Anders. »Worauf wartest du noch, Kalle? Bist du nun Meisterdetektiv Blomquist oder nicht?« VIERTES KAPITEL In Windungen und Bogen tastet sich die Straße weich durch die grüne Sommerlandschaft. Zwischen weißen Birkenstämmen läuft sie vorbei an kleinen, runden Hügeln, an kleinen, blitzen-den Seen, an kleinen Kieferngehölzen, an blühenden Waldlich-tungen, an grünen Wiesen und an sich wiegenden Kornfeldern. Auf vielen krummen Wegen kommt sie so langsam an die Küste zum Meer. Diese Straße entlang rast an diesem herrlichen Sommermorgen ein großes schwarzes Auto, das mit wilder Geschwindigkeit um die Kurven schleift und Steinchen und Staub über die gelben Blumen an den Straßenkanten wirft. Es ist ein ganz gewöhnliches Auto. Aber ein aufmerksamer Beobachter könnte doch eine Besonderheit an dem Wagen finden. Er hinterläßt nämlich so merkwürdige Spuren – und nicht von den Reifen. Durch das offene Seitenfenster reckt sich dann und wann eine Mädchenhand, und später kann man auf dem kiesigen Straßen-grund kleine rote Papierstückchen oder auch manchmal weiße Milchbrötchenkrümel entdecken. Ja, haargenau: Milchbrötchenkrümel! Denn Eva-Lotte ist ja nicht für nichts und wieder nichts die Tochter eines Bäckers. Sie hat sich, bevor sie wegging, ein paar Milchbrötchen in die Kleidertaschen gesteckt. Die roten kleinen Papierstückchen sind Teile eines Plakates. Sie hat es von einem Telegraphenmast heruntergerissen, bevor sie zu dem schlafenden Rasmus in das Auto schlüpfte. GROSSES SOM-MERFEST stand in schwarzen Buchstaben auf dem Plakat. TOMBOLA TANZ KAFFEEPAUSE. Gott segne Kleinköpings Sportverein für dieses Plakat! Die Fahrt wird lang werden, und wie lange reichen denn einige Milchbrötchen? Bald muß Eva-Lotte anfangen, sie und die Plakatstückchen zu rationieren. Bei jeder Weggabelung muß ein leuchtendroter Zettel liegen. Wie können wohl sonst die Retter wissen, welchen Weg sie nehmen sollen? Werden übrigens Retter kommen? Wenn nicht, wie wird dann dieses Abenteuer enden? O Anders! O Kalle … Eva-Lotte sieht sich im Auto um und macht sich innere No-tizen. Dort neben ihr im hinteren Sitz hockt immer noch gebunden und mit einem Knebel im Mund der Professor, und seine Augen sind voller Verzweiflung. Neben ihm sitzt der, der das Auto so treu und brav bewacht hat. Im Vordersitz sieht sie den sogenannten Nicke mit dem schlafenden Rasmus im Arm. Am Steuerrad neben ihm sitzt der andere Fassaden-kletterer – Blom heißt er, Eva-Lotte hat es schon gehört. Sie nimmt alles mit ihren Augen auf und läßt die Blicke dann durch die Fensterscheibe weiterwandern. Sie rasen durch eine schwedische Sommerlandschaft, da gibt es keinen Zweifel. Die reifen Roggenfelder mit den Kornblumen und dem Mohn darin, das ist ja wohl schwedisch. Und die weißen Birkenstämme auch. Nur dieses Auto und seine wunderlichen Passa-giere gehören nicht hierher. Die gehören in einen amerikani-schen Gangsterfilm. Eva-Lottes Herz klopft tatsächlich etwas schneller, wenn sie daran denkt, daß die drei fremden Männer im Auto wirklich und wahrhaftig Kidnapper[1 - Amerikanische Bezeichnung für Kinderräuber.] sind – es wirkt direkt lächerlich in dieser sonnigen schwedischen Landschaft! Kidnapper, die fahren ja doch wohl ausschließlich in strömendem Regen und an dunklen Herbstabenden in Chicago herum! Nicke fühlt sicher ihren mißbilligenden Blick im Nacken, denn er dreht sich um und glotzt sie unzufrieden an. »Wer, zum Donnerwetter, hat dich eigentlich gebeten, sich in unsere Angelegenheiten zu mischen?« sagt er. »Warum bist du in das Auto gekrochen, dummes Lamm, du?« Eva-Lotte hat Angst. Größer aber ist ihre Wut. Und sie denkt nicht daran, einen solchen Hundsfott merken zu lassen, wie groß ihre Herzensangst ist. »Kümmere dich nicht um mich«, sagt sie. »Es ist ratsamer für dich, du überlegst, was du sagen wirst, wenn die Polizei kommt, um dich zu schnappen.« Der Professor bekommt aufmunternde Augen, und das stärkt ihren Mut. Sie ist dankbar, daß er hier ist, wenn er auch hilflos ist. Auf jeden Fall ist er ein Erwachsener, der auf ihrer Seite steht. Nicke verzieht den Mund, aber er sagt nichts und dreht sich wieder um. Er hat einen dicken Nacken und helles Haar, das geschnitten werden müßte, denkt Eva-Lotte. Ganz feine helle Härchen wachsen bis unter den Hemdkragen. Wie sieht er übrigens sonst aus? Personalbeschreibung, denkt Eva-Lotte. Kalle, wenn er hier wäre, hätte sofort damit angefangen. Am besten, sie macht es jetzt für ihn. Dann kann sie damit der Polizei helfen. Das heißt, wenn sie jemals Gelegenheit haben wird, ihre Beobachtungen an die Polizei weiterzugeben. Er hat ein Paar gutmütige Augen, dieser Nicke, und ein häßliches, sommersprossiges Gesicht. Jawohl, die Augen sind gutmütig, wenn er auch gerade jetzt recht mürrisch dreinblickt. Er sieht nicht besonders ungezogen aus und nicht besonders begabt, denkt Eva-Lotte weiter und schmeichelt sich, daß ihre Personalbeschreibung viel ausführlicher ist als eine von Kalle, der nur von der Augenfarbe spricht, aber niemals vom Charakter. Na, und die beiden anderen dann? Blom ist dunkel und sieht schlapp aus, bleich und finnig, ein richtiger Heini, denkt Eva-Lotte, macht für Geld sicher alles, was man von ihm will. Und der im Rücksitz ist dem Idiotenstadium wohl am nächsten. Er ist ein vollkommenes Nichts mit fast gar keinem Kinn und weniger Intelligenz, als auf dem Nagel eines kleinen Fingers Platz hat. Was in aller Welt hat diese drei Unterweltler dazu gebracht, sich auf Menschenraub zu legen? Irgendein Gedanke muß schon dahinterstecken, obwohl keiner der drei aussieht, als könne er überhaupt denken. Aber es kann ja hinter ihnen einer stehen, der für sie denkt, ein anderer, der woanders wartet. So – nun schwenkt das Auto plötzlich in einen holprigen kleinen Waldweg ein. Eva-Lotte hat es sehr eilig, eine ganze Menge Zettelchen und Krümel zu verstreuen. (Oh, daß bloß keiner der Gauner es sieht!) Denn hier könnten die Retter leicht auf einen falschen Weg kommen. Wo sie jetzt fahren, ist nämlich gar kein richtiger Weg mehr, und sicher ist hier auch noch kein Auto gefahren. Wie das Auto auf dem unebenen Pfad hopst, und wie es gerüttelt wird! Es wird so gerüttelt, daß Rasmus aufwacht. Zuerst öffnet er nur halb die schläfrigen dunklen Augen, dann aber setzt er sich auf und starrt Nicke an. »Wolltest du nicht zu uns kommen und unseren Küchenherd in Ordnung bringen, oder … oder …?« Hilflos bricht er ab. Eva-Lotte streckt die Hand vor und streichelt ihm das Kinn. »Ich bin ja hier«, sagt sie. »Bist du nicht froh, daß ich hier bin? Dein Vater ist auch hier, wenn er auch …« »Wohin fahren wir denn, Eva-Lotte?« fragt Rasmus. Nicke antwortet für Eva-Lotte. »Wir machen eine kleine Autofahrt«, sagt er mit einem breiten Lachen. »Nur eine kleine Autofahrt.« »Wolltest du nicht zu uns kommen und unseren Küchenherd in Ordnung bringen?« will Rasmus noch immer wissen. »Vati, ist er das?« Aber Vati antwortet nicht – er kann ja nicht. Nicke findet die Frage einfach köstlich. Er lacht noch lauter. »Küchenherd in Ordnung bringen … Nee, Häschen, diesmal nicht.« Es ist, als hätte ihn Rasmus’ Frage in gute Laune gebracht. Er setzt Rasmus bequemer auf sein Knie und fängt plötzlich an zu singen: »Der Graf hatte einen kleinen Hund. Trülle war sein Name und …« »Und du, wie heißt du?« wundert sich Rasmus. »Ich heiße Nicke«, sagt Nicke mit einem Grinsen. »Nicke ist mein Name, und …« singt er donnernd los. »Ich finde, du könntest endlich unseren Herd heil machen«, sagt Rasmus. »Aber wie Vater ja immer gesagt hat – nur Versprechungen und Versprechungen; aber daß mal was daraus wird …!« Eva-Lotte sieht bekümmert zum Professor. Er denkt sicher an andere Sachen als an kaputte Küchenherde. Sie klopft ihm ermunternd auf den Arm, und er dankt ihr mit den Augen. Dann wirft sie vorsichtig den letzten roten Zettel aus dem Fenster. Er flattert so spielerisch im Sonnenschein, bevor er zur Erde fällt und liegenbleibt. Wird ihn jemand finden? Und wann? FÜNFTES KAPITEL »Nein, nein, nicht zur Polizei rennen«, sagte Kalle. »Dazu haben wir jetzt keine Zeit. Wir müssen zuerst die Kerle verfolgen und sehen, wo sie bleiben.« »Fein«, sagte Anders, »und logisch! So ein Auto hat ja gar keine Chance, wenn ein Sprinter wie du ihm nachsetzt.« Kalle beantwortete diese dumme Bemerkung nicht. Er lief durch den Garten und zu dem Motorrad des Professors. »Komm!« rief er. »Das hier nehmen wir!« Anders sah ihn mit schreckgemischter Bewunderung an. »Wir können doch nicht …« fing er an, aber Kalle unterbrach ihn. »Wir müssen«, sagte er kurz. »Das hier ist eine sogenannte Notlage. Da kann man sich nicht hinsetzen und lange über Füh-rerscheine grübeln. Es gilt doch Menschenleben, Anders!« »Hm, und übrigens fährst du ja fast besser als dein alter Herr!« sagte Anders. Sie schoben das Rad auf die Landstraße. Dort waren im Sand noch einige undeutliche Abdrücke von Autoreifen zu sehen, die einzige Spur, die von den Kidnappern hinterlassen worden war. Das schwarze Auto war lange fort. »Eva-Lotte sagte ja, sie würde es wie Hänsel und Gretel machen«, schrie Kalle, als das Motorrad die Straße hinunterraste. »Wie haben das Hansel und Gretel übrigens gemacht?« »Streuten Brotkrümel hinter sich«, schrie Anders. »Und auch Kieselsteine.« »Ja, wenn Eva-Lotte Kieselsteine mit in das Auto genommen hat, ist sie noch seltsamer, als ich dachte«, rief Kalle. »Aber irgendwie sieht es ihr auch wieder ähnlich. Sie denkt sich immer so etwas aus.« Sie kamen zur ersten Wegkreuzung, und Kalle bremste. Welchen Weg? Welchen Weg? Dort war ein roter Zettel zu sehen. Das Stückchen Papier hatte sich im Gras an der Straßenkante verfangen. TANZ stand darauf. Nun liegen ja aber immer allerlei Papierfetzen an den Straßenkanten, und deshalb beachteten sie diesen nicht besonders. Ein Stück weiter lag etwas anderes. Ein Stück Weißbrot, aus einem Milchbrötchen herausgebrochen. Mit einem Triumphgeschrei zeigte Anders darauf. Eva-Lotte machte es wirklich wie Hansel und Gretel! Da lag, einige Meter weiter, noch ein rotes Papierstück. Dann mußten diese Schnitzel ja wohl auch etwas bedeuten. Sehr ermuntert steuerten sie auf die Straße, die sich bergab schlängelte. Ihre Müdigkeit hatten sie vergessen. Es wäre un-ehrlich zu sagen, daß sie bei guter Laune waren, aber in all ihrer Unruhe und Angst fand sich auch eine merkwürdige, fast heitere Anspannung. Das Motorrad knatterte so wunderbar gleichmä- ßig unter ihnen und schluckte ohne Zaudern Kilometer nach Kilometer des geschlängelten Weges, der sie einem geheimnisvollen Ziel entgegenführte, einem Ziel, an dem unbekannte Gefahren lauerten. Die Gefahr in Verbindung mit der Freude an der Fahrt bewirkte sicher diese seltsame Anspannung bei ihnen. Sie starrten auf die Straße vor sich. Hier und dort lag ein rotes Zettelchen wie ein kleiner freundlicher Gruß von Eva-Lotte. An der Abzweigung des Waldweges wäre es beinahe schiefge-gangen. Sie erreichten ihn und fuhren an ihm vorbei. Er war ja auch so unbedeutend, daß man ihn leicht übersehen konnte. Aber Anders entdeckte einen wohlbekannten roten Zettel, der durch die Kiefern winkte. »Stopp, stopp«, schrie er, »wir fahren falsch! Unsere Gangster sind in den Wald hinein!« Einen freundlicheren Waldweg konnte es wirklich nicht geben. Zwischen den Bäumen huschten die Strahlen der Morgensonne hindurch. Sie schienen auf das dunkelgrüne Moos des Bodens und auf die kleinen Blumen dazwischen. In der Nähe, auf einer Tannenspitze, trillerte ein Vogel seinen Morgengruß so entzückt in die Welt hinein, als gäbe es keine Bosheit. Als aber Kalle und Anders zwischen die Kiefern hineinsteuer-ten, spürten sie deutlich, daß der Vogel unrecht hatte. Sie spürten in jeder Fiber ihres Körpers, daß sie sich schnell etwas Bösem und Drohendem näherten. Dieses Böse und Drohende hatte mit Sonne, Blumen und Vogelsang nichts zu tun. Es ging abwärts. Abwärts. Abwärts. Da schimmerte etwas Blaues zwischen den Bäumen hindurch: das Meer! Dann kam ihnen eine alte verfallene Landungsbrücke entgegen, und – ihre Fahrt war zu Ende. Am äußersten Ende der Brücke fanden sie den letzten Gruß von Eva-Lotte, ihre rote Haarspange. Sie standen da und sahen nachdenklich über den Fjord hinaus. Die dünnen Morgennebel hoben sich, und die Sonne spielte auf der Wasserfläche, die der Morgenwind sacht kräuselte. Wie still hier alles war! Wie tot. So leer wie am ersten Schöp-fungstag, bevor sich Menschen auf der Welt einfanden. Grüne Inseln und kahle Klippen beengten den Blick zum Horizont. Man hätte glauben können, diese kleine, schmale blaue Meeresbucht sei ein Binnensee. Einige hundert Meter vor der Brücke lag eine große Insel und verdeckte die Ausfahrtrinne zum offenen Meer. Eine große, bergige Insel mit Wäldern. Sie schien vollkommen unbewohnt. Nein, unbewohnt war sie nicht. Ein dünner, leichter Rauch stieg über die Baumspitzen in den Himmel hinauf. »Da hast du das Wespennest!« sagte Kalle. »Ersticken sollen sie!« antwortete Anders. »Was glaubst du, schaffen wir es, so weit zu schwimmen?« »Pfff«, sagte Anders, »das ist doch wohl ’ne Kleinigkeit. Und wenn sich hier kein Boot findet …« Neben der Brücke lag ein Schuppen. Kalle ging hin und fühlte an der Tür. Geschlossen! Konnte da drinnen ein Boot sein? Auf jeden Fall ist ein Auto in dem Schuppen, dachte er, als er Spuren im taufrischen Gras sah. Daß dort drinnen das schwarze Auto versteckt war, wußte er plötzlich ganz sicher. Und er empfand eine tiefe Zufriedenheit darüber, daß es ihnen gelungen war, den Kinderräubern zumindest bis hierher zu folgen. Es war richtig gewesen, ihnen sofort zu folgen, das wußte er jetzt. Die Zettelspuren und die Krümelchen von Eva-Lotte hätten der Wind und die Vögel bald vertilgt, und wer hätte später daran gedacht, ausgerechnet hier in dieser öden, menschenleeren Gegend zu suchen. Kalle warf noch einen abschätzenden Blick auf die Insel. Ja, sie waren gezwungen hinüberzuschwimmen, aber es war nicht so weit, daß sie es nicht hätten schaffen können. Das Motorrad mußten sie zuerst noch im Wald verstecken. Wie Entdeckungsreisende, die an einer unbekannten Küste an Land gehen, fühlten sie sich, als sie nach der langen Schwimm-tour blaugefroren das Ufer erreichten. Eine fremde Küste split-terfasernackt zu entdecken, war auch keine reine Freude. Man fühlte sich ohne Kleider noch hilfloser und ausgelieferter. Feinde waren nicht zu sehen. Deshalb setzten sie sich auf eine besonnte Klippe, um trocken zu werden und etwas Wärme in den Körper zu bekommen. Dann lösten sie die Knoten ihrer Kleiderbündel und stellten fest, daß ihre Hemden und Hosen auf keinen Fall zu naß waren, um angezogen zu werden. »Ich möchte wissen, was die Roten wohl sagen würden, wenn sie von dieser Sache wüßten«, sagte Kalle, den Kopf irgendwo innen in seinem Hemd. »Die würden sagen, typisch Meisterdetektiv Blomquist«, sagte Anders. »Du stolperst über Strolche und Banditen wie gewöhnlich Menschen über Baumwurzeln.« Kalle hatte das Hemd nun endlich anbekommen. Nachdenklich den Kopf zur Seite geneigt, stand er vor Anders. Unter dem kurzen Hemd ragten ein Paar lange braune Beine hervor, und der ganze Junge sah sehr kindlich und gar nicht nach Meisterdetektiv aus. »Ja, sag mal, ist das nicht wirklich eigenartig?« sagte er. »Wo wir immer hineingeraten, unausgesetzt, unausgesetzt …!« »Ja«, sagte Anders, »was uns passiert, passiert sonst nur in Büchern.« »Du, Anders, Junge, Junge – vielleicht ist das hier alles ein Buch«, überlegte Kalle. »Sag mal, du bist wohl nicht ganz bei Troste?« »Aber, Anders, stell dir doch bloß vor – wir sind nicht da«, sagte Kalle träumend. »Mit einemmal sind wir nur ’n paar Jungs in einem Buch, das sich einer ausgedacht hat.« »Ja, du vielleicht«, sagte Anders ärgerlich. »Würde mich gar nicht wundern, wenn du überhaupt nur ein Druckfehler wärst. Aber ich nicht. Ich mach’ da nicht mit, verstehst du? Das will ich dir noch ganz deutlich gesagt haben.« »Kannst du gar nicht wissen«, hielt ihm Kalle entgegen. »Möglicherweise bist du nur in einem Buch, das ich mir ausgedacht habe.« »Oho«, sagte Anders. »Wenn es so aussieht, bist du in einem Buch, das ich mir aus gedacht habe, und ob du es glaubst oder nicht – es tut mir schon beinahe leid, daß ich dich überhaupt ausgedacht habe.« »Übrigens habe ich Hunger!« sagte Kalle. Sie begriffen gut, daß es fortgeworfene Zeit war, herumzu-hocken und die eigene Existenz zu bezweifeln. Auf sie warteten wirkliche, wichtige und gefährliche Aufträge. Irgendwo dort, hinter all den Tannen und Kiefern, mußte sich ein Haus befinden und ein Schornstein, der einen schmalen Streifen Rauch in die Luft blasen konnte. Irgendwo mußten sich Menschen befinden. Irgendwo mußte Eva-Lotte sein und der kleine Rasmus und der Professor. Es war also notwendig, sie zu finden. »Da gehen wir entlang«, sagte Kalle und zeigte in den Wald hinein. »Da hinten haben wir nämlich den Rauch gesehen.« Zwischen dichten Tannen, kleinen, kugeligen Moosrücken, durch Blaubeergestrüpp, über Sandhügel, an Ameisenhaufen vorbei und zwischen Distelbüschen lief ein kleiner Pfad, dem sie folgten. Sie waren sehr still und wachsam, jederzeit bereit, zu fliehen, wenn es nötig sein sollte. Sie fühlten, es wurde gefährlich. Und als Kalle, der vorausging, sich plötzlich hinter eine Tanne warf, wurde Anders blaß vor Angst. Er folgte ihm blitzschnell und ohne Zeit für Fragen zu verschwenden. »Da!« flüsterte Kalle und zeigte zwischen die Tannen. »Da sieh mal!« Aber es war nichts Entsetzliches zu sehen, als Anders langsam, ganz langsam und vorsichtig hinter den Tannen hervorlugte, im Gegenteil. Ein Wochenendhaus, ein wirklich vornehmes Wochenendhaus, und eine offene, sonnenbeschienene Grasfläche davor. Eine schöne kleine Fläche mit samtweichem grünem Gras, ringsum gegen harte Winde durch dichte Tannen geschützt. Und mitten auf der Grasfläche saß der Professor und hatte Rasmus auf dem Knie. Ja, tatsächlich, da saßen sie. Rasmus und der Professor und noch irgend so ein anderer. »Ich finde, Sie sind sehr unvernünftig, Herr Professor Rasmusson«, sagte der andere. Besonders vernünftig wirkte der Professor im Augenblick wirklich nicht. Er schien in allernächster Zeit vor Wut explodie-ren zu wollen. Deutlich war auch, daß er sich am liebsten auf sein Gegenüber gestürzt hätte. Nur die Tatsache, daß er gebundene Hände hatte, schien ihn daran zu hindern. »Wirklich, riesig unvernünftig«, sprach der andere weiter. »Jaja, ich gebe zu, mein Vorgehen ist etwas ungewöhnlich. Aber war ich nicht dazu gezwungen? Es war sehr wichtig. Ich mußte mich einmal mit Ihnen aussprechen.« »Nun aber Schluß!« sagte der Professor. »Sie haben sicher zu viele Groschenhefte gelesen. Oder Sie sind nicht richtig klug.« Der andere lachte, ein trockenes, überlegenes, kurzes Lachen, und begann, auf dem Gras hin und her zu promenieren. Es war ein großer Mann mit einer guten Figur, wohl in den Vierzigern, und sein Gesicht hätte man schön nennen können, wenn nicht ein unmenschlich harter Zug darin gewesen wäre. »Es braucht Sie nicht zu interessieren, ob ich klug bin oder nicht«, sagte er. »Mich aber interessiert: Nehmen Sie meinen Vorschlag an?« »Und das einzige, was mich interessiert, ist, wann und wo ich Ihnen aufs Maul schlagen kann.« »Ich finde, das sollte er gleich machen«, flüsterte Kalle hinter der Tanne, und Anders nickte zustimmend. Der Fremde sah den Professor an, als sähe er auf ein kleines unvernünftiges Kind. »Warum wollen Sie eigentlich hunderttausend Kronen wegwerfen, völlig unnötig wegwerfen?« sagte er. »Ich biete Ihnen für die Formeln hunderttausend – der Preis ist doch wohl mehr als anständig. Dabei brauchen Sie mir die Papiere, falls es Ihr Gewissen zu sehr belastet, nicht einmal selbst in die Hände zu geben. Ein kleiner Hinweis, wo ich sie finde, genügt, und die Auszahlung kann beginnen.« »Hören Sie, Ingenieur Peters, oder wie zum Teufel Sie sich nennen, Ihr Spatzengehirn hat wohl noch nicht begriffen, daß diese Formeln Eigentum des schwedischen Staates sind.« Peters zuckte ungeduldig mit den Schultern. »Niemand braucht zu wissen, daß es Ihre Erfindung ist, die aus dem Lande geht. Verstehen Sie doch, man wird bald auch in anderen Ländern unzerstörbares Leichtmetall herstellen können. Das ist nur noch eine Frage der Zeit. Nur um Zeit zu gewinnen, will ich die Formeln jetzt von Ihnen kaufen.« »Nun aber Schluß«, sagte der Professor wieder. Peters’ Augen wurden schmal. »Ich muß sie haben«, sagte er. »Ich muß Ihre Formeln haben.« Rasmus hatte bis jetzt stillgesessen, nun aber mischte er sich in das Zwiegespräch. »›Muß haben‹ und ›muß haben‹, so sagt man doch wohl nicht. ›Ich bitte sehr darum‹, sagt man.« »Ruhig, Rasmus«, sagte der Professor. Der Ingenieur Peters sah die beiden nachdenklich an. »Netten kleinen Jungen haben Sie«, meinte er. »Ihn möchten Sie sicher nicht gern verlieren?« Der Professor schwieg. Voller Abscheu sah er den Mann an, der vor ihm stand. »Wollen wir nicht trotzdem einen kleinen Kuhhandel miteinander machen?« fuhr Peters fort. »Berichten Sie mir, wo sich diese Papiere befinden. Ich schicke einen Mann los und lasse sie holen. Sie bleiben so lange hier, bis ich mich davon überzeugt habe, daß die Dokumente echt sind, und dann sind Sie frei und außerdem um hunderttausend Kronen reicher.« »Halten Sie den Mund«, sagte der Professor. »Ich will nichts mehr hören.« »Wie gesagt, um hunderttausend Kronen reicher«, fuhr Peters unberührt fort. »In Ihrem eigenen Interesse rate ich Ihnen, auf meinen Vorschlag einzugehen. Denn wenn Sie das nicht tun …« Es entstand eine kleine, gehässige Pause. »Ja, denken Sie doch einmal an, wenn ich es nun nicht tue«, sagte der Professor höhnisch. »Was wird dann?« Der Schimmer eines Lächelns, eines häßlichen kleinen Lächelns, flog über Peters’ Gesicht. »Dann haben Sie Ihren Sohn zum letztenmal gesehen«, sagte er. »Sie sind wirklich verrückter, als ich glaubte«, sagte der Professor. »Bilden Sie sich tatsächlich ein, daß mich Ihre kindischen Drohungen erschrecken können?« »Das werden wir ja sehen. Es wäre jedenfalls gut für Sie, wenn Sie sich an den Gedanken gewöhnen könnten, daß Sie es nicht mit leeren Drohungen zu tun haben.« »Und für Sie wäre es gut, wenn Sie sich an den Gedanken gewöhnen könnten, daß ich niemals erzählen werde, wo ich meine Papiere aufbewahre.« Rasmus setzte sich kerzengerade auf seines Vaters Knie hoch und beobachtete Peters. »Nein, und ich werde auch niemals etwas von den Papieren erzählen«, sagte er triumphierend, »obwohl ich weiß, wo sie sind.« Der Professor zuckte vor Unbehagen zusammen. »Was redest du da für Dummheiten«, sagte er. »Das weißt du doch gar nicht.« »Weiß ich nicht?« sagte Rasmus. »Wollen wir wetten?« »Sei ruhig, du weißt ja nicht einmal, wovon wir sprechen!« sagte der Professor kurz. »Natürlich weiß ich das«, trumpfte Rasmus auf, der es nicht leiden mochte, wenn jemand daran zweifelte, daß er einem Gespräch folgen konnte. »Ihr sprecht von den Papieren mit all den vielen kleinen roten Zahlen darauf. Und die Zahlen, sagtest du einmal, seien geheim, so geheim, so geheim, so …« »Ja, gerade davon haben wir gesprochen«, sagte Peters eifrig. »Aber wo die Papiere mit den Zahlen sind, das kannst du doch wohl nicht wissen. Dafür bist du doch zu klein!« Der Professor unterbrach ihn wütend. »Das führt doch zu nichts. Begreifen Sie doch, daß ich aus Sicherheitsgründen jede einzelne Seite der Dokumente in ein Bankfach gelegt habe.« Rasmus sah seinen Vater vorwurfsvoll an. »Jetzt schwindelst du aber, Vater!« sagte er streng. »Die Papiere sind doch gar nicht in ein, wie du gesagt hast, Bankfach gelegt.« »Schweig, Rasmus!« schrie der Professor außergewöhnlich heftig. Kalles Herz klopfte, daß er es bis in den Hals hinauf spürte, und er fuhr sich voller Verzweiflung in die Haare. Anders sah aus, als wolle er am liebsten hinstürzen und den Kleinen am Weiterreden hindern. Aber Rasmus glaubte sicher, noch über die Papiere sprechen zu müssen, zumal es ja aussah, als hätte sein Vater ganz vergessen, wie es gewesen war. »Die sind ganz bestimmt nicht in einem Bankfach, denn das weiß ich«, sagte er überzeugend. »An dem Abend, Vater, als du dachtest, ich liege in meinem Bett und schlafe, habe ich dich nämlich gesehen. Ich stand auf der Treppe in der Diele, und du stecktest …« »Schweig, Rasmus!« schrie der Professor noch heftiger. »Warum schreist du denn so?« fragte Rasmus gekränkt. »Ich werde nicht sagen, wo sie sind.« Dann sah er mitleidig zu Peters. »Aber ich könnte ihm doch schließlich sagen, ob es ›Feuer‹ ist, oder ›Kohle‹ oder ›Wasser‹ – so macht man es doch!« Der Professor schüttelte ihn sehr unsanft. »Wirst du wohl endlich ruhig sein!« schrie er. »Ja, ja, ja, ich werde«, sagte Rasmus ungeduldig. »Habe ich denn schon etwas gesagt?« Er schob überlegend die Unterlippe vor und dachte nach, dann blieb sein Blick an Peters hängen. »Also ›Kohle‹ ist es auf keinen Fall«, sagte er. »Und ›Wasser‹ auch nicht!« Triumphierend sah er seinen Vater an. Eva-Lotte sah sich in ihrem Gefängnis um. In ihrem, ehrlich gesagt, recht netten Gefängnis. Wenn dieser Nicke nicht ein paar dicke Latten über die Fensteröffnung genagelt hätte, die Einbildung, sie sei ein sehnsüchtig erwarteter Gast auf der Insel, wäre vollkommen gewesen. Hatte sie nicht wirklich das allersüßeste kleine Gasthaus nur für sich ganz allein bekommen? Wie gemütlich: vier Sitzbänke an den Seitenwänden, mit ka-riertem Baumwollstoff bezogen, ein Vorhang über der Wasch-gelegenheit, am Fenster ein kleiner Tisch mit Zeitungen und Büchern für die Unterhaltung des Gastes. Von allen Kidnapperwohnungen auf der Welt war diese sicher die eigentümlichste, dachte Eva-Lotte. Viele Kidnapperwohnungen mit einer solchen Aussicht gab es sicher schon gar nicht. Hinter den auf-genagelten Latten stand das Fenster offen, und durch die Zwischenräume sah man auf eine Sommerlandschaft von überwältigender Schönheit. Der Fjord lag im glitzernden Sonnenschein und hielt kleine grüne Inselchen in seinen blauen Armen. Eva-Lotte holte tief Luft. Denkt nur, jetzt den nadeldünnen Pfad zwischen den Tannen entlang zur Brücke laufen können, kopf- über in das kristallklare Wasser tauchen, auf der Brücke liegen und sich sonnen, die Augen schließen und nur noch das gleichmäßige, leise Schwabben hören, wenn die Boote an ihrer Vertäuung zerren! Ja, die Boote, die Boote der Kinderräuber! Sie hatten mehrere. Eva-Lotte konnte das Motorboot sehen, in dem man sie über den Sund gebracht hatte. Ganz nahe schaukelten in der schwachen Dünung drei Ruderboote. Auf der Brücke lag außerdem ein großes kanadisches Kanu. Die Insel muß für Kinderräuber höchst bequem sein, dachte Eva-Lotte. Und Platz war hier, wenn es nötig sein sollte, für eine ganze Schwadron. Zu drängen brauchte sich hier niemand. Viele kleine Häuschen lagen wie spielerisch hingeworfen im Gelände. Alle hatten den rechten Abstand zu dem großen, feinen, wo der Kidnapperchef residierte. Vielleicht wohnten in all den vielen kleinen Häuschen Kidnapper. Jeder für sich sein eigenes kleines Bienennest. Klopfte man gegen die Tür, kam möglicherweise ein aufgeregter kleiner Kidnapper herausgesurrt und erschreckt einen zu Tode! Als Eva-Lotte so weit gedacht hatte, machte sie den Nacken steif und sah sehr bestimmt aus. Sie würde sich nicht erschrek-ken lassen. Niemand dürfte hier kommen und sich auf die Nase von Eva-Lotte Lisander setzen! Dieser Nicke sollte wissen, daß Eva-Lotte lebendig war. Mit ihren Fäusten ging sie auf die verschlossene Tür los. »Nicke«, schrie sie. »Nicke, herkommen! Ich will etwas zu essen haben. Sonst kippe ich das Haus um!« Anders und Kalle, die unter den Bäumen dem Gespräch zwischen dem Professor und Peters zuhörten, nahmen den Lärm mit Zufriedenheit zur Kenntnis. Gott sei Dank! Eva-Lotte war am Leben und, wie zu hören war, in keiner Weise angebrochen! Nicke hörte den Lärm natürlich auch. Bei ihm war die Zufriedenheit darüber wesentlich geringer. Verärgert brummend, machte er sich auf, den Lärm zu beenden. Eva-Lotte wurde still, als sie den Schlüssel im Schloß hörte. Nicke kam näher, bereit, sie ordentlich abzukanzeln. Aber seine Zunge war nicht besonders schnell, und Eva-Lotte kam ihm zuvor. »Die Bedienung in diesem Hotel läßt aber zu wünschen übrig!« sagte sie mit spitzer Betonung jedes einzelnen Wortes. Nicke hatte plötzlich alles vergessen, was er ihr hatte sagen wollen. Er glotzte Eva-Lotte an, erstaunt und beinahe ein wenig verletzt. »Nee du, hör du mal«, sagte er. »Nee du, hör …« »Ja du, hör du mal«, sagte Eva-Lotte. »Reiner Mist ist das hier mit der Bedienung in diesem Hotel. Ich will mein Essen haben! Essen! Falls du Schwedisch verstehst!« »Dich haben wir unserer Sünden wegen bekommen«, sagte Nicke bitter. »Und daran hat der zweimal dumme Svanberg schuld, der nicht richtig auf das Auto achten konnte. Es wird wirklich interessant sein zu hören, was der Chef davon hält.« »Na, mit mir habt ihr schließlich einen guten Fang gemacht«, sagte Eva-Lotte. »Für einen Kinderräuber muß es doch wundervoll sein, plötzlich an zwei Kinder zu kommen, wo er nur mit einem gerechnet hat.« »Nee du, hör du mal«, sagte Nicke wieder. »Der Quatsch gefällt mir nicht. Für dich bin ich noch lange kein Kinderräuber.« »Bist du nicht? Ja, aber genau bist du für mich der Kinderräuber Nicke. Wenn man Kinder klaut, ist man ein Kinderräuber, das ist dir doch wohl klar. Oder ein Kidnapper. Aber das ist dasselbe auf englisch.« Wieder sah Nicke so erstaunt und zugleich verletzt aus. Von dieser Seite hatte er das alles vorher sicher nicht angesehen, und er hatte auch jetzt nicht die Absicht, es zu tun. »Ich bin aber kein Kinderräuber für dich«, sagte er etwas unsicher. »Und übrigens hörst du jetzt auf, solchen Lärm zu machen«, schrie er los, plötzlich überwütend. Er packte Eva-Lotte an den Armen und schüttelte sie. »Hörst du, du hörst auf, solch einen Lärm zu machen, sonst bekommst du eine Tracht Prügel von mir, daß es nur so hagelt.« Eva-Lotte sah ihm schnurgerade in die Augen. Ihr schwebte unklar vor, so täte man, wenn man wilde Bestien zähmte. »Ich will etwas zu essen haben«, sagte sie bestimmt. »Bald wird es sich hier anhören, als fordere eine ganze Schulklasse ihr Essen, wenn ich nicht mein Essen kriege.« Nicke fluchte und ließ sie los. Er ging auf die Tür zu. »Jaja, du sollst zu essen haben«, sagte er. »Haben die Gnä-digste besondere Wünsche?« »Hm, na – Schinken und Ei vielleicht«, sagte Eva-Lotte. »So etwas mag ich zum Frühstück recht gern. Und die Eier auf beiden Seiten gebraten, bitte sehr! Und vor allem: schön mit Tempo, etwas schneller, wenn ich bitten darf.« Nicke schlug die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zu. Eva-Lotte hörte, wie der Schlüssel im Schloß umgedreht wurde. Und sie hörte, wie Nicke in ganzen Serien fluchte. Bald danach aber hörte sie etwas anderes, etwas, was sie mit grenzenloser Freude erfüllte. Sie hörte, wie ganz leise vor ihrem Fenster das Signal der Weißen Rosen gepfiffen wurde. Ganz leise – aber herrlicher als alle Harfentöne des Himmels. SECHSTES KAPITEL Kalle wachte mit einem Ruck auf. Ziemlich verwirrt sah er sich um. Wo war er? War es Abend oder Morgen? Und warum lag dort Anders? Langsam begann es sich in seinem Gehirn zu klären: Es war Abend. Er lag in einer Hütte, die er zusammen mit Anders gebaut hatte. Die letzten Strahlen der Sonne färbten draußen die Kiefern bei den Felsen rot. Und Anders lag einfach dort, weil er übermüdet war. Was für ein Tag! Strenggenommen, hatte er ja bereits gestern abend in der Schloßruine begonnen. Und jetzt war wieder Abend. Fast den ganzen Nachmittag hatten Anders und er geschlafen. Der Schlaf war nötig gewesen. Vorher aber hatten sie sich noch diese wunderbare Hütte gebaut. Kalle streckte seine Hand aus und betastete die Wand aus Tannenzweigen. Ja, er liebte diese Hütte! Sie war jetzt ihr Zu-hause, ein kleiner Ort des Friedens, den sie sich, so weit als irgend möglich von den Kidnappern entfernt, geschaffen hatten. Hier konnte keiner sie finden. Die Reisighütte lag eingebettet in einer Mulde zwischen zwei Felsen. Wenn man nicht direkt auf sie zukam, war es sehr schwer, sie zu entdecken. Hier war Schutz vor allen Winden und weiches Tannengrün, darauf zu schlafen. Die Felsen hatten noch viel von der Sonnenwärme des Tages aufgespeichert; zu frieren brauchten sie in der Nacht nicht. Ja, es war eine wunderbare Hütte. »Bist du hungrig?« fragte Anders. Es kam so unerwartet, daß Kalle zusammenzuckte. »Bist du aufgewacht?« Anders setzte sich auf seinem Bett aus Tannenzweigen auf. Seine Haare waren struwwelig, und auf einer Backe zeigte sich ein zierliches rotes Tannenzweigmuster. »Ich bin so hungrig, ich glaube, ich könnte jetzt sogar gekochten Schellfisch essen«, stöhnte er. »Sprich nicht davon, Anders«, sagte Kalle. »Ich wollte gerade hinausgehen, um etwas Borke von den Bäumen abzunagen.« »Ja, ja, wenn man einen langen Tag von Blaubeeren gelebt hat, möchte man ja schließlich abends etwas Hartes zwischen die Zähne kriegen«, gab Anders zu. Eva-Lotte war ihre einzige Hoffnung. Sie hatte ihnen versprochen, etwas zu essen zu beschaffen. »Ich werde Nicke um den Verstand bringen«, hatte sie gesagt. »Ich werde ihm erzählen, daß der Doktor mir verordnet hat, jede, aber auch jede Stunde zu essen. Ihr werdet schon nicht verhungern, keine Angst! Kommt zurück, wenn es dunkel wird.« Das war am Morgen gewesen. Sie hatten vor Eva-Lottes Fenster gestanden und gepfiffen, bereit, beim ersten Zeichen von Gefahr zu fliehen. Und als Nicke mit Eva-Lottes Frühstück zurückkam, hatten sich Anders und Kalle davongeschlängelt wie zwei aufgescheuchte Eidechsen. Im Nu waren sie verschwunden, obwohl ihnen der Duft von dem gebratenen Schinken nicht aus der Nase ging. Sie hörten nur noch Eva-Lottes bitteren Vorwurf gegen Nicke: »Glaubst du, ich bin hierhergekommen, um Hunger-kuren mitzumachen?« Nickes Antwort ging ihnen verloren. Die Eidechsen waren bereits tief im Wald verschwunden. Sie waren dann zur anderen Seite der Insel übergewechselt. Dort hatten sie den Tag damit zugebracht, ihre Hütte zu bauen, bei den Felsen zu baden, zu schlafen und Blaubeeren zu essen. Viel zuviel Blaubeeren. Und jetzt waren sie hungriger, als sie je für menschenmöglich gehalten hatten. »Aber wir müssen ja warten, bis es dunkel wird«, sagte Anders finster. Sie krochen aus der Hütte und kletterten auf den Felsen. In einer Spalte machten sie es sich bequem, um die Nacht und das Dunkel, die Rettung vor dem Hungertod, abzuwarten. Da saßen sie nun und beobachteten mit sauren Gesichtern den schönsten Sonnenuntergang ihres Lebens und empfanden wirklich deutlich nur die Ungeduld darüber, daß es so langsam ging. Wie eine Feuersbrunst leuchtete drüben der Himmel über den Baumspitzen des Festlandes. Noch war ein Stück der roten Sonnen-scheibe zu sehen, aber bald würde auch dieses in den dunklen Wäldern dort drüben verschwinden. Die Finsternis, die gute, die gesegnete Finsternis, würde sich dann über Land und Wasser und über alle senken, die Schutz vor Kidnappern brauchten. Wenn es bloß etwas schneller gehen würde! Der Felsen fiel steil zum Wasser ab, und unten, wo Fels und Wellen sich trafen, konnte man ein kleines spielerisches Schwabben hören. Irgendwo draußen über dem Fjord schrie wild und melancholisch ein Seevogel, sonst war alles still. »Es geht mir langsam auf die Nerven«, stellte Kalle fest. »Und ich denke gerade daran, was die zu Hause wohl sagen«, meinte Anders. »Glaubst du, wir werden schon vom Radio gesucht?« Anders hatte es kaum ausgesprochen, als sie sich beide des Zettels erinnerten, den Eva-Lotte gestern abend »als Beruhigungspille« zu Hause auf ihr Kopfkissen gelegt hatte. »Stellt Euch bloß jetzt nicht an, ich komme bald zurück, glaube ich.« Selbst wenn die Eltern in diesem Falle ziemlich ärgerlich und sicher auch über ihr Verschwinden beunruhigt waren, so war damit noch lange nicht gesagt, daß sie nach dem Bescheid von Eva-Lotte Hals über Kopf die Polizei alarmiert hatten. Und wenn Anders’ und Kalles Eltern sich erst einmal mit Bäckermeister Lisander besprochen hatten, so würden sie ja wohl, wenn auch mit einigem Zorn über die vielen dummen Streiche der Weißen Rosen, Ruhe geben. Das war vielleicht auch gut so. Wer weiß, ob es sehr klug sein würde, die Polizei in diese Angelegenheit hineinzuziehen? Kalle hatte ausreichend viele Kidnapper-Geschichten gelesen, um zu wissen, wie gefährlich das werden konnte. Auf jeden Fall sollte man doch zuerst auf irgendeine Weise mit dem Professor reden. Bei dem Ingenieur Peters war Licht. Überall sonst war es dunkel. Und still. Es war eine so tiefe Stille, daß man sie fast hören konnte. Alle Menschen hier mußten wohl schlafen. Nein, es schliefen nicht alle! Schmerzhaft wach lag der Professor auf seinem Bett und quälte sich selbst in endlosem Gegrü-bel. Seit vielen Jahren war er es gewohnt, eine Lösung für die Probleme, die ihn beschäftigten, zu finden. Das Problem, mit dem er sich jetzt zu befassen hatte, war so außerordentlich ver-worren, daß er über alles nur hilflos den Kopf schütteln konnte. Es gab für ihn keine Möglichkeit, etwas zu tun, – er mußte es sich in ohnmächtiger Wut eingestehen. Er konnte nur warten. Worauf konnte er warten? Daß ihn jemand vermissen und suchen würde? In Kleinköping bestimmt nicht. Die alte Villa dort hatte er ja gerade deshalb gemietet, weil er allen Menschen fern sein und Ruhe für seine Arbeit haben wollte, bis seine Frau zurückkam. Nur mit Rasmus wollte er dort den Sommer verbringen. Es konnte wirklich noch sehr lange dauern, bis überhaupt jemand bemerkte, daß er verschwunden war. Als der Professor in seinen Gedanken so weit gekommen war, sprang er heftig von seinem Bett auf. Es war unmöglich einzuschlafen! Kreuz, wenn man doch nur diesen Peters in winzig kleine Stückchen hauen könnte! Eva-Lotte schlief auch nicht. Sie saß an ihrem Fenster und horchte angespannt auf jeden Laut von draußen. War es nur der Nachtwind, der in den Zweigen raschelte, oder kamen sie nun doch endlich, Kalle und Anders? Der Tag war lang gewesen, furchtbar lang. Für den, der die Freiheit liebt, ist es unerträglich, einen ganzen Tag lang eingesperrt zu sein. Mit einem Schütteln dachte Eva-Lotte an all die Armen, die in Gefangenschaft schmachten mußten. Sie hätte am liebsten in der ganzen Welt umherlaufen und die Gefängnisse öffnen mögen, um alle Gefangenen aus ihren Löchern zu befreien. Sie wußte ganz gut, daß man nicht alle hätte befreien dürfen – diese Kidnapper hätte sie ja selbst gern hinter Schloß und Riegel gesetzt –, aber jetzt eben spürte sie diesen unsinnigen Wunsch. Denn das war ja das Schlimmste von allem: nicht hinaus dürfen, wenn man gerade wollte! Etwas wie eine Panik ergriff sie, und sie sprang wild auf das Fenster mit den übergenagelten Latten zu, das sie von der Freiheit trennte. Da fiel ihr Rasmus ein – sie mußte sich beherrschen. Rasmus durfte sie nicht wecken. Er schlief ruhig und zufrieden auf seiner Bank. Sie hörte im Dunkeln seine regelmäßi-gen Atemzüge. Ihre panikartige Angst ging zurück. Sie war ja nicht allein. Aus der Stille von draußen kam nun endlich das erwartete Signal, das Signal der Weißen Rosen, und bald darauf die hastig gezischte Frage: »Eva-Lotte, hast du was zu essen für uns?« »Und wie!« sagte Eva-Lotte. Sie beeilte sich, zwischen den Latten Butterbrote und kalte Kartoffeln und kalte, fettige Wurstscheiben und kalte Schinken-stücke hindurchzuschieben. Sie bekam nicht das kleinste »Danke« von denen da draußen, denn es war technisch unmöglich, mehr als ein zufriedenes Grunzen während des Kauens auszustoßen. Nun, da sich Eßbares in Reichweite befand, war ihr Hunger noch rasender als zuvor, und so stopften sie alle Delikatessen, die ihnen Eva-Lotte aus dem Fenster reichte, in sich hinein. Schließlich mußten sie aber einmal Atem holen, und Kalle murmelte: »Ich hatte völlig vergessen, daß Essen so gut sein kann.« Eva-Lotte lachte im Dunkeln. Sie war glücklich wie eine Mutter, die ihren hungrigen Kindern Brot gibt. Aber sie flüsterte: »Steckt den Rest in die Taschen. Haltet euch nicht auf.« »Ja, tatsächlich«, sagte Anders. »Das wäre das beste …« Kalle unterbrach ihn: »Du, Eva-Lotte, weißt du, wo der Professor ist?« »Er sitzt eingesperrt in dem Häuschen oben auf dem Felsen«, erwiderte Eva-Lotte. »In dem Häuschen, das der See am nächsten liegt.« »Glaubst du, daß Rasmus auch dort ist?« »Nein, Rasmus ist hier bei mir. Er schläft.« »Ja, ich schlafe«, sagte ein zartes Stimmchen aus der Dunkelheit. »Ach so, du bist wach«, wunderte sich Eva-Lotte. »Da soll man wohl aufwachen, wenn Leute so laut schmat-zend Butterbrote essen.« Er kam leise zu Eva-Lotte und kletterte auf ihre Knie. »Sind da wirklich Kalle und Anders gekommen?« fragte er begeistert. »Wollt ihr kämpfen? Darf ich nicht auch eine Weiße Rose werden?« »Das kommt darauf an, ob du schweigen kannst«, sagte Kalle mit tiefer Stimme. »Du darfst vielleicht eine Weiße Rose werden, wenn du versprichst, niemand zu erzählen, daß du Anders und mich gesehen hast.« »Mache ich«, sagte Rasmus bereitwillig. »Du darfst mit keinem Wort gegen Nicke oder irgendeinen anderen erwähnen, daß wir hier gewesen sind. Verstehst du das?« »Warum eigentlich? Kann Nicke euch nicht leiden?« »Nicke weiß doch nicht, daß wir hier sind«, sagte Anders. »Und er darf es niemals wissen. Nicke ist ein Kidnapper, verstehst du?« »Sind Kidnapper nicht nett?« fragte Rasmus. »Nein«, sagte Eva-Lotte. » Ich finde, sie sind nett«, versicherte Rasmus. »Ich finde, Nicke ist sooo nett. Warum dürfen Kidnapper keine Geheimnisse erfahren?« »Weil sie das nicht dürfen«, sagte Kalle kurz. »Und du darfst nie eine Weiße Rose werden, wenn du nicht schweigen kannst.« »Ja, ja, das kann ich«, rief Rasmus eifrig. Er war bereit, bis an das Ende seines Lebens zu schweigen, wenn er eine Weiße Rose werden durfte. Schwere Schritte kamen auf das Haus zu, und Eva-Lottes Herz schlug vor Schreck einen kleinen Purzelbaum. »Verschwindet!« flüsterte sie. »Beeilt euch! Nicke kommt.« Einen Augenblick später drehte sich der Schlüssel im Schloß. Der Schein einer Taschenlampe erhellte das Zimmer, und Nik-ke fragte mißtrauisch: »Mit wem sprichst du?« »Dreimal darfst du raten«, sagte Eva-Lotte. »Hier sitzen Rasmus und ich und dann ich und Rasmus. Mit mir selbst pflege ich nicht zu sprechen. Nun rate, mit wem habe ich wohl gesprochen?« »Aber du bist ein Kidnapper, und Kidnapper dürfen niemals Geheimnisse erfahren«, sagte Rasmus voller Mitleid. »Nee du, hör du mal«, sagte Nicke und machte einen heftigen, schnellen Schritt auf Rasmus zu. »Fängst du auch schon an, mich Kidnapper zu schimpfen?« Rasmus nahm Nickes große Hand und sah vertrauensvoll auf in das wütende Gesicht. »Ja, aber ich finde doch, daß Kidnapper nett sind«, beteuerte er. »Ich finde, du bist sehr, sehr nett, kleiner Nicke!« Nicke murmelte etwas Unverständliches und wollte gehen. Da hielt Eva- Lotte ihn zurück. »Ist das Absicht, daß man hier in diesem Hause zu Tode gehungert werden soll?« fragte sie laut. »Warum bekommt man hier kein Nachtessen?« Nicke drehte sich um und sah Eva-Lotte aufrichtig erstaunt an. »Deine armen Eltern«, sagte er schließlich. »Die müssen ja Millionäre sein, um dich satt zu kriegen.« Eva-Lotte grinste. »An Appetit fehlt es mir nie«, stellte sie zufrieden fest. Nicke sagte nichts. Er hob Rasmus von ihrem Knie und trug ihn zur Bank. »Ich glaube, Häschen, du mußt jetzt schlafen«, sagte er. »Müde bin ich nicht«, versicherte Rasmus. »Ich habe ja den ganzen Tag geschlafen.« Nicke drückte ihn wortlos in das Kissen, das auf der Bank lag. »Willst du mir, bitte, die Füße noch gut einwickeln«, bat Rasmus. »Ich finde es nämlich so unordentlich, wenn die Zehen herausgucken.« Kichernd und mit einem recht erstaunten Ausdruck im Gesicht tat Nicke, worum er gebeten worden war. Dann stand er da und sah nachdenklich auf Rasmus hinab. »Du bist mir schon eine nette kleine Ordnung«, sagte er. Der dunkle Kopf des Jungen ruhte auf dem Kissen. Im schwachen Schein der Taschenlampe sah er unwahrscheinlich zart und lieblich aus. Seine Augen waren blank, und sie lachten Nicke freundlich an. »Oh, wie bist du doch nett, kleiner Nicke«, sagte er, »komm, ich will dich umfassen und drücken. Aber genau so, wie ich Vati immer drücke.« Nicke kam gar nicht dazu, sich zu wehren. Rasmus legte einfach die Arme um seinen Hals, und dann drückte er Nicke so kräftig, wie seine kleinen fünfjährigen Ärm-chen es erlaubten. »Tut es weh?« fragte er stolz. Zuerst konnte Nicke gar nichts sagen. Dann schluckte er, und dann murmelte er undeutlich: »Nee, das tut nicht weh … Das nicht …« SIEBTES KAPITEL Oben auf einem Felsen lag das Häuschen, wo der Ingenieur Peters seinen kostbaren Gast einquartiert hatte. Es lag dort wie ein Adlernest und war nur von einer Seite zugänglich. Die Rückwand schloß mit dem Felsen ab, der ziemlich senkrecht zum Strand abfiel. »Wir müssen dort hinaufklettern«, sagte Kalle und zeigte mit dem fettigen Zeigefinger zu dem Fenster des Professors hinauf. »Wenigstens einer von uns.« Nach seinem Abenteuer in der Schloßruine war Anders nicht besonders darauf aus, an steilen Klippen herumzuklettern, wenn es auch diesmal lange nicht so beängstigend hoch war. »Können wir nicht den richtigen Weg an der Vorderseite hochschleichen wie normale Sterbliche?« schlug er vor. »Ja, und genau Nicke oder jemand anders in die Arme laufen. Niemals!« »Klettere du«, sagte Anders. »Ich bleibe hier unten und passe auf.« Kalle bedachte sich keinen Moment. Er leckte das letzte Schinkenfett von den Fingern und begann zu klettern. Es war inzwischen nicht mehr so dunkel. Die runde Scheibe des Mondes stieg langsam empor. Noch wußte Kalle nicht, ob er dafür dankbar sein sollte. Es war zwar leichter, im Mondschein zu klettern, aber es war auch leichter, den zu sehen, der kletterte. Vielleicht war es besser, dafür dankbar zu sein, daß der Mond schien und sich dann und wann einmal hinter einer ziehenden Wolke versteckte. Kalle atmete ruhig und kletterte. An und für sich war es bestimmt keine besonders gefährliche Berg-steigerangelegenheit, aber der Gedanke, ganz plötzlich vielleicht eine Koppel Kidnapper an den Fersen kleben zu haben, trieb ihm doch den Angstschweiß auf die Stirn. Vorsichtig tasteten sich seine Füße und Hände vor. Langsam arbeitete er sich empor. Manchmal war es nicht leicht. Es konnte ihm schon einige schwindelnde Augenblicke lang geschehen, daß er gleichsam wie im leeren Nichts schwebte und es schwer hatte, das Feste zu fassen. Aber anscheinend besaßen seine Füße doch die instinktive Begabung, sich zwischen lockerem Gestein, Spalten und Wurzeln zurechtzufinden, und so fand sich immer wieder eine Stelle, an die er sich klammern konnte. Nur einmal verließ der Instinkt seinen großen Zeh, und er stieß einen Stein ab, der mit großem Getöse die Steilung hinun-terrollte. Kalle war vor lauter Aufregung dicht daran, selbst hin-terherzurollen, aber eine Baumwurzel, die er noch fassen konnte, rettete ihn. Zitternd klammerte er sich an ihr fest und wagte lange Zeit nicht, sich zu rühren. Anders hörte den Lärm, als der Stein herunterkam. Um ihn nicht auf den Schädel zu bekommen, sprang er blitzschnell zur Seite und murmelte wütend in sich hinein: »Am besten bläst er noch auf der Posaune, damit sie ja sicher hören, daß er kommt!« Aber anscheinend hatte niemand außer Anders den Krach gehört. Und als Kalle mit klopfendem Herzen noch einige Minuten lang gewartet hatte, ohne daß etwas geschah, ließ er die rettende Wurzel los und kletterte weiter. In seinem dunklen Zimmer lief der Professor auf und ab wie ein Tier im Käfig. Es war nicht auszuhalten, einfach nicht auszuhalten! Man wurde verrückt davon. Ganz sicher würde er verrückt werden, so verrückt, wie dieser Peters wohl schon lange war. Er war also einem Geistesgestörten ausgeliefert. Er wußte nicht, was man mit Rasmus machte. Er wußte nicht, ob er jemals wieder hier herauskam. Und hier war es so dunkel wie in einer Grabkammer. Tausend Flüche über diesen Peters! Ein Licht hätte er ihm wohl zumindest geben können. – Wenn man diesen Strolch doch nur einmal zwischen die Finger bekommen könnte! – Ruhig! – Was war das? Der Professor blieb steif stehen. Waren es nur seine aufgepeitschten Nerven, die ihm einen Streich spielten, oder war wirklich etwas da, was an das Fenster klopfte? Aber dieses Fenster, durch dessen Gitter er den ganzen siebenfach verdammten Tag gestarrt hatte, dieses Fenster lag doch über dem Abgrund – dort konnte doch wohl kein Mensch … Himmel, da klopfte es wieder. Es war tatsächlich jemand da! Mit einem Gefühl, das aus wildem Hoffen und Verzweiflung gemischt war, lief er zum Fenster und öffnete es. Der Bauherr dieses Wochenendhauses mußte wohl eine Vorliebe für Gefängnisgitter gehabt haben – wie hätte er sonst dieses uner-reichbare Fenster vergittern lassen können! Aber wenn es auch vielleicht als skurriler Einfall für ein Wochenendhaus gedacht war, ein starkes Eisengitter blieb es trotzdem. »Ist jemand dort?« flüsterte der Professor. »Wer ist da?« »Ich bin es bloß. Kalle Blomquist.« Das war ganz leise gesprochen, aber es ließ den Professor vor Aufregung erzittern. Seine Hände krampften sich um das Gitter. »Kalle Blomquist? Wer – ach so, jaja, jetzt erinnere ich mich. Gesegneter kleiner Kalle, weißt du etwas von Rasmus?« »Er ist in einem Häuschen drüben bei Eva-Lotte. Ihm geht es ausgezeichnet.« »Gott sei Dank!« flüsterte der Professor erleichtert. »Peters sagte, ich hätte Rasmus zum letztenmal gesehen …« »Herr Professor, ich hole die Polizei!« sagte Kalle. Der Professor griff sich an die Stirn: »Nein, nein, nicht die Polizei. Wenigstens jetzt noch nicht. Auf keinen Fall! Rasmus ist in größter Gefahr. Ich weiß weder ein noch aus … Ich glaube, dieser Peters meint ernsthaft, was er sagt … Hast du nicht gelesen, daß geraubte Kinder von den Kidnappern umgebracht worden sind, als die Polizei eingriff? Dieser Peters droht … Ich habe Angst um Rasmus … Nein, nein, nicht die Polizei – nicht, bevor ich Rasmus in Sicherheit habe.« Er packte das Gitter und flüsterte schnell: »Das Schlimmste ist: Rasmus weiß, wo ich die Papiere mit den Formeln aufbewahre. Von der Erfindung, wenn du dich erinnerst. Und dieser Peters weiß das. Es wird nicht lange dauern, und er hat Rasmus gezwungen, das Versteck zu verraten.« »Wo sind sie?« fragte Kalle. »Können Anders und ich sie nicht in Sicherheit bringen?« »Glaubst du?« Der Professor erregte sich so sehr, daß ihm fast die Stimme fortblieb. »Großer Gott, wenn ihr das wirklich fertigbringen könntet! Ich habe sie … Meint ihr wirklich … Sie stecken hinter …« Aber Kalle erfuhr das kostbare Geheimnis nicht. Der Professor mußte schweigen, weil hinter ihm die Tür aufging. Noch eine Sekunde, und er hätte sagen können, was er sagen wollte! Peters aber stand bereits auf der Schwelle. Er hatte eine Petroleumlampe in der Hand. Er grüßte sehr höflich. »Guten Abend, Herr Professor Rasmusson!« Der Professor schwieg. »Hat Ihnen der verdammte Nicke nicht einmal eine Lampe hiergelassen?« fuhr Peters fort. »Bitte sehr, ich stelle Ihnen natürlich diese hier zur Verfügung.« Freundlich lächelnd stellte er die Petroleumlampe auf den Tisch. Der Professor sagte noch immer kein Wort. »Ich soll Sie von Rasmus grüßen«, sagte Peters, während er den Docht etwas niedriger schraubte. »Ich glaube fast, ich bin gezwungen, den Kleinen ins Ausland zu schicken.« Der Professor machte eine Bewegung, als wolle er sich auf seinen Quälgeist stürzen, aber Peters wehrte kurz mit der Hand ab. »Nicke und Blom stehen draußen«, sagte er. »Wenn Sie schlagen wollen, schlagen wir zurück. Und – vergessen Sie nicht: Wir haben Rasmus.« Der Professor setzte sich auf das Bett und preßte die Hände vors Gesicht. Sie hatten Rasmus! Sie hatten jeden Trumpf in der Hand! Er hatte nur Kalle Blomquist. Blomquist war seine einzige Hoffnung, und er mußte deshalb ruhig bleiben. Er mußte … Er mußte … Peters ging durch das Zimmer. Dann stellte er sich mit dem Rücken ans Fenster. »Gute Nacht, mein Freund«, sagte er leichthin. »Sie haben ja noch Zeit, sich die Angelegenheit zu überlegen. Allerdings nicht mehr sehr lange, fürchte ich.« Draußen preßte sich Kalle fest gegen die Wand. Er konnte Peters’ Stimme hören, als sei er selbst der Angesprochene, und ängstlich versuchte er, etwas auszuweichen. Dabei setzte er seinen Fuß auf einen Grasbüschel – und mit laut vernehmbarem Krach rutschte Meisterdetektiv Blomquist die steile Wand hinunter und knallte, bedeutend schneller als vorgesehen, Anders vor die Füße. Kalle stöhnte, und Anders beugte sich beunruhigt über ihn. »Hast du dich gestoßen? Tut es weh?« »Nein, keine Sorge, es ist ein herrliches Gefühl«, versicherte Kalle, noch einmal aufstöhnend. Es blieb ihm aber keine Zeit, an seine blauen Flecke zu denken. Oben vom Haus her war Peters’ Stimme zu hören. Er schrie: »Nicke! Blom! Wo seid ihr! Durchsucht sofort mit euren Lampen das Gelände unten am Haus! Sofort! Rasch!« »Du guter Moses«, flüsterte Anders. »Genau das«, sagte Kalle. »Jetzt können wir uns ganz schön leid tun.« Bevor sie überhaupt an Flucht denken konnten, begannen die Strahlen der Taschenlampen schon zwischen den Bäumen zu spielen. Jeden Moment konnten sie sich mitten im Lichtke-gel befinden. Es war unangenehm, auch nur daran zu denken! Nicke und Blom kamen angerast. Kalle und Anders hörten, wie sie sich näherten. Sie wollten weglaufen, aber die Angst lähmte sie. Als Nicke kaum fünfzig Schritte von ihnen entfernt war, drückten sie sich endlich in eine Spalte zwischen zwei großen Steinen. Es war die engste kleine Schlucht, und sie klemmten sich in sie hinein, als wollten sie die Steine ausein-anderpressen. So fühlt man sich sicherlich als armes geplagtes Tier, wenn in der Nähe die Bluthunde keuchen, dachte Kalle verzweifelt. Und dann waren die Bluthunde über ihnen. Das Scheinwerferlicht flatterte umher, zuckte hierhin und dorthin. Krampfhaft klammerte Kalle und Anders sich aneinander. Sie dachten plötzlich beide an ihre Mütter. Der Mond leuchtete boshaft zwischen die Bäume, gerade als reichten die Lampen noch nicht aus. »Hierher, Nicke!« schrie Blom. Seine Stimme klang entsetzlich laut und nahe. »Wir wollen einmal zwischen die dichten Tannen dort sehen. Ist jemand hier, so ist er dort.« »Er kann ja wohl nicht gleichzeitig hier und dort sein«, grunzte Nicke. »Außerdem glaube ich, daß der Chef phantasiert.« »Das werden wir bald genau wissen«, sagte Blom grimmig. »Mutter, Mutter, Mutter«, dachte Kalle, »jetzt kommen sie –jetzt ist es mit uns zu Ende – zu Ende für immer …« Ganz, ganz dicht waren sie nun herangekommen, und für den Bruchteil einer Sekunde leuchtete Nickes Lichtstrahl in das Versteck der Jungen hinein. Aber manchmal geschehen Wunder. »Was denn, was denn? Was ist denn mit meiner Taschenlampe?« sagte Nicke. Dank und Preis und Dank und Lob – Nickes Lampe war erloschen. Und um das Wunder noch vollkommener zu machen, verschwand gleichzeitig der Mond hinter einer großen Wolke. Blom kroch eifrig in allernächster Nähe zwischen dichten Tannen umher. Nicke folgte ihm. Er versuchte, seine Lampe klar zu bekommen. »Ist jemand hier, so ist er dort«, brummelte er, Bloms Sprache nachahmend, vor sich hin. »Soso, nun geht sie wieder«, fuhr er zufrieden fort und ließ den Lichtstrahl zwischen den Tannen umherhuschen. Es war aber niemand zu finden, und Nicke gab Blom einen Puff in die Seite und sagte: »Na, was hab’ ich gesagt? Der Chef phantasiert. Mit seinen Nerven ist was nicht in Ordnung. Hier findet sich keine Schnauze.« »Nee, hier ist alles leer«, bestätigte Blom mißlaunig. »Aber wir gehen noch’n Stück weiter – zur Sicherheit.« »Jaja«, dachte Kalle, »macht das mal – zur Sicherheit«. Und wie auf Kommando flitzten er und Anders lautlos die paar Meter, die sie von den Bäumen trennten, und schlüpften unter den allerdichtesten. Die Erfahrung im Krieg der Rosen hatte sie gelehrt, daß es nirgends sicherer ist als in dem Versteck, das gerade untersucht worden ist. Nicke und Blom kamen schnell zurück. Sie gingen so dicht an den Tannen vorbei, daß Kalle, wenn er die Hand ausgestreckt hätte, von ihnen gestreift worden wäre. Sie gingen auch an der kleinen Mulde zwischen den Steinen vorbei, und Blom leuchtete dort besonders sorgfältig. Aber dort war niemand mehr. »Ist jemand hier, so ist er auf gar keinen Fall dort.« Nicke lachte und leuchtete noch einmal pedantisch genau die Mulde ab. »Na, stell dir vor, er ist hier, weil er nicht dort ist«, flüsterte Kalle mit einem Seufzer der Erleichterung. ACHTES KAPITEL Ein neuer Tag stieg empor, und wie immer schien die Sonne wieder über die Bösen und die Guten. Sie weckte Kalle und Anders, die friedlich auf den Tannenzweigen in ihrer Hütte schlum-merten. »Was wollen wir denn heute essen?« fragte Anders ironisch. »Frühstück: Blaubeeren«, sagte Kalle. »Mittagessen: Blaubeeren – und zum Abendbrot, na, was denkst du: Wollen wir da nicht zur Abwechslung mal ein paar Blaubeeren mehr essen?« »Nein, nein, für das Abendbrot muß Eva-Lotte sorgen«, sagte Anders voller Überzeugung. Sie erinnerten sich an gestern und seufzten sehnsuchtsvoll bei dem Gedanken an alles, was sie da gegessen hatten. Aber sie be-sannen sich auch auf die schauerlichen Erlebnisse, und es lief ihnen unangenehm den Rücken hinunter. Sie wußten, heute abend mußten sie alles noch einmal mitmachen. Es war unabän-derlich. Der Professor erwartete sie. Das konnten sie gut verstehen. Einer mußte also wieder zu seinem Fenster hochklettern, um zu hören, wo sich diese Papiere befanden. Wenn sie die Dokumente des Professors retten konnten, hatten sie eine wirklich gute Tat in ihrem Leben vollbracht. Kalle betastete seine zerschrammten Arme und Beine. »Es ist wohl besser«, sagte er, »wenn ich es mache. Blaue Flecke gehören zu blauen Flecken. Aber jetzt wäre ein kleines flottes Frühstück nicht zu verachten.« »Die Zubereitung des Essens liegt in meiner Hand«, sagte Anders dienstbereit. »Bleib bitte hier. Du bekommst deine Blaubeeren ans Bett.« Rasmus und Eva-Lotte bekamen ihr Frühstück auch ans Bett, nur war ihr Frühstück wesentlich stabiler. Nicke hatte sich anscheinend entschlossen, den vorlauten Mädchenmund auf diese Weise zu stopfen. Triumphierend hielt er der halbwachen Eva-Lotte ein Tablett unter die Nase: Schinken und Rührei, dicke süße Haferflocken mit kühler Sahne und belegte Butterbrote. Es sah aus wie ein Frühstück für ein Regiment. »Auf, auf, essen, Mädchen! Damit du nicht verhungerst!« drängte er. Eva-Lotte blinzelte mit einem Auge auf das Tablett. »Es macht sich«, sagte sie anerkennend. »Aber morgen könntest du getrost noch einige gebackene Waffeln dazulegen. Voraus-gesetzt, daß dich bis dahin die Polizei noch nicht geschnappt hat.« Rasmus setzte sich hastig auf. »Die Polizei darf Nicke nicht schnappen«, sagte er, und seine Stimme zitterte ein wenig. »Die dürfen doch wohl nicht nette Leute mitnehmen.« »Nette Leute nicht, aber Kidnapper nehmen sie«, sagte Eva-Lotte kühl und griff zu einem Wurstbrot. »Nee du, hör du mal«, sagte Nicke. »Jetzt langt mir das Ge-fasel vom Kidnapper aber bald.« »Und mir langt es bald, immer noch gekidnappt zu sein. Das gleicht sich also aus.« Nicke glotzte sie böse an: »Dich hat niemand gebeten herzu-kommen. Ohne dich wäre hier die schönste Sommerfrische.« Er ging zu Rasmus und setzte sich neben ihn. Rasmus reckte seine kleine warme Hand und streichelte Nickes Kinn. »Ich finde, Kidnapper sind nett«, stellte er fest. »Was machen wir heute, Nicke?« »Zuerst wollen wir einmal herrlich frühstücken«, erwiderte Nicke. »Dann werden wir weitersehen.« Die Auffassung, daß Nicke ein netter Kerl sei, hatte Rasmus schon seit den ersten Stunden auf der Insel. Von Anfang an war Rasmus der Meinung gewesen, daß diese ganze Reise ein wunderbarer Einfall seines Vaters war. Es machte Spaß, Auto zu fahren, es war schön, im Motorboot zu sitzen, und an der Anlegestelle auf dieser Insel lagen so viele Boote! Er wollte Vati auch noch bitten, daß er baden durfte. Aber dann war dieser dumme Onkel gekommen und hatte alles in Unordnung gebracht. Er hatte so seltsam mit Vati gesprochen, und Vati war böse geworden und hatte seinen Rasmus angeschrien, und dann war Vati verschwunden und hatte sich nicht mehr bei Rasmus sehen lassen. Und langsam waren ihm Zweifel gekommen, ob alles wirklich so wunderbar war. Er hatte versucht, gegen seine Tränen, die hervor wollten, anzukämpfen, aber schnell waren die ersten unterdrückten Schluchzer in einen Sturzbach von Tränen über-gegangen. Peters hatte ihn unsanft zu Nicke geschoben und gesagt: »Übernimm du den Jungen.« Das war ein schwerer Auftrag für Nicke gewesen. Er hatte sich kummervoll den Kopf gekratzt. Wußte er, wie man mit weinenden Kindern umzugehen hatte? Aber er war bereit gewesen, alles zu tun, um die Heulerei zu beenden. »Soll ich dir einen Flitzbogen machen?« hatte er in seiner Not vorgeschlagen. Das hatte wie eine Zauberformel gewirkt. Die Tränen hatten so schnell aufgehört, wie sie begonnen hatten, und Rasmus’ Glaube an die Menschheit war wiederhergestellt gewesen. Dann hatten sie zwei Stunden lang Zielschießen mit dem neuen Flitzbogen geübt – und für Rasmus stand fest: Nicke war nett. Und wenn nun Eva-Lotte sagte, daß Nicke ein Kidnapper war, dann waren Kidnapper eben nett. Genau wie zu erwarten gewesen war, stieg die Sonne höher und höher und schien weiterhin über die Bösen und über die Guten. Sie schien und erwärmte die Klippen, auf denen Kalle und Anders badend den Tag verbrachten. Sie schien auf Nicke, der auf Eva-Lottes Treppe saß und Borkenboote schnitzte, und auf Rasmus, der die fertigen Boote in der Regentonne an der Hausecke probe-fahren ließ. Sie spielte in Eva-Lottes blondem Haar, während diese auf ihrer Bank im Zimmer saß und Nicke, der sie nicht hinaus-lassen wollte, haßte. Und die Sonne ärgerte Peters, weil sich Peters an diesem schönen Sommertag über alles ärgerte und deshalb bei der Sonne keine Ausnahme machte. Aber ohne sich um den Ärger von Peters zu kümmern, verfolgte die Sonne ruhig ihre Bahn und ging schließlich – wie zu erwarten gewesen war – im Westen hinter den Wäldern drüben auf dem Festland unter. Damit war nun der zweite Tag auf der Insel auch zu Ende. Nein, nicht zu Ende! Jetzt fing er erst an! Es begann damit, daß Peters zu Eva-Lotte kam. Eva-Lotte beachtete er allerdings nicht. Mit ihr war er fertig. Sie hatte gesehen, wie Rasmus und der Professor geraubt wurden. Sie hatte sich in das Auto geschmuggelt, weil dieser Idiot von Svanberg nicht ordentlich genug aufgepaßt hatte. Sie war der einzige Augenzeuge und durfte nicht frei umherlaufen. Es war zwar beschwerlich, sie hier auf der Insel zu haben, aber es war nicht zu ändern. Möglicherweise konnte sie den Kleinen beruhigen, bis dessen dickschä-deliger Vater Vernunft angenommen hatte. Mehr war von Peters’ Seite über Eva-Lotte nicht zu sagen. Um sie brauchte er sich nicht mehr zu kümmern. Er wollte mit Rasmus sprechen. Rasmus lag bereits in seinem Bett auf der Bank. Vor sich auf der Decke hatte er fünf kleine Borkenboote liegen. An der Wand hing sein Flitzbogen. Er fühlte sich reich und war glücklich. Es machte Spaß, auf dieser Insel zu sein, wirklich Spaß, und Kidnapper waren nett. »Hör mal, kleiner Mann«, sagte Peters und setzte sich zu Rasmus, »was würdest du sagen, wenn du den ganzen Sommer auf der Insel bleiben müßtest?« Ein Lächeln huschte über Rasmus’ Gesicht: »Den ganzen Sommer! Du bist aber nett! Dann können Vati und ich also bei dir die Sommerferien verbringen?« »Eins zu null für Rasmus«, dachte Eva-Lotte und lächelte boshaft. Aber sie sagte nichts. Dieser Peters war nicht der Mann, zu dem man so ohne weiteres sprach. Nicke saß auf einem Stuhl am Fenster und war sehr zufrieden. Endlich war das großschnäuzige Mädchen gezwungen zu schweigen. Peters war nicht so zufrieden. »Hör mal, Rasmus«, fing er an, aber Rasmus unterbrach ihn freudestrahlend. »Dann können wir jeden Tag baden, nicht?« fragte er. »Ich kann schon fünf Stöße schwimmen. Willst du mal sehen, wie ich fünf Stöße schwimme?« »Jaja«, sagte Peters, »aber …« »Oh, das wird lustig werden«, redete Rasmus weiter. »Paß auf: Einmal im Sommer, als wir badeten, kam Marianne unter das Wasser. Blupp, blupp, blupp, sagte es. Aber dann kam sie wieder hoch. Marianne kann nämlich bloß vier Stöße schwimmen!« Peters stöhnte nervös: »Ich pfeife auf deine Schwimmstöße. Ich will wissen, wo dein Vater diese Papiere mit den roten Zahlen versteckt hat.« Rasmus hob die Augenbrauen und betrachtete ihn ungnädig. »Pfui Blase, was bist du dumm«, sagte er. »Hast du denn nicht gehört, wie Vati zu mir gesagt hat, daß ich es dir nicht erzählen darf?« »Dein Vater interessiert uns jetzt gar nicht. Außerdem sollte so ein kleiner Rotzjunge nicht du zu älteren Personen sagen. Nenne mich Herr Peters, verstanden?« »Heißt du etwa so?« fragte Rasmus und streichelte sein schönstes Borkenboot. Peters schluckte heftig. Er sah ein, daß man sich beherrschen mußte, wenn man Erfolg haben wollte. »Rasmus, du bekommst etwas Wundervolles, wenn du es mir erzählst«, sagte er mild. »Du bekommst eine Dampfmaschine!« »Dampfmaschine? Habe ich schon«, sagte Rasmus. »Bor-kenboote sind besser.« Er hielt Peters sein schönstes Borkenboot dicht unter die Nase: »Na, hast du schon jemals ein so schönes Boot gesehen, Peters?« Dann ließ er es auf der Decke hin und her fahren. Er fuhr über den Ozean nach Amerika, zu den Indianern. »Wenn ich groß bin, will ich Indianerhäuptling werden und alle schlechten Menschen totschlagen«, versicherte er. Auf diese sensationelle Mitteilung antwortete Peters nicht. Er bemühte sich, ruhig zu bleiben, und suchte nach einer Möglichkeit, Rasmus dorthin zu bekommen, wohin er ihn haben wollte. Das Borkenboot glitt über die Decke. Eine kleine braune und ziemlich schmutzige Hand bewegte es. »Du bist ein Kidnapper«, sagte Rasmus, während seine Augen dem Weg des Bootes über den Ozean folgten. Und auch seine Gedanken waren bei dem Boot, als er wie geistesabwesend fortfuhr: »Du bist ein Kidnapper, deshalb darfst du keine Geheimnisse erfahren. Sonst könnte ich dir ja erzählen, daß Vati sie mit Reißzwecken hinter dem Bücherregal festgemacht hat. Aber das erzähle ich dir nicht … Oh, nun habe ich es aber gesagt«, stellte er erstaunt fest. »Rasmus, Rasmus«, jammerte Eva-Lotte. Peters sprang auf. »Hast du gehört, Nicke?« rief er und lachte laut und zufrieden. »Hast du das gehört? Mensch, das ist zu schön, um wahr zu sein! ›Hinter dem Bücherregal‹, hat er gesagt! Wir holen sie noch heute nacht. Halte dich in einer Stunde bereit!« »Okay, Chef«, sagte Nicke. Peters eilte zur Tür, völlig ungerührt von Rasmus’ wildem Schreien: »Nein, wieder zurück! Das gilt nicht, wenn man sich so vergißt. Es gilt nicht! Es gilt nicht! Wieder zurück!« NEUNTES KAPITEL Die Weiße Rose verfügte über geheime Signale und Warnungs-zeichen der verschiedensten Art. So gab es nicht weniger als drei verschiedene Signale für »Gefahr«. Entweder die schnelle Berührung der Nasenspitze – ein Zeichen, das angewandt wurde, wenn Bundesgenossen und Feinde gleichzeitig zusammen waren und man auf unbemerkbare Weise den Bundesgenossen ermah-nen wollte, sich in acht zu nehmen. Oder den Eulenschrei, der heimlich alle im Gelände umherirrenden Weißen Rosen anrief, unmittelbar zur Hilfe herbeizueilen. Schließlich den großen Katastrophenschrei, der nur angewandt werden durfte, wenn tödliche Gefahr drohte und man sich in höchster Not befand. Jetzt befand sich Eva-Lotte in höchster Not. Sie mußte Kalle und Anders sprechen – sofort. Sie ahnte, daß die beiden gleich hungrigen Wölfen hier in der Gegend umherstrichen, nur darauf bedacht, endlich das brennende Licht in ihrem Fenster zu sehen zum Zeichen, daß die Küste klar war. Aber die Küste war nicht klar. Nicke wollte nicht gehen. Er saß und saß und erzählte Rasmus Geschichten, wie er als junger Seemann über alle blauen Ozeane der Welt gesegelt wäre. Und Rasmus, diese kleine Nuß, ermunterte ihn nur noch mit vielen Fragen und wollte immer mehr hören. Dabei war es so eilig, eilig, eilig! In einer Stunde wollten Peters und Nicke schon unterwegs sein, um im Schutz der Nacht die wertvollen Papiere zu holen. Für Eva-Lotte gab es nur einen Ausweg und – schon stieg er in die Luft, der große Katastrophenschrei. Er hörte sich genauso entsetzlich an, wie er gemeint war. Nicke und Rasmus traf fast der Schlag. Als Nicke wieder zu sich kam, schüttelte er den Kopf und sagte: »Die scheint fertig zu sein. So schreit ein normaler Mensch nicht!« »So schreien die Indianer«, erklärte Eva-Lotte. »Ich dachte mir, es würde vielleicht allgemein interessieren … Falls etwas noch nicht klargeworden ist, so hört es sich an.« Und noch einmal stieg der durchdringende Katastrophenschrei aus ihrer Kehle. »Danke, danke, es reicht!« beteuerte Nicke. Und damit hatte er recht. Irgendwo draußen im Dunkeln krächzte ein Kolkrabe. Nun ist es zwar nicht üblich bei den Kolkraben, sich nach Eintritt der Dunkelheit hören zu lassen, aber Nicke zeigte darüber kein Erstaunen und Eva-Lotte schon gar nicht. Sie wurde nur sehr glücklich über die Antwort des Kolkraben Anders: »Wir haben gehört!« Wie sollte nun aber die wichtige Mitteilung über die Papiere zu ihnen hinaus? Ah, ein Ritter der Weißen Rose weiß immer Rat. Die Geheimsprache, die Räubersprache, war mehr als einmal nützlich gewesen und wurde es auch jetzt. Nicke und Rasmus bekamen daher einen neuen Schreck, als Eva-Lotte plötzlich und ganz ohne vorherige Warnung in einen lauten und klagenden Gesang ausbrach: »Ror e tot tot e tot dod i e pop a pop i e ror e dod e sos pop ror o fof e sossos o ror sos hoh i non tot e ror dod e mom bob ü choch e ror ror e gog a lol!« sang sie ununterbrochen, ohne sich um Nickes deutliche Mißbilligung zu kümmern. »Nee du, hör du mal«, sagte er schließlich, »stell mal die Platte ab. Warum blökst du bloß so?« »Das ist doch ein indianisches Liebeslied«, sagte Eva-Lotte. »Ich dachte, es würde allgemein …« »Ich glaube, dir tut es irgendwo allgemein weh«, unterbrach Nicke sie. »E sos e i lol tot sos e höh ror!« sang Eva-Lotte, bis Rasmus die Hände auf die Ohren preßte und geradezu beschwörend sagte: »Eva-Lotte, können wir nicht lieber ›Kleine Frösche, kleine Frösche‹ singen?« Draußen in der Dunkelheit aber standen Kalle und Anders und hörten Eva-Lottes aufregende Botschaft: »Rettet die Papiere des Professors hinter dem Bücherregal! Es eilt sehr!« Wenn Eva-Lotte sagte, daß es sehr eilte, und den großen Katastrophenschrei gebrauchte, konnte es nur bedeuten, daß Peters auf irgendeine Weise herausbekommen hatte, wo die Dokumente mit den Formeln waren. Es kam also darauf an, vor ihm dort zu sein. »Schnell!« sagte Anders. »Wir borgen uns ein Boot aus!« Und ohne weitere Worte rannten sie den kleinen Steg zur Anlegestelle hinunter. Sie stolperten im Dunkeln, sie rissen sich an Ästen und Sträuchern wund, sie waren hungrig und ängstlich und glaubten immerfort, einen Verfolger zu sehen, aber das machte ihnen alles nichts aus. Für sie gab es nur eines: Die Geheimnisse des Professors durften nicht in unrechte Hände fallen. Und deshalb mußten sie die ersten sein. Sie erlebten einige schreckliche Minuten, bevor sie ein Boot fanden, das nicht angekettet war. Jeden Augenblick rechneten sie damit, Blom oder Nicke aus dem Dunkel auftauchen zu sehen, und als Kalle das Boot leise ins Wasser schob und die Ruder ergriff, dröhnte es in seinen Ohren: »Jetzt kommen sie, jetzt kommen sie bestimmt!« Es kam aber niemand, und Anders ruderte aus Leibeskräften. Bald waren sie außer Hörweite der Insel, und nun legte sich Anders in die Riemen, daß das Wasser nur so zischte. Still saß Kalle auf der Steuerbank und dachte daran, wie sie herüberge-kommen waren. War das wirklich erst gestern früh gewesen? Ihm kam es vor, als sei seitdem ein halbes Jahr vergangen. Sie versteckten das Boot im Schilf und rannten umher und suchten das Motorrad. Sie hatten es in einem Wacholderstrauch versteckt, aber wo, um der Barmherzigkeit willen, war dieser Wacholderstrauch geblieben, und wie sollte man ihn jetzt im Dunkeln finden? Etliche kostbare Minuten gingen in verzwei-feltem Suchen dahin. Anders war so aufgeregt, daß er beinahe seine Finger aufgegessen hätte. Wo war das verflixte Rad nur? Und Kalle kroch in den Sträuchern herum. Ja, da war es, er hatte es endlich gefunden! Liebevoll umschlossen seine Hände die Lenkstange, und eilig schob er das Rad auf den Waldweg hinaus. Ein Fahrweg von ungefähr fünfzig Kilometern lag vor ihnen. Kalle sah auf seine Armbanduhr. Die Zeiger leuchteten in der Dunkelheit. »Es ist halb elf«, sagte er zu Anders, der gar nicht nach der Uhrzeit gefragt hatte. Es hörte sich irgendwie verhängnisvoll an. Im selben Augenblick sagte Peters zu Nicke: »Es ist halb elf. Es wird Zeit für uns, über das Wasser zu kommen!« 50 km – 40 km – 30 km noch bis Kleinköping! Mit der in Jahren erworbenen Sicherheit der Weißen Rosen fanden sie den Rückweg durch die Dunkelheit. Sie flogen fast durch die laue Julinacht, aber der Weg kam ihnen endlos lang vor. Mit angespannten Nerven horchten sie auf ein Geräusch des Autos, das sie hinter sich wußten. Jeden Moment erwarteten sie, vom Scheinwerferlicht, das sich ihnen von hinten nähern mußte, erfaßt zu werden, dachten daran, wie dieses Licht dann an ihnen vorbeigleiten würde, um vor ihnen auf der Straße zu verschwinden und alle Hoffnung auf die Papiere, die so viel be-deuteten, mit sich zu nehmen. »Kleinköping 20 km«, las Anders auf einer Wegtafel. Jetzt näherten sie sich dem heimatlichen Gebiet. Ungefähr gleichzeitig kam ein schwarzes Auto an einer anderen Wegtafel vorbei. »Kleinköping 36 km«, las Nicke. »Geben Sie man noch’n bißchen Gas, Chef!« Aber Peters fuhr, wie es ihm behagte. Er nahm eine Hand vom Steuerrad, um Nicke eine Zigarette anzubieten, und sagte zufrieden: »Wenn ich so lange gewartet habe, kann ich ja auch noch die halbe Stunde warten!« Kleinköping! Da liegt die Stadt und schläft so ruhig, wie sie es gewohnt ist. Es ist beinahe aufregend, denken Kalle und Anders. Das Motorrad fährt sie durch wohlbekannte Straßen, nimmt den Weg hinauf zur Schloßruine und bleibt endlich draußen vor Eklunds Villa stehen und wird in den Schuppen geschoben. Das schwarze Auto hat nur noch einige Kilometer bis zu der kleinen Tafel am Wegrand, die freundlich verkündet: »Will-kommen in Kleinköping!« »Das ist das Alleraufregendste, was ich jemals mitgemacht habe«, flüstert Anders, als sie auf die Veranda schleichen. Vorsichtig drückt er auf den Türgriff. Nicht abgeschlossen! Kann nicht viel Verstand in den Kidnapperköpfen sitzen, wenn sie nicht hinter sich zuschließen, denkt Kalle. Kann man die Türen offenlassen, wenn in dem Haus Papiere im Wert von hunderttausend Kronen versteckt sind? Aber um so besser – das spart Zeit! Kalle fühlt am ganzen Körper: Zeit ist jetzt kostbar. »Hinter dem Bücherregal« – welchem Bücherregal? Doktor Eklund, der die Villa für den Sommer an den Professor vermie-tet hat, ist ein Mann mit vielen Büchern und mit vielen Bücherregalen. Im Wohnzimmer sind Bücherregale an jeder Wand. »Das wird uns die ganze Nacht kosten«, sagt Anders. »Wo sollen wir anfangen zu suchen?« Kalle denkt – trotz der kostbaren Zeit – nach. Manchmal aber lohnt es sich, ein wenig Zeit für das Nachdenken zu opfern. Was hatte Rasmus zu seinem Vater gesagt? »Ich stand auf der Treppe in der Diele, und du stecktest …« Wo stand Rasmus, als er das sah? Kalle läuft in die Diele, und auf welcher Stufe der Treppe er auch steht, es gibt nur ein Bücherregal, das Kalle durch die offene Tür des Wohnzimmers sehen kann, das Regal neben dem Schreibtisch. Er rast zurück ins Wohnzimmer, und mit vereinten Kräften ziehen sie das Regal von der Wand. Das Regal quietscht dabei nervenzerreißend auf dem Fußboden. Es ist ein sehr störendes Geräusch. Es ist gerade jetzt das einzige Geräusch, das in ihre Ohren dringt. Das Auto, das auf dem Weg vor der Villa anhält, hören sie nicht. »So – so – so«, noch ein kräftiger Zug, dann können sie hinter das Regal sehen! Guter Moses – da ist es! Ein brauner Umschlag, sauber mit Heftzwecken an der Rückwand des Bücherregals festgemacht. Kalles Finger tanzen vor Aufregung, als er sein Taschenmesser hervorsucht und die Heftzwecken lockern will. »Daß wir es doch geschafft haben«, keucht Anders, vollkommen blaß vor Spannung. »Daß wir es doch noch geschafft haben!« Kalle hält den kostbaren Umschlag in seiner Hand. An-dachtsvoll sind seine Augen auf das braune Papier gerichtet –dafür ist es aber auch hunderttausend Kronen wert. Ja, mit Geld ist es wohl überhaupt nicht zu bewerten. Welch eine Stunde! Welch ein Triumph, welch ein süßes, warmes, durchdringendes Gefühl von Zufriedenheit! Da hören sie etwas! Etwas Furchtbares. Schleichende Schritte auf der Veranda. Eine Hand am Türgriff. Die Haustür öffnet sich langsam. Das Licht der Schreibtischlampe fällt auf ihre bleichen Gesichter. Verzweifelt starren sie sich an; der Schreck läßt sie kaum atmen. In einigen winzigen Sekunden wird die Tür dort aufgehen, und dann ist alles verloren. Sie werden gefangen sein wie zwei kleine Ratten in der Falle. Einer wird den Eingang bewachen. Einer wird sie niemals mit dem kostbaren braunen Umschlag im Wert von hunderttausend Kronen entkommen lassen. »Schnell, schnell«, haucht Kalle, »die Treppe hinauf!« Die Beine versagen fast den Dienst, aber auf irgendeine übernatürliche Weise gelingt es ihnen, die Diele und die Treppe zu erreichen. Dann geschieht alles in so rasender Eile, daß die Gedanken und jede Vernunft verschwinden, untergehen in einem Chaos aus Lärm und Krach: aufgeregten Stimmen, schlagenden Türen, lautem Gerufe, Flüchen und dem Tappen wild die Treppe hinaufhetzender Schritte, ja – Hilfe! – Hilfe! – wild hinaufhetzender Schritte dicht hinter ihnen! Da ist das Fenster mit der Gardine, die ihnen so spielerisch in einer Nacht vor tausend Jahren zugewinkt hat. Draußen steht eine Leiter – vielleicht, vielleicht ist sie der Rettungsweg. Sie wälzen sich über das Fensterbrett auf die Leiter hinaus, klettern, rutschen, nein: sausen an ihr hinunter und laufen, laufen, wie sie in ihrem jungen Leben bisher noch nie gelaufen sind. Sie laufen, obgleich sie die eiskalte Stimme oben im Fenster hören, die Stimme von Peters, der ihnen nachruft: »Wenn ihr nicht ste-henbleibt, schieße ich!« Aber alle Vernunft ist verschwunden. Sie laufen weiter, weiter, immer weiter, als hätten sie nicht verstanden, daß es vielleicht ihr Leben gilt. Sie laufen und laufen, bis sie glauben, die Brust platze ihnen auseinander. Und sie hören sie wieder, springende Füße, die sich nähern –wo in aller Welt gibt es ein Versteck vor diesen springenden, verfolgenden Füßen? Sie laufen auf die Stadt zu. Weit ist es bis dahin nicht mehr, aber ihre Kräfte gehen zu Ende. Und unbarmherzig nähern sich die Verfolger. Es gibt keine Rettung, alles ist verloren – in wenigen Augenblicken ist alles vorbei! Da sehen sie ihn! Beide sehen ihn. Dort blinkt die erste Straßenlaterne, und ihr Schein fällt auf eine wohlbekannte, lange Gestalt in der Uniform eines Polizisten. »Onkel Björk, Onkel Björk, Onkel Björk!« Sie schreien, als wären sie in Seenot, und Onkel Björk winkt ihnen abwehrend zu – wer wird auch nachts ein solches Geschrei loslassen! Als er ihnen entgegengeht, ahnt er nicht, daß die beiden Jungen ihn jetzt mehr lieben als seine eigene Mutter. Kalle stürzt sich auf ihn und schlingt keuchend die Arme um ihn. »Bester, bester Onkel Björk – verhaften Sie diesen Schurken dort!« Er dreht sich um und zeigt. Aber die springenden Schritte haben aufgehört. So weit man in das Dunkel hineinsehen kann –kein Mensch ist zu entdecken. Kalle seufzt, er weiß selbst nicht, ob vor Erleichterung oder aus Bedrängnis. Hier lohnt es nicht, Kidnapper zu jagen. Er sieht das ein. Gleichzeitig sieht er aber auch etwas anderes ein. Er kann Schutzmann Björk gar nicht erzählen, wie alles vor sich ging, was geschehen ist, warum sie geschrien haben, weshalb sie jetzt hier stehen. »Nein, nicht die Polizei, nicht, bevor ich Rasmus in Sicherheit habe.« Davor hatte der Professor deutlich gewarnt. Peters ist von der Finsternis verschluckt worden. Sicher ist er bereits auf dem Weg zu seinem Auto, das ihn schnell zu der Insel bringt – und zu Rasmus! Nein, man darf die Polizei nicht hineinziehen, man darf nicht gegen den Professor handeln. Wenn man auch tief in seinem Innern glaubt, daß es sicher das klügste wäre. Der Professor als Erwachsener muß es doch wissen, und er hat ausdrücklich verboten, die Polizei zu holen. Und er sagt, Rasmus würde durch das Eingreifen der Polizei gefährdet. Und das stimmt … Nein, man darf nichts gegen den Willen des Professors tun … Ver-flucht, wie ist das alles schwer! »Soso, der Meisterdetektiv ist wieder an der Arbeit«, sagt Björk lächelnd. »Wo hast du denn deine Schurken gelassen, Kalle?« »Die sind entwischt«, keucht Anders, und Kalle tritt ihm warnend auf die Zehen. Die Warnung ist aber unnötig. Anders weiß, wenn es die Kriminalistik betrifft, führt Kalle das Wort. »Die kriechen gerade durch die Röhre.« So wischt Kalle alles mit einem Witz weg, und Björk beginnt sofort, von etwas anderem zu reden. »Ihr seid mir schon Helden«, sagt er. »Heute morgen habe ich deinen Vater getroffen, Kalle, und er war ziemlich wütend, glaub mir das. Daß ihr euch nicht schämt, einfach von zu Hause wegzulaufen! Es war wirklich Zeit, daß ihr zurückgekommen seid!« Wäre jemand in dieser Nacht gegen zwei Uhr an Viktor Blomquists Lebensmittelgeschäft vorbeigegangen, er hätte denken müssen, im Laden seien Einbrecher am Werke. Hinter den Tischen wurde mit einer Taschenlampe geleuchtet, und ab und zu konnte man zwei Schatten am Schaufenster vorbeihuschen sehen. Die beiden Schatten wurden nicht entdeckt, weil kein Mensch dort nachts vorbeiging. Der Lebensmittelhändler Blomquist und seine Frau, die in ihren Betten lagen, genau über dem Laden, hörten auch nichts, denn die Schatten verstanden die Kunst, sich lautlos zu bewegen. »Ich will mehr Wurst haben«, sagte Anders mit vollem Mund. »Mehr Wurst will ich haben und mehr Käse!« »Nimm nur, greif zu«, sagte Kalle. Er hatte genügend damit zu tun, selbst in sich hineinzustopfen. Und sie aßen. Sie schnitten dicke Scheiben von dem geräu-cherten Schinken herunter und aßen. Sie hieben mächtige Stük-ke von der Salamiwurst und aßen. Sie zogen ein großes, weiches, duftendes Weißbrot hervor und aßen. Sie pulten das Stanniolpapier von den kleinen dreieckigen Käsestückchen und aßen. Sie steckten die Hände in die Rosinenkiste und aßen. Sie aßen und aßen und aßen – es war die Mahlzeit ihres Lebens. »Etwas weiß ich ganz bestimmt«, sagte Kalle schließlich. »Niemals, solange ich lebe, kommt noch eine Blaubeere über meine Lippen.« Mit einem wunderbaren Gefühl von grenzenloser Sattheit schlich Kalle die Treppe hinauf. Es kam darauf an, alle Stufen, die knarrten, auszulassen, denn seine Mutter hatte im Laufe der Jahre die bemerkenswerte Begabung entwickelt, gerade von diesem Knarren aufzuwachen. Aber es mußte Kalle sein, der die Stufen zum Knarren brachte, sonst wachte sie nicht auf – ein absolut übernatürliches Phänomen, für das sich die psy-chologische Forschung, wie Kalle dachte, eigentlich näher interessieren sollte. Im Augenblick lag ihm nichts daran, seine Mutter – und seinen Vater noch weniger – zu wecken. Er wollte nur seinen Rucksack, die Schlafsäcke und einige andere Campingutensili-en holen. Wenn seine Eltern erst aufwachten, würde viel zuviel kostbare Zeit mit nutzlosen Erklärungen verschwendet werden. Im übrigen hatte sich auch Kalles Fähigkeit, den bewußten Treppenstufen auszuweichen, im Laufe der Jahre erstaunlich vervollkommnet, und so kam er vollbepackt und unbeschädigt unten wieder an. Gegen halb vier Uhr morgens nahm ein Motorrad in guter Fahrt Kurve um Kurve des Weges, der sich zum Meer schlängelte. Auf dem Tisch in Viktor Blomquists Laden lag ein abgerisse-nes Stück weißes Einwickelpapier, auf dem sich folgende Mitteilung befand: »Lieber Vater, Du kannst meinen Lohn für diesen Monat einbehalten, denn ich habe entnommen: Salami ............................ 1 kg Wiener Würstchen .............. 1 kg ger. Schinken .................... ½ kg von den kleinen Käsen (Du weißt schon)............... 10 Stück Brote............................... 4 Stück Geheimratskäse................... ½ kg Butter............................... 1 kg Streichhölzer ...................... 1 Paket von den 50-Öre-Schokoladentafeln ....... 10 Stück Benzinkanister (draußen vom Lager) 1 Stück............................... = 10 Liter Kakao................................. 2 Pakete Trockenmilch ....................... 2 Pakete Zucker (fein)....................... 1 kg Kaugummi............................ 5 Pakete Spiritustabletten.................... 10 Schachteln Möglicherweise noch das eine oder andere, wovon ich gerade im Augenblick nichts mehr weiß. Ich verstehe, daß Du böse bist, aber wenn Du wüßtest, wie es war, würdest Du nicht böse sein, das weiß ich genau. Willst Du Onkel Lisander und Anders’ Vater bitte sagen, sie sollten sich beruhigen. Sei nicht böse, dann bist Du lieb – ich bin Dir doch immer ein guter Sohn gewesen. Nein, jetzt will ich schließen, sonst werde ich noch gerührt. Herzliche Grüße, auch an Mama, von Kalle P. S.: Du bist doch nicht wütend?« In dieser Nacht schlief Eva-Lotte sehr unruhig und wachte mit dem Gefühl auf, daß sich etwas Unangenehmes vorbereitete. Sie ängstigte sich wegen Kalle und Anders. Wie war es ihnen wohl ergangen, und wie war es mit den Papieren des Professors? Die Ungewißheit war entsetzlich, und sie beschloß, eine Attacke gegen Nicke zu unternehmen, sobald er sich mit dem Frühstück sehen ließ. Aber als Nicke endlich kam, sah er so böse aus, daß Eva-Lotte zögerte. Rasmus zwitscherte ein fröhliches »Guten Morgen«, aber Nicke beachtete ihn nicht, sondern ging direkt auf Eva-Lotte zu. »Satansbalg«, sagte er mit Nachdruck. »Aha«, sagte Eva-Lotte. »Du lügst ja, daß es eine Sünde und Schande ohnegleichen ist«, fuhr Nicke fort. »Hast du nicht zum Chef gesagt, als er dich verhört hat, daß du allein warst – damals in der Nacht, als du in das Auto gekrochen bist?« »Du meinst, als ihr Rasmus geraubt habt«, sagte Eva-Lotte. »Ja, genau damals, als wir … ah, zieh Leine«, brummte Nik-ke. »Hast du nicht gesagt, daß du damals allein warst?« »Ja, das habe ich gesagt!« »Und das ist gelogen.« »Warum denn?« fragte Eva-Lotte. »Warum denn«, äffte Nicke ihr nach und lief vor Wut rot an. »Warum denn? Weil du noch einige Strolche bei dir hattest! Sag die Wahrheit!« »Na, bitte, stell dir vor, das hatte ich«, sagte Eva-Lotte zufrieden. »Ja, das waren, soviel ich weiß, Anders und Kalle«, mischte Rasmus sich ein. »Denn die sind genau wie Eva-Lotte in der Weißen Rose. Und ich werde auch eine Weiße Rose werden, bitte sehr!« Eva-Lotte fing plötzlich an, vor Unruhe zu frösteln. Bedeuteten Nickes Worte etwa, daß Kalle und Anders gefangen worden waren? Wenn das so war, dann konnten sie getrost alle zusammen Abschiedspostkarten schreiben. Sie mußte es sofort und genau wissen! Keine Minute länger hielt sie die Ungewißheit aus! »Woher weißt du übrigens, daß ich welche bei mir hatte?« fragte sie so gleichgültig wie möglich. »Weil diese verdammten Rotzlöffel die Dokumente gestohlen haben – genau vor der Nase vom Chef – einfach ihm wegge-stohlen!« schrie Nicke und glotzte sie dann böse an. »Hurra!« schrie Eva-Lotte. »Hurra, Hurra!« »Hurra!« kam es als Echo von Rasmus. »Hurra!« Nicke wandte sich ihm zu, und in seinen Augen war Sorge, Sorge und Unruhe. »Ja, du hast gerade Grund, Hurra zu schreien, gerade du!« sagte er. »Ich glaube, dein Hurra wird bald sehr leise werden. Wenn sie dich ins Ausland gebracht haben, wird dein Hurra hier nicht mehr zu hören sein.« »Was sagst du da?« schrie Eva-Lotte. »Ich sagte, daß sie kommen werden, um Rasmus ins Ausland zu bringen – sagte ich. Ein Flugzeug landet morgen abend hier und holt ihn ab. Denn jetzt wird es hier brenzlig. Die Polizei sitzt uns im Nacken. Deine Freunde werden schon dafür sorgen.« Eva-Lotte schluckte heftig. Dann schrie sie los und sprang auf Nicke zu. Mit geballten Fäusten schlug sie auf ihn ein, sie schlug, wohin sie treffen konnte, und rief: »Das ist gemein! Das ist gemein! Oh, was seid ihr für schändliche – schändliche, gemeine Kidnapper!« Nicke verteidigte sich nicht. Er ließ Eva-Lottes Fäuste auf sich herumtrommeln. Stand nur da und sah plötzlich so müde aus. Aber vielleicht hatte er in der Nacht auch nur sehr wenig geschlafen … »Konnten es deine verdammten Freunde nicht bleibenlassen, mußten sie ihre Nase in den Dreck stecken«, sagte er schließlich. »Konnte nicht der Chef diese verdammten Dokumente kriegen, um die er so ein Wesen macht! Dann wäre doch dieses ganze traurige Elend endlich zu Ende gewesen.« Inzwischen war Rasmus mit allem, was Nicke vom Flugzeug, das mit ihm ins Ausland fliegen sollte, erzählt hatte, fertig geworden. Er hatte zwei Möglichkeiten abgewogen. Was war besser: mit einem Flugzeug ins Ausland zu fliegen oder eine Weiße Rose zu werden? Als er seine Überlegungen beendet hatte, verkündete er seinen Beschluß. »Nein, Nicke«, sagte er, »ich werde nicht mit dem Flugzeug ins Ausland fliegen, denn ich will eine Weiße Rose werden.« Er ging zu Nicke, der auf der Bank saß, kletterte auf seine Knie und erklärte ihm genau, warum er eine Weiße Rose sein wollte. Alles, wie man nachts umherschlich und mit den Roten kämpfte, wie man Kriegsschreie ausstieß und alles, alles andere, was nötig war, um Nicke klarzumachen, warum es ein so großes wunderbares Abenteuer war, eine Weiße Rose zu sein. Nun mußte er doch begreifen, daß man nicht ins Ausland fliegen konnte. Als er damit fertig war, sah er Nicke strahlend an. Nicke schüttelte nur traurig den Kopf und sagte: »Nein, nein, Häschen, du wirst niemals eine Weiße Rose. Dazu ist es jetzt zu spät.« Da rutschte Rasmus von seinen Knien herunter und ging von ihm weg. »Pfui Blase, wie dumm du bist, Nicke«, sagte er. »Ich werde bestimmt eine Weiße Rose, bitte sehr.« Nicke ging zur Tür. Jemand hatte nach ihm gerufen. Rasmus sah ihn gehen, und er wußte, daß er sich beeilen mußte, wenn er Antwort auf die Frage, die ihn sehr beschäftigte, haben wollte. »Du, Nicke«, sagte er, »wenn man aus einem Flugzeug spuckt, wie lange dauert es dann, bis die Spucke unten ankommt?« Nicke drehte sich um und sah bekümmert in das fragende Jungengesicht. »Ich weiß es nicht genau«, sagte er ernst. »Du kannst es ja morgen abend selbst ausprobieren.« ZEHNTES KAPITEL Eva-Lotte saß auf ihrer Bank und dachte nach, biß auf eine Strähne ihres blonden Haares und dachte völlig verzweifelt nach. Und sie kam zu dem Schluß, daß alles hoffnungslos war. Wie sollte sie, eingesperrt in diesem Käfig, verhindern, daß man Rasmus in ein Flugzeug steckte und aus Schweden wegbrachte? Wer wußte etwas von den heimlichen Plänen, die Peters hatte? Sicher war doch, daß die Hoffnung, die wertvollen Papiere hier im Lande zu erwischen, für ihn erledigt war. Nun wollte er also den Professor zwingen, die Berechnungen noch einmal, in irgendeinem Laboratorium des Aus-landes, zu machen. Und Rasmus war sein Geisel. Armer kleiner Rasmus, noch hatte er keine Not leiden müssen, aber wie sollte es wohl mit ihm unter einem Haufen von Banditen und Verbrechern im Ausland gehen? Vor ihrem geistigen Auge sah sie den Professor an einem Tisch sitzen und Berechnungen anstellen, während ein greulicher Gefangenenaufseher seine Peitsche über Rasmus knallen ließ und dazu schrie: »Erfinde! Erfinde oder …!« Der Anblick war quälend, und Eva-Lotte stöhnte auf. »Was jammerst du denn da?« fragte Rasmus. »Warum kommt Nicke nicht, um mich rauszuholen? Ich will meine Borkenboote schwimmen lassen.« Eva-Lotte wurde nachdenklich. Langsam nahm eine Idee in ihrem Gehirn Form an. Als die Idee fertig war, sprang sie auf und lief zu Rasmus. »Rasmus«, begann sie, »findest du nicht, daß es heute sehr warm ist?« »Doch«, sagte Rasmus zustimmend. »Glaubst du nicht, daß es herrlich wäre, baden zu gehen?« Rasmus fing Feuer. »Au ja«, rief er und stieß entzückte Schreie aus, »ja, wir gehen zusammen baden, Eva-Lotte! Ich kann schon fünf Stöße schwimmen.« Bewundernd schlug Eva-Lotte die Hände zusammen. »Das muß ich sehen«, rief sie. »Dann beeile dich und brülle kräftig nach Nicke Sonst dürfen wir ja nicht.« »Klar«, sagte Rasmus mit großer Zuversicht. Er wußte, was er in dieser Beziehung leisten konnte, wenn es nötig war. Und als Nicke angelaufen kam, warf sich Rasmus unmittelbar auf ihn: »Nicke dürfen wir nicht baden gehen?« »Baden gehen?« fragte Nicke. »Wozu soll das gut sein?« »Es ist aber doch so furchtbar warm«, sagte Rasmus. »Wir dürfen doch wohl baden gehen, wenn es so warm ist?« Eva-Lotte sagte nichts. Sie wußte, daß es klüger war, diese Angelegenheit völlig Rasmus zu überlassen. »Ich kann fünf Stöße schwimmen«, erklärte Rasmus. »Willst du gar nicht sehen, wenn ich fünf Stöße schwimme, Nicke?« »Na ja, sicherlich«, sagte Nicke. »Aber baden gehen. Nein, ich glaube nicht, daß der Chef das so ohne weiteres erlaubt.« »Aber ich kann doch keine fünf Stöße schwimmen, wenn ich nicht baden gehe«, sagte Rasmus mit tödlicher Logik. »Ich kann doch nicht trockenschwimmen.« Damit war für ihn alles klar. Nicke war sicher nicht so dumm, freiwillig darauf zu verzichten, Rasmus fünf Stöße schwimmen zu sehen. Also steckte er seine kleine Hand in Nickes große Faust und sagte: »Komm also, gehen wir schon!« Nicke sah mißbilligend zu Eva-Lotte. »Du gehst nicht mit«, sagte er barsch. »Doch, Eva-Lotte soll mit, damit sie sehen kann, wie ich fünf Stöße schwimme.« Es war schwer für Nicke, sich gegen die hartnäckige Kinder-stimme zu wehren. Er verachtete sich selbst wegen seiner Schwäche, aber so weit war es gekommen, daß Rasmus ihn lenkte, wohin er wollte, einfach indem er seine kleine Hand in die seine legte und ihn mit seinen hoffnungsvollen Augen ansah. »Also gut, von mir aus – kommt!« brummte Nicke. Davon also hatte sie geträumt: den schmalen Steg zur Anlegestelle hinunterzulaufen, die Kleider hinter einen Busch zu werfen, denn den Luftanzug trug sie immer darunter, sich kopf- über in das klare Wasser, das im Sonnenschein glitzerte und schimmerte, zu werfen und auf der kleinen Brücke zu liegen, die Augen zu schließen und an nichts zu denken. Jetzt aber, als sie das alles durfte, war es für sie nur ein qualvoller Aufschub, der ihren großen Plan hinauszögerte. Rasmus dagegen war toll vor Begeisterung. Wie ein fröhlicher kleiner Frosch sprang er in dem Wasser am Strand umher. Nicke saß auf der kleinen Anlegebrücke und paßte auf, und Rasmus bespritzte ihn tüchtig mit Wasser und lachte und schrie und sprang auf und nieder, so daß es um ihn her sprühte. Er schwamm auch, aber dabei war er todernst und hielt die Luft an, bis er knallrot im Gesicht war. Danach atmete er mit großem Geschnaufe und brüllte Nicke entzückt zu: »Hast du es jetzt gesehen? Hast du gesehen, daß ich fünf Stöße schwimmen kann?« Vielleicht hatte Nicke es gesehen, vielleicht aber auch nicht. »Du bist schon eine lustige kleine Ordnung, du«, sagte er. Mehr sagte er nicht zu Rasmus’ großartiger Fertigkeit im Schwimmen – aber war das etwa kein Lob? Eva-Lotte lag auf dem Rücken und ließ sich von den Wellen tragen. Sie starrte in den Himmel hinein und wiederholte sich immer wieder: »Ruhig bleiben! Nur ruhig bleiben! Alles geht gut!« Richtig überzeugt war sie davon aber nicht, und als Nicke rief, jetzt wäre Schluß mit dem Baden, fühlte sie, wie sie vor Spannung blaß wurde. »Ein wenig dürfen wir doch noch im Wasser bleiben, Nik-ke«, sagte Rasmus bittend. Eva-Lotte aber hielt es nicht länger aus. Deshalb nahm sie Rasmus auf den Arm und sagte: »Nein, Rasmus, komm, wir gehen!« Rasmus strampelte und zappelte und sah hilfesuchend zu Nicke. Aber einmal waren Nicke und Eva-Lotte derselben Meinung. »Beeilt euch jetzt«, sagte Nicke. »Es wäre gut, wenn der Chef erst gar nichts davon wissen würde.« Eva-Lotte zog den sich sträubenden Rasmus hinter einige dichte Büsche. In fliegender Hast zog sie sich an. Dann kniete sie neben Rasmus nieder, um ihm zu helfen. Seine kleinen Finger hatten so große Schwierigkeiten mit den Knöpfen. »Das ist auch gar nicht so leicht, glaub es mir«, sagte Rasmus. »Es ist schwer, wo die Knöpfe doch hinten sitzen, und ich bin hier vorn.« »Ich werde sie zuknöpfen«, sagte Eva-Lotte. Mit leiser Stimme fuhr sie fort: »Rasmus, du willst doch gern eine Weiße Rose werden?« »Ist doch klar«, sagte Rasmus. »Und Kalle hat gesagt, daß …« »Ja, aber du mußt dann auch jetzt genau machen, was ich dir sage«, unterbrach ihn Eva-Lotte. »Was soll ich denn machen?« »Du sollst mir deine Hand geben, und dann laufen wir hier weg, so schnell wir überhaupt können.« »Da wird sich aber Nicke ärgern«, wandte Rasmus bekümmert ein. »Jetzt kümmern wir uns einmal nicht um Nicke«, flüsterte Eva-Lotte. »Wir wollen rasch fort und die Hütte suchen, die Kalle und Anders gebaut …« »Kommt ihr bald oder muß ich euch holen?« rief Nicke von der Anlegestelle herüber. »Immer ruhig!« schrie Eva-Lotte. »Wir kommen – wann wir kommen!« Dann nahm sie Rasmus’ Hand und flüsterte aufgeregt: »Lauf, Rasmus, lauf!« Und Rasmus lief, so schnell ihn seine fünfjährigen Beinchen tragen konnten. Mitten zwischen die Tannen liefen sie. Rasmus strengte sich sehr an, mit Eva-Lotte gleichen Schritt zu halten. Sie sollte doch sehen, welch eine gute Weiße Rose er war. Und er keuchte, während er rannte: »Na, jedenfalls war es gut, daß Nicke gesehen hat, daß ich fünf Stöße schwimmen kann!« ELFTES KAPITEL Die Sonne begann zu sinken, und Rasmus war müde. Seit mehreren Stunden tat er nun schon etwas, was ihm gar nicht gefiel. »Es sind viel zu viele Bäume in diesem Wald«, sagte er mißmutig. »Und wann kommen wir bloß zu der Hütte?« Eva-Lotte wünschte nichts mehr, als ihm darauf antworten zu können. Sie war einer Meinung mit Rasmus: Es gab zu viele Bäume in diesem Wald. Und zu viele kleine Felsen, über die man klettern mußte, zu viele Kuhlen, in die man hineinstolper-te, und allen möglichen anderen Kram, der einem den Weg versperrte, zu viele Zweige und Äste und Büsche, die einem die Beine zerkratzten. Und dann viel zuwenig kleine selbstgebaute Hütten. Zwar war es nur eine einzige kleine Hütte, nach der sie sich sehnte, aber die war ja nicht zu finden. Eva-Lotte fühlte den Mißmut in sich aufsteigen. Sie hatte es sich so einfach vorgestellt, die Hütte zu finden, aber jetzt zweifelte sie daran, ob sie sie jemals finden würde. Und wenn sie sie fand – waren Anders und Kalle überhaupt da? Waren sie zur Insel zurückgekommen, nachdem sie die Geheimdokumente gefunden hatten? Tausend Dinge konnten inzwischen passiert sein, tausend Dinge konnten sie an der Rückkehr gehindert haben. War es nicht möglich, daß sie ganz allein auf der Insel waren, Rasmus und sie – und die Kidnapper? Eva-Lotte fror bei dem Gedanken. Lieber, lieber Anders, bester guter Kalle, seid doch bitte in der Hütte, betete sie leise und verzweifelt. Und laß sie mich endlich finden, endlich. »Nur Blaubeeren und Blaubeeren«, sagte Rasmus und sah böse auf das Blaubeerenkraut, das ihm weit über die Knie reichte. »Ich möchte etwas gebratenen Speck haben.« »Ich begreife dich«, sagte Eva-Lotte, »aber in den Wäldern wächst noch kein gebratener Speck.« »Sssss«, machte Rasmus und drückte damit sein Mißfallen an der jetzigen Ordnung der Dinge aus. »Und dann möchte ich meine Borkenboote haben.« Und damit war er bei einem Thema, das ihn bereits den ganzen Weg beschäftigt hatte. Warum hatte er nicht seine Borkenboote mitnehmen dürfen? »Kleines Untier«, dachte Eva-Lotte. Hatte sie sich deswegen in wilde Gefahren gestürzt, wollte sie ihn unter furchtbaren Abenteuern retten, nur damit er hier neben ihr hertrabte und nach gebratenem Speck und seinen Borkenbooten jammerte? Aber schon bevor sie diese Gedanken zu Ende gedacht hatte, tat es ihr leid, und impulsiv nahm sie Rasmus in die Arme. Er war doch noch so klein … und so müde und hungrig – ganz natürlich, daß er da quengelte. »Versteh doch bitte, Rasmus«, sagte sie zärtlich. »Deine Borkenboote habe ich wirklich vergessen.« »Dann finde ich, daß du blöd bist!« sagte Rasmus unbarmherzig. Und dann setzte er sich einfach zwischen die Blaubeersträucher. Er wollte nicht mehr weitergehen. Kein Flehen half. Vergeblich bettelte Eva-Lotte – vielleicht lag die Hütte schon ganz in der Nähe, sagte sie, vielleicht brauchten sie nur noch ein kleines, kleines Stück zu gehen! »Ich will nicht«, sagte Rasmus, »meine Beine sind so schläfrig.« Einen Augenblick lang überlegte Eva-Lotte, ob sie den Tränen, die irgendwo in ihrer Kehle bereitsaßen, freien Lauf lassen sollte. Dann biß sie die Zähne zusammen. Sie setzte sich auch, lehnte den Rücken an einen großen Stein und zog Rasmus an sich. »Setz dich zu mir und ruh dich ein wenig aus, Rasmus«, sagte sie. Mit einem Seufzer streckte sich Rasmus in dem weichen Moos aus und legte seinen Kopf in Eva-Lottes Schoß. Müde blinzelte er Eva-Lotte an. Es sah aus, als habe er die Absicht, sich nie mehr von der Stelle zu rühren. Eva-Lotte dachte: Laß ihn ein Weilchen schlafen, dann geht es nachher sicher besser vorwärts! Sie nahm seine Hand, und er überließ sie ihr, ohne etwas zu sagen. Dann begann sie, ihm etwas vorzusingen. Er versuchte zwinkernd, die Augen aufzubehalten, und folgte mit den Blicken einem Schmetterling, der über den Sträuchern da-hinschwebte. »Blaubeeren wachsen in unserem Wald, Blaubeeren …« sang Eva-Lotte leise. Aber da protestierte Rasmus. »Es wäre besser, wenn du singen würdest: Gebratener Speck wächst in unserem Wald, gebratener …« Und dann schlief er ein. Eva-Lotte seufzte. Sie wünschte, auch schlafen zu können. Sie wünschte einzuschlafen und dann zu Hause in ihrem Bett aufzuwachen, um zu entdecken, daß all das Furchtbare nur ein Traum gewesen war. Voller Sorge und unruhig saß sie da und fühlte sich sehr, sehr einsam. Da hörte sie in der Entfernung Stimmen. Stimmen, die sich näherten und die sie kannte, und kurz danach den Laut von zer-brechenden Ästen, die jemand zertrat. Daß man einen solchen Schreck bekommen konnte! Ohne davon zu sterben! Nein, man starb nicht, wurde vom Schreck nur so gelähmt, daß man kein Glied rühren konnte und nur fühlte, wie das Herz wild und quälend in der Brust trommelte. Es waren Nicke und Blom, die zwischen den Bäumen näher kamen. Dieser Svanberg war sicher auch dabei. Es gab nichts, was sie hätte tun können. Rasmus schlief. Sie konnte ihn nicht wecken und davonlaufen. Damit war nichts erreicht. Weit würden sie nicht kommen. Man konnte also ebensogut sitzenbleiben und abwarten, daß man gefangen würde. Jetzt waren sie so dicht herangekommen, daß Eva-Lotte verstehen konnte, was sie redeten. »Noch nie habe ich Peters so rasend gesehen«, sagte Blom. »Und das wundert mich gar nicht. Du bist eine ziemliche Nuß, Nicke.« Nicke brummte. »Das war dieses Mädchen«, sagte er. »Mit der möchte ich jetzt mal ein passendes Wörtchen reden. Warte nur, bis ich sie erwischt habe.« »Das kann ja nicht mehr so lange dauern«, meinte Blom. »Auf der Insel müssen die beiden ja noch sein.« »Sei nur ruhig«, sagte Nicke. »Ich werde sie schon finden, und wenn ich jeden Busch einzeln durchsuchen sollte.« Eva-Lotte schloß die Augen. Zehn Schritte waren sie noch von ihr entfernt, und sie wollte sie nicht sehen. Sie hielt die Augen geschlossen und wartete. Wenn sie sie doch nur schnell packen würden, dann konnte sie doch endlich losweinen – darauf hatte sie schon so lange gewartet. Sie saß, mit dem Rücken an den großen moosbewachsenen Stein gelehnt, hielt die Augen geschlossen und hörte hinter diesem Stein die Stimmen. So nahe! Bald darauf nicht mehr ganz so nahe, gar nicht mehr so nahe. Gingen sie fort? Schwächer und schwächer wurden die Stimmen, bis sie schließlich nicht mehr hörbar waren und es so verwunderlich still um sie her wurde. Nur ein kleiner Vogel zwitscherte einsam in einem Busch. Lange, lange saß sie im Moos. Sie wagte nicht, sich zu rühren. Sie wollte nur noch sitzenbleiben, ohne jede Bewegung, und sich in diesem Leben nichts mehr vornehmen. Schließlich wachte Rasmus auf, und Eva-Lotte begriff, daß sie sich zusammennehmen mußte. »Komm jetzt, Rasmus«, sagte sie, »wir können nicht länger hier sitzen bleiben.« Unruhig sah sie sich um. Die Sonne schien nicht mehr. Gro- ße, dunkle Wolken segelten am Himmel dahin. Es zog sich wohl zu einem Abendregen zusammen. Die ersten schwachen Tropfen fielen bereits. »Ich will zu meinem Vati«, sagte Rasmus. »Ich will nicht mehr im Wald bleiben, ich will zu meinem Vati gehen!« »Wir können jetzt nicht zu deinem Vati«, sagte Eva-Lotte verzweifelt. »Wir müssen versuchen, Kalle und Anders zu finden, sonst weiß ich nicht, wie es mit uns weitergehen soll!« Sie bahnten sich ihren Weg durch die Blaubeersträucher, und Rasmus folgte ihr knurrend wie ein kleiner Hund. »Ich will was zu essen haben«, schimpfte er. »Und dann will ich meine Borkenboote haben.« Eva-Lotte sagte nichts mehr, sie schwieg. Da hörte sie hinter sich bitterliches Schluchzen. Sie wandte sich um und sah die kleine unglückliche Gestalt, die dort zwischen den Blaubeeren stand und mit zitterndem Mund große Tränen weinte. »O Rasmus, weine bitte nicht«, bat Eva-Lotte, obwohl sie selbst nichts lieber getan hätte. »Weine nicht! Lieber kleiner Rasmus, warum weinst du denn?« »Ich weine, weil …« schluckte Rasmus. »Ich weine, weil doch … weil doch Mutti in Indien ist!« Auch wer eine Weiße Rose werden wollte, durfte ja schließlich weinen, wenn die Mutti in Indien war. »Ja, aber sie kommt doch bald wieder«, sagte Eva-Lotte tröstend. »Deshalb weine ich aber trotzdem«, schrie Rasmus trotzig. »Weil ich vergessen habe, schon früher deswegen zu weinen, dumme Eva-Lotte!« Der Regen nahm zu. Unbarmherzig und kalt strömte er herunter und hatte bald ihre dünnen Kleider durchnäßt. Gleichzeitig wurde es immer dunkler. Die Schatten zwischen den Bäumen waren tief. In Kürze würden sie keinen Schritt weit mehr sehen können. Sie stolperten weiter, naß, ohne Hoffnung, hungrig und verzweifelt. »Ich will nicht im Wald sein, wenn es dunkel ist«, weinte Rasmus. »Stell dir vor, daß ich das nicht will …« Eva-Lotte strich sich ein paar Wassertropfen aus dem Gesicht. Vielleicht waren auch Tränen dabei. Sie blieb stehen. Sie drückte Rasmus an sich und sagte mit zitternder Stimme: »Rasmus, eine Weiße Rose muß doch tapfer sein. Jetzt sind wir beide Weiße Rosen und wollen zusammen etwas Großartiges machen.« »Was denn?« fragte Rasmus. »Wir werden unter eine Tanne kriechen und dort bis zum Morgen schlafen.« Der kleine zukünftige Ritter der Weißen Rose schrie, als säße ein Messer in ihm. »Ich will nicht im Wald sein, wenn es dunkel ist! Hörst du es, dumme Eva-Lotte, ich will nicht! – Ich will nicht! Ich will nicht.« »Aber in unserer Hütte möchtest du doch sicher sein?« Kalles Stimme sagte das. Kalles ruhige, sichere Stimme. Sie war schöner als die eines Erzengels, fand Eva-Lotte. Nicht weil sie schon einen Erzengel gehört oder gesehen hätte, nein, weil sie sicher war, daß er, trotz all seiner Größe und Herrlichkeit, sich niemals mit Kalle, der ihnen dort mit einer Taschenlampe aus dem Dunkel entgegenkam, messen konnte. Die Tränen drängten sich aus Eva-Lottes Augen. Aber nun durften sie gerne kommen. »Kalle, bist du es … bist du es wirklich … wirklich du?« sagte sie schluchzend. »Wie in aller Welt seid ihr hierhergekommen?« fragte Kalle. »Seid ihr geflohen?« »Und ob«, sagte Eva-Lotte. »Den ganzen Tag lang!« »Ja, wir sind geflohen, damit ich eine Weiße Rose werden kann«, versicherte Rasmus. »Anders!« schrie Kalle. »Anders, komm her, ich will dir ein Wunder zeigen! Eva-Lotte und Rasmus sind hier!« Sie saßen in der Hütte auf den Tannenzweigen und waren sehr glücklich. Es regnete noch immer, und das Dunkel zwischen den Bäumen draußen war noch schwärzer geworden. Aber was tat das? Hier drinnen war es mollig und warm, sie hatten trockene Kleider: Das Leben war nicht mehr so sauer und widerwärtig wie noch vor kurzem. Das kleine blaue Feuer von Kalles Spirituskocher flackerte munter unter dem Topf mit hei- ßem Kakao, und Anders schnitt Brot zu ganzen Scheibenbergen. »Es ist so schön, daß man es gar nicht glaubt«, sagte Eva-Lotte mit einem zufriedenen Seufzer. »Ich bin trocken, mir ist warm, und wenn ich noch so drei, vier, fünf, sechs Butterbrote essen darf, werde ich auch satt sein.« »Aber ich möchte mehr gebratenen Speck haben«, sagte Rasmus. »Und mehr Kakao.« Er streckte seinen Becher vor und bekam ihn nachgefüllt. Er trank den warmen Kakao in tiefen, genießerischen Schlucken, ohne mehr als einige Tropfen auf Kalles Trainingsoverall zu verschütten. Der Overall, den er bekommen hatte, war ihm viel zu groß, und er verschwand fast in der schönen wolligen Wärme. Zufrieden zog er die Zehen ein, damit auch nicht das kleinste Stück von ihm draußen war und etwa frieren mußte. Oh, wie war das alles herrlich, diese Hütte und der Overall und die Schinkenbrote – alles war herrlich. »Jetzt bin ich wohl beinahe eine Weiße Rose?« fragte er neugierig zwischen dem Kauen. »Na, viel fehlt da nicht«, versicherte Kalle. Er selbst war in diesem Moment so zufrieden und glücklich, wie nur ein Mensch sein konnte. Unvorstellbar, wie sich alles eingerenkt hatte! Rasmus gerettet, die Papiere gerettet, bald sollte der ganze Alpdruck vorbei sein. »Morgen früh nehmen wir das Boot und rudern Rasmus zum Festland«, sagte er. »Dann rufen wir Onkel Björk an, damit die Polizei den Professor rettet. Dann bekommt der Professor seine Geheimpapiere …« »Und dann sollen die Roten davon zu hören bekommen, daß ihnen die Ohren abfallen«, ergänzte Anders. »Wo sind die Geheimpapiere übrigens?« fragte Eva-Lotte neugierig. »Ich habe sie versteckt«, sagte Kalle. »Und ich denke nicht daran zu erzählen, wo.« »Warum denn?« »Es ist besser, wenn nur einer das weiß«, sagte Kalle. »Noch sind wir nicht ganz in Sicherheit. Und solange wir das nicht sind, sage ich auch nichts.« »Ja, und das ist gut so«, sagte Anders. »Morgen werden wir es erfahren. Stellt euch vor, morgen sind wir zu Hause! Das wird sehr schön sein, tatsächlich!« Rasmus war anderer Meinung. »Es wäre viel schöner, hier in der Hütte zu sein«, sagte er. »Ich möchte immer, immer und immer hierbleiben. Einige Tage könnten wir doch noch hierbleiben.« »Nein, danke bestens«, sagte Eva-Lotte und entsann sich mit einem Schaudern der Minuten im Wald mit Nicke und Blom hinter sich. Es kam darauf an, sobald es hell wurde, schnellstens von der Insel fortzukommen. Jetzt waren sie noch durch die Dunkelheit geschützt. Kam erst der Tag, waren sie vogelfrei. Nicke hatte doch gesagt, daß er jeden Busch auf der Insel durchsuchen wollte, und Eva-Lotte hatte nicht die geringste Lust zu bleiben, bis er zu Ende gesucht hatte. Langsam hörte der Regen auf, und das kleine Stück Himmel, das durch die Öffnung in der Hütte sichtbar war, überzog sich mit Sternen. »Ich brauche noch etwas frische Luft, bevor ich einschlafe«, sagte Anders und kroch hinaus. Kurze Zeit danach rief er die anderen. »Kommt, dann könnt ihr etwas sehen!« »Du kannst doch wohl im Dunkeln nichts sehen«, rief Eva-Lotte. »Ich sehe die Sterne«, sagte Anders. Eva-Lotte und Kalle sahen sich an. »Er ist doch nicht etwa sentimental geworden?« fragte Kalle beunruhigt. »Es ist besser, wir kümmern uns um ihn.« Sie zwängten sich durch die enge Öffnung nach draußen. Rasmus zögerte. Hier in der Hütte war es hell. Kalle und Anders hatten ihre Taschenlampen an die Decke gehängt. Hier war es hell und warm, draußen war es dunkel, und vom Dunkel hatte er genug. Aber er zögerte nicht lange. Wo Eva-Lotte und Kalle waren, da wollte er auch sein. Auf allen vieren kroch er durch die Öffnung. Wie ein kleines Tierchen sah er aus, wie ein Tierchen, das in der Nacht vorsichtig seine Nase aus dem Nest steckt. Draußen standen sie dicht beieinander und ganz still. Still standen sie unter den Sternen, die dort oben auf einem tief-schwarzen Himmel brannten. Sie hatten kein Verlangen zu reden, standen nur beieinander und horchten in die Dunkelheit hinein. Das dumpfe Säuseln der schlafenden Wälder hatten sie nie zuvor gehört. Es war eine seltsame Melodie, und ihnen war wunderlich zumute. Rasmus schob seine Hand in Eva-Lottes Hand. Das hier war etwas, was er noch nie erlebt hatte, und es machte ihn froh und ängstlich zugleich. So ängstlich, daß er eine Hand in seiner Hand spüren wollte. Aber plötzlich fühlte er, wie ihm alles gefiel. Ihm gefielen die Wälder, auch wenn es dunkel war und so eigenartig in den Bäumen rauschte, ihm gefielen die kleinen Wellen, die an die Klippen schlugen, und ihm gefielen die Sterne. Die Sterne am allerbesten. Er bog seinen Kopf nach hinten und starrte gerade hinauf zu den freundlichen Sternen. Und er drückte Eva-Lottes Hand und sagte mit träumerischer Stimme: »Denk nur, wie schön es im Himmel sein muß, wenn er schon auf der Außenseite so schön ist!« Niemand antwortete. Niemand sagte ein einziges Wort. Nur Eva-Lotte beugte sich zu Rasmus und schlang die Arme um ihn. So standen sie still. »Jetzt, Rasmus, sollst du schlafen«, sagte Eva-Lotte endlich. »Du sollst in einer kleinen Hütte im großen Wald schlafen. Wird das nicht wunderbar sein?« »Klar!« sagte Rasmus aus tiefster Überzeugung. Und als er etwas später zu Eva-Lotte in den Schlafsack gekrochen war und dalag und sich erinnerte, daß er beinahe schon eine Weiße Rose war, seufzte er tief auf vor innerer Zufriedenheit. Er bohrte seine Nase in Eva-Lottes Arm und fühlte, daß er jetzt schlafen wollte. Er würde Vati genau erzählen, wie schön es doch war, nachts in Hütten aus Tannenreisig zu schlafen. Es war jetzt dunkel. Kalle hatte die Taschenlampen ausgelöscht, aber Eva-Lotte war dicht bei ihm, und die freundlichen Sterne dort draußen blinkten sicher weiterhin am Himmel. »Wie wäre es doch bequem in diesem Schlafsack, wenn du nicht hier liegen und drängeln würdest«, sagte Anders und gab Kalle einen Puff. Kalle gab den Puff zurück. »Wie traurig, daß wir nicht daran gedacht haben, für dich ein Doppelbett mitzunehmen«, sagte er. »Aber trotzdem gute Nacht!« Fünf Minuten später schliefen sie alle, tief und sorglos und ohne Angst vor dem kommenden Tag. ZWÖLFTES KAPITEL Bald würden sie hier fort sein. In einigen Minuten nur würden sie hier fort sein und diese Insel nie mehr sehen. Kalle wartete einen Augenblick, bevor er in das Boot sprang. Er blickte sich um. Das also war ihre Heimat während einiger unruhiger Tage und Nächte gewesen. Dort war ihre Badeklippe, sie sah so einladend aus im ersten Frühlicht. In der Mulde dort hinten lag die Hütte. Sehen konnte er sie von hier aus nicht, aber er wußte, daß sie dort lag und daß sie leer und verlassen war und ihnen niemals mehr ein Heim sein sollte. »Kommst du irgendwann einmal?« sagte Eva-Lotte nervös. »Ich möchte hier wegfahren. Das ist das einzige, was ich will.« Sie saß auf dem Steuersitz, und Rasmus saß neben ihr. Schneller als jeder andere wollte sie von hier weg. Jede Sekunde war kostbar, das wußte sie. Sie konnte sich gut vorstellen, wie wütend Peters über ihre Flucht sein mußte und daß er das Letzte versuchen würde, sie wieder in seine Hände zu bekommen. Deshalb war Eile nötig, das wußten sie alle, Kalle auch. Mit einem Sprung war er im Boot, wo Anders schon fertig zum Rudern saß. »Na also dann«, sagte Kalle. »Dann sind wir wohl klar.« »Ja, wir sind klar«, sagte Anders und begann zu rudern. Aber schnell bremste er wieder ab und machte eine kummervolle Miene. »Es ist nur bloß … na ja, kurz und gut, ich habe meine Taschenlampe vergessen«, sagte er. »Ja, ja, ja, ich weiß, daß ich schlampig bin. Aber es genügen einige Sekunden, dann habe ich sie wieder.« Er sprang bei der Badeklippe an Land und verschwand. Sie warteten. Sehr unruhig zuerst. Und nach einem Weilchen außergewöhnlich unruhig. Nur Rasmus saß vollkommen ungerührt da und spielte mit den Fingern im Wasser. »Wenn er nicht gleich kommt, schreie ich«, sagte Eva-Lotte. »Sicher hat er ein Vogelnest oder so etwas gefunden«, sagte Kalle bitter. »Du, Rasmus, lauf und sag ihm, das Boot fährt ab!« Gehorsam kletterte Rasmus aus dem Boot. Sie sahen, wie er mit kurzen kleinen Sprüngen den Felsen emporlief. Sie warteten. Warteten und warteten und starrten ungeduldig auf den Felsbuckel, wo wohl bald die Verschwundenen auftauchen mußten. Es kam aber niemand. Der Felsen lag öde vor ihnen, als hätte noch nie ein menschlicher Fuß ihn betreten. Ein morgenfrischer Barsch stand dicht am Boot, und es raschelte leise im Schilf am Ufer. Sonst war alles still. Unheilverkündend still, fanden sie plötzlich. »Um des lieben Friedens willen, was machen die beiden nur?« fuhr Kalle unruhig auf. »Ich glaube, ich muß hin und nachsehen.« »Dann gehen wir beide«, sagte Eva-Lotte. »Ich traue mich nicht, hier allein zu sitzen und zu warten.« Kalle machte das Boot fest, und sie sprangen an Land. Liefen den Felsen hinauf, wie Anders es getan hatte. Und wie Rasmus es getan hatte. Dort lag die Hütte in der Mulde. Kein Mensch war zu sehen, keine Stimme zu hören. Nur diese unheimliche Stille … »Wenn das einer der üblichen Scherze von Anders ist«, sagte Kalle und kroch in die Hütte, »dann schlage ich ihn kurz und …« Mehr sagte Kalle nicht. Eva-Lotte, zwei Schritte hinter ihm, hörte nur einen halb erstickten Ruf, und sie schrie wild und verzweifelt: »Was ist los, Kalle, was ist los?« Im selben Augenblick fühlte sie eine harte Hand im Genick und hörte eine wohlbekannte Stimme im Ohr: »Satansbalg, nun hast du wohl fertig gebadet, was?« Es war Nicke, puterrot im Gesicht vor Wut. Und aus der Hütte kamen Blom und Svanberg. Drei Gefangene brachten sie mit, und Eva-Lottes Augen füllten sich mit Tränen, als sie sie sah. Das war das Ende. Alles war jetzt vorbei. Alles war vergebens gewesen. Jetzt konnte man sich ebensogut ins Moos legen und sofort sterben. Es schnitt ihr ins Herz, als sie Rasmus sah. Er war vollkommen wild und machte verzweifelte Anstrengungen, einen Stoff-lappen, der ihn am Schreien hinderte, aus seinem Mund herauszubekommen. Nicke sprang hinzu, um ihm zu helfen, aber er fand keinen Dank dafür bei Rasmus. Sobald er den Mund frei hatte, spuckte er wütend nach Nicke und schrie: »Du bist blöd, Nicke! Pfui Blase, wie bist du doch blöd! Pfui Blase!« Es wurde eine bittere Rückkehr. So mußten sich geflohene Kettensträflinge im Dschungel fühlen, wenn sie zur Teufelsinsel zurückgeschleppt wurden, dachte Kalle und ballte die Fäuste. Es war auch ein richtiger Gefangenentransport. Sie waren alle mit einem Strick aneinandergebunden, er und Eva-Lotte und Anders. Neben ihnen ging Blom, ein Gefangenenaufseher von der aller- übelsten Sorte, und hinter ihnen Nicke. Er trug Rasmus, der nicht aufhörte zu versichern, daß er Nicke entsetzlich blöd fände. Svanberg hatte ihre Sachen aus dem Boot genommen, und nun waren sie auf dem Weg zurück in das Lager der Kidnapper. Nicke schien bei sehr schlechter Laune zu sein. Dabei hätte er doch eigentlich zufrieden sein müssen, mit seinem Fang zu Peters zurückzukommen. Aber er ging hinter ihnen und schimpfte und fluchte vor sich hin. »Verflixtes Görenzeug! Warum habt ihr das Boot genommen? Habt wohl gedacht, wir merken es nicht, wie? Und wenn ihr nun schon das Boot hattet, warum seid ihr auf der Insel geblieben, ihr Idioten?« Ja, warum hatten sie das getan? dachte Kalle bitter. Warum waren sie nicht schon gestern abend, obschon Rasmus müde war und es regnete und dunkel war, zum Festland hinübergerudert? Warum waren sie nicht rechtzeitig von dieser Insel verschwunden? Nicke hatte recht – sie waren schon Idioten. Aber es war doch seltsam, daß ausgerechnet er sich darüber ärgerte und es ihnen vorhielt. Er schien wirklich nicht besonders erfreut davon, sie wieder eingefangen zu haben. »Ich finde, Kidnapper sind überhaupt nicht nett«, sagte Rasmus. Nicke antwortete nicht, guckte nur böse und schimpfte weiter. »Und warum habt ihr die Papiere genommen, wie? Ihr beiden Schafsköpfe da vorne, warum habt ihr die Papiere gestohlen?« Die beiden Schafsköpfe antworteten nicht. Und sie schwiegen auch später, als Peters sie dasselbe fragte. Sie saßen jeder auf einer Bank in Eva-Lottes Häuschen und waren so niedergeschlagen, daß sie nicht einmal mehr Angst vor Peters hatten, obwohl er alles versuchte, um sie zu ängstigen. »Das sind Sachen, von denen ihr nichts versteht«, sagte er, »und ihr hättet euch niemals einmischen dürfen. Es wird euch sehr schlechtgehen, wenn ihr nicht erzählt, wo ihr die Papiere gestern abend gelassen habt.« Seine schwarzen Augen sahen sie kalt an, und er zischte: »Na, wird’s bald! Heraus damit! Wo habt ihr die Dokumente gelassen?« Sie antworteten nicht. Das schien gerade die richtige Art und Weise zu sein, um Peters zur Raserei zu bringen, denn er stürzte sich auf Anders, als ob er ihn ermorden wollte. Mit beiden Händen faßte er ihn am Kopf und schüttelte ihn wild. »Wo sind die Papiere?« schrie er. »Antworte, sonst drehe ich dir das Genick um!« Da griff Rasmus ein. »Jetzt bist du doch aber reichlich blöde«, sagte er. »Anders weiß ja gar nicht, wo die Papiere sind. Das weiß nur Kalle. Es ist nämlich besser, sagt Kalle, wenn es nur einer weiß.« Peters ließ Anders los und sah Rasmus an. »Soso, meinst du«, sagte er. Dann wandte er sich an Kalle. »Kalle, glaube ich, bist ja wohl du! Und nun hör mal zu, mein lieber Kalle! Du bekommst eine Stunde Bedenkzeit. Eine Stunde und keinen Fatz mehr. Danach wird etwas überaus Unangenehmes mit dir geschehen. Schlimmer als alles, was du jemals vorher erlebt hast, verstehst du das?« Kalle sah so überlegen aus, wie Meisterdetektiv Blomquist immer in derartigen Situationen auszusehen pflegte. »Versu-chen Sie nur nicht, mich zu erschrecken, denn das können Sie gar nicht«, sagte er. In Gedanken sprach er für sich selbst weiter: »Denn ich bin bereits so erschrocken, wie man nur sein kann.« Peters zündete sich eine Zigarette an, und seine Hände zitterten dabei. Prüfend sah er Kalle an, bevor er weitersprach: »Ich weiß nicht, ob du intelligent genug bist, mir zu folgen. Solltest du es sein, dann wende von mir aus deine Intelligenz an. Vielleicht begreifst du dann, worum es geht. Es handelt sich um folgendes: Aus gewissen Gründen, die ich dir nicht näher erläu-tern will, habe ich mich auf eine Sache geworfen, die so unge-setzlich ist, wie etwas nur sein kann. Ich rechne mit lebensläng-lichem Gefängnis, wenn ich in Schweden bleibe, und deshalb gedenke ich nicht eine Sekunde länger, als nötig ist, hier zu bleiben. Ich werde mich ins Ausland begeben, und ich will diese Geheimdokumente mit mir nehmen. Begreifst du jetzt? Du bist doch wohl nicht zu dumm, um zu verstehen, daß ich alles, aber auch alles – sei es, was es sei – tun werde, um aus dir herauszu-pressen, wo die Papiere sind.« Kalle nickte. Er verstand sehr gut, daß Peters vor nichts zurückschrecken würde. Und er verstand auch, daß er selbst bald gezwungen sein würde, aufzugeben und das Geheimnis zu verraten. Wie sollte auch ein Junge wie er sich auf die Dauer gegen einen so vollkommen gewissenlosen Gegner wie Peters halten können? Aber eine Stunde Bedenkzeit hatte er bekommen, und die wollte er ausnutzen. Er wollte nicht aufgeben, bevor er alle Möglichkeiten erwogen hatte. »Ich will mir die Sache überlegen«, sagte er kurz, und Peters nickte. »Gut«, sagte er. »Überlege eine Stunde! Und wende deine Intelligenz an, wenn du welche hast!« Er ging, und Nicke, der die ganze Zeit mit bitterer Miene dagestanden und die Gespräche angehört hatte, folgte ihm zur Tür. Aber als Peters verschwunden war, drehte sich Nicke um und ging zu Kalle. Er sah nicht länger verbittert aus. Beinahe bittend sah er Kalle an und sagte mit leiser Stimme: »Erzähl doch dem Chef, wo die Papiere sind, ja. Damit endlich einmal Schluß wird mit diesem ganzen Elend hier. Kannste doch machen, wie? Schon wegen Rasmus, wie?« Kalle antwortete nicht, und Nicke ging. In der Tür drehte er sich um und sah betrübt zu Rasmus hinüber. »Ich will dir nachher ein neues Borkenboot schnitzen«, sagte er. »Ein viel, viel größeres …« »Ich will kein Borkenboot haben«, sagte Rasmus erbarmungslos. »Und ich finde auch nicht, daß Kidnapper nett sind.« Dann waren sie sich selbst überlassen. Sie hörten, wie Nicke den Schlüssel im Schloß umdrehte. Dann hörten sie nur noch von draußen her das Rauschen in den Kronen der Bäume. »Toll, wie der Wind stärker wird«, sagte Anders, als sie eine lange Zeit stumm dagesessen hatten. »Ja, ganz schöner Wind«, sagte Eva-Lotte und sah zu Kalle. »Eine Stunde«, sagte sie. »In einer Stunde wird er wieder hier sein. Was sollen wir tun, Kalle?« »Du wirst erzählen müssen, wo du sie versteckt hast«, sagte Anders. »Sonst bringt er dich um.« Kalle zog sich an den Haaren. »Wende deine Intelligenz an«, hatte Peters gesagt. Kalle war entschlossen, es zu tun. Möglich, daß man – wenn man den Verstand ordentlich anstrengte –doch etwas ausdenken konnte, um aus dieser Falle zu schlüpfen. »Wenn ich fliehen könnte«, sagte er nachdenklich. »Es wäre gut, wenn ich fliehen könnte …« »Ja, und wenn du den Mond herunterholen könntest, das wäre auch gut«, sagte Anders. Kalle antwortete nicht. Er dachte nach. »Hört mal«, sagte er schließlich. »So um diese Zeit kommt doch Nicke immer mit dem Essen!« »Gewiß«, sagte Eva-Lotte. »Zumindest bekamen wir immer Frühstück um diese Zeit. Kann aber auch sein, daß der Peters uns jetzt tothungern will.« »Uns vielleicht, aber Rasmus nicht«, sagte Anders. »Nicke läßt doch Rasmus nicht verhungern!« »Stellt euch vor, wenn wir uns alle auf Nicke stürzen – alle auf einmal«, sagte Kalle. »Wenn er mit dem Essen kommt. Glaubt ihr nicht, daß ihr euch so lange an ihn klammern könnt, bis ich geflohen bin?« Eva-Lottes Gesicht leuchtete auf. »Das geht«, sagte sie. »Ich bin sicher, daß es geht. Oh, ich werde endlich Nicke auf den Schädel schlagen! Wie habe ich mich danach gesehnt!« »Ich werde Nicke auch auf den Schädel schlagen«, sagte Rasmus entzückt. Als er sich aber an den Flitzbogen und an die Borkenboote erinnerte, setzte er nachdenklich hinzu: »Trotzdem, so doll werde ich ihn trotzdem nicht schlagen. Er ist ja doch nett …« Die anderen hörten nicht auf ihn. Nicke konnte jederzeit kommen, und es galt, bereit zu sein. »Was willst du nachher machen, Kalle?« fragte Eva-Lotte aufgeregt. »Ich meine, wenn du geflohen bist?« »Ich werde zum Festland schwimmen und die Polizei holen. Der Professor kann sagen, was er will. Wir müssen die Polizei zur Hilfe holen! Das hätten wir schon viel eher tun müssen!« Eva-Lotte schauderte zusammen. »Jaja«, sagte sie. »Nur weiß keiner, was Peters tun wird, bevor die Polizei die Insel erreicht hat.« »Schsch!« machte Anders warnend. »Jetzt kommt Nicke.« Lautlos sprangen sie zur Tür und stellten sich neben ihr zu beiden Seiten auf. Sie hörten Nickes Schritte näher kommen, und sie hörten das Klappern des Blechtabletts, das er trug. Sie hörten, wie sich der Schlüssel im Schloß drehte, und sie spannten jeden Nerv und jeden Muskel in ihrem Körper. Jetzt – jetzt galt es! »Hier bringe ich Rührei für dich, kleiner Rasmus«, rief Nik-ke, während er öffnete. »Das magst du doch …« Er bekam nie heraus, ob Rasmus Rührei mochte. Denn in dieser Sekunde stürzten sie sich über ihn. Das Blechtablett fiel polternd zu Boden, und das Rührei spritzte umher. Sie hängten sich an seine Arme und Beine, warfen ihn um, schlugen ihn, krabbelten über ihn, saßen auf ihm, zogen ihn an den Haaren und drückten seinen Kopf auf den Boden. Nicke brummte wie ein verwundeter Löwe, und mit kleinen, kurzen Freudenschrei-en hüpfte Rasmus um die Kämpfenden herum. Das war ja schon fast der Krieg der Rosen, und er sah es als seine Pflicht an mitzumachen. Er zögerte etwas, denn Nicke war ja trotz allem sein Freund. Aber nach kurzer Überlegung ging er vor und gab ihm einen ordentlichen Tritt in den Hintern. Anders und Eva-Lotte kämpften wie nie zuvor, und Kalle sprang blitzschnell aus der Tür. Alles war in wenigen Sekunden vor sich gegangen. Nicke hatte Riesenkräfte, und als er sich von der Überraschung erholt hatte, brauchte er nur mit den Armen zu schütteln, um wieder frei zu sein. Verwirrt und böse stand er auf und sah sofort, daß Kalle verschwunden war. Er sprang zur Tür und wollte sie öffnen. Aber die Tür war verschlossen. Einen Augenblick stand er da und starrte wie blöde die Tür an. Dann warf er sich mit seinem ganzen Körper gegen die Türfül-lung, aber die war stabil und bewegte sich nicht um Haaresbreite. »Wer zum Teufel hat die Tür abgeschlossen?« schrie er wild. »Welcher Satan hat …« Immer noch hüpfte Rasmus umher, froh und munter jubelte er seine kleinen spitzen Entzückungsschreie hervor. »Das war ich«, schrie er. »Das war ich! Kalle lief raus, und dann habe ich abgeschlossen.« Nicke packte ihn fest am Arm. »Wo hast du den Schlüssel, kleiner Lümmel?« »Au, das tut weh«, sagte Rasmus. »Laß mich los, dummer Nicke!« Nicke schüttelte ihn noch einmal. »Wo du den Schlüssel hast, will ich wissen!« »Den Schlüssel, den habe ich aus dem Fenster geschmissen, bitte sehr!« sagte Rasmus. »Bravo, Rasmus!« schrie Anders. Eva-Lotte lachte laut und zufrieden auf. »Jetzt kannst du mal sehen, kleiner Nicke, wie es ist, wenn man gefangen ist«, sagte sie. »Ja, und es muß außerdem sehr lustig sein, zu hören, was der Peters dazu sagen wird«, meinte Anders kichernd. Nicke setzte sich schwer auf die nächste Bank. Es war deutlich zu sehen, daß er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Als er das getan hatte, brach er in ein plötzliches und unerwartetes schallendes Gelächter aus. »Ja, das wird lustig werden, zu hören, was der Chef dazu sagen wird.« Er lachte. »Das wird sicher lustig werden!« Dann wurde er wieder ruhig. »Aber das ist ja ein großes Unglück! Ich muß den Bengel erwischen, ehe er irgend etwas anstellen kann.« »Bevor er die Polizei holen kann, meinst du!« sagte Eva-Lotte. »In dem Fall mußt du dich schon etwas beeilen, kleiner Nicke.« DREIZEHNTES KAPITEL Ein frischer westlicher Wind, der von Minute zu Minute stärker wurde, fegte dumpf brausend über die Tannenspitzen und trieb kleine, zitternde, schaumige Wellen durch den Sund, der die Insel vom Festland trennte. Kalle, der nach dem schweren Kampf mit Nicke und dem rasenden Lauf immer noch schwer atmete, stand am Ufer und sah verzweifelt auf das wild bewegte Wasser. Ohne sein Leben aufs Spiel zu setzen, konnte hier ein Sterblicher nicht hinüberschwimmen. Selbst mit einem kleinen Ruderboot wäre es eine heikle Angelegenheit gewesen. Außerdem hatte er kein Boot. Im vollen Tageslicht wagte er sich auch nicht zur Anlegestelle, und sicher lag dort auch kein Boot, das nicht angeschlossen war. Wieder einmal war Kalle völlig ratlos. Er begann, all die vielen Widerstände, die sich vor ihm aufhäuften, langsam satt zu haben. Hier gab es keine Möglichkeit als abzuwarten, bis der Wind zurückging – und das konnte Tage dauern. Wo sollte er während dieser Zeit bleiben, und wovon sollte er leben? In die Hütte konnte er nicht zurück. Dort würden sie zuerst nach ihm suchen. Nahrungsmittel hatte er auch nicht mehr, die hatten die Kidnapper beschlagnahmt. Schlimmer konnte es wirklich nicht mehr werden, dachte Kalle, während er ängstlich und unentschlossen zwischen den Bäumen umherirrte. Jederzeit konnte Nicke hinter ihm her sein. Da hörte er durch den Wind laute Hilferufe aus Eva-Lottes Häuschen. Der kalte Angstschweiß legte sich auf seine Stirn.  Bedeuteten die Rufe, daß Peters gerade jetzt auf irgendeine teu-flische Weise sich an den anderen für seine Flucht rächte? Der Gedanke daran machte ihn knieschwach. Er mußte herausbekommen, was dort oben geschah. Auf Schleichwegen kehrte er dorthin zurück, woher er eben gekommen war. Je mehr er sich dem Haus näherte, desto besser konnte er die Stimmen unterscheiden, und zu seinem Erstaunen hörte er, daß es Nicke war, der um Hilfe rief. Nicke und manchmal Rasmus. Was in aller Welt taten Anders und Eva-Lotte nur mit Nicke, daß er auf diese Weise schrie? Kalles Neugierde trieb ihn, das zu erfahren, selbst wenn es sehr riskant war. Zum Glück ging ja der Wald bis zum Haus. Mit etwas Geschick konnte man bis vor Eva-Lottes Fenster schleichen, ohne gesehen zu werden. Kalle schlängelte sich zwischen den Tannen vorwärts. Jetzt war er schon so dicht heran, daß er Nicke über irgend etwas im Haus toben und fluchen hören konnte. Er hörte auch die zufriedenen Stimmen der anderen. Nicke, das war klar, wurde nicht mehr mißhandelt – weshalb war er also so wild? Und warum blieb er in dem Haus, anstatt draußen nach Kalle zu suchen? Und was lag dort vor Kalles Nase und glänzte aus den Tannen-nadeln hervor? Es war ein Schlüssel. Kalle hob ihn auf und betrachtete ihn genau. Konnte es der Schlüssel zu Eva-Lottes Haus sein? Wie war er hierhergekommen? Ein neues Geschrei von Nicke beantwortete Kalles Fragen. »Peters, Hilfe!« schrie Nicke. »Die haben mich eingeschlossen. Kommen Sie, schließen Sie auf!« Kalle lachte leise. Nicke war mit seinen Gefangenen eingeschlossen. Das war ein Punkt für die Weiße Rose. Zufrieden steckte Kalle den Schlüssel in die Hosentasche. Da hörte er auch schon, wie Peters, Blom und Svanberg an gelaufen kamen. Er wurde steif vor Schreck. In einigen Minuten würden sie Wettjagen auf ihn machen, und sie würden ihn suchen wie nie zuvor. Denn das mußte Peters einen entsetzlichen Stich geben – daß Kalle wieder auf freiem Fuß war. Es würde ihm sofort klar sein, daß Kalle mit allen Mitteln versuchen würde, Hilfe herbeizuschaffen. Deshalb gab es für Peters nichts Wichtigeres, als um jeden Preis zu verhindern, daß Kalle die Insel verließ. Er würde diesmal vor nichts zurückschrecken, das wußte Kalle, und diese Gewißheit ließ ihn unter der Sonnenbräune blaß werden. Da lag er und horchte voller Angst auf die laufenden Männer, die sich näherten. Er mußte ein Versteck für sich finden, er mußte es sofort finden, innerhalb weniger kostbarer Sekunden. Da sah er es, gerade vor seinen Augen. Ein märchenhaftes Versteck. Dort würde man ihn vorerst nicht suchen. Unter dem Haussockel war eben so viel Platz, daß man einigermaßen bequem liegen konnte. Nur hier auf der Rückseite war der Haussockel so hoch, weil das Haus auf einem Abhang, gegen die See zu, lag. Am Sockel wuchs hohes Gras und große Mengen von rotem Phlox, die einen recht gut davor schützten, gesehen zu werden, falls doch jemand den Einfall bekam, auf der Rückseite des Hauses zu suchen. Flink wie ein Wiesel kroch Kalle, so weit er kommen konnte, unter den Sockel. Wenn sie hier nach mir suchen, sind sie nicht normal, dachte er. Wenn sie nur etwas Verstand im Kopf hatten, dann suchten sie doch wohl einen Flüchtling so weit wie möglich von seinem Gefängnis entfernt und nicht direkt unter seinem Gefängnisfußboden. Er lag da und hörte das Erdbeben, das losbrach, als Peters die Zusammenhänge begriffen hatte: daß Nicke eingeschlossen und Kalle verschwunden war. »Lauft!« schrie Peters wie ein Wahnsinniger. »Lauft und packt ihn! Kommt mir nicht ohne ihn zurück, oder ich übernehme keine Verantwortung für das, was ich tun werde!« Blom und Svanberg liefen los, und Kalle hörte, wie Peters fluchend einige Schlüssel probierte und dann mit einem die Tür zu den Gefangenen öffnete. Und dann gab es über seinem Kopf ein noch größeres Erdbeben. Der arme Nicke verteidigte sich standhaft, aber Peters war nicht zu halten. Eine Schimpfkano-nade von solchem Ausmaß hatte Nicke sicher noch nie über sich ergehen lassen müssen. Sie nahm und nahm kein Ende, jedenfalls nicht, bevor sich Rasmus einmischte. »Daß du so ungerecht sein kannst, Peters«, sagte er. Kalle konnte die kleine feste Stimme so deutlich hören, als wäre er selbst im Zimmer. »Immer und immer bist du ungerecht. Nicke kann doch wohl nichts dafür, wenn ich die Tür abgeschlossen und den Schlüssel zum Fenster rausgeworfen habe.« Peters antwortete nur mit einem dumpfen Gebrüll. Dann schrie er Nicke an: »Raus mit dir und den Kerl gesucht! Ich werde sehen, ob ich den Schlüssel finde.« Kalle zuckte zusammen. Wenn Peters den Schlüssel suchte, konnte er seinem Versteck gefährlich nahe kommen, ganz gefährlich nahe. Es war wirklich ein Hundeleben. Praktisch mußte man jeden Augenblick mit neuen Gefahren rechnen. Kalle dachte und handelte schnell. Er hörte, wie Nicke fortrannte und Peters die Tür abschloß. Zur selben Zeit verließ er sein Versteck und sprang hinter einen dicken Baum. Und als er Peters um die Hausecke biegen sah, lief er lautlos zum Eingang, den Peters gerade verlassen hatte. Kalle nahm den Türschlüssel aus der Hosentasche, und zum unvorstellbaren Erstaunen von Eva-Lotte und Anders kam er durch die Tür, keine ganze Minute später, nachdem sie Peters und Nicke dort hatten verschwinden sehen. »Nun bist du ruhig«, sagte Eva-Lotte mit leiser Stimme zu Rasmus, denn es sah aus, als wolle er sich zu Kalles unerwarteter Rückkehr äußern. »Ich habe doch gar nichts gesagt«, brummelte Rasmus beleidigt. »Aber wenn Kalle …« »Sch«, sagte Anders und zeigte warnend auf Peters, der draußen in allernächster Nähe des Fensters herumwühlte und deutlich verärgert war, dort keinen Schlüssel zu finden. »Eva-Lotte, singe«, flüsterte Kalle, »damit Peters nicht hört, wenn ich die Tür zuschließe.« Und Eva-Lotte stellte sich vor dem Fenster auf und sang aus vollem Hals: »Glaubst du denn, daß ich ver-lo-o-o-ren bin, Noch lange nicht, oh-ho-ho nein, no-o-och lange nicht …« Dieser schöne Gesang schien Peters keine rechte Freude zu bereiten. Er sah irritiert zum Fenster. »Ruhe mit dir!« schrie er und suchte dann weiter. Mit einem Ast stöberte er im Gras unter dem Fenster herum und bog die Blumen beiseite. Sie konnten ihn still vor sich hin fluchen hören, denn einen Schlüssel fand er nicht. Dann gab er das Suchen auf und verschwand. Atemlos standen sie da. Horchten und warteten. Würde er nach Haus gehen oder zu ihnen zurückkommen und Kalle finden? Sie horchten, bis sie das Gefühl hatten, ihre Ohren stächen wie Hörrohre aus ihren Schädeln. Horchten und hofften schon … Aber dann hörten sie doch Peters’ Schritte vor der Tür. Er kam zurück, o du guter Moses, er kam zurück! Sie starrten sich an, vollkommen aufgelöst, vollkommen bleich, vollkommen außerstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Kalle bekam zuerst seine Fassung wieder. Mit einem Schritt sprang er hinter den großen Vorhang, der die Waschgelegen-heit verdeckte, gleich danach wurde die Tür geöffnet, und Peters kam herein. Eva-Lotte blieb stehen und schloß die Augen. Nimm ihn fort, dachte sie, nimm ihn fort, oder ich überlebe es nicht … Und wenn Rasmus jetzt anfängt zu reden … »Ihr sollt Schläge kriegen, sobald ich Zeit habe«, sagte Peters. »Schläge sollt ihr bekommen, daß es nur so pfeift. Aber erst, wenn ich zurückkomme. Und wenn ihr euch bis dahin nicht völlig ruhig verhaltet, sollt ihr noch einmal so viel Schläge haben. Habt ihr verstanden?« »Ja, vielen Dank«, sagte Anders. Rasmus kicherte. Er hatte gar nicht auf das gehört, was Peters gesagt hatte. Er war nur von einem Gedanken besessen – daß Kalle hinter dem Vorhang stand! War das nicht das allerschönste Versteckspiel? Eva-Lotte folgte ängstlich seinem Mienenspiel. Schweig, Rasmus, schweig, bat sie beschwörend in sich selbst. Aber Rasmus hatte ihr inneres Gebet wohl nicht gehört. Er kicherte unheilverkündend. »Warum kicherst du?« fragte Peters böse. Rasmus sah ihn froh und geheimnisvoll an. »Das wirst du niemals raten können …« fing er an. »Diesmal wachsen aber besonders viele Blaubeeren hier auf der Insel!« schrie Anders mit hoher, sich beinahe überschlagen-der Stimme. Er hätte so gern mehr geschrien, aber in seiner Seelennot fiel ihm nichts mehr ein. Peters sah ihn voller Abscheu an. »Willst du witzig sein?« fragte er. »Das kannst du dir sparen.« »Haha, Peters«, fuhr Rasmus unbeirrt fort, »du weißt nicht, wer …« »Ich finde, es gibt nichts Schmackhafteres als Blaubeeren«, schrie Anders noch lauter. Peters schüttelte den Kopf. »Ganz klug scheinst du nicht zu sein«, sagte er. »Aber das macht nicht viel aus. Ich gehe jetzt. Ich will euch nur noch einmal warnen: Stellt nicht noch mehr Unfug an.« Er ging zur Tür. Aber er zögerte, bevor er ging. »Ist ja wahr«, sprach er halblaut zu sich selbst. »Vielleicht sind hier ein paar Rasierklingen im Toilettenschrank.« Toilettenschrank – der war an der Wand. Hinter dem Vorhang. »Rasierklingen!« brüllte Eva-Lotte. »Rasierklingen – ist ja ulkig, die habe ich – alle aus Versehen aufgegessen – ich meine –ich – ach ja, ich habe sie verschluckt, bestimmt. Und dann habe ich auf den Rasierpinsel gespuckt.« Peters starrte sie mit gesenktem Kopf an. »Eure Eltern, die können einem leid tun«, sagte er leise, drehte sich um und verschwand. Wieder waren sie allein. Sie saßen zu dritt auf einer Bank und unterhielten sich mit leiser Stimme über das, was geschehen war. Auf dem Boden vor ihnen hockte Rasmus und ließ sich kein Wort entgehen. »Es stürmt zu sehr«, sagte Kalle. »Wir können nichts anfangen, bevor es sich aufgeklärt hat.« »Manchmal gibt es sogar Windstärke neun«, sagte Anders als kleine Ermunterung. »Was willst du tun, während du wartest?« fragte Eva-Lotte beunruhigt. »Ich werde wie eine Kröte unter dem Haussockel liegen«, sagte Kalle. »Und wenn Nicke den letzten Rundgang gemacht hat, komme ich zu euch, esse und schlafe hier.« Anders lachte: »Wenn wir das alles doch bloß einmal mit den Roten machen könnten, es wäre zu schön.« So saßen sie lange Zeit. Aus dem Wald klang das Rufen und Schreien von Peters, Nicke und Blom, die dort nach Kalle suchten. »Ja, sucht nur«, sagte Kalle grimmig. »Mehr als Blaubeeren werdet ihr dort nicht finden.« Es wurde Abend, und es wurde dunkel. Kalle konnte schon nicht mehr in der Enge unter dem Sockel liegen. Er mußte raus und sich bewegen, bevor ihm Arme und Beine endgültig ein-schliefen. Zu den anderen hineinzugehen, war es noch zu früh. Nicke hatte die Abendrunde noch nicht gemacht. Leise und vorsichtig ging Kalle im Dunkeln auf und ab. Er sah im Hause bei Peters Licht. Das Fenster war offen, und er hörte ein schwaches Gemurmel von Stimmen. Wor- über sprachen sie da drinnen? Wenn man sich ganz, ganz leise heranschlich und unter das Fenster stellte, vielleicht konnte man das eine oder andere Nützliche hören. Er schlich näher. Immer einen Schritt nach dem anderen. Horchte immer zwischen zwei Schritten und stand dann endlich unter dem Fenster. »Ich habe das Ganze satt«, hörte er Nicke mit unwirscher Stimme sagen. »Ich habe das alles bis in die Fußspitzen satt, ich will nichts mehr damit zu tun haben.« Und dann Peters ruhig und eiskalt: »Aha, du willst nichts mehr damit zu tun haben! Und warum, wenn ich fragen darf?« »Weil es nicht recht ist, mit Kindern so umzuspringen.« »Sieh dich vor, Nicke«, sagte Peters. »Ich brauche dir wohl nicht erst zu schildern, wie es dir ergehen wird, wenn du versuchst abzuspringen.« Eine Weile war es still. Dann sagte Nicke schließlich gräm-lich: »Na ja, natürlich, ich weiß schon.« »Na also«, fuhr Peters fort. »Und ich warne dich, noch mehr Dummheiten zu machen. Du sprichst so närrisch, daß man dich fast im Verdacht haben könnte, du hättest den Jungen absichtlich laufenlassen.« »Nu hör aber mal, Chef«, fuhr Nicke auf. »Sicher, sicher, so dumm kannst ja nicht einmal du sein«, sagte Peters. »Sogar du müßtest doch verstehen, was es für uns bedeutet, wenn er geflohen ist.« Nicke antwortete nicht. »Nie in meinem Leben habe ich solche Angst ausgestanden«, sprach Peters weiter. »Wenn das Flugzeug nicht bald kommt, wird alles schiefgehen, davon kannst du überzeugt sein.« Flugzeug? Kalle spitzte die Ohren. Was für ein Flugzeug sollte da kommen? Sein Nachdenken wurde unterbrochen. Durch die Dunkelheit kam jemand, jemand mit einer Taschenlampe. Er kam aus dem kleinen Haus, das vor dem Felsen lag, auf dem das Haus des Professors stand. Sicher ist es Blom oder Svanberg, dachte Kalle, als er sich fest gegen die Hauswand preßte. Aber er brauchte keine Angst zu haben. Der Mann hatte es eilig, und einen Augenblick später hörte Kalle, wie er im Haus zu den anderen sprach. »Das Flugzeug trifft morgen früh sieben Uhr hier ein«, hörte er ihn sagen und erkannte Bloms Stimme. »Gott sei Dank!« sagte Peters. »Ich bin froh, hier wegzukommen. Hoffentlich wird das Wetter so, daß sie landen können.« »Doch, sicher, das Wetter klärt sich weiter auf«,beruhigte Blom. »Die wollen einen neuen Bericht haben, bevor sie starten.« »Gib ihn durch«, sagte Peters. »Hier in der Bucht wird das Wetter ja auf jeden Fall so sein, daß sie auf das Wasser runtergehen können. Und du, Nicke, sieh zu, daß du den Kleinen bis sieben Uhr fertig hast!« Kleinen – damit war natürlich Rasmus gemeint! Kalle ballte die Fäuste. Aha, nun sollte alles beendet werden. Rasmus sollte fort von hier. Er würde weit weg sein, bevor es Kalle gelang, ir-gendwelche Hilfe herbeizuholen. Armer kleiner Rasmus, wo will man mit dir hin? Und was werden sie mit dir machen? Es war eine Schweinerei! Man konnte denken, Nicke habe Kalles Gedanken gehört. »Schweinerei!« sagte er. »Das ist eine Schweinerei. Ein armer kleiner Junge, der nichts Böses getan hat. Ich habe absolut keine Lust, dabei zu helfen. Den setzen Sie man selbst ins Flugzeug, Chef!« »Nicke«, sagte Peters, und seine Stimme war beängstigend scharf und schneidend, »ich habe dich gewarnt, und jetzt warne ich dich zum letzten Mal. Sieh zu, daß der Junge morgen früh um sieben Uhr fertig ist!« »Zum Teufel!« sagte Nicke. »Chef, Sie wissen ebenso gut wie ich, daß das Wurm dabei umkommen kann, und Sie wissen auch, daß der Professor vor die Hunde geht!« »Oh, das weiß ich noch nicht so genau«, sagte Peters leichthin. »Wenn der Professor sich vernünftig benimmt … übrigens gehört das nicht hierher.« »Zum Teufel!« sagte Nicke noch einmal. Kalle hatte einen Kloß im Hals. Er war so traurig, alles war so ohne Hoffnung. Sie hatten versucht, wirklich versucht, mit all ihren Kräften versucht, Rasmus und dem Professor zu helfen. Aber es hatte nichts genützt. Diese bösen Menschen gewannen das Spiel. Armer, armer Rasmus. Kalle stolperte voller Verzweiflung durch die Dunkelheit. Er mußte versuchen, den Professor zu sprechen. Er mußte ihn auf das Flugzeug vorbereiten, das sich morgen früh wie ein großer Raubvogel auf die Insel stürzen wollte, um die Klauen in Rasmus zu schlagen. Das auf dem Wasser in der Bucht landen würde, sobald Blom durchgegeben hatte, daß sich das Wetter hin-reichend aufklärte. Kalle blieb plötzlich stehen. Wie gab Blom das eigentlich weiter? Donnerwetter, wie tat er das nur? Kalle pfiff durch die Zähne. Natürlich! Es mußte hier irgendwo auf der Insel eine Sendestation geben! Alle Spione und Schurken, die mit dem Ausland in Verbindung standen, benutzten dazu den Äther. Ein kleiner Gedanke begann in Kalles Gehirn zu arbeiten. Eine Radioanlage – ein Sender, das war genau das, was er selbst jetzt brauchte. Himmel, wo war dieser Sender? Er mußte ihn finden. Vielleicht, vielleicht gab es doch noch eine ganz winzig kleine Chance, etwas Hoffnung. Dort aus dem kleinen Haus war Blom gekommen! Dort lag es vor ihm. Ein schwaches Licht drang aus dem Fenster. Kalle zitterte vor Aufregung. Wie oft hatte diese Insel ihn nicht schon zum Zittern gebracht, dachte er, schlich sich vor und sah durch das Fenster. Er sah keinen Menschen. Aber – größere Wunder waren auf dieser Welt nicht mehr möglich – die Sendestation sah er. Ja, sie war in dem Haus. Kalle fühlte am Türgriff. Unverschlossen – danke sehr, lieber, guter Blom. Vielen Dank, auch wenn du ein Kidnapper bist. Mit einem Satz war Kalle am Sender und ergriff das Mikrophon. Gab es einen Menschen auf dieser großen, weiten, runden Welt, der ihn hören würde? Gab es einen, der sein verzweifeltes Rufen hörte? »Hilfe! Hilfe!« bat er mit leiser, zitternder Stimme. »Hilfe! Hier spricht Karl Blomquist. Wenn mich jemand hört, rufe er sofort Onkel Björk an – ich meine, sofort die Polizei von Kleinköping anrufen und dort sagen, daß sie zur Kalvö kommen und uns retten sollen. – Kalvö heißt die Insel, und sie liegt ungefähr fünfzig Kilometer südöstlich von Kleinköping – und es ist sehr dringend, denn wir sind gekidnappt worden. Beeilt euch und kommt hierher, sonst sind wir verloren. Kalvö heißt die Insel. Anzurufen ist bei der Polizei von Kleinköping und …« Gab es jemanden auf der weiten Welt, der gerade diesen Sender hörte? Jemanden, der gerade jetzt zuhörte und sich wunderte, warum alles im Äther plötzlich wieder still war? Kalle selbst wunderte sich nur, woher die Lokomotive gekommen war, die ihn überfahren hatte. Er wunderte sich, warum es plötzlich in seinem Kopf so weh tat. Dann versank er in einer grenzenlosen Finsternis und brauchte sich über nichts mehr zu wundern. Mit dem letzten kleinen Rest seines Verstandes hörte er von weit her die seltsam hohl klingende, gehässige Stimme seines großen Feindes Peters: »Ich bringe dich um! Verdammter Lümmel! Nicke, los, trag ihn zu den anderen!« VIERZEHNTES KAPITEL »Jetzt müssen wir scharf nachdenken«, sagte Kalle und befühlte vorsichtig die riesige Beule an seinem Hinterkopf. »Genauer gesagt: ihr müßt nachdenken. Mein Schädel sitzt nämlich nicht mehr sicher auf seinem Stengel, glaube ich.« Eva-Lotte kam mit einem feuchten Handtuch, das sie um Kalles Kopf wickelte. »So«, sagte sie, »und nun liegst du ganz ruhig und bewegst dich nicht!« Kalle hatte gar nichts dagegen, still zu liegen. Nach den Stra-pazen der letzten vier Tage und Nächte war es für seinen Körper eine wahre Wohltat, zu liegen. Es war herrlich, wenn auch etwas albern, dazuliegen und von Eva-Lotte bemuttert zu werden. »Ich sitze schon und denke scharf nach«, sagte Anders. »Ich sitze da und denke darüber nach, ob es irgendeinen Menschen gibt, den ich noch mehr hasse als diesen Peters, aber ich finde keinen in meinem Gedächtnis. Nicht einmal den Bastellehrer, den wir im vorigen Jahr hatten. Und der war ja bestimmt seltsam.« »Armer Rasmus«, sagte Eva-Lotte. Sie nahm den Lichthalter und ging zu Rasmus und leuchtete ihn an. Da lag er und schlief so ruhig und zufrieden, als gäbe es keine Bosheit auf der Welt. Im flackernden Lichtschein sieht er wie ein Engel aus, dachte Eva-Lotte. Sein Gesicht war mager geworden, die Backen, die von langen dunklen Augenwimpern beschattet wurden, waren hohl, und der weiche, kindliche Mund, der so viel dummes Zeug zu plappern pflegte, war jetzt unbeschreiblich rührend. Er sah so klein und wehrlos aus, daß Eva-Lottes ganze Mütterlichkeit schmerzhaft zu ihrem Herzen strömte, als ihr das Flugzeug einfiel, das morgen früh kommen sollte. »Können wir wirklich nichts tun?« fragte sie mutlos. »Oh, ich möchte gern Peters irgendwo mit einer Höllenmaschine einsperren«, sagte Anders und kniff blutrünstig seine Lippen zusammen. »Eine nette kleine Höllenmaschine, die so mit einemmal ›Klick‹ sagt – und dann wäre es endlich aus mit dem Knilch!« Kalle lachte leise vor sich hin. »Weil du sagt: einsperren – wir sind ja eigentlich nicht im geringsten eingesperrt. Habe ich denn nicht den Schlüssel? Wir können doch fliehen, wann wir wollen.« »Mensch, guter Moses«, sagte Anders überrascht. »Richtig, du hast ja den Schlüssel! Worauf warten wir noch! Kommt, sausen wir los!« »Nein, Kalle muß ruhig liegenbleiben«, sagte Eva-Lotte besorgt. »Nach so einem Sternenfall darf er nicht einmal den Kopf anheben.« »Wir warten einige Stunden«, sagte Kalle. »Wenn wir Rasmus jetzt in den Wald bringen, brüllt er los, daß man es über die ganze Insel hört. Und hier schlafen wir besser als unter irgendeinem Busch im Wald.« »Du redest so klug, man könnte beinahe glauben, daß dein Gehirn schon wieder funktioniert«, bestätigte Anders. »Ich weiß, was wir machen. Zuerst einige Stunden schlafen und dann so gegen fünf Uhr früh von hier weg. Und dann wollen wir hoffen, daß es sich unterdessen so weit aufgeklärt hat, daß einer von uns zum Festland hinüberschwimmen kann, um Hilfe zu holen.« »Ja, sonst platzt nämlich bestimmt alles«, sagte Eva-Lotte. »Lan-ge Zeit können wir uns auf der Insel nicht versteckt halten. Außerdem weiß ich, wie es mit Rasmus im Wald ist – und ohne Essen.« Anders kroch in seinen Schlafsack, den ihm Nicke gnädigerwei-se gelassen hatte. »Frühstück bitte Punkt fünf Uhr – ans Bett«, sagte er. »Nun möchte ich schlafen.« »Gute Nacht«, sagte Kalle. »Ich spüre in meinen Knochen, daß morgen allerhand passieren wird.« Eva-Lotte legte sich auf ihre Bank. Sie legte die Hände unter den Kopf und starrte an die Decke, wo eine dumme Fliege umher-surrte und jedesmal, wenn sie anstieß, kleine Bumserchen zustande brachte, »Übrigens kann ich Nicke ganz gut leiden«, sagte Eva-Lotte. Dann rollte sie sich auf die Seite und pustete das Licht aus. Für den, der umherirrt und nach einer kleinen Hütte im Walde sucht, ist Kalvö, 53 Kilometer südöstlich von Kleinköping, groß und langgestreckt. Für den, der sich ihr in einem Flugzeug nähert, ist die Insel nichts weiter als ein kleiner, kleiner grüner Punkt in einem blauen Meer, das mit vielen ähnlichen Punkten angefüllt ist. Irgendwo, weit fort, ist gerade jetzt ein Flugzeug gestartet, um die kleine Insel, die dort zwischen vielen ähnlichen im Meer liegt, zu erreichen. Das Flugzeug hat starke Motoren und braucht nur wenige Stunden, um sein Ziel zu erreichen. Sie brummen unaufhörlich und eintönig, die Motoren, und bald kann man auf Kalvö das gleichmäßig mahlende Geräusch hören, das an Stärke zu-nimmt und zu einem betäubenden Donnern wird, als die Maschine auf dem Sund niedergeht. Der Sturm hat sich gelegt, und in der Bucht gleiten die Wellen friedlich dahin, als die Maschine mit einem letzten, erschreckenden Gedröhne über die Wasserfläche dahinrast und dann ruhig vor der Anlegestelle liegenbleibt. Da erwacht Kalle endlich. Und im selben Moment begreift er, daß das Gedröhne nicht vom geträumten Niagarafall her-stammt, sondern von dem Flugzeug, das Rasmus und den Professor holen soll. »Anders! Eva-Lotte! Wacht auf!« Es klingt wie ein Jammerruf und schreckt die anderen augenblicklich aus dem Schlaf. Sie erkennen sofort die ganze Größe des Unglücks. Jetzt müßten sie zaubern, um noch rechtzeitig verschwinden zu können. Kalle wirft einen Blick auf die Uhr und weckt Rasmus. Es ist erst fünf. Was ist das nun wieder für eine neue Mode, zwei Stunden vor der festgesetzten Zeit zu kommen! Selbst auf Flug-zeuge kann man sich nicht verlassen. Rasmus ist müde und will nicht aufstehen, aber sie kümmern sich nicht um seine Proteste. Eva-Lotte streift ihm wenig zart den Overall über, und Rasmus zischt wie ein wütendes Kätz-chen. Anders und Kalle sehen mit ungeduldigen Augen zu. Rasmus wehrt sich kräftig und fängt an zu heulen, bis ihn Anders schließlich am Genick packt und flüstert: »Bilde dir nur nicht ein, daß so ein Heulaugust wie du jemals eine Weiße Rose wird!« Das hilft. Rasmus wird still, und Eva-Lotte zieht ihm schnell und geistesgegenwärtig seine Turnschuhe an. Kalle beugt sich zu ihm und sagt schmeichelnd: »Rasmus, wir wollen doch schön fliehen! Vielleicht sind wir bald wieder in der kleinen hübschen Hütte – du weißt doch noch. Und jetzt mußt du laufen, so schnell du nur kannst!« Sie sind fertig. Kalle springt zur Tür und horcht gespannt. Aber alles ist ruhig. Es sieht aus, als sei der Weg frei. Er sucht in der Hosentasche nach dem Schlüssel. Sucht und sucht … »Nein, nein, nein«, jammert Eva-Lotte, »komm mir jetzt nur nicht damit, daß du den Schlüssel verloren hast!« »Er muß hier sein«, sagt Kalle und ist so aufgeregt, daß seine Hände fliegen. »Er muß hier sein.« Aber soviel er auch wühlt, seine Hosentasche bleibt leer. Er hat nie etwas Leereres gefühlt als diese Hosentasche. Anders und Eva-Lotte schweigen. Sie beißen auf ihren Fingern herum und warten. Die Sekunden gehen. Diese kostbaren Sekunden. Fieberhaft suchen sie den Fußboden ab. »Vielleicht ist er herausgefallen, als man mich gestern abend hierhergetragen hat«, meint Kalle. »Ja, warum sollte er nicht herausgefallen sein«, sagt Eva-Lotte verbittert. »Diese Insel sollte ›Insel der Zufälle‹ heißen. Was soll man hier schon anderes erwarten, als daß ein Schlüssel, den man dringend braucht, so einfach zufällig herausfällt!« Sie suchen weiter. Nur Rasmus sucht nicht mit. Er hat angefangen, mit seinen Borkenbooten zu spielen. Sie fahren über Kalles Bank, und diese Bank ist jetzt der »Große Stille Ozean«. Im Großen Stillen Ozean schwimmt ein Schlüssel, und Rasmus nimmt ihn heraus und läßt ihn Kapitän auf einem Schiff werden, das »Hilda von Göteborg« heißt. Nicke hat dem Boot diesen wundervollen Namen gegeben. So hieß nämlich auch das Schiff, auf dem Nicke vor langer, langer Zeit einmal Leichtmatrose war. Die Sekunden gehen dahin. Kalle, Anders und Eva-Lotte suchen verzweifelt und sind so fertig, daß sie vor Nervosität schreien möchten. Aber Rasmus und der Kapitän auf der »Hilda von Göteborg« sind nicht ein bißchen nervös. Sie segeln über den Großen Stillen Ozean und finden alles herrlich, bis Eva-Lotte mit einem Aufschrei den Kapitän von der Kommando-brücke reißt und die »Hilda von Göteborg« herrenlos ihrem Schicksal in der schweren Brandung überläßt. »Schnell, weg!« ruft Eva-Lotte und gibt Kalle den Schlüssel. Bevor er ihn in das Schloß stecken kann, hört er etwas und wirft einen entsetzten Blick auf die anderen. »Es ist zu spät, sie kommen«, sagt er nur. Eigentlich eine überflüssige Erklärung, denn die Gesichter von Anders und Eva-Lotte zeigen deutlich, daß sie es genauso gut gehört haben wie er selbst. Die Schritte, die sich nähern, haben es eilig, sehr eilig. Die Tür fliegt auf, Peters steht da. Abgehetzt sieht er aus. Er stürzt herein und reißt Rasmus an sich. »Komm«, sagt er brüsk, »komm, beeil dich!« Aber jetzt wird Rasmus über alle Begriffe böse. Was wollen die eigentlich alle, was reißen die nur so herum heute früh? Zuerst den Kapitän von der »Hilda« und jetzt ihn. »Stell dir vor, daß ich das aber nicht will!« schreit er wütend. »Hau ab, blöder Peters!« Da beugt sich Peters zu ihm, und mit einem harten Griff hebt er ihn hoch. Er geht zur Tür. Die Aussicht, von Eva-Lotte, Kalle und Anders weg zu müssen, erschreckt Rasmus maßlos. Er strampelt und schreit: »Ich will nicht – ich will nicht – ich will nicht!« Eva-Lotte schlägt die Hände vors Gesicht und weint. Es ist so fürchterlich. Auch Kalle und Anders können sich kaum beherrschen. Regungslos stehen sie da und sind verzweifelt, und sie hören, wie Peters die Tür abschließt, sie hören ihn gehen und hören das Schreien von Rasmus, das leiser wird, immer leiser und leiser … Aber dann kommt Leben in Kalle. Noch hat er seinen Schlüssel. Sie haben nichts mehr zu verlieren. Sie müssen wenigstens das traurige Ende der Geschichte mit ansehen, um nachher der Polizei davon berichten zu können. Dann, wenn es zu spät ist und Rasmus und der Professor verschwunden sind – irgendwohin, wo die schwedische Polizei sowieso nichts mehr ausrichten kann. Sie liegen hinter dichtem Gebüsch an der Anlegestelle. Dort ist das Wasserflugzeug. Und dort kommen Blom und Svanberg mit dem Professor. Der Gefangene, dem die Arme auf dem Rücken gebunden sind, leistet keinen Widerstand. Er wirkt beinahe apathisch. Er läßt sich in das Boot stoßen, das ihn zum Flugzeug bringt, klettert ins Flugzeug, setzt sich und starrt aus-druckslos vor sich hin. Dort kommt Peters aus seinem Haus gelaufen. Er trägt immer noch Rasmus, und Rasmus strampelt und schreit noch genauso laut und herzzerreißend wie vorher. »Ich will nicht – ich will nicht – ich will nicht!« Schnell läuft Peters über den Steg auf das Boot zu, das sie zum Flugzeug bringen soll. Als der Professor seinen Sohn sieht, zeigt sein Gesicht so viel Verzweiflung, wie es die unsichtbaren Zuschauer nicht für möglich gehalten hätten. »Ich will nicht – ich will nicht!« brüllt Rasmus. In rasender Wut schlägt Peters ihm ins Gesicht, um ihn zum Schweigen zu bringen, aber wilder und lauter als zuvor brüllt jetzt Rasmus: »Ich will nicht – ich will nicht!« Da steht plötzlich Nicke auf dem Steg. Sie haben gar nicht gesehen, woher er kam. Er ist rot im Gesicht, und seine Hände sind zu Fäusten geballt. Aber er rührt sich nicht, steht nur still und sieht Rasmus mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Sorge und Mitleid in den Augen nach. »Nicke!« schreit Rasmus. »Hilf mir, Nicke! Nicke, hörst du mich denn nicht?« Die kleine schreiende Stimme bricht; er weint haltlos und reckt die Hände zu seinem Nicke, der so nett war und so schöne Borkenboote für ihn geschnitzt hat. Und dann geschieht es. Wie ein großer, wilder, rasender Stier stürmt Nicke über den Steg. Kurz vor dem Boot hat er Peters eingeholt, und mit einem Stöhnen reißt er Rasmus an sich. Er gibt Peters einen Schwinger unter das Kinn, und Peters tau-melt. Bevor er zu sich kommt, ist Nicke mit großen Sprüngen auf und davon. Peters schreit ihm nach, und Eva-Lotte schaudert zusammen, denn so einen Schrei hat sie noch nie gehört. »Bleib stehen, Nicke! Sonst schieße ich dich über den Haufen!« Aber Nicke bleibt nicht stehen. Er drückt Rasmus nur noch fester an sich und läuft auf den Wald zu. Da fällt ein Schuß. Und noch einer. Aber Peters ist wohl zu aufgeregt, um richtig zielen zu können. Nicke läuft weiter und ist bald zwischen den Bäumen verschwunden. Der Wutschrei, den Peters ausstößt, ist kaum noch menschlich zu nennen. Er winkt Blom und Svanberg. Zusammen rennen sie dann dem Ge-flohenen nach. Kalle, Anders und Eva-Lotte bleiben hinter dem Gebüsch liegen und starren entsetzt zum Wald. Was geschieht dort zwischen den Bäumen? Ein schreckliches Gefühl, nichts sehen zu können – nur Peters’ schauderhafte Stimme zu hören, die flucht und schreit und langsam immer tiefer im Walde verklingt. Kalle sieht in die andere Richtung. Zum Flugzeug. Immer noch sitzt der Professor mit dem Piloten, der ihn bewacht, in der Maschine. Sonst ist niemand mehr da. »Anders«, flüstert Kalle, »borg mir dein Messer.« Anders zieht das Lappenmesser aus dem Gürtel. »Was hast du vor?« flüstert er zurück. Kalle betastet prüfend die Messerschneide. »Sabotage!« sagt er. »Sabotage am Flugzeug. Habe ich mir gerade eben ausgedacht.« »O ja, du, mit dem buckligen Schädel ist das tadellos ausgedacht«, flüstert Anders ermunternd. Kalle hat die Kleider ausgezogen. »In einer Minute oder so – einige kräftige Schreie«, sagt er zu den anderen, »damit der Pilot abgelenkt wird.« Kalle macht sich auf den Weg. In weitem Bogen schleicht er zwischen den Bäumen zur Anlegestelle. Und als Eva-Lotte und Anders ihren Indianerschrei ausstoßen, springt er die freiliegen-den Meter bis zum Steg und schlüpft ins Wasser. Er hat richtig gerechnet, der Pilot blickt wachsam in die Richtung, aus der der Schrei kam, und sieht deshalb den schlanken Jungenkörper nicht, der wie ein Blitz vorbeischießt. Kalle schwimmt unter der Brücke. Lautlos, wie es so oft im Krieg der Rosen geübt worden ist. Dann von der Brücke aus noch einige Schwimmstöße unter Wasser, und er hat das Flugzeug erreicht. Vorsichtig sieht er nach oben. Der Pilot ist durch die offene Kabinentür zu sehen. Er sieht auch den Professor, und, was mehr ist, der Professor sieht ihn. Noch immer starrt der Pilot zum Wald hin, ohne etwas zu entdecken. Kalle hebt das Messer und macht einige stechende Bewegungen in die Luft hinein, damit der Professor versteht, was er vorhat. Der Professor versteht. Er begreift sofort, was er selbst zu tun hat. Wenn Kalle mit dem Messer am Flugzeug etwas vorhat, wird ohne Zweifel einiges Geräusch entstehen, das dem Piloten nicht entgehen kann, falls er nicht von einem noch stärkeren Geräusch abgelenkt wird. Der Professor übernimmt also die »noch stärkeren Geräusche«, Er fängt an zu schreien und zu lärmen und stampft mit den Füßen auf dem Kabinenboden herum. Der Pilot mag gerne glauben, daß der Professor verrückt geworden ist – daß er es noch nicht ist, wundert ihn selbst. Beim ersten lauten Schrei seines Gefangenen fährt der Pilot erschrocken hoch. Es erschreckt ihn, weil es so unerwartet kommt. Und weil er einen Schreck bekommen hat, wird er böse. »Halt’s Maul!« sagt er in einem eigentümlich fremden Tonfall. Er kann nicht viel Schwedisch. Aber so viel kann er jedenfalls. »Halt’s Maul, du!« sagt er noch einmal, und der eigentümliche Tonfall macht, daß es eigentlich recht gemütlich wirkt. Aber der Professor schreit und trampelt nur noch heftiger. »Ich mache Lärm, so viel ich will!« schreit er, und er empfindet es jetzt als etwas sehr Schönes, zu trampeln und Krach zu machen. Es erleichtert die Anspannung seiner Nerven. »Halt’s Maul, du«, sagt der Pilot, »oder ich schlage Nase ab von dir!« Der Professor aber schreit, und unten im Wasser arbeitet Kalle, schnell und mit Methode. Genau vor sich hat er den linken Schwimmer, und er stößt das Messer wieder und wieder durch das leichte Metall, bohrt und stößt überall dort, wo er hinlangen kann. Und bald sickert das Wasser durch die vielen kleinen Löcher. Kalle ist mit seiner Arbeit zufrieden. »Ja, ja, ihr hättet schon Nutzen von dem unzerstörbaren Leichtmetall«, denkt er. »Jedenfalls hier hättet ihr es gut gebrauchen können.« Dann schwimmt er wieder zurück. »Halt’s Maul, du!« sagt der Pilot. Und diesmal gehorcht sein Gefangener. FÜNFZEHNTES KAPITEL Es ist sechs Uhr morgens, ein Dienstag und laut Kalender der erste August. Über Kalvö scheint die Sonne, das Wasser ist blau, das Heidekraut beginnt schon zu blühen, und das Gras ist feucht vom Tau. Da hören sie einen Schuß! Irgendwo im Wald hat jemand geschossen. Weit weg, sehr weit weg. Aber in der Stille des Morgens ertönten der Schuß und das Echo laut und unheilverkündend, und der Knall traf die Trommelfelle so schmerzhaft deutlich und scharf, daß einem davon himmelangst wurde. Man wußte ja nicht, welches Ziel diese Kugel getroffen hatte. Man wußte nur, daß Rasmus und Nicke sich dort mit einem furchtbaren Menschen, der bewaffnet war, aufhielten. Und man konnte nichts dagegen tun. Nur warten, wenn man auch nicht wußte, worauf. Warten, daß irgend etwas geschah, was diese entsetzliche Situation veränderte. Warten in alle Ewigkeit! Es war, als ginge eine Lebenszeit vorbei. Sollte es immer so bleiben: frühe Morgensonne über einer Anlegestelle, ein Wasserflugzeug, das auf den Wellen schaukelt, eine kleine Bachstelze, die zwischen dem Heidekraut einhertrippelt, Ameisen, die über einen Stein kriechen – und man liegt auf dem Bauch und wartet? Soll das wirklich bis in alle Ewigkeit so bleiben? Anders hat gute Ohren, er hört es zuerst. »Ich höre etwas«, sagt er. »Würde mich sehr wundern, wenn das kein Motorboot ist.« Die anderen lauschen. Tatsächlich – ein ganz schwaches Geknatter ertönt irgendwo draußen auf dem Wasser. In diesen verlassenen Schären, die von Gott und den Menschen vergessen scheinen, ist das schwache Knattern der erste Laut, der von der Außenwelt zu ihnen dringt. In den fünf Tagen, die sie nun auf der Insel sind, haben sie keinen fremden Menschen, kein Motorboot, nicht einmal einen Kahn mit einem Fischer gesehen. Jetzt ist dort irgendwo ein Motorboot, das fährt. Kommt es hierher? Wer weiß? Hier sind so viele Buchten, es gibt tausend Möglichkeiten, daß das Boot woanders hin will. Aber wenn es kommt – kann man dann nicht auf den Steg laufen und mit aller Kraft seiner Lungen schreien: »Kommt her, kommt her, bevor es zu spät ist!« Wenn es aber nun eine kleine Urlaubsgesellschaft ist, die mit dem Boot vorbeifährt, die winkt und lacht und weiterfährt und gar nicht daran denkt, näher zu kommen und zu fragen, was los ist? Die Ungewißheit und Spannung wird jeden Augenblick schwerer zu ertragen. Sie lauschen angestrengt auf das Geknatter drau- ßen auf dem Wasser. Und es kommt näher. Bald können sie das Boot weit, weit draußen sehen. Das Boot? Es sind doch wohl zwei! Aber aus dem Wald kommt auch etwas. Es ist Peters. Dicht hinter ihm Blom und Svanberg. Sie rennen zur Anlegestelle, als gälte es das Leben. Vielleicht haben sie auch die Motorboote gehört und haben jetzt Angst. Nicke und Rasmus sind nicht zu sehen. Bedeutet das – nein, sie wagen nicht, daran zu denken, was es bedeuten könnte! Ihre Augen verfolgen Peters. Er ist in das Ruderboot gesprungen und rudert auf das Flugzeug zu. Dann klettert er in die Kabine hinauf und wendet sich zu Blom und Svanberg, die verlassen am Steg stehen – für sie ist in der kleinen Kabine wohl kein Platz mehr. »Versteckt euch im Wald! Ihr werdet abends abgeholt!« Der Propeller dreht sich. Das Flugzeug fängt an auf dem Wasser zu gleiten, dann beginnt es zu kreiseln, und Kalle beißt sich vor Aufregung auf die Lippen. Jetzt wird es sich zeigen, ob seine Sabotage geglückt ist. Das Flugzeug zieht Kreise auf dem Wasser. Immer nur Kreise. Aber es erhebt sich nicht. Schwer neigt es sich auf die linke Seite, neigt sich tiefer und tiefer und kippt um. »Hurra!« schreit Kalle, alles andere vergessend. Aber dann denkt er an den Professor, der sich ja auch in dem Flugzeug befindet, und als er sieht, wie es sinkt, wird er unruhig. »Kommt!« schreit er den anderen zu. Und sie stürzen aus dem Gebüsch, eine wilde kleine Heerschar, die lange im Hinterhalt gelegen hat. Das Flugzeug ist draußen im Sund gesunken. Es ist nicht mehr zu sehen. Einige Menschen schwimmen im Wasser. Aufgeregt zählt Kalle. Ja, es sind drei. Und ganz plötzlich sind die Motorboote da. Die Motorboote, die sie beinahe vergessen hatten. Und, guter Moses, wer ist es, der dort vorn im ersten steht? »Onkel Björk! Onkel Björk! Onkel Björk!« Sie schreien, daß ihnen fast die Stimmbänder platzen. »Oh, es ist Onkel Björk«, schluchzt Eva-Lotte, »oh, wie gut, daß er hier ist!« »Und die vielen Polizisten, die er bei sich hat!« schreit Kalle begeistert und erleichtert zugleich. Draußen im Sund herrscht ein einziges Durcheinander. Sie sehen nur ein Gewimmel von Uniformen und Rettungsringen, die ausgeworfen werden, und Menschen, die aus dem Wasser gezogen werden. Zumindest sehen sie zwei, die herausgefischt werden. Aber wo ist der dritte? Der dritte schwimmt auf das Ufer zu. Es scheint, als habe er keine Hilfe nötig. Er will sich selbst retten. Ein Motorboot nimmt Kurs auf ihn. Aber der Mann hat schon einen zu großen Vorsprung. Er erreicht den Anlegesteg. Klettert daran hoch und kommt mit langen, weiten Sätzen genau auf die Stelle zu, wo Anders, Kalle und Eva-Lotte sind. Sie haben sich wieder hinter den Büschen versteckt, denn der Näherkommende sieht an-griffslustig aus, und sie haben Angst vor ihm. Nun ist er schon dicht bei ihnen, und sie können seine Augen sehen, die voller Raserei, Angst und Haß sind. Aber er sieht nichts. Er sieht die kleine Heerschar hinter dem Busch nicht. Er weiß nicht, daß seine erbittertsten Feinde in allernächster Nähe sind. Und wie er an ihnen vorüberläuft, streckt sich ein Jungen-bein vor seine Füße. Mit einem Fluch fällt er kopfüber nach vorn. Und dann sind sie über ihm, seine Feinde, alle drei zu gleicher Zeit. Sie werfen sich auf ihn, halten seine Arme und Beine fest, drücken seinen Kopf in den weichen Sand und brüllen: »Onkel Björk, Onkel Björk, schnell, helfen Sie uns!« Und Björk kommt. Natürlich kommt er. Er hat noch nie seine Freunde, die tapferen Ritter der Weißen Rose, im Stich gelassen. Auf dem Moosboden im Wald liegt zusammengekrümmt ein Mann. Bei ihm sitzt ein kleiner Junge und weint. »Nicke, du blutest ja«, sagt Rasmus. Ein roter Fleck, der immer größer wird, ist auf dem Hemd des Mannes zu sehen. Rasmus zeigt mit einem schmutzigen Finger darauf. »Pfui Blase, wie ist er blöde, dieser Peters! Hat er auf dich geschossen, Nicke?« »Ja«, sagt Nicke, und seine Stimme ist so schwach und seltsam. »Ja, er hat auf mich geschossen … Aber deshalb mußt du nicht weinen, Häschen … Hauptsache, dir ist nichts passiert!« Er ist ein armer, einfältiger Seemann und liegt nun hier und glaubt, daß er sterben muß. Aber er ist zufrieden. Er hat so viele dumme Sachen in seinem Leben gemacht und ist jetzt froh, daß das letzte, was er getan hat, gut war – und richtig. Er hat Rasmus gerettet. Er weiß es nicht genau, wie er so daliegt, aber er weiß, er hat es versucht. Er weiß, daß er gelaufen ist, bis sein Herz wie ein Blasebalg pumpte und er fühlte, daß er nicht mehr weiter konnte. Er weiß, daß er Rasmus an sich gepreßt hielt, bis diese Kugel kam und er zu Boden fiel. Und er weiß, daß Rasmus wie ein aufgescheuchtes kleines, ängstliches Häschen zwischen die Bäume lief und sich versteckte. Nun aber ist das Häschen wieder bei ihm, und Peters ist verschwunden. Der hatte es plötzlich sehr eilig wegzukommen. Sicher getraute er sich nicht, länger zu bleiben und nach Rasmus zu suchen. Jetzt sind sie beide allein hier. Das kleine Kerlchen, das bei ihm sitzt und weint, ist das einzige Wesen, um das sich Nicke in seinem Leben gekümmert hat. Wie es dazu gekommen ist, begreift er selber nicht. Er weiß nicht, wie es anfing – vielleicht damals am ersten Tag, als Rasmus den Flitzbogen bekam und dankbar seine Arme um Nickes Hals schlug und sagte: »Ich finde, du bist sehr, sehr nett, kleiner Nicke!« Und jetzt hat Nicke große Sorgen. Wie soll er Rasmus von hier wegbekommen, zurück zu den anderen? Etwas muß dort unten an der Anlegestelle passiert sein. Das Flugzeug ist nicht abgeflogen, und das Motorboot hatte sicher auch etwas zu bedeuten. Irgendwie ist jetzt das Ende dieser elenden Geschichte nahe, und Peters ist erledigt – so erledigt wie er. Nicke ist zufrieden. Alles wäre jetzt gut, wenn nur Rasmus schnellstens zu seinem Vater zurückkäme. Ein kleiner Junge darf doch nicht im Wald sitzen und zusehen, wie ein Mensch stirbt. Das möchte Nicke seinem kleinen Freund ersparen, aber er weiß nicht, wie er es machen soll. Er kann ihm doch nicht einfach sagen: »Geh jetzt, der alte Nicke will sterben, und dabei will er allein sein, will hier allein liegenbleiben und froh darüber sein, daß du wieder ein freier, glücklicher Junge bist, der mit dem Flitzbogen und den Borkenbooten spielen kann, die Nicke für dich geschnitzt hat!« Nein, das kann man nicht sagen! Und jetzt legt Rasmus den Arm um seinen Hals und sagt in zärtlichstem Tonfall: »Komm jetzt, kleiner Nicke, wir wollen gehen! Wir gehen zu meinem Vati!« »Nein, Rasmus«, sagt Nicke schwer, »ich kann jetzt nicht gut gehen. Laß mich, bitte, hierbleiben. Aber du sollst gehen – ich will, daß du gehst!« Rasmus schiebt die Unterlippe vor. »Stell dir vor, daß ich das nicht tun werde«, sagt er bestimmt. »Ich warte, bis du mit-kommst. Bitte sehr!« Nicke antwortet nicht. Seine Kräfte verlassen ihn, und er weiß auch nicht, was er sagen soll. Und Rasmus bohrt seine Nase in Nickes Backe und flüstert: »Denn ich hab’ dich so lieb …« Da weint Nicke. Seit er ein Kind war, hat er nicht mehr geweint. Aber jetzt weint er. Weil er so müde ist und weil das er-stemal in seinem Leben ein Mensch so etwas zu ihm sagt. »So, hast du das?« brummt er. »Denk mal an, daß du einen alten Kidnapper gern haben kannst, wie?« »Ja, aber ich finde wirklich, daß Kidnapper nett sind«, versichert Rasmus. Nicke nimmt all seine Kraft zusammen. »Rasmus, jetzt mußt du tun, was ich dir sage. Du mußt zu Kalle und Anders und Eva-Lotte gehen. Ich denke, du willst eine Weiße Rose werden! Das willst du doch?« »Ja, natürlich … aber …« »Na also! Dann mach schon! Ich glaube, die warten schon auf dich!« »Und du, Nicke? Was …« »Ach, Blödsinn! Ich liege hier so schön weich im Moos, mir fehlt nichts. Ich bleibe hier und ruhe mich aus und will mir anhören, wie die Vögel Musik machen.« »Aber …« sagt Rasmus und spricht nicht weiter, denn er hört jemanden in der Ferne rufen. Jemand ruft seinen Namen. »Das ist ja Vati«, sagt er dann und lacht. Da weint Nicke wieder, aber ganz leise, den Kopf in das Moos gedrückt. Ja, manchmal ist Gott einem armen Sünder gnädig – jetzt braucht er sich um Rasmus keine Sorgen mehr zu machen. Und er weint vor Dankbarkeit – und weil es so schwer ist, der kleinen Gestalt Adieu zu sagen, die da in dem schmutzigen Overall steht und nicht weiß, ob sie zu Vati gehen oder bei Nicke bleiben soll. »Geh nur, und sag deinem Vater, daß da im Wald ein alter kaputter Kidnapper herumliegt«, sagt Nicke leise. Da schlingt Rasmus wieder die Arme um seinen Hals und schluchzt: »Du bist aber kein alter kaputter Kidnapper, Nicke!« Nicke hebt mühsam eine Hand und streichelt Rasmus das Gesicht. »Adieu, Häschen«, flüstert er. »Geh jetzt und werde eine Weiße Rose, die feinste kleine Weiße Rose …« Rasmus hört, wie wieder sein Name gerufen wird. Er steht schluchzend auf, bleibt unentschlossen stehen und sieht Nicke an. Dann geht er langsam weg. Dreht sich ein paarmal um und winkt. Nicke hat keine Kraft mehr zu winken, aber seine einfältigen Augen folgen der Kindergestalt, und diese Augen sind voller Tränen. Jetzt gibt es keinen Rasmus mehr. Nicke schließt die Augen. Er ist zufrieden – und müde. Es wird schön sein, endlich zu schlafen. SECHZEHNTES KAPITEL »Georg Louis Peters«, sagte der Kommissar der Staatspolizei, »es stimmt genau! Endlich! Finden Sie nicht selbst, daß es endlich Zeit wurde, Sie einmal zu erwischen?« Peters gab darauf keine Antwort. »Geben Sie mir eine Zigarette«, sagte er ungnädig. Schutzmann Björk ging auf ihn zu und steckte ihm eine Zigarette in den Mund. Peters saß auf einem Stein bei der Anlegestelle. Seine Hände waren mit Handschellen zusammengefes-selt. Hinter ihm standen seine Kumpane, Blom und Svanberg und der Pilot. »Sie wissen doch, daß wir schon eine ganze Weile hinter Ihnen her sind«, fuhr der Polizeikommissar fort. »Ihren Sender hatten wir schon vor zwei Monaten angepeilt, aber bevor wir zugreifen konnten, waren Sie uns entwischt. Haben Sie die Spionage aufgegeben? Sie sind ja jetzt statt dessen anscheinend unter die Menschenräuber gegangen?« »Das eine kann ein so gutes Geschäft sein wie das andere«, sagte Peters mit offenherzigem Zynismus. »Möglich«, sagte der Kommissar. »Aber jetzt ist es auf jeden Fall sowohl mit dem einen als mit dem anderen für Sie zu Ende.« »Ja, man ist wohl fertig«, gab Peters bitter zu. Er zog kräftig an seiner Zigarette. »Etwas möchte ich gern noch wissen«, sagte er. »Wie haben Sie herausbekommen, daß ich auf Kalvö war?« »Das haben wir erst bemerkt, als wir hierherkamen«, erwiderte der Kommissar. »Und wir kamen her, weil ein Funkama-teur eine Nachricht auf der Kurzwelle auffing, die er telefonisch an uns weitergab. Eine Nachricht, die unser Freund Kalle Blomquist gestern abend durchgab.« Peters warf einen gehässigen Blick auf Kalle. »Konnte ich mir denken«, sagte er. »Wäre ich nur zwei Minuten zeitiger gekommen, dann wäre er erledigt gewesen! Verdammte Gören! Sie sind schuld an all meinem Pech. Ich schlage mich lieber mit der ganzen schwedischen Staatspolizei herum als noch einmal mit den dreien.« Der Kommissar ging zu den drei Weißen Rosen, die auf dem Steg saßen. »Die Polizei kann froh sein, so tadellose Mitarbeiter zu haben«, sagte er. Die drei schlugen bescheiden die Augen nieder. Und Kalle dachte, daß es ja eigentlich nicht die Polizei war, der sie hatten helfen wollen, sondern, genauer genommen, Rasmus. Peters drückte den Zigarettenstummel mit dem Absatz aus. »Worauf warten wir eigentlich noch?« fragte er eisig. »Ich habe hier nichts mehr verloren.« Eine kleine grüne Insel zwischen vielen anderen in einem blauen Sommermeer. Die Sonne scheint auf die kleinen Häuser, auf die Anlegestelle und auf die Boote, die dort liegen und auf den Wellen schwappen. Hoch über den Tannenspitzen segeln auf weißen Schwingen die Möwen. Ab und zu taucht eine blitzschnell ins Wasser und erscheint wieder mit einem kleinen Ukelei im Schnabel. Die Bachstelze trippelt noch immer geschäftig durch das Heidekraut, und die Ameisen klettern weiterhin über ihren Stein. So wird es heute sein und morgen und alle Tage bis zum letzten Sommertag. Aber niemand wird es beachten, denn niemand wird hier sein. In einigen wenigen Minuten wird diese Insel sich selbst überlassen sein, ihren Blicken entzogen, und sie werden sie nie wiedersehen. »Jetzt kann ich Eva-Lottes Häuschen nicht mehr sehen«, sagte Kalle. Sie hockten achtern im Motorboot und sahen zu der Insel zurück, die sie jetzt verließen. Sie dachten zurück und schüttelten sich. Sie waren froh, dieses sonnige grüne Gefängnis endlich hinter sich zu wissen. Rasmus sah nicht zurück. Er saß auf den Knien seines Vaters und war besorgt, weil sein Vater so viel Bart im Gesicht hatte. Wenn der nun weiterwuchs und länger und länger wurde und sich dann eines Tages, wenn Vati Motorrad fuhr, im Vorderrad verhedderte? Noch etwas beunruhigte ihn. »Vati, warum schläft Nicke eigentlich mitten am Tage? Ich will, daß er wach wird und mit mir spricht.« Der Professor warf einen besorgten Blick zur Bahre, auf welcher der besinnungslose Nicke lag. Würde er jemals Gelegenheit bekommen, diesem Mann dort für das zu danken, was er für seinen Sohn getan hatte? Sicher nicht. Es stand schlecht um Nicke, er hatte wenig Chancen, am Leben zu bleiben. Mindestens zwei Stunden würde es noch dauern, bis er auf dem Ope-rationstisch lag, und dann war es vielleicht zu spät. Es war ein Wettlauf mit dem Tode. Schutzmann Björk tat sicherlich alles, um das Letzte aus den Motoren herauszuholen, aber … »Jetzt sehe ich die Anlegestelle nicht mehr«, sagte Eva-Lotte. »Und das ist gut so«, sagte Kalle. »Aber sieh mal, Anders, dort hinten ist unsere Badeklippe.« »Und unsere Reisighütte«, murmelte Anders. »In Hütten zu schlafen, macht aber Spaß, Vati, das kannst du glauben«, versicherte Rasmus. Kalle dachte plötzlich an etwas, worüber er mit dem Professor sprechen mußte. »Ich hoffe, Herr Professor, daß Ihr Motorrad noch da ist, wo wir es versteckt haben. Hoffentlich hat es niemand gestohlen.« »Wir fahren mal an einem Tag hin und suchen«, sagte der Professor. »Meine Geheimdokumente machen mir mehr Kummer.« »Pfff!« Kalle winkte ab. »Die habe ich doch an einer ganz sicheren Stelle versteckt.« »Na, jetzt kannst du uns ja wohl erzählen, wo«, sagte Eva-Lotte neugierig. Kalle lächelte geheimnisvoll. »Rate mal! Im Kommodenschubfach auf dem Bäckereiboden natürlich!« Eva-Lotte schrie erschrocken auf. »Bist du wahnsinnig?« kreischte sie. »Stell dir vor, wenn die Roten sie geklaut haben –was dann?« Der Gedanke schien Kalle zu beunruhigen. Aber das ging schnell vorbei. »Pfff«, sagte er, »dann klauen wir sie einfach zurück.« »Ja«, rief Rasmus eifrig. »Wir stoßen Kriegsschreie aus und klauen sie wieder zurück. Ich werde auch eine Weiße Rose, Vati!« Diese Mitteilung tröstete seinen Vater nur wenig. »Kalle, du machst mich weißhaarig«, rief der Professor. »Gewiß, ich stehe zeit meines Lebens in tiefer Dankesschuld bei dir, aber das sage ich dir, wenn die Papiere weg sind …« Schutzmann Björk unterbrach ihn: »Regen Sie sich nicht auf, Herr Professor! Wenn Kalle Blomquist sagt, daß Sie ihre Papiere wiederbekommen, bekommen Sie sie auch!« »Nun ist jedenfalls Kalvö ganz und gar verschwunden«, stellte Anders fest und spuckte in das strudelnde Kielwasser. »Und Nicke, der schläft bloß, schläft und schläft«, brummte Rasmus. Das alte gute Hauptquartier – niemand hat jemals ein besseres gehabt als die Weiße Rose! Der Bäckereiboden ist groß und geräu-mig, und es gibt dort viele schöne Sachen. Wie die Eichhörnchen das Gute in ihr Nest tragen, so haben die Weißen Rosen im Lauf der Jahre hierher alle ihre Kostbarkeiten eingesammelt. Die Wände sind mit Bogen, Schilden und Schwertern geschmückt. Am Dachbalken hängt ein Trapez. Tischtennisbälle, Boxhandschuhe und alte illustrierte Wochenzeitschriften häufen sich in den Ecken. Und an einer Wand steht Eva-Lottes zerkratzte Kommode, in der die Weißen Rosen ihren geheimen Reliquienschrein verwahren. In diesem Schrein liegen die Papiere des Professors. Besser gesagt: lagen. Er hat sie zurückbekommen, diese wertvollen Dokumente, die so viel Sorgen und Kummer verursacht haben und nun in Zukunft in einem sicheren Bankfach eingesperrt liegen werden. Nein, die Roten hatten sie nicht genommen. Eva-Lottes düstere Prophezeiung hatte nicht gestimmt. »Hätten wir geahnt, daß die Papiere in deiner Kommode liegen, wir hätten sie sicher in unser Hauptquartier gebracht«, sagte Sixtus, als sämtliche Ritter der Weißen und Roten Rose die abenteu-erlichen Erlebnisse besprachen. Sie saßen im Garten des Bäckermeisters, und Anders begleitete seine schauerliche Erzählung mit gewaltigen Gesten. »Es fing an, als ich auf dem Busch an der Ruinenwand saß. Seitdem hatte man nicht eine ruhige Minute«, versicherte er. »Ihr habt immer ein Schwein«, sagte Sixtus verbittert. »Warum konnten die Kidnapper nicht einige Minuten früher kommen, als wir an Eklunds Villa vorbeigingen?« »Du drehst ganz schön auf«, wehrte Eva-Lotte ab. »Armer Peters, wenn er euch auf dem Hals gehabt hätte – lebenslänglich wäre dann zuviel gewesen.« »Bettelst du um Schläge?« fragte Sixtus. Das war am ersten Tag nach der Rückkehr gewesen. Seitdem waren einige Tage vergangen. Und jetzt sind die Weißen Rosen in ihrem Hauptquartier auf dem Bäckereiboden versammelt. Vor ihnen steht ihr Anführer und erhebt seine mächtige Stimme: »Ein edler Mann und tapferer Krieger soll nun zum Ritter der Weißen Rose geschlagen werden. Ein Kämpfer, dessen Name weithin gefürchtet ist: Rasmus Rasmusson – tritt vor!« Der gefürchtete Kämpfer tritt vor. Sicher ist er klein und nicht besonders erschreckend anzusehen, aber auf seiner Stirn brennt das Feuer der Begeisterung, das einen Ritter der Weißen Rose kennzeichnet. Er erhebt seinen Blick zu dem Anführer. In seinen dunkelblauen Augen ist ein Licht, das deutlich verrät: Jetzt erfüllt sich ein tiefer und inbrünstiger Wunsch. Endlich wird er ein Ritter der Weißen Rose, endlich! »Rasmus Rasmusson, erhebe deine rechte Hand und schwöre den heiligen Eid. Schwöre, daß du nun und immerdar der Wei- ßen Rose die Treue hältst, daß du keine Geheimnisse verraten willst und daß du die Roten Rosen bekämpfen willst, wo du nur ihre Nasen siehst.« »Ich will es versuchen«, sagte Rasmus Rasmusson. Er hob seine Hand und begann: »Ich schwöre, nun und immerdar eine Weiße Rose zu sein und alle Geheimnisse zu verraten, wo meine Nase nur zu sehen ist, pfui Blase, ja, das schwöre ich.« »Alle Geheimnisse verraten – ja, das glaube ich ihm sicher«, flüsterte Kalle Eva-Lotte zu. »Ich habe noch nie ein Knäblein gesehen, das so geschickt an seinem eigenen Mund vorbeireden kann wie er.« »Ja, aber er ist auf jeden Fall in Ordnung!« sagte Eva-Lotte. Rasmus sah erwartungsvoll seinen Anführer an. Was würde nun noch geschehen? »Na, du hast es nicht ganz richtig gesagt«, sagte Anders lächelnd. »Aber das macht schließlich nicht viel aus. Rasmus Rasmusson, knie nieder!« Und Rasmus fiel auf dem abgenutzten Fußboden in die Knie. Wie war er glücklich, oh, er hatte Lust, die Bohlen zu streicheln! Bald war dies hier auch sein Hauptquartier! Der Anführer nahm ein Schwert von der Wand. »Rasmus Rasmusson«, sagte er. »Nachdem du nun der Weißen Rose durch deinen Eid die Treue gelobt hast, schlage ich dich hiermit zum Ritter der Weißen Rose.« Er schlug Rasmus leicht mit dem Holzschwert auf die Schulter, und dann sprang Rasmus freudestrahlend vom Boden auf. »Ist es nun auch wirklich wahr, daß ich eine Weiße Rose bin?« fragte er. »Weißer als die meisten«, sagte Kalle. Im selben Moment flog durch die offene Bodenluke ein Stein. Mit einem Knall landete er auf dem Fußboden. Anders beeilte sich, ihn aufzuheben. »Nachricht vom Feind«, rief er und machte das Papier ab, das um den Stein gewickelt war. »Was schreiben diese kleinen Rötlichen?« wollte Eva-Lotte wissen. »Ihr Läusepudel der Weißen Rose!« las Anders. »Alte Papiere hinter alten Bücherregalen hervorkramen, das könnt Ihr wohl, aber den Großmummrich werdet Ihr nie bekommen. Denn seht, er befindet sich im Haus des großen wilden Tieres, und dessen Name ist GEHEIM. Beißt Euch das große wilde Tier, wenn Ihr verbotener weise Karten spielt, nicht in die Hosen, habt Ihr den höchsten Trumpf für Euch und schon den halben Namen. Dann schreitet suchend durch des Namens Rest besucht das große Tier, wenn Ihr das ganze Rätsel überhaupt versteht – Ihr Läusepudel!« »Stoßen wir jetzt einen Kriegsschrei aus?« fragte Rasmus voller Hoffnung, als der Chef zu Ende gelesen hatte. »Noch nicht, erst müssen wir nachdenken«, sagte Eva-Lotte. »Nachdenken! Worüber?« fragte Anders. »Ja«, sagte Kalle, »sie lassen merklich nach, die Roten. Gro- ßes wildes Tier. In Kleinköping gibt es doch wohl keine Löwen, Panther, Gorillas, Elefanten. Die Schafe können sie nicht meinen. Was also bleibt?« »Pferde, Hunde und Katzen«, sagte Eva-Lotte. »Bei uns im Garten sind viele Regenwürmer«, ergänzte Rasmus. »Aber die sind nicht wild und groß schon gar nicht«, meinte Eva-Lotte. »Pferde können wir auch streichen, bleiben Hunde und Katzen. So leicht ist das Rätsel übrigens gar nicht, finde ich«, sagte Anders nachdenklich. »Jaja, etwas Gehirn muß man schon haben. Ich jedenfalls kenne keine einzige Katze in ganz Kleinköping, die wild ist«, sagte Eva-Lotte. »Und damit sind wir bei den Hunden angelangt«, sagte Kalle lachend. »Angestrengt haben sich die Roten wirklich nicht – ich tippe auf Doktor Hallberg!« Die anderen sahen Kalle verdutzt an. Was meinte er nur? Wenn Doktor Hallberg auch kein Kinderfreund war – ein gro- ßes wildes Tier war er ja wohl auch nicht gerade. Plötzlich leuchtete es in Eva-Lottes Augen auf. Sie stieß Anders in die Seite und lachte. »Anders, Anders, wo ist dein Kopf? Ich hab’s! Er meint nicht Hallberg – er meint – – na?« Anders runzelte die Stirn, dann lachte auch er: »Ich meine, Kalle meint in Wirklichkeit den Hund, meinst du, Eva-Lotte.« »Richtig, endlich!« rief Kalle. »Jetzt ist es nur noch ein Kin-derspiel. Der höchste Trumpf: das AS, und wenn wir ihn besu-chen wollen, schreiten wir durch das TOR, das ist der Rest des Namens: ASTOR. Astor ist Doktor Hallbergs Hund.« »Aber wie in aller Welt haben sie den Großmummrich zu Astor in die Hundehütte legen können?« überlegte Eva-Lotte. »Sie müssen ihn vorher chloroformiert haben.« »Wen – den Großmummrich?« fragte Anders gereizt. »Quatsch, den Astor natürlich!« Astor war der Schäferhund vom Oberarzt des Krankenhauses, und er war genauso bösartig wie der Oberarzt, und das wollte etwas heißen. »Die Roten haben sicher aufgepaßt, als Doktor Hallberg den Hund ausgeführt hat«, sagte Kalle. »Und was machen wir jetzt?« fragte Eva-Lotte. Sie setzten sich auf den Fußboden und hielten Kriegsrat. Rasmus auch. Seine Augen waren groß wie Teller und die Ohren ganz rot. Jetzt endlich sollten also die Abenteuer beginnen! Anders sah zu Rasmus, und in seinen Augen lag ein Lächeln. Nun hatte Rasmus so lange und so ergeben darauf gewartet, eine Wei- ße Rose zu werden, konnte man da das Herz haben, es ihm abzu-schlagen? Eigentlich war es ja recht beschwerlich, einen so kleinen Knirps die ganze Zeit am Bein hängen zu haben. Man mußte versuchen, irgendeine Beschäftigung für ihn zu finden, damit man sich in Ruhe mit den Problemen des Rosenkrieges befassen konnte ohne allzu große Einmischung von Ritter Rasmus. »Du, Rasmus«, sagte Anders. »Sause los zum Krankenhaus und sieh nach, ob Astor in seiner Hütte liegt.« »Darf ich dann einen Kriegsschrei ausstoßen?« fragte Rasmus. »Natürlich, das darfst du«, sagte Eva-Lotte. »Sause nur los.« Und Rasmus sauste. Mehrere Stunden hatte er geübt, an dem Seil hochzuklettern, das die Weißen Rosen gebrauchten, um in ihr Hauptquartier und hinaus zu kommen. Raufklettern konnte er noch nicht, aber runterrutschen, das konnte er. Nun sprang er auf das Seil zu und stieß den wildesten Kriegsruf aus, der jemals durch den Garten des Bäckermeisters geschallt war. »Schön«, sagte Anders, als er verschwunden war. »Jetzt können wir wenigstens über Sachen und Dinge reden. Zuerst – aus-spionieren, wann Doktor Hallberg mit seinem Astor auf Promenade geht. Das ist deine Aufgabe, Eva-Lotte.« »Wird geschehen«, sagte Eva-Lotte. Rasmus trabte zum Krankenhaus. Er wußte den Weg, er hatte Nicke dort schon einmal besucht. Die Villa des Oberarztes lag neben dem Krankenhaus. »Privatbesitz« und »Achtung, bissiger Hund« stand auf den Tafeln, die neben dem Tor, das in den Garten führte, angebracht waren. Aber Rasmus konnte glücklicherweise nicht lesen, und deshalb ging er in den Garten hinein. Astor lag in seiner Hütte. Er knurrte böse, als er Rasmus sah, böse und sehr gefährlich. Rasmus blieb stehen. Er hatte seinen Auftrag, den ihm der Chef gegeben hatte, falsch aufgefaßt. Er glaubte, es wäre seine Pflicht, den Großmummrich in das Hauptquartier zu bringen. Aber wie konnte er es wagen, wenn Astor ihn so unheimlich anknurrte und die Zähne zeigte? Hilfesuchend sah er sich um und bemerkte zu seiner Freude, daß ein Onkel auf ihn zukam. Derselbe Onkel übrigens, der Nicke operiert hatte. Doktor Hallberg war auf dem Weg zum Krankenhaus, als er den kleinen Ritter der Weißen Rose vor Astors Hütte stehen sah. Selbstverständlich wußte der Doktor nicht daß er einen Ritter vor sich hatte. Er konnte sehr wütend werden, wenn die Kinder den Astor reizten, und deshalb beschleunigte er seine Schritte, um einzugreifen. Aber Rasmus, der in dem Glauben lebte, daß nicht nur Kidnapper, sondern auch Oberärzte nette Menschen seien, sah bittend zu dem strengen Gesicht hinauf und sagte: »Hör mal, nimm doch mal deinen Hund da raus, ich will nämlich den Großmummrich holen!« Und als der Doktor nicht sofort tat, worum er gebeten worden war, nahm Rasmus ihn bei der Hand und zog ihn sanft, aber bestimmt zur Hundehütte. »Komm, beeil dich«, sagte er, »denn ich habe keine Zeit!« »Hast du nicht?« sagte Doktor Hallberg und lächelte. Jetzt erkannte er Rasmus – das war doch der kleine Junge, der entführt worden war und von dem so viel in den Zeitungen gestanden hatte. »Willst du nicht mitkommen und Nicke guten Tag sagen?« fragte der Doktor. »Ja, aber erst, wenn ich den Großmummrich habe«, sagte der kleine Ritter unerschütterlich. Nicke erfuhr alles über den Großmummrich. Er durfte ihn sogar sehen. Rasmus hielt ihn ihm stolz unter die Nase. Und er stieß einen Kriegsschrei aus, damit Nicke hören konnte, wie das war. »Jetzt bin ich nämlich eine Weiße Rose, verstehst du, Nik-ke?« erklärte Rasmus. »Vor einer Stunde habe ich darauf einen Eid geschworen.« Nicke sah ihn mit Stolz in den Augen an. »Ja, und eine feinere Weiße Rose hätten die nie kriegen können«, sagte er zufrieden. Rasmus streichelte ihm die Hände. »Schön, daß du nicht mehr schläfst, Nicke«, sagte er. Nicke fand das auch. Sicher würde es noch eine ganze Zeit dauern, bis er das Krankenhaus verlassen durfte. Aber er wußte, er würde gesund werden, und was dann kam, sollte wohl auf irgendeine Art in Ordnung gebracht werden. Sowohl Doktor Hallberg als der Professor hatten versprochen, ihm zu helfen, soviel sie konnten. Nicke sah also der Zukunft in Ruhe entgegen. »Und es ist gut, daß du nicht mehr blutest«, sagte Rasmus und zeigte auf Nickes schneeweißes Hemd. Das fand Nicke auch. Er war vorher nie krank gewesen und besaß noch die tiefe Bewunderung des Naturkindes für die seltsamen Einfälle der Medizinmänner. Das mit der Bluttransfusion zum Beispiel – davon mußte er Rasmus doch noch erzählen. »Stell dir vor, die Doktoren nahmen Blut von einem anderen Menschen und pumpten es mir dann ein, weil ich auf Kalvö so viel davon verloren hatte.« Rasmus fand auch, daß es ganz merkwürdig war, was die Ärzte sich so ausdachten. Aber er hatte es plötzlich sehr eilig. Eigentlich durfte man ja keine Krankenbesuche machen, wenn man mit dem Krieg der Rosen zu tun hatte. Er drückte den Großmummrich in seiner Hand und lief zur Tür. »Hallo, Nicke«, sagte er, »bis dann. Ich komme mal einen anderen Tag wieder zu dir.« Bevor Nicke antworten konnte, war er verschwunden. »Du kleines Häschen«, flüsterte Nicke ganz leise vor sich hin. Kalle und Anders und Eva-Lotte saßen noch immer auf dem Bäckereiboden. Bäckermeister Lisander war gerade mit frischen Schnecken bei ihnen gewesen. »Eigentlich dürftet ihr ja keine Schnecken haben«, brummte er, »bei so viel Ärger, den man durch euch hat. Aber«, und er streichelte Eva-Lottes Backen, »genaugenommen habt ihr natürlich trotzdem Schnecken verdient.« Als er wieder in seine Backstube gegangen war, hörte man von draußen einen Kriegsschrei. Der ausgesandte Kundschafter kam zurück. Mit dem Gepolter einer ganzen Heerschar kletterte er die Bodentreppe hinauf. »Hier«, sagte er und schleuderte den Großmummrich auf den Fußboden. Kalle, Anders und Eva-Lotte starrten ihn an. Sie starrten den Großmummrich an. Und dann begannen sie zu lachen. »Die Weiße Rose besitzt eine Geheimwaffe«, jubelte Anders. »Wir besitzen Rasmus!« »Ja, nun können die Roten baden gehen und endgültig Feier-abend machen«, sagte Kalle. Rasmus sah unruhig von dem einen zum anderen. Die lachten doch wohl nicht über ihn? Er hatte doch hoffentlich alles richtig gemacht? »Ich hab’s doch wohl richtig gemacht?« fragte er ängstlich. Eva-Lotte gab seinem Näschen einen kleinen Stups. »Natürlich«, sagte sie und lachte. »Das hast du großartig gemacht, Ritter Rasmus!    Kalle-Blomquist-Song Text: Kurt Reiß Musik: Erich Bender Wird etwas gestohlen an irgendeinem Ort, dann muß man sich holen unbedingt sofort: Kalle Blomquist, den Meisterdetektiv, Kalle Blomquist, den Meisterdetektiv. Alle Diebe zittern am Tage und zur Nacht, sehn sich hinter Gittern, und wer hat dies vollbracht: Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv, Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv Alle Leute sprechen davon in jeder Stadt, es gibt kein Verbrechen, das aufgeklärt nicht hat: Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv, Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv. Darum laßt die Finger von fremden Sachen weg, schon wartet der Bezwinger heimlich im Versteck: Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv, Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv. © 1955 by Kurt Reiß und Erich Bender, Hamburg notes Примечания 1 Amerikanische Bezeichnung für Kinderräuber.