Hotel Arthur Hailey Es ist Montagabend. In dem luxuriösen St. Gregory Hotel in New Orleans herrscht Hochbetrieb. Doch alles klappt wie am Schnürchen: beim Empfang, auf den Etagen, in den weitläufigen Restaurationsräumen, in der Bar, in Küche und Keller. Man könnte zufrieden sein. Doch unter der gleißenden Oberfläche knistert es, denn das Hotel befindet sich in finanziellen Schwierigkeiten. Nicht nur der Hotelbesitzer Warren Trent ist davon betroffen. Auch seine Assistentin Christine Francis, der tüchtige Geschäftsführer Peter McDermott, der bestechliche Chefportier, der im trüben fischende Hoteldetektiv und viele andere... Aber auch Gäste werden davon berührt. Da sind Curtis O'Keefe, Besitzer einer internationalen Kette von Hotels, der zu Kaufverhandlungen ins St. Gregory kommt, der dekadente Herzog von Croydon und seine eiskalte Gattin, der unscheinbare, zurückhaltende Albert Wells und zahlreiche andere, die mit dem Hotel durch unsichtbare und mitunter geheimnisvolle Fäden verbunden sind. Reisender, bitte, suche Unterkunft in diesem unwürdigen Haus. Das Bad ist bereitet. Ein friedliches Zimmer wartet auf Dich. Tritt ein! Tritt ein! Inschrift über dem Eingang eines Gasthofes in Takamatsu, Japan. MONTAGABEND 1 Wenn es nach mir ginge, dachte Peter McDermott, ich hätte den Hausdetektiv längst rausgeworfen. Aber es geht nicht nach mir, und jetzt ist der feiste Expolizist wieder mal nicht da, wie immer, wenn man ihn dringend braucht. McDermott, athletisch gebaut und einsachtundneunzig groß, beugte sich über den Schreibtisch und rüttelte ungeduldig an der Gabel des Telefons. »Im Hotel ist der Teufel los, und der verflixte Kerl ist nirgends aufzufinden«, sagte er zu dem Mädchen, das am Fenster des geräumigen, mit Teppichen ausgelegten Büros stand. Christine Francis warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war kurz vor elf. »Versuchen Sie's doch mal mit der Bar in der Baronne Street.« Peter McDermott nickte. »Die Zentrale ruft der Reihe nach Ogilvies Stammkneipen an.« Er zog eine Schreibtischschublade auf, holte Zigaretten heraus, bot sie Christine an und gab ihr Feuer. Während er sich selbst eine anzündete, beobachtete er, wie Christine den Rauch tief einatmete. Christine Francis hatte Überstunden gemacht und ihr eigenes kleines Büro im Verwaltungstrakt des St.-Gregory-Hotels erst vor wenigen Minuten verlassen. Sie wollte eigentlich nach Hause gehen, aber der Lichtschein unter der Tür des stellvertretenden Direktors hatte sie magisch angezogen. »Unser Mr. Ogilvie macht, was er will«, sagte sie. »So war's von jeher. Und W. T. hält ihm die Stange.« McDermott sprach kurz ins Telefon und wartete weiter. »Stimmt«, sagte er zu Christine. »Ich habe vor kurzem ja einmal versucht, unseren lahmen Detektivtrupp ein bißchen aufzumöbeln. Prompt wurde ich zurückgepfiffen.« »Das wußte ich nicht«, sagte sie leise. Er sah sie forschend an. »Und ich dachte, Sie wüßten alles.« Im allgemeinen traf das auch zu. Als persönliche Assistentin von Warren Trent, dem launenhaften und jähzornigen Eigentümer des größten Hotels in New Orleans, war Christine über die wohlgehüteten Geheimnisse des Hotels ebenso genau im Bilde wie über die täglichen Routineangelegenheiten. Sie wußte beispielsweise, daß Peter, der vor ein oder zwei Monaten zum stellvertretenden Direktor befördert worden war, das riesige, von emsiger Geschäftigkeit erfüllte St. Gregory praktisch allein leitete, aber ein keineswegs angemessenes Gehalt bezog und nur über begrenzte Befehlsgewalt verfügte. Sie kannte auch die Gründe dafür, die in einer Akte mit der Aufschrift »Streng vertraulich« zusammengetragen waren und Peter McDermotts Privatleben betrafen. »Wo brennt's denn?« erkundigte sie sich. Peter McDermott verzog sein kantiges, derbes, beinahe häßliches Gesicht zu einem fröhlichen Grinsen. »Überall. In der elften Etage beschwert sich jemand über eine Art Orgie; die Herzogin von Croydon in der neunten beklagt sich über einen Zimmerkellner, der angeblich ihren Herzog beleidigt hat; in 1439 stöhnte jemand so laut, daß seine Nachbarn nicht schlafen können; der Nachtmanager ist krank geschrieben, der Hausdetektiv treibt sich Gott weiß wo rum, und seine beiden Leute sind anderweitig beschäftigt.« Er sprach wieder ins Telefon, und Christine ging zurück zum Fenster, das sich im ersten Stock befand. Sie bog den Kopf leicht zurück, um die Augen vor dem Zigarettenrauch zu schützen, und blickte abwesend hinaus auf die Stadt. Durch eine breite Schlucht, die sich unmittelbar vor ihr zwischen hochragenden Gebäuden auftat, konnte sie in das enge, von Menschen wimmelnde Französische Viertel hineinsehen. Eine Stunde vor Mitternacht war für diese Gegend noch früh am Abend; die Lampen vor den Nachtbars, Bistros, Jazzkellern und Striptease-Lokalen - und die Lichter hinter den heruntergelassenen Jalousien - würden bis weit in den nächsten Morgen hinein brennen. Irgendwo im Norden, vermutlich über dem See Pontchartrain, braute sich im nächtlichen Dunkel ein Sommergewitter zusammen. Mit dumpfen Grollen und Wetterleuchten kam es näher. Wenn sie Glück hatten und das Unwetter nach Süden zum Golf von Mexiko zog, würde es vielleicht noch vor dem Morgen regnen. Der Regen wäre eine Wohltat, dachte Christine. Seit drei Wochen lag New Orleans im Bann schwüler, lähmender Hitze, die an den Nerven zerrte, Spannungen erzeugte und Unfrieden stiftete. Auch für das Hotel wäre er eine Entlastung. Erst am Nachmittag hatte der Chefingenieur wieder einmal seinem Kummer Luft gemacht. »Wenn ich die Klimaanlage noch lange auf vollen Touren laufen lassen muß, kann ich für nichts mehr garantieren.« Peter McDermott legte den Hörer auf, und Christine fragte: »Wissen Sie, wie der Gast heißt, der so schrecklich stöhnt?« Er schüttelte den Kopf und griff erneut nach dem Hörer. »Nein, aber ich kann mich erkundigen. Wahrscheinlich war's nur ein Alptraum, aber wir wollen doch lieber mal nachsehen.« Als sich Christine in einen tiefen Ledersessel vor dem großen Mahagonischreibtisch sinken ließ, merkte sie plötzlich, wie müde sie war. Sonst war sie um diese Zeit schon längst daheim in ihrer Wohnung in Gentilly. Aber es war ein ungewöhnlich arbeitsreicher Tag gewesen, da nicht nur eine Menge regulärer Gäste, sondern auch die Teilnehmer zweier Kongresse eingetroffen waren, und viele der auftretenden Schwierigkeiten hatte schließlich sie selbst lösen müssen. »Das war's, danke.« McDermott machte sich eine Notiz und legte den Hörer auf. »Der Name ist Albert Wells, aus Montreal.« »Dann kenn' ich ihn«, sagte Christine. »Ein netter kleiner Mann, der jedes Jahr herkommt. Wenn Sie wollen, kümmere ich mich um ihn.« Er betrachtete unschlüssig ihre zarte schlanke Gestalt. Das Telefon schrillte, und er hob den Hörer ab. »Tut mir leid, Sir«, sagte das Mädchen aus der Zentrale, »aber wir können Mr. Ogilvie nirgends finden.« »Da kann man nichts machen. Geben Sie mir den Chefportier.« Wenn er auch den Chefdetektiv nicht hinauswerfen konnte, dachte McDermott, so würde er wenigstens gleich morgen früh ordentlich Krach schlagen. Im übrigen konnte er ebensogut jemand anderen mit Nachforschungen in der elften Etage betrauen, und mit der Beschwerde des Herzogs und der Herzogin von Croydon würde er sich selbst befassen. »Chefportier«, tönte es aus der Muschel, und Peter McDermott erkannte die fade näselnde Stimme Herbie Chandlers. Der Chefportier des St. Gregory gehörte wie Ogilvie zu den langjährigen Angestellten und betrieb angeblich mehr dunkle Nebengeschäfte als irgend jemand sonst vom Personal. McDermott erklärte Chandler kurz, worum es sich handelte, und beauftragte ihn, der Sache nachzugehen. Es überraschte ihn nicht sonderlich, als der Chefportier protestierte. »Das geht mich nichts an, Mr. Mac, und außerdem kann ich jetzt hier unten nicht weg. Wir haben alle Hände voll zu tun.« Der Tonfall war typisch für Chandler - kriecherisch und unverschämt zugleich. »Keine Ausreden. Sie werden sich um die Angelegenheit kümmern.« Nachträglich fügte er hinzu: »Und noch eins: Schicken Sie einen Boy mit einem Hauptschlüssel in den ersten Stock zu Miss Francis.« Er legte rasch auf, bevor Chandler antworten konnte. »Gehen wir.« Er berührte Christines Schulter leicht mit der Hand. »Nehmen Sie den Boy als Leibwache mit und sagen Sie Ihrem Freund Mr. Wells, wenn er Alpdrücken hat, soll er künftig unter die Bettdecke kriechen.« 2 Herbie Chandler lehnte nachdenklich an seinem Stehpult in der Halle des St. Gregory. Auf seinem Wieselgesicht malte sich inneres Unbehagen. Von seinem Befehlsstand aus, neben einer der kannelierten Betonsäulen, die bis zur reichdekorierten, gewölbten Decke hinaufreichten, hatte er einen ausgezeichneten Überblick über das Kommen und Gehen in der Halle. Im Moment herrschte reger Betrieb. Die Kongreßteilnehmer waren den ginzen Abend über auf den Beinen gewesen, und je später es wurde, desto mehr bestärkte sie der konsumierte Alkohol in ihrem Entschluß, sich nach Kräften zu amüsieren. Während Chandler gewohnheitsmäßig die Augen schweifen ließ, kam eine Gruppe lärmender Zecher von der Carondelet Street herein, drei Männer und zwei Frauen; in den Händen schwenkten sie Schnapsgläser, die sie in Pat O'Briens Bar im Französischen Viertel für einen Dollar pro Stück als Souvenir erstanden hatten. Einer der Männer, der nicht mehr fest auf den Beinen war, mußte von den beiden anderen gestützt werden. Alle drei waren Kongreßteilnehmer und trugen eine Plakette am Rockaufschlag mit dem Aufdruck »Gold Crown Cola« und darunter ihren Namen. Als sie im Zickzack durch die Halle steuerten, machten die anderen Gäste gutmütig Platz, bis das schwankende Quintett schließlich in der Bar verschwand. Noch immer trafen neue Gäste ein - mit den späten Zügen und Verkehrsmaschinen. In kleinen Gruppen sammelten sie sich vor dem Empfang und wurden dann von Chandlers Boys in ihre Zimmer geführt. Die Bezeichnung »Boy« bezog sich hier allerdings nur auf die Berufsgattung, denn keiner der sogenannten Boys war unter vierzig, und einige arbeiteten schon ein Vierteljahrhundert oder länger im Hotel. Herbie Chandler, der in seinem Ressort frei entscheiden konnte, stellte lieber ältere Männer ein. Ein alter Mann, der nur mühsam unter Schnauben und Grunzen mit dem Gepäck zurechtkam, kassierte aller Voraussicht nach größere Trinkgelder als ein junger Bursche, der schwere Koffer auf den Schultern balancierte, als wären sie leicht wie Balsaholz. Einer der langjährigen Angestellten, ein kräftiger, sehniger Kerl, hatte sich einen speziellen Trick ausgedacht. Wenn er vor dem Gast herging, setzte er die Koffer alle paar Meter ab, drückte sich japsend die Hand aufs Herz und schleppte die Last kopfschüttelnd weiter. Der Kniff brachte ihm selten weniger als einen Dollar ein, weil seine zerknirschten Opfer überzeugt waren, daß ihn an der nächsten Ecke ein Herzschlag treffen würde. Was sie nicht wußten, war, daß zehn Prozent aller Trinkgelder in Herbie Chandlers Tasche wanderten und daß jeder Boy ihm außerdem täglich zwei Dollar zahlen mußte, wenn er seinen Posten behalten wollte. Chandlers privates Besteuerungssystem erboste seine Untergebenen, obwohl ein Boy, der seine Sache verstand, es trotzdem auf 150 Dollar Reinverdienst in der Woche bringen konnte, wenn das Hotel voll besetzt war. Bei starkem Andrang, wie in dieser Nacht, blieb der Chefportier weit über die normale Dienstzeit auf seinem Posten. Er traute niemandem und zog es vor, selbst ein Auge auf seine Prozente zu haben. Die Genauigkeit, mit der er Gäste und Trinkgelder einschätzte und erriet, wieviel ein Ausflug in die obersten Etagen einbringen würde, war unheimlich. Es gab immer wieder verstockte Individualisten, die Herbie zu betrügen versuchten und ihm einen Teil ihrer Einnahmen unterschlugen. Aber die Strafe ließ nie auf sich warten und erfolgte mit so unfehlbarer, grausamer Treffsicherheit, daß die armen Ketzer schnell zu Kreuze krochen. Chandlers Ausdauer hatte jedoch in dieser Nacht noch einen anderen Grund. Seine Nervosität hatte seit Peter McDermotts Anruf ständig zugenommen. McDermott hatte ihm befohlen, der Beschwerde in der elften Etage nachzugehen. Aber Chandler brauchte ihr nicht nachzugehen, weil er sich ohnedies so ziemlich vorstellen konnte, was oben los war. Er selbst hatte die Orgie arrangiert. Vor etwa drei Stunden hatten zwei junge Leute ihm ihre diesbezüglichen Wünsche ganz offen mitgeteilt, und da beider Väter reiche ortsansässige Bürger und gute Kunden des Hotels waren, hatte Herbie respektvoll zugehört. »Also, Herbie«, hatte der eine gesagt, »heute abend steigt hier der Verbindungsball... , der gleiche alte Krampf wie jedes Jahr, und wir möchten gern mal was anderes erleben.« »Was, zum Beispiel?« hatte er gefragt, obwohl er die Antwort im voraus wußte. »Wir haben eine Suite genommen, und« - der Junge errötete -»wir wollen ein paar Mädchen.« Herbie entschied sofort, daß die Sache zu riskant war. Die beiden waren nicht viel mehr als Schulbuben, und außerdem kam es ihm ganz so vor, als hätten sie getrunken. Er schüttelte den Kopf und fing an: »Tut mir leid, meine Herren...« Aber der zweite Junge unterbrach ihn. »Kommen Sie uns bloß nicht mit dummen Ausreden. Wir wissen doch, daß Sie hier die Gäste mit Callgirls beliefern.« Chandler zeigte seine Frettchenzähne und verzerrte das Gesicht zu einem gezwungenen Lächeln. »Ich möchte wissen, wer Ihnen das eingeredet hat, Mr. Dixon.« Der Junge, der zuerst gesprochen hatte, ließ nicht locker. »Wir können zahlen, Herbie, das wissen Sie doch.« Der Chefportier war noch immer unschlüssig, aber seine Gedanken kreisten gierig um das verlockende Geschäft. Gerade in den letzten Wochen hatte sein Nebenverdienst nachgelassen. Vielleicht war die Sache doch nicht so gefährlich. »Also, los«, sagte der Junge namens Dixon. »Geben Sie sich einen Ruck. Wieviel?« Herbie musterte die Kunden, dachte an ihre wohlhabenden Väter und multiplizierte den Einheitstarif mit zwei. »Hundert Dollar.« »Abgemacht«, erklärte Dixon nach kurzem Zögern und wandte sich an seinen Kameraden. »Hör zu, Lyle, den Schnaps haben wir schon bezahlt, und was dir zu deinem Anteil fehlt, pump' ich dir.« »Na gut... « »Gezahlt wird im voraus, meine Herren.« Herbie fuhr sich mit der Zunge über die dünnen Lippen. »Und noch eins. Machen Sie bloß keinen Lärm. Falls es zu laut wird und die anderen Gäste sich beschweren, kann das für uns alle sehr unangenehme Folgen haben.« Vor einer Stunde hatten die Mädchen wie üblich die Halle durch den Haupteingang betreten, und nur ein paar eingeweihte Hotelangestellte hatten gemerkt, daß es sich nicht um reguläre Gäste handelte. Normalerweise hätten die zwei schon längst wieder auf demselben Weg unauffällig verschwunden sein müssen. Die Beschwerde aus der elften Etage, in der ausdrücklich auf eine Orgie hingewiesen wurde, ließ darauf schließen, daß irgend etwas schiefgegangen war. Aber was? Herbie fiel Dixons Bemerkung über die Schnapsvorräte ein, und ihm wurde noch unbehaglicher zumute. Trotz der auf Hochtouren laufenden Klimaanlage war es drückend heiß in der Halle, und Herbie zog ein seidenes Taschentuch heraus, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Zugleich verfluchte er insgeheim seinen idiotischen Leichtsinn und fragte sich, ob er hinaufgehen oder sich, in diesem Stadium, nicht lieber vom Schauplatz des Geschehens fernhalten sollte. 3 Peter McDermott fuhr im Lift bis zur neunten Etage. Dort verließ er Christine, die mit dem Boy bis zum 14. Stock fuhr. An der offenen Lifttür blieb er zögernd stehen. »Rufen Sie mich, falls es zu Unannehmlichkeiten kommt.« Sie lächelte. »Wenn's brenzlig wird, schrei' ich laut um Hilfe.« Während die Türen geräuschlos zuglitten, blickte sie ihn einen Moment lang voll an. Dann schlossen sich die Türen, und der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. Peter starrte nachdenklich auf die leere Stelle, wo er eben noch ihr Gesicht gesehen hatte, wandte sich ab und eilte mit großen Schritten durch den mit Teppich ausgelegten Korridor auf die Präsidentensuite zu. Die größte und eleganteste Suite des St. Gregory - von den Angestellten auch »Prominentenstall« genannt - hatte im Laufe der Jahre viele distinguierte Gäste beherbergt, darunter auch Präsidenten, Fürstlichkeiten und gekrönte Häupter. Die meisten Prominenten mochten New Orleans. Die Stadt besaß eine eigene, sympathische Form von Gastlichkeit. Sie begrüßte ihre Gäste - und ließ sie dann tun, was sie wollten. Sie respektierte ihr Privatleben, auch wenn es ein wenig über die Stränge schlagen sollte. Die gegenwärtigen Bewohner der Präsidentensuite, nicht gerade Staatsoberhäupter, aber doch wichtig genug, um als Renommiergäste gelten zu können, waren der Herzog und die Herzogin von Croydon mit ihrem Gefolge: einem Privatsekretär, der Kammerzofe der Herzogin und fünf Bedlington-Terriern. Peter McDermott blieb vor der doppelt gepolsterten, mit vergoldeten Wappenlilien geschmückten Tür stehen und drückte einen Perlmuttknopf. Er hörte innen den gedämpften Ton des Summers und, Sekunden später, das aufgeregte Gekläff der Hunde. Während er wartete, rief er sich ins Gedächtnis, was er vom Hörensagen und aus eigener Erfahrung über die Croydons wußte. Der Herzog, Abkömmling eines alten Geschlechts, hatte sich mit untrüglichem Gefühl für Popularität den Erfordernissen einer neuen Zeit angepaßt. In den letzten zehn Jahren war er, unterstützt von der Herzogin, die selbst eine profilierte Persönlichkeit war und als Verwandte des englischen Königshauses im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stand, als Gesandter der britischen Regierung zu besonderer Verwendung immer wieder mit schwierigen und heiklen diplomatischen Missionen betraut worden. In der letzten Zeit waren allerdings ab und zu Gerüchte aufgetaucht, daß die Popularität des Herzogs sich Gebieten zuwandte, die seiner diplomatischen Karriere nicht eben förderlich sein konnten. Man munkelte von einer gewissen Vorliebe für Alkohol und verheiratete Frauen. Andere Gerüchte wollten allerdings wissen, daß solche Vorkommnisse die Aussichten des Herzogs nicht getrübt hätten und daß die energische Herzogin die Situation fest in der Hand habe. Man sprach sogar davon, die Ernennung des Herzogs von Croydon zum britischen Botschafter in Washington stehe bevor. »Verzeihen Sie, Mr. McDermott«, murmelte eine Stimme hinter Peters Rücken, »haben S ie einen Moment Zeit für mich?« McDermott schwenkte herum und erkannte Sol Natchez, einen der älteren Etagenkellner, der lautlos den Korridor heruntergekommen war. Natchez war ein hagerer Mann, leichenhaft blaß mit eingefallenen Gesichtszügen. Er trug eine kurze weiße Jacke mit Bordüren in Rot und Gold - den Farben des Hotels. Seine Haare waren mit Pomade geglättet und in einer altmodischen Stirnlocke nach vorn gekämmt. Die fahlen Augen tränten, und die Adern auf seinen dürren Händen, die er nervös knetete, ragten wie Stränge hervor. »Was gibt's, Sol?« Mit einer Stimme, die vor unterdrückter Erregung bebte, sagte der Kellner: »Ich nehme an, Sie sind wegen der Beschwerde hier... der Beschwerde über mich.« Peter warf einen Blick auf die Tür, die bisher nicht geöffnet worden war. Aus dem Inneren der Suite war außer dem Kläffen der Hunde bisher kein Laut gedrungen. »Erzählen Sie mir schnell, was passiert ist.« Der andere schluckte krampfhaft. Ohne auf die Frage einzugehen, flüsterte er hastig und flehend: »Wenn ch meine Stellung verliere, Mr. McDermott, ist's für mich in meinem Alter schwer, eine neue zu finden.« Er betrachtete die Präsidentensuite mit halb besorgter, halb gehässiger Miene. »Im allgemeinen komme ich gut mit ihnen aus... aber heute abend war's wie verhext. Sie sind ziemlich anspruchsvoll, aber das hat mir nie was ausgemacht, obwohl sie keine Trinkgelder geben.« McDermott mußte unwillkürlich lächeln. Angehörige des englischen Adels gaben selten ein Trinkgeld, vielleicht weil sie glaubten, daß die Ehre, sie bedienen zu dürfen, Belohnung genug sei. »Sie haben mir noch immer nicht gesagt -« »Ich wollte gerade darauf zu sprechen kommen, Mr. McDermott.« Peter war die Zerknirschtheit dieses Mannes, der alt genug war, um sein Großvater zu sein, fast peinlich. »Es ist ungefähr eine halbe Stunde her. Sie hatten ein spätes Nachtmahl bestellt... der Herzog und die Herzogin, meine ich... Austern, Champagner und Shrimps Creole.« »Schön, und was ist dann passiert?« »Es ist bei den Shrimps Creole passiert, Sir. Als ich sie servierte... also, ich weiß selbst nicht, wie's zuging... in all den Jahren ist mir das kaum jemals passiert -« »Mein Gott, kommen Sie zur Sache, Sol!« Peter ließ die Tür nicht aus den Augen, um das Gespräch sofort abzubrechen, falls sie sich öffnete. »Ja, Mr. McDermott. Als ich die Creole servierte, stand die Herzogin vom Tisch auf, und als sie zurücktrat, stieß sie mich am Arm. Also, wenn ich's nicht besser wüßte, würde ich sagen, sie hätte es absichtlich getan.« »Das ist doch absurd!« »Ich weiß, Sir. Aber das Theater danach...! Es hat nur einen kleinen Fleck gegeben... ich schwöre Ihnen, Sir, er war nicht größer als ein halber Zentimeter.. auf dem einen Hosenbein des Herzogs.« »Und das ist alles?« fragte Peter zweifelnd. »Ja. Ich kann beschwören, daß es nicht mehr war, Mr. McDermott. Aber bei dem Theater, das die Herzogin machte... hätte man denken können... ich hätte einen Mord begangen. Ich entschuldigte mich, holte eine saubere Serviette und Wasser, um den Fleck wegzumachen, aber das genügte ihr nicht. Sie wollte unbedingt mit Mr. Trent sprechen -« »Mr. Trent ist nicht im Hotel.« Peter beschloß, sich zunächst die Version der anderen Seite anzuhören, bevor er eine Entscheidung fällte. »Wenn Sie für heute fertig sind, gehen Sie am besten nach Hause. Melden Sie sich morgen wie immer zum Dienst. Dann werden Sie erfahren, was weiter geschieht.« Als der Kellner verschwunden war, drückte Peter McDermott wieder auf die Klingel. Kaum hatten die jungen Hunde von neuem zu bellen begonnen, als die Tür von einem jungen Mann geöffnet wurde, der ein rundes Gesicht hatte und einen Kneifer auf der Nase trug - dem Sekretär der Croydons. Bevor einer der beiden etwas äußern konnte, rief eine weibliche Stimme aus dem Inneren der Suite: »Wer immer auch an der Tür ist, sagen Sie ihm, er soll endlich aufhören zu klingeln.« Es war eine Stimme, fand Peter, die trotz ihres herrischen Tonfalls anziehend wirkte und durch ihre rauhe Klangfülle Interesse erregte. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er zum Sekretär, »ich dachte, Sie hätten das Klingeln vielleicht nicht gehört.« Er nannte seinen Namen und fügte hinzu: »Man hat mir berichtet, daß die Bedienung Anlaß zur Klage gab. Ich kam her, um zu fragen, ob ich Ihnen behilflich sein kann.« »Wir erwarteten Mr. Trent«, antwortete der Sekretär. »Mr. Trent ist heute abend nicht im Hotel.« Während des Gesprächs hatten sich die beiden Männer von der Tür entfernt und standen nun in der Diele, einem mit dicken Teppichen ausgelegten und mit zwei Polstersesseln und einem Tischchen geschmackvoll ausgestatteten Raum. Ein Stich von Morris Henry Hobbs zeigte das alte New Orleans. Am einen Ende der Diele befand sich die Doppeltür zum Korridor, am anderen die Tür zum Salon, die einen Spalt breit offen stand. Rechts und links führte je eine Tür in die kleine Küche und in ein Schlaf-Wohnzimmer, das gegenwärtig vom Sekretär bewohnt wurde und ihm auch als Büro diente. Die zwei nebeneinanderliegenden Hauptschlafzimmer der Suite waren sowohl durch die Küche als auch durch den Salon zu erreichen, eine wohlüberlegte Anordnung des Architekten, die es heimlichen Schlafzimmerbesuchen ermöglichte, notfalls durch die Küche herein- und hinauszuschlüpfen. »Warum kann man ihn nicht holen lassen?« Die Herzogin war in der Tür zum Salon aufgetaucht, drei wild kläffende Terrier auf den Fersen, und schoß die Frage auf Peter ab, ohne sich mit Vorreden aufzuhalten. Mit einem Fingerschnippen, das sofortigen Gehorsam erzwang, brachte sie die Hunde zum Schweigen und richtete ihren Blick forschend auf Peter. Er betrachtete das wohlgeformte Gesicht mit den hohen Wangenknochen, das ihm von zahllosen Fotos her vertraut war, und bemerkte, daß die Herzogin auch in salopper Kleidung ihre Eleganz nicht verleugnete. »Offengestanden, Durchlaucht, ich wußte nicht, daß Sie Mr. Trent persönlich verlangt hatten.« Graugrüne Augen musterten ihn abschätzend. »Wenn Mr. Trent schon nicht da ist, hätte ich wenigstens seinen Stellvertreter erwartet und nicht einen jungen Mann.« Peter errötete unwillkürlich. Die Haltung der Herzogin von Croydon war von einer erhabenen Arroganz, die seltsamerweise etwas Anziehendes hatte. Peter fiel dabei ein Foto ein, das er in einer Illustrierten gesehen hatte. Es zeigte die Herzogin, wie sie auf einem Hengst über ein hohes Gatter setzte. Unter Nichtachtung jeder Gefahr war sie völlig Herr der Lage. Bei der Erinnerung daran überkam ihn das Gefühl, als wäre er in diesem Moment zu Fuß und die Herzogin hoch zu Roß. »Ich bin stellvertretender Direktor. Deshalb bin ich selbst gekommen.« In ihren Augen schimmerte es belustigt auf. »Sind Sie nicht noch ein bißchen jung für solch einen Posten?« »Nicht unbedingt. Heutzutage haben viele junge Männer leitende Posten in der Hotelbranche inne.« Er stellte fest, daß sich der Sekretär diskret zurückgezogen hatte. »Wie alt sind Sie?« »Zweiunddreißig.« Die Herzogin lächelte. Wenn sie wollte - wie jetzt -, strahlte ihr Gesicht bezaubernde Wärme aus. Dann war ihr vielgerühmter Charme nicht zu übersehen. Sie mochte fünf oder sechs Jahre älter sein als er, aber um einiges jünger als der Herzog, der fast fünfzig war. Nun fragte sie: »Haben Sie einen Kursus besucht oder so etwas?« »Ich habe das Diplom der Cornell-Universität - der Hotelfachhochschule. Bevor ich hierher kam, war ich stellvertretender Direktor des Waldorf.« Es kostete ihn Überwindung, das Waldorf zu erwähnen, und fast hätte er hinzugefügt: wo man mich mit Schimpf und Schande davongejagt hat, so daß ich jetzt auf der schwarzen Liste aller Hotelkonzerne stehe und froh sein kann, daß ich hier, in einem konzernfreien Haus, unterkriechen konnte. Aber natürlich sagte er nichts dergleichen, denn mit seiner privaten Hölle mußte er allein fertig werden, auch wenn jemand durch Fragen unwissentlich alte, kaum verharschte Wunden aufriß. »Das Waldorf hätte einen Zwischenfall wie den von heute abend nie geduldet«, entgegnete sie. »Falls wir im Unrecht sind, Durchlaucht, kann ich Ihnen versichern, daß auch das St. Gregory so etwas nicht durchgehen läßt.« »Falls Sie im Unrecht sind? Ist Ihnen eigentlich klar, daß der Kellner meinem Mann die Shrimps Creole über den Anzug geschüttet hat?« Das war so offensichtlich eine Übertreibung, daß er sich verblüfft fragte, was die Herzogin eigentlich damit bezweckte. Es fiel auch völlig aus dem Rahmen des Üblichen, denn bisher waren die Beziehungen zwischen dem Hotel und den Croydons ausgezeichnet gewesen. »Ich weiß, daß es eine kleine Panne gegeben hat, die vermutlich auf eine Unachtsamkeit des Kellners zurückzuführen ist. Und ich bin gekommen, um mich im Namen des Hotels zu entschuldigen.« »Der ganze Abend ist uns durch diese >kleine Panne< verdorben. Mein Mann und ich wollten ihn hier in der Suite verbringen - ganz für uns allein. Wir machten nur einen kurzen Gang ums Viertel und freuten uns aufs Souper, und dann passierte das!« Peter nickte mitfühlend und ohne sich seine Verwunderung über die Haltung der Herzogin anmerken zu lassen. Es hatte fast den Anschein, als wollte sie ihm den Zwischenfall fest ins Gedächtnis einprägen. Er sagte: »Könnte ich vielleicht auch dem Herzog unser Bedauern über -« »Das ist nicht nötig«, erwiderte die Herzogin entschieden. Er war im Begriff, sich zu verabschieden, als die Tür zum Salon, die angelehnt gewesen war, sich vollends öffnete, und der Herzog auf der Schwelle erschien. Er war nachlässig gekleidet und trug nur ein zerknittertes weißes Oberhemd und Smokinghosen. Instinktiv suchte Peter nach den Spuren der Shrimps Creole, die Natchez, wie die Herzogin behauptete, über den Anzug ihres Mannes geschüttet hatte. Er entdeckte einen kaum wahrnehmbaren Fleck, so winzig, daß der Kellner ihn sofort hätte entfernen können. Hinter dem Herzog, an einer Wand des Salons, flimmerte der Bildschirm des eingeschalteten Fernsehgerätes. Das Gesicht des Herzogs war gerötet und faltig und wirkte älter als auf seinen letzten Fotos. Er hielt ein Glas in der Hand, und seine Stimme klang verschwommen. »Oh, Verzeihung! Hör mal, altes Mädchen«, sagte er zur Herzogin gewandt, »muß meine Zigaretten im Wagen liegengelassen haben.« Sie erwiderte scharf: »Ich bring' dir welche.« Ihr Ton war schroff abweisend. Der Herzog machte mit einem Nicken kehrt und verschwand im Salon. Der kurze Wortwechsel hatte etwas seltsam Beklemmendes und schien den Zorn der Herzogin aus unerfindlichen Gründen noch stärker anzufachen. »Ich bestehe darauf, daß Mr. Trent ein ausführlicher Bericht zugeht«, fauchte sie, »und ich erwarte, daß er sich persönlich bei uns entschuldigt.« Noch verdutzter als zuvor trat Peter den Rückzug an, und er war kaum draußen, als die Tür hinter ihm energisch geschlossen wurde. Zum Nachdenken blieb ihm jedoch keine Zeit. Auf dem Korridor wartete der Boy, der Christine in die 14. Etage begleitet hatte. »Mr. McDermott«, sagte er eindringlich, »Miss Francis braucht Sie in der Nummer 1439. Kommen Sie, bitte, 4 Etwa eine Viertelstunde früher, während sie zum 14. Stock hochfuhren, sagte der Boy grinsend zu Christine: »Sie spielen wohl ein bißchen Detektiv, Miss Francis?« »Wenn der Hausdetektiv da wäre, könnte ich mir das sparen«, antwortete Christine. Der Boy, Jimmy Duckworth, ein untersetzter Mann mit beginnender Glatze und einem verheirateten Sohn, der in der Buchhaltung des St. Gregory arbeitete, machte nur verächtlich: »Ach der!« Gleich darauf hielt der Lift. »Es ist Nummer 1439, Jimmy«, sagte Christine, und ganz automatisch schwenkten beide nach rechts. Sie waren beide mit der Geographie des Hotels vertraut, wenn auch auf sehr verschiedene Weise; der Boy hatte sich diese Sicherheit erworben, indem er jahraus, jahrein Gäste aus der Halle in ihre Zimmer führte, Christines Ortskenntnis beruhte auf einer Serie geistiger Bilder, die sich ihr beim Studium des Hotelplans mit seinen einzelnen Stockwerken eingeprägt hatten. Falls jemand vor fünf Jahren auf der Universität von Wisconsin die Frage gestellt hätte, womit sich die zwanzigjährige Chris Francis, eine begabte Studentin mit einem Flair für moderne Sprachen, später wohl beschäftigen würde, dann wäre selbst die ausschweifendste Phantasie nicht darauf verfallen, daß sie als Direktionsassistentin in einem Hotel von New Orleans landen könnte. Zu jener Zeit kannte sie die mondsichelförmige Stadt kaum und interessierte sich denkbar wenig für sie. Sie hatte in der Schule im Geschichtsunterricht die Erwerbung von Louisiana durchgenommen und sich »Endstation Sehnsucht« angesehen. Aber sogar das Theaterstück war überholt, als sie nach New Orleans kam. Die Straßenbahn hatte einem Dieselbus Platz gemacht, und Sehnsucht war ein unbedeutender Vorort im Osten der Stadt, den Touristen selten aufsuchten. Vermutlich war es in gewisser Weise gerade die völlig fremde Umgebung, die sie nach New Orleans zog. Nach der Katastrophe in Wisconsin hatte sie dumpf und fast planlos nach einem Fleck Ausschau gehalten, wo man sie nicht kannte und der auch für sie neu war. Vertraute Dinge, ihre Berührung, ihr Anblick, ihr Klang verursachten ihr ein Herzweh, das sie ganz durchdrang, ihre Tage erfüllte und sie sogar bis in den Schlaf verfolgte. Seltsamerweise - und damals schämte sie sich dessen beinahe - litt sie nie unter Alpträumen; sie sah nur immer wieder die Geschehnisse vor sich, so wie sie sich an jenem denkwürdigen Tag auf dem Madison-Flughafen vor ihren Augen abgespielt hatten. Sie hatte ihre Familie, die einen Europatrip plante, dorthin begleitet; ihre Mutter, fröhlich und aufgeregt und geschmückt mit einer Orchidee, die eine Freundin ihr zum Abschied übersandt hatte; ihren Vater, entspannt und herzlich zufrieden darüber, daß die wirklichen und eingebildeten Leiden seiner Patienten einen Monat lang jemand anderen in Trab halten würden. Er hatte seine Pfeife am Schuh ausgeklopft, als die Mischine ausgerufen wurde. Babs, ihre ältere Schwester, hatte Christine umarmt; und sogar Tony, die zwei Jahre jünger und öffentlichen Gefühlsergüssen abgeneigt, ließ sich gnädig küssen. »Auf Wiedersehen, Stubbs!« hatten Babs und Tony gerufen, und Christine hatte über den alten kindischen Spitznamen gelächelt. Und alle hatten versprochen, ihr zu schreiben, obwohl sie zwei Wochen später, nach Semesterschluß, in Paris wieder mit ihnen zusammentreffen sollte. Ganz zum Schluß hatte ihre Mutter sie fest an sich gedrückt und gesagt, sie solle gut auf sich achtgeben. Dann war die große Düsenmaschine zur Startbahn gerollt und hatte sich mit Dröhnen majestätisch vom Boden abgehoben. Aber sie hatte noch nicht richtig an Höhe gewonnen, da sackte sie mit einem herabhängenden Flügel ab, wurde zu einem wirbelnden purzelnden Katharinenrad, dann einen Moment lang zu einer Staubwolke, flammte auf wie eine brennende Fackel und war endlich nur noch ein Haufen weitverstreuter Trümmer - von Metallteilen und menschlichen Überresten Das war vor fünf Jahren. Einige Wochen nach dem Unglück hatte sie Wisconsin verlassen und war nie mehr dorthin zurückgekehrt. Christine und der Boy gingen den Korridor entlang, und der dicke Läufer dämpfte das Geräusch ihrer Schritte. Jimmy Duckworth dachte laut nach. »Nummer 1439... das ist doch der alte Herr... Mr. Wells. Vor ein paar Tagen haben wir ihn aus einem Eckzimmer dahin umquartiert.« Einige Meter weiter unten öffnete sich eine Tür, und ein gutgekleideter Mann, Mitte der Vierzig, trat auf den Korridor. Er machte die Tür hinter sich zu und war im Begriff, den Schlüssel einzustecken, zögerte aber, als er Christine erblickte und musterte sie mit unverhohlenem Interesse. Als er zum Sprechen ansetzte, schüttelte der Boy fast unmerklich den Kopf. Christine, der das stumme Gebärdenspiel nicht entgangen war, dachte, daß sie sich eigentlich geschmeichelt fühlen müßte, für ein Callgirl gehalten zu werden. Sie wußte vom Hörensagen, daß sich unter Herbie Chandlers Damenflor einige außerordentlich schöne Mädchen befanden. Im Weitergehen fragte sie: »Warum hat man Mr. Wells umquartiert?« »Wie ich gehört hab', Miss, hat der Gast, der die Nummer 1439 vorher hatte, Krach geschlagen, und da haben sie die Zimmer einfach ausgetauscht.« Christine erinnerte sich nun wieder an die Nummer 1439; es hatte schon öfter Beschwerden über dieses Zimmer gegeben. Es lag unmittelbar neben dem Personalaufzug und war anscheinend Treffpunkt sämtlicher Rohrleitungen. Infolgedessen war es sehr laut und unerträglich heiß. Fast in jedem Hotel gab es mindestens einen solchen Raum - bei manchen hieß er die Folterkammer -, und im allgemeinen wurde er nur dann vermietet, wenn das Hotel bis zum letzten Platz belegt war. »Wenn Mr. Wells ein besseres Zimmer hatte, warum hat man ihn dann gebeten, umzuziehen?« Der Boy zuckte mit den Schultern. »Danach sollten Sie lieber die Burschen am Empfang fragen.« Sie gab nicht nach. »Aber Sie haben sich doch sicher Ihre Gedanken gemacht.« »Tjah, also ich glaube, es liegt daran, weil er sich nie beschwert. Der alte Herr kommt seit Jahren her und hat noch nie auch nur einen Mucks gesagt. Und es gibt welche, die scheinen sich 'nen Spaß daraus zu machen.« Christine preßte ärgerlich die Lippen zusammen, als Jimmy hinzufügte: »In der Küche hab' ich gehört, daß sie ihm unten im Speiserestaurant den Tisch direkt neben der Küchentür angewiesen haben, den sonst niemand haben will. Dem macht's ja nichts aus, sagen sie.« Morgen früh würde es einigen Leuten sehr viel ausmachen; dafür würde sie sorgen, dachte Christine grimmig. Als sie sich vorstellte, wie schäbig ein Stammgast, nur weil er ein ruhiger friedlicher Mensch war, behandelt worden war, spürte sie, wie es in ihr kochte. Und wenn schon! Ihre Temperamentsausbrüche waren im Hotel nicht unbekannt; einige schrieben sie, wie sie gut wußte, ihrem roten Haar zu. Im allgemeinen nahm sie sich sehr zusammen. Aber gelegentlich hatte ein solches Donnerwetter auch seinen Wert, weil es die Säumigen zum Handeln zwang. Sie bogen um eine Ecke und machten vor der Nummer 1439 halt. Der Boy klopfte an die Tür. Sie warteten und lauschten. Niemand antwortete, und Jimmy Duckworth klopfte noch einmal und kräftiger als vorher. Diesmal meldete sich der Bewohner sofort - mit einem unheimlichen Stöhnen, das leise begann, anschwoll und unvermittelt abbrach. »Den Hauptschlüssel, schnell!« drängte Christine. »Machen Sie die Tür auf.« Sie blieb zurück, während der Boy hineinging; selbst in einer so offenkundigen Notlage mußte das vom Hotel vorgeschriebene Dekorum gewahrt werden. Im Zimmer war es dunkel; Duckworth knipste das Licht an und verschwand aus Christines Blickfeld. Gleich darauf rief er beschwörend: »Kommen Sie schnell, Miss Francis!« Als sie den Raum betrat, empfing sie eine erstickende Hitze, obwohl der Schalter der Klimaanlage, wie sie mit einem Blick feststellte, auf »Kalt« zeigte. Zu weiteren Beobachtungen fehlte ihr die Zeit, denn ihre Aufmerksamkeit wurde völlig in Anspruch genommen von der röchelnden Gestalt, die halb aufgerichtet in den Kissen lehnte; das Gesicht aschgrau, rang sie mit hervorquellenden Augen und zitternden Lippen verzweifelt um Atem. Christine trat rasch ans Bett. Vor Jahren hatte sie im Sprechzimmer ihres Vaters einen Patienten bei einem Erstickungsanfall erlebt. Sie konnte zwar nicht alles tun, was ihr Vater damals getan hatte, aber an eine Maßnahme erinnerte sie sich noch genau. »Öffnen Sie das Fenster«, befahl sie Duckworth. »Wir brauchen hier drinnen unbedingt Luft.« Die Augen des Boys klebten am Gesicht des keuchenden alten Mannes. Er erwiderte nervös: »Das Fenster ist versiegelt. Wegen der Klimaanlage.« »Dann brechen Sie's auf. Schlagen Sie meinetwegen die Scheibe ein, wenn's nicht anders geht.« Auf dem Nachttisch stand ein Telefon. Sie griff nach dem Hörer, und als sich die Zentrale meldete, sagte sie: »Hier ist Miss Francis. Ist Dr. Aarons im Hotel?« »Nein, Miss Francis, aber er hat eine Telefonnummer hinterlassen, unter der ich ihn erreichen kann, wenn es sich um einen dringenden Fall handelt.« »Der Fall ist sehr dringend. Sagen Sie Dr. Aarons, Zimmer 1439, und er möchte sich bitte beeilen. Fragen Sie ihn, wann er frühestens im Hotel sein kann, und rufen Sie mich hier an.« Sie legte auf und wandte sich wieder dem Bett zu. Der schmächtige gelbliche Mann rang noch immer krampfhaft um Luft, und sie bemerkte, wie sein fahles Gesicht allmählich blau wurde. Das Stöhnen begann von neuem; es wurde von den Atembeschwerden verursacht, aber Christine erkannte, daß sich die schwache Widerstandskraft des Kranken vor allem durch seine verzweifelten körperlichen Anstrengungen erschöpfte. »Mr. Wells«, sagte sie und versuchte ein Gefühl der Zuversicht zu übermitteln, das sie keineswegs empfand, »ich glaube, Sie können leichter atmen, wenn Sie ganz still liegen.« Erleichtert stellte sie fest, daß der Boy am Fenster Fortschritte machte. Er hatte mit einem Kleiderbügel das Siegel an der Verriegelung gesprengt und stemmte nun den unteren Teil des Fensters Zentimeter für Zentimeter hoch. Wie als Antwort auf Christines beruhigende Worte ließ das Keuchen des kleinen Mannes nach. Er hatte ein altmodisches Flanellnachthemd an, und als Christine einen Arm um ihn legte, spürte sie unter dem groben Stoff seine knochigen Schultern. Sie stopfte ihm die Kissen so in den Rücken, daß er, von ihnen gestützt, fast aufrecht sitzen konnte. Seine sanften Rehaugen sahen sie an und versuchten ihr seine Dankbarkeit auszudrücken. »Ich habe einen Arzt benachrichtigt«, sagte sie tröstend. »Er muß jeden Moment kommen.« Indessen machte der Boy, vor Anstrengung keuchend, eine letzte Kraftanstrengung, der Verschluß gab plötzlich nach, und das Fenster glitt weit auf. Ein Schwall kühler Luft drang ins Zimmer. Das Unwetter war also doch auf dem Weg nach dem Süden, dachte Christine dankbar; es trieb eine frische Brise vor sich her, und die Außentemperatur mußte niedriger sein als seit Tagen. Das Telefon läutete. Sie bedeutete dem Boy durch ein Zeichen, ihren Platz am Bett des Kranken einzunehmen, und hob den Hörer ab. »Dr. Aarons ist auf dem Weg ins Hotel, Miss Francis«, sagte das Mädchen aus der Zentrale. »Er war in Paradis, und ich soll Ihnen ausrichten, daß er in zwanzig Minuten eintreffen wird.« Christine überlegte. Paradis lag jenseits des Mississippi, noch hinter Algiers. Selbst ein schneller und geschickter Fahrer würde die Strecke kaum in zwanzig Minuten schaffen. Außerdem zweifelte sie manchmal an der Kompetenz des behäbigen, trinkfesten Dr. Aarons, der als Hausarzt umsonst im Hotel wohnte und dafür stets verfügbar sein mußte. »Ich glaube nicht, daß wir so lange warten können«, sagte sie zu dem Mädchen. »Schauen Sie doch mal nach, ob wir unter den Gästen einen Arzt haben.« »Das hab' ich schon getan.« Die Antwort klang eine Spur zu selbstgefällig, so als habe das Mädchen zu viele Geschichten über heldenhafte Telefonfräulein gelesen und sich vorgenommen, den leuchtenden Vorbildern nachzueifern. »In der Nummer 221 wohnt ein Dr. Koenig und in der 1203 ein Dr. Uxbridge.« Christine notierte sich die Nummern auf einem Block, der neben dem Apparat lag. »Schön, dann verbinden Sie mich bitte mit der 221.« Ärzte, die in Hotels absteigen, erwarten zu Recht, daß man ihr Privatleben respektiert. Aber im Notfall durfte man sich schon mal über das Protokoll hinwegsetzen. Es klickte ein paarmal in der Leitung, während der Apparat am anderen Ende läutete. Dann meldete sich eine verschlafene Stimme mit deutschem Akzent: »Ja, wer ist dort?« Christine stellte sich vor. »Verzeihen Sie die Störung, Dr. Koenig, aber einer unserer Gäste ist schwer erkrankt.« Ihr Blick schweifte zum Bett hinüber. Die beängstigende Blaufärbung des Gesichtes war verschwunden. Aber der kleine Mann war noch immer leichenblaß und atmete mühsam wie zuvor. Sie fügte hinzu: »Es wäre sehr freundlich, wenn Sie herüberkommen könnten.« Eine kurze Pause trat ein. Dann erwiderte dieselbe Stimme liebenswürdig: »Meine liebe junge Dame, ich wäre nur zu glücklich, Ihnen einen, wenn auch noch so bescheidenen Dienst erweisen zu können. Aber ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen.« Er schmunzelte hörbar. »Sehen Sie, ich bin Doktor der Musik und in Ihre wunderschöne Stadt gekommen, um als Gastdirigent - das ist, glaube ich, das richtige Wort - Ihr ausgezeichnetes Symphonieorchester zu leiten.« Trotz Ihrer Besorgnis hätte Christine fast gelacht. Sie entschuldigte sich. »Es tut mir sehr leid, daß ich Sie im Schlaf gestört habe.« »Bitte, nehmen Sie sich das nicht zu Herzen. Sollte auch die andere Sorte Doktoren meinem unglücklichen Mitgast nicht mehr helfen können, dann könnte ich natürlich mit meiner Geige hinüberkommen und für ihn spielen.« Ein tiefer Seufzer kam durch die Leitung. »Gibt es einen schöneren Tod als bei einem Adagio von Vivaldi oder Tartini sanft zu entschlafen?« »Vielen Dank. Ich hoffe, das wird nicht nötig sein.« Sie legte auf und verlangte ungeduldig die nächste Verbindung. Dr. Uxbridge in der Nummer 1203 meldete sich sofort mit einer Stimme, der jede Frivolität fernlag. Christines erste Frage beantwortete er kurz und sachlich: »Ja, ich bin Arzt - Internist.« Er hörte sich Christines Erklärungen kommentarlos an und sagte dann knapp: »Gut, in ein paar Minuten bin ich bei Ihnen.« Der Boy stand noch neben dem Bett. Christine befahl ihm: »Mr. McDermott ist in der Präsidentensuite. Warten Sie auf ihn und bitten Sie ihn, so schnell wie möglich herzukommen.« Sie griff wieder nach dem Telefonhörer. »Den Chefingenieur bitte.« Zum Glück war der Chefingenieur fast immer zu erreichen. Doc Vickery war Junggeselle, wohnte im Hotel und hatte nur eine einzige Leidenschaft: die technischen Eingeweide des St. Gregory in ihrer gesamten Ausdehnung vom Keller bis unters Dach. Seit einem Vierteljahrhundert, seit er der See und seinem heimatlichen Clydeside ade gesagt hatte, beaufsichtigte er die Installationsanlagen des Hotels, und in mageren Zeiten, wenn das Geld für Ersatzteile knapp war, verstand er es, den abgenutzten Maschinen Sonderleistungen abzuschmeicheln. Der Chefingenieur war ein Freund Christines, und sie wußte, daß sie zu seinen Lieblingen zählte. Nach wenigen Sekunden hörte sie seine Stimme mit ihrem rauhen schottischen Akzent. »Aye?« In wenigen Worten berichtete sie ihm über die Erkrankung von Albert Wells. »Der Doktor ist noch nicht da. Aber er wird wahrscheinlich Sauerstoff brauchen. Wir haben doch ein tragbares Gerät im Hotel, nicht wahr?« »Aye, wir haben Sauerstoffzylinder, Chris, aber wir verwenden sie bloß beim Schweißen.« »Sauerstoff ist Sauerstoff«, antwortete sie. Einiges von dem, was sie bei ihrem Vater aufgeschnappt hatte, fiel ihr allmählich wieder ein. »Die Verpackung spielt keine Rolle. Könnten Sie einen Mann von Ihrer Nachtschicht mit allem Notwendigen heraufschicken?« Der Chefingenieur brummte zustimmend. »Freilich, und ich komm' auch, mein Mädel, sobald ich in die Hosen gefahren bin. Sonst kommt irgend so ein Witzbold auf die Idee, dem alten Mann einen Pott mit Azetylen unter die Nase zu halten, und das würde ihm bestimmt den Rest geben.« »Ach bitte, beeilen Sie sich.« Sie legte auf und beugte sich übers Bett. Die Augen des kleinen Mannes waren geschlossen. Nun, wo er nicht mehr nach Luft rang, schien er überhaupt nicht mehr zu atmen. Es klopfte leicht an die halb geöffnete Tür, und ein hochgewachsener, hagerer Mann kam herein. Er hatte ein eckiges Gesicht, und sein Haar war an den Schläfen ergraut. Unter dem konservativen dunkelblauen Anzug kam ein beiger Pyjama zum Vorschein. »Ich bin Dr. Uxbridge.« Die Stimme des Arztes strahlte Ruhe und Sicherheit aus. »Herr Doktor, er hat eben erst... « Dr. Uxbridge nickte und entnahm seiner Ledertasche, die er aufs Bett stellte, ein Stethoskop. Ohne Zeit zu verlieren, schob er es unter das Flanellnachthemd des Patienten und horchte rasch Brust und Rücken ab. Dann nahm er mit schnellen, sicheren Bewegungen eine Spritze aus der Tasche, setzte sie zusammen und brach den Hals einer kleinen Ampulle ab. Nachdem er die Spritze gefüllt hatte, beugte er sich über den Kranken, schob einen Ärmel des Nachthemdes hoch und drehte ihn zu einer provisorischen Aderpresse zusammen. »Halten Sie das fest und ziehen Sie's eng zusammen«, sagte er zu Christine. Mit alkoholgetränkter Watte tupfte er die Haut über der Vene ab und stach die Nadel in den Unterarm. Er wies mit dem Kopf auf die Aderpresse. »Sie können jetzt loslassen.« Dann, nach einem Blick auf seine Uhr, begann er die Flüssigkeit langsam zu injizieren. Christines Blick heftete sich fragend auf das Gesicht des Arztes. Ohne aufzusehen, erklärte er: »Aminophyllin; es soll das Herz anregen.« Er blickte wieder auf die Uhr und erhöhte die Dosierung nach und nach. Eine Minute verstrich. Zwei Minuten. Die Spritze war zur Hälfte geleert. Bisher zeigte sich keine Wirkung. »Was fehlt ihm eigentlich?« flüsterte Christine. »Schwere Bronchitis in Verbindung mit Asthma. Ich vermute, er hat diese Anfälle schon früher gehabt.« Plötzlich dehnte sich die Brust des kleinen Mannes. Sie hob und senkte sich, langsamer als vorher, aber in vollen tiefen Atemzügen. Er schlug die Augen auf. Die Anspannung im Raum ließ nach. Der Arzt zog die Spritze heraus und nahm sie auseinander. »Mr. Wells«, sagte Christine. »Mr. Wells, können Sie mich hören?« Er nickte mehrmals hintereinander und sah sie aufmerksam an. »Wir fanden Sie sehr krank vor, Mr. Wells. Das ist Dr. Uxbridge, ein Hotelgast, den wir um Hilfe baten.« Der Blick des Kranken wanderte zum Arzt hinüber. »Danke«, flüsterte er mühsam. Es war fast ein Keuchen und das erste Wort, das der Kranke hervorbrachte. Sein Gesicht bekam allmählich wieder ein wenig Farbe. »Wenn jemand Dank verdient, dann diese junge Dame.« Der Arzt verzog sein Gesicht zu einem knappen Lächeln und sagte dann zu Christine: »Der Herr ist noch immer sehr leidend und benötigt auch weiterhin ärztliche Betreuung. Mein Rat wäre, ihn sofort in ein Krankenhaus zu überführen.« »Nein, nein! Das möchte ich nicht!« kam es hastig und eindringlich vom Bett her. Der kleine Mann beugte sich in den Kissen vor, mit unruhigem Blick, und seine Arme, die Christine vorhin zugedeckt hatte, lagen nun auf der Decke. Er atmete noch immer keuchend und mit Anstrengung, aber die akute Gefahr war vorüber. Christine hatte zum erstenmal Zeit, sein Äußeres genau zu betrachten. Ursprünglich hatte sie ihn auf Anfang Sechzig geschätzt; aber nun revidierte sie ihre Annahme und fügte ein halbes Dutzend Jahre hinzu. Er war von Gestalt schmächtig, und seine geringe Größe sowie seine abgemagerten, spitzen Gesichtszüge und die ein wenig eingefallenen Schultern gaben ihm das sperlinghafte Aussehen, dessen sie sich von früheren Begegnungen her erinnerte. Die spärlichen grauen Haarsträhnen, sonst ordentlich zurückgekämmt, waren jetzt zerzaust und feucht von Schweiß. Auf seinem Gesicht lag meistens ein milder, harmloser, fast abbittender Ausdruck, und dennoch spürte Christine darunter verborgene stille Beharrlichkeit. Ihre erste Begegnung mit Albert Wells hatte vor zwei Jahren stattgefunden. Er war schüchtern ins Verwaltungsbüro gekommen, tief beunruhigt über eine Unstimmigkeit in seiner Rechnung, über die er sich mit der Kasse nicht hatte einigen können. Es handelte sich um einen Betrag von 75 Cents, und während sich der Hauptkassierer bereit erklärt hatte, den Posten ganz zu streichen - wie es gewöhnlich geschah, wenn Gäste geringfügige Beträge anzweifelten -, ging es Albert Wells darum, zu beweisen, daß der Posten auf seiner Rechnung überhaupt nichts zu suchen hatte. Nach einigen geduldigen Umfragen stellte Christine fest, daß der alte Mann recht hatte, und da sie selbst gelegentlich Anwandlungen von Sparsamkeit unterworfen war, die allerdings jedesmal von Ausbrüchen wilder weiblicher Extravaganz abgelöst wurden, sympathisierte sie mit dem kleinen Mann und achtete ihn seiner Charakterstärke wegen. Außerdem schloß sie aus seiner Hotelrechnung, die sich in bescheidenen Grenzen hielt, und aus seiner Kleidung, die offensichtlich von der Stange kam, daß er nur über geringe Mittel verfügte, vielleicht als Rentner lebte, und daß die jährlichen Besuche in New Orleans Höhepunkte in seinem Dasein waren. »Ich mag Krankenhäuser nicht«, erklärte Albert Wells. »Hab' sie nie gemocht.« »Falls Sie hier bleiben«, wandte der Arzt ein, »brauchen Sie regelmäßig ärztliche Betreuung und wenigstens für die nächsten vierundzwanzig Stunden eine Pflegerin. Und eigentlich müßten Sie auch ab und zu Sauerstoff bekommen.« Der kleine Mann ließ nicht locker. »Für die Pflegerin kann doch das Hotel sorgen. Sie können das, Miss, nicht wahr?« »Ich denke schon.« Albert Wells' Abneigung gegen Krankenhäuser war anscheinend im Augenblick sogar stärker als seine natürliche Zurückhaltung und der Wunsch, niemandem zur Last zu fallen. Christine fragte sich allerdings, ob er ahnte, wie kostspielig Privatpflege war. Sie wurden unterbrochen. In der Tür tauchte ein Mechaniker im Overall auf und schob einen Sauerstoffzylinder auf einem Wägelchen vor sich her. Ihm folgte der stämmige Chefingenieur, der einen kurzen Gummischlauch, Draht und einen Plastikbeutel trug. »Krankenhausmäßig ist es zwar nicht, Chris«, sagte er, »aber ich schätze, es funktioniert«. Er war hastig in die Kleider gefahren und hatte ein altes Tweedjackett und Slacks an; das Hemd war offen und enthüllte ein Stück seiner behaarten Brust. Seine Füße steckten in offenen Sandalen, und unter dem kahlen gewölbten Schädel saß ihm die breitrandige Brille wie gewöhnlich fast auf der Nasenspitze. Dr. Uxbridge machte ein erstauntes Gesicht. Christine erklärte ihm, sie habe damit gerechnet, daß Sauerstoff benötigt würde, und stellte den Chefingenieur vor. Dieser nickte, ohne sich bei der Arbeit stören zu lassen, und spähte nur kurz über den Rand seiner Brille. Gleich darauf, nachdem er den Schlauch angeschlossen hatte, verkündete er: »An diesen Plastikbeuteln sind schon ein Haufen Leute erstickt, aber das ist noch kein Grund, warum einer nicht auch mal das Gegenteil bewirken sollte. Was meinen Sie, Doktor, geht es so?« »Davon bin ich überzeugt.« Dr. Uxbridge war nicht mehr ganz so zugeknöpft wie bisher. Er sah Christine an. »Dieses Hotel scheint einige äußerst tüchtige Mitarbeiter zu haben.« Sie lachte. »Warten wir's ab. Wenn wir erst mal Ihre Zimmerreservierungen durcheinandergebracht haben, werden Sie Ihre Meinung bestimmt ändern.« Der Arzt ging wieder zum Bett zurück. »Der Sauerstoff wird Ihnen Erleichterung verschaffen, Mr. Wells. Diese Bronchialbeschwerden haben Sie vermutlich schon länger.« Albert Wells nickte. »Die Bronchitis habe ich mir als Grubenarbeiter geholt«, sagte er heiser. »Und später kam dann noch das Asthma dazu.« Seine Augen schweiften zu Christine hinüber. »Mir tut das alles sehr leid, Miss.« »Ich bin auch traurig, vor allem, weil Sie Ihr Zimmer wechseln mußten.« Der Chefingenieur hatte indessen das andere Ende des Schlauchs an den grüngestrichenen Zylinder angeschlossen. Dr. Uxbridge sagte ihm: »Wir wollen mit fünf Minuten Sauerstoff beginnen und danach fünf Minuten pausieren.« Gemeinsam befestigten sie die improvisierte Maske über dem Gesicht des Kranken. Ein stetiges Zischen zeigte an, daß der Sauerstoff einströmte. Der Arzt warf einen Blick auf seine Uhr und fragte dann: »Haben Sie einen hiesigen Arzt benachrichtigt?« Christine bejahte und erklärte, warum Dr. Aarons noch nicht da war. Dr. Uxbridge nickte befriedigt. »Dann kann er alles Weitere veranlassen. Ich komme aus Illinois und bin nicht befugt, in Louisiana zu praktizieren.« Er beugte sich über Albert Wells. »Wie fühlen Sie sich? Besser?« Unter der Plastikmaske versuchte der kleine Mann zu nicken. Auf dem Korridor hörte man feste Schritte, und gleich darauf erschien Peter McDermotts athletische Gestalt in der Türöffnung. »Ich habe Ihre Nachricht bekommen«, sagte er zu Christine und sah zum Bett hinüber. »Geht es ihm besser?« »Ja. Aber ich glaube, wir sind Mr. Wells einiges schuldig.« Sie winkte Peter auf den Korridor hinaus und schilderte ihm die Umquartierung des kleinen Mannes, von der ihr der Boy erzählt hatte. Als sie sah, wie Peter die Stirn runzelte, fügte sie hinzu: »Falls er hier bleibt, müßten wir ihm schnell ein anderes Zimmer geben, und ich könnte mir vorstellen, daß sich auch eine Pflegerin ohne allzuviel Mühe beschaffen ließe.« Peter nickte. In einem Mädchenzimmer auf der anderen Seite des Korridors befand sich ein Haustelefon. Er ging hinüber und verlangte den Empfang. »Ich bin im vierzehnten«, sagte er, als sich der Empfang meldete. »Ist in der Etage noch ein Zimmer frei?« Eine spürbare Pause folgte. Der Empfangschef war einer von den alten Mitarbeitern, die Warren Trent vor vielen Jahren eingestellt hatte. Kaum jemals wurde seine fast automatische und wenig einfallsreiche Arbeitsweise bemängelt. Er hatte Peter McDermott bei mehreren Gelegenheiten zu verstehen gegeben, er könne Neulinge nicht leiden, und schon gar nicht, wenn sie jünger als er und ihm übergeordnet waren und aus dem Norden stammten. »Also«, sagte Peter, »ist nun ein Zimmer frei oder nicht?« »Ich habe noch die Nummer 1410«, erwiderte der Angestellte in bestem südlichem Pflanzerakzent, »aber ich bin gerade im Begriff, sie einem Herrn zu geben, der soeben eingetroffen ist.« Er fügte hinzu: »Falls Sie es noch nicht wissen sollten, wir sind nahezu voll besetzt.« Die Nummer 1410 war ein Zimmer, an das Peter sich erinnerte. Es war groß und luftig und ging auf die St. Charles Avenue hinaus. »Wenn ich die 1410 nehme, können Sie Ihren Mann dann woanders unterbringen?« »Nein, Mr. McDermott. Ich habe nur noch eine kleine Suite in der fünften Etage, und der Herr möchte keinen höheren Preis zahlen.« »Schön«, sagte Peter entschieden, »dann geben Sie dem Mann für heute nacht die Suite zum normalen Zimmerpreis. Morgen können wir ihn dann umquartieren. Ich brauche die 1410 für den Gast von 1439. Schicken Sie bitte sofort einen Boy mit dem Schlüssel herauf.« »Einen Moment, Mr. McDermott.« Bisher hatte sich der Empfangschef um einen leidlich höflichen Ton bemüht; nun wurde er ausgesprochen renitent. »Es war immer Mr. Trents Geschäftstaktik -« »Im Augenblick handelt es sich um meine Taktik«, antwortete Peter kurz angebunden. »Und noch eins: Richten Sie Ihrer Ablösung aus, daß ich morgen früh eine Erklärung dafür erwarte, warum Mr. Wells aus seinem Zimmer in die Nummer 1439 abgeschoben wurde, und Sie können hinzufügen, daß es schon ein verdammt guter Grund sein muß.« Er sah Christine an und schnitt ein Gesicht, während er den Hörer auflegte. 5 »Du mußt verrückt gewesen sein«, fauchte die Herzogin. »Verrückt und von allen guten Geistern verlassen.« Nachdem Peter McDermott die Präsidentensuite verlassen hatte, war sie in den Salon zurückgekehrt und hatte die innere Tür sorgfältig hinter sich geschlossen. Der Herzog rutschte unbehaglich hin und her, wie immer, wenn seine Frau ihn mit ihren regelmäßig wiederkehrenden Gardinenpredigten traktierte. »Das Ganze tut mir verdammt leid, altes Mädchen. Femsehen war eingeschaltet. Konnte den Burschen nicht hören. Dachte, er hätte sich schon verzogen.« Mit unsicheren Händen hob er sein Whiskyglas, trank einen guten Schluck und fügte wehklagend hinzu: »Außerdem bin ich noch verteufelt durcheinander.« »Es tut mir leid! Du bist durcheinander!« In der Stimme seiner Frau lag ein Unterton von Hysterie, eine Schwäche, zu der sie sich selten hinreißen ließ. »Wenn man dich hört, könnte man glauben, alles wäre nur eine Art Spiel. Und dabei ist das, was heute nacht passiert, vielleicht der Ruin -« »Denk bloß nicht, daß ich das nicht weiß. Weiß genau, daß es ernst ist. Verdammt ernst.« Er kauerte unglücklich in seinem Ledersessel wie ein Häufchen Elend und erinnerte in diesem Augenblick an den Hamster mit Schnurrbart und Melone der englischen Karikaturisten. Die Herzogin fuhr anklagend fort: »Ich habe getan, was ich konnte. Nach deiner Wahnsinnstat habe ich mein menschenmögliches versucht, um jedermann einzuhämmern, daß wir einen ruhigen Abend im Hotel verbracht haben. Ich erfand sogar einen Spaziergang, für den Fall, daß uns jemand beim Hereinkommen sah. Und dann platzt du in deiner unglaublichen Naivität dazwischen und verkündest laut und deutlich, daß du deine Zigaretten im Wagen vergessen hast.« »Das hat bloß einer gehört. Dieser Geschäftsführer oder so. Der hat überhaupt nichts gemerkt.« »Und ob er etwas gemerkt hat! Ich habe sein Gesicht genau beobachtet.« Die Herzogin bewahrte mühsam ihre Selbstbeherrschung. »Ist dir eigentlich klar, in welcher scheußlichen Klemme wir sind?« »Natürlich.« Der Herzog trank seinen Whisky aus und betrachtete das leere Glas. »Schäme mich maßlos. Wenn du mich nicht überredet hättest... und wenn ich nicht besäuselt gewesen wäre -« »Besäuselt! Du warst betrunken! Du warst betrunken, als ich dich fand, und du bist's auch jetzt noch.« Er schüttelte den Kopf, als wollte er Klarheit in seine Gedanken bringen. »Bin jetzt ganz nüchtern.« Nun war er an der Reihe mit Vorwürfen. »Du mußtest mir ja unbedingt nachspionieren. Dich einmischen. Konntest mich nicht in Ruhe -« »Hör auf damit. Wichtig ist jetzt nur das andere.« »Du hast mich überredet...«, wiederholte er. »Wir hätten sonst nichts tun können. Nichts! Und so haben wir vielleicht noch eine Chance.« »Verlaß dich nicht zu fest darauf. Wenn die Polizei erst mal anfängt zu bohren...« »Dazu müßte man uns erst einmal verdächtigen. Deshalb hab' ich den Zwischenfall mit dem Kellner inszeniert und so viel Aufhebens davon gemacht. Es ist zwar kein echtes Alibi, aber fast so gut. Damit habe ich ihnen eingebleut, daß wir heute abend hier waren... oder vielmehr, ich hätte es ihnen eingebleut, wenn du nicht alles verdorben hättest. Ich könnte heulen.« »Das wundert mich«, sagte der Herzog. »Ich wußte gar nicht, daß du so weiblich bist.« Er hatte sich im Sessel aufgerichtet und irgendwie seine Unterwürfigkeit ganz oder fast abgeschüttelt. Diese chamäleonhafte Verwandlungsfähigkeit verblüffte alle, die ihn kannten, immer von neuem und veranlaßte sie zu der Frage, wie er wirklich war. Die Herzogin errötete, ein Reiz, der ihre statuarische Schönheit noch erhöhte. »Das war überflüssig.« »Vielleicht.« Der Herzog stand auf und begab sich zu einem Seitentischchen, wo er sich eine freigebige Portion Whisky ins Glas schüttete und ein wenig Sodawasser nachfüllte. Seiner Frau den Rücken zuwendend, fügte er hinzu: »Trotzdem kannst du nicht leugnen, daß das die Ursache all unserer Schwierigkeiten ist.« »Ich gebe nichts dergleichen zu. Das mag für deine Angelegenheiten gelten, aber nicht für meine. Es war eine Wahnsinnsidee von dir, heute abend in diese scheußliche Spelunke zu gehen, und daß du dieses Frauenzimmer mitgenommen hast - « »Haben das bereits besprochen«, sagte der Herzog erschöpft. »Zur Genüge. Auf der Rückfahrt. Bevor es passierte.« »Es freut mich, daß etwas von dem, was ich sagte, hängengeblieben ist. Ich hatte nicht damit gerechnet.« »Deine Worte durchdringen den dicksten Nebel, altes Mädchen. Ich versuche mich dagegen immun zu machen. Hab's aber bisher nicht geschafft.« Er nippte an seinem frischen Drink. »Warum hast du mich geheiratet?« »Ich glaube, vor allem deshalb, weil du in unseren Kreisen der einzige warst, der etwas getan hat, das der Mühe wert war. Ich hörte immer nur: Der Adel hat sich überlebt. Du schienst zu beweisen, daß es nicht so war.« Der Herzog hob sein Glas und starrte es an. »Jetzt nicht mehr, wie?« »Nein. Wenn es dennoch den Anschein hat, dann nur, weil ich die Fäden ziehe.« »Washington?« fragte er. »Wir könnten es schaffen, wenn du es fertigbrächtest, weniger zu trinken und im eigenen Bett zu schlafen.« »Haha!« Er lachte hohl. »Ein verdammt kaltes Bett.« »Ich sagte bereits, daß wir darauf nicht einzugehen brauchen.« »Hast du dich eigentlich nie gefragt, warum ich dich geheiratet habe?« »O doch, ich hab' mir so meine Gedanken gemacht.« »Wenn du das Allerwichtigste wissen willst.« Er nahm noch einen Schluck, als müsse er sich Mut antrinken, und murmelte undeutlich: »Wollte dich fürs Bett. Schnell. Legal. Wußte, das war der einzige Weg.« »Es wundert mich, daß du dir die Mühe gemacht hast. Du brauchtest unter so vielen anderen nur zu wählen - vor unserer Hochzeit und danach.« Er starrte sie mit blutunterlaufenen Augen an. »Wollte keine andere. Wollte bloß dich. Auch jetzt noch.« »Schluß damit!« sagte sie scharf. »Ich will nichts mehr davon hören.« Er schüttelte den Kopf. »Bloß noch eins. Dein Stolz, altes Mädchen. Prachtvoll. Unbändig. Hat mich immer gereizt. Wollte ihn nicht brechen. Wollte nur daran teilhaben. Du auf dem Rücken. Mit gespreizten Oberschenkeln. Leidenschaftlich. Bebend... « »Sei still! Sei still, du... du Wüstling, du!« Ihr Gesicht war weiß, ihre Stimme schrill. »Es ist mir egal, ob dich die Polizei erwischt! Ich hoffe, sie tut's! Ich hoffe, du kriegst zehn Jahre!« 6 Nach seiner schnell beendeten Auseinandersetzung mit dem Empfang ging Peter McDermott quer durch den Korridor der 14. Etage und betrat wieder die Nummer 1439. »Wenn Sie einverstanden sind«, sagte er zu Dr. Uxbridge, »schaffen wir Ihren Patienten in ein anderes Zimmer im selben Stockwerk.« Der hochgewachsene hagere Arzt, der Christines Hilferuf so rasch gefolgt war, nickte. Er betrachtete die enge Folterkammer mit ihrem Gewirr von Heizungs- und Wasserrohren. »Jeder Wechsel kann nur von Vorteil sein.« Während der Arzt ans Bett und zu dem Patienten zurückkehrte, der eben wieder seine Fünf-Minuten-Dosis Sauerstoff bekam, meinte Christine: »Jetzt brauchen wir nur noch eine Pflegerin.« »Mit dem Problem kann sich Dr. Aarons befassen«, erwiderte Peter und setzte nachdenklich hinzu: »Das Hotel wird sie engagieren müssen, vermute ich, und das bedeutet, daß wir für die Kosten haften. Glauben Sie, daß Ihr Freund Wells zahlen kann?« Peter und Christine hatten sich in den Korridor zurückgezogen, wo sie sich mit gedämpfter Stimme unterhielten. »Das macht mir eben Sorgen. Ich glaube nicht, daß er viel Geld hat.« Peter bemerkte, daß Christine, wenn sie angestrengt nachdachte, ihre Nase auf bezaubernde Art kräuselte. Er war sich ihrer Nähe bewußt und eines schwachen zarten Duftes, der von ihr ausging. »Ach was«, sagte er, »in einer Nacht werden uns die Schulden schon nicht über den Kopf wachsen, und morgen früh kann sich das Kreditbüro dahinterklemmen.« Als der Boy mit dem Zimmerschlüssel anlangte, warf Christine einen Blick in die Nummer 1410. »Das Zimmer ist bereit«, verkündete sie bei der Rückkehr. »Es ist am einfachsten, wenn wir die Betten austauschen«, meinte Peter. »Wir rollen Mr. Wells in seinem Bett in die Nummer 1410 und schaffen das andere hierher.« Aber sie stellten fest, daß die Türöffnung um zwei Zentimeter zu schmal war. Albert Wells, dessen Atembeschwerden nachgelassen hatten und der wieder Farbe bekommen hatte, erklärte: »Ich bin in meinem Leben so viel gelaufen, daß mir ein bißche n mehr nicht schaden wird.« Aber Dr. Uxbridge schüttelte energisch den Kopf. Der Chefingenieur verglich den Breitenunterschied. »Ich hänge die Tür aus«, sagte er zu dem Kranken. »Dann flutschen Sie durch wie ein Kork aus der Flasche.« »Das ist zu umständlich«, sagte Peter. »Es gibt eine schnellere und bessere Methode - falls es Ihnen recht ist, Mr. Wells.« Der Kranke nickte lächelnd. Peter beugte sich vor, schlug dem alten Mann eine Decke um die Schultern und hob ihn hoch. »Sie haben starke Arme, mein Junge«, sagte der kleine Mann. Peter lächelte. Dann schritt er so mühelos, als hielte er ein Kind in den Armen, den Korridor hinunter und in das neue Zimmer. Fünfzehn Minuten später hatte sich alles eingespielt, als liefe es auf Nylonrollen. Das Sauerstoffgerät war hinübertransportiert worden, obwohl es nicht mehr so dringend benötigt wurde, da in der geräumigen Nummer 1410 die Klimaanlage nicht mit heißen Leitungsrohren konkurrieren mußte und die Luft frischer war. Der Hausarzt Dr. Aarons war eingetroffen, behäbig und jovial wie immer und von einer beinahe sichtbaren Bourbon-Wolke umhüllt. Er ging freudig auf Dr. Uxbridges Angebot ein, am nächsten Morgen in beratender Eigenschaft vorbeizuschauen, und machte sich auch eifrig den Vorschlag zu eigen, daß Cortison einem erneuten Anfall vorbeugen würde. Auch eine private Pflegerin, die Dr. Aarons liebevoll benachrichtigt hatte (»Eine wundervolle Neuigkeit, meine Beste! Wir werden wieder einmal das Vergnügen haben, zusammenzuarbeiten«), befand sich offenbar schon auf dem Wege nach oben. Als der Chefingenieur und Dr. Uxbridge sich verabschiedeten, schlummerte Albert Wells friedlich. Peter folgte Christine in den Korridor und zog die Tür langsam zu. Dr. Aarons marschierte, während er auf seine Pflegerin wartete, im Zimmer auf und ab und begleitete sich dazu, pianissimo, mit der Torero-Arie aus Carmen. (»Pom, pom, pom; pompom; pompompom, pompom...«) Die Tür fiel ins Schloß und schnitt den Gesang ab. Es war Viertel vor zwölf. Als sie auf den Lift zusteuerten, sagte Christine: »Ich bin froh, daß wir ihn dabehalten haben.« »Mr. Wells?« fragte Peter überrascht. »Warum hätten wir ihn fortschicken sollen?« »Manche Hotels hätten's getan. Sie wissen ja, wie die sind: Es braucht nur was Außergewöhnliches zu passieren, und jeder fühlt sich belästigt. Sie wollen bloß, daß die Leute kommen und gehen und ihre Rechnung bezahlen; das ist alles.« »Solche Hotels sind Wurstfabriken. Ein richtiges Hotel ist für den Gast da und leistet ihm Beistand, wenn er ihn braucht. Die besten Hotels haben so angefangen. Leider haben zu viele Leute in unserer Branche das vergessen.« Sie sah ihn neugierig an. »Sie finden wohl, daß wir hier es auch vergessen haben?« »Da haben Sie recht, verdammt noch mal! Wir denken kaum noch daran. Wenn ich freie Hand hätte, würde sich hier eine ganze Menge ändern...« Er verstummte, leicht beschämt über seine eigene Heftigkeit. »Schwamm drüber. Meistens behalte ich so aufrührerische Ideen für mich.« »Sie dürften sie aber nicht für sich behalten, und wenn Sie's doch tun, sollten Sie sich schämen.« Christine wußte, daß das St. Gregory in vieler Hinsicht unzulänglich war und in den letzten Jahren hauptsächlich von seinem alten Ruhm gezehrt hatte. Gegenwärtig befand sich das Hotel zudem in einer finanziellen Krise, die möglicherweise drastische Veränderungen erzwingen würde, auch gegen den Willen des Besitzers Warren Trent. »Es lohnt sich nicht, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen. W. T. hat für neue Ideen nichts übrig.« »Das ist kein Grund, aufzugeben.« Er lachte. »Sie reden wie eine Frau.« »Ich bin eine Frau.« »Stimmt«, sagte Peter. »Ich fange an, mir darüber klarzuwerden.« Und genauso war es auch, dachte er. Denn solange er Christine kannte - seit seiner Ankunft im St. Gregory -, hatte er sie als gegeben hingenommen. Erst in letzter Zeit hatte er sich immer häufiger bei dem Gedanken ertappt, wie anziehend sie war und wie gut sie aussah. Er fragte sich, welche Pläne sie für den Rest des Abends haben mochte. Er sagte versuchsweise: »Ich hab' noch nicht zu Abend gegessen; hatte keine Zeit dazu. Haben Sie Lust, mir bei einem späten Souper Gesellschaft zu leisten?« »Ich liebe späte Soupers«, antwortete Christine. Als sie im Lift anlangten, sagte er: »Da ist noch eine Sache, die ich nachprüfen möchte. Ich hatte Herbie Chandler beauftragt, sich um die Beschwerde in der elften Etage zu kümmern, aber ich traue ihm nicht. Danach bin ich fertig.« Er nahm ihren Arm und drückte ihn leicht. »Wollen Sie in meinem Büro auf mich warten?« Seine Hände griffen erstaunlich sanft zu für jemanden von seiner Größe. Christine musterte von der Seite das kräftige, energische Profil mit dem vorspringenden Kinn, das wie aus Stein gemeißelt schien. Es war ein interessantes Gesicht, mit einem Zug hartnäckiger Entschlossenheit, die in Eigensinn umschlagen konnte. Sie spürte, wie ihre Sinne sich regten. »Gut«, sagte sie. »Ich warte.« 7 Marsha Preyscott wünschte sich sehnlichst, daß sie ihren neunzehnten Geburtstag irgendwie anders verbracht hätte oder wenigstens auf dem Alpha-Kappa-Epsilon-Verbindungsball im großen Kongreßsaal des Hotels geblieben wäre. Der Lärm des Balles, gedämpft durch die acht dazwischenliegenden Stockwerke und konkurrierende Geräusche, drang bis zu der Suite in der elften Etage und durchs offene Fenster herein. Einer der Jungen hatte es vor einigen Minuten erst gewaltsam geöffnet, weil Hitze, Zigarettenrauch und Alkoholdunst in dem vollen Raum unerträglich wurden, sogar für jene, deren Wahrnehmungsvermögen rapide nachließ. Es war ein Fehler gewesen, herzukommen. Aber wie immer hatte sie rebellisch nach einer Abwechslung verlangt, und die hatte Lyle Dumaire ihr versprochen. Lyle, den sie seit Jahren kannte, mit dem sie gelegentlich ausging und dessen Vater Präsident einer der hiesigen Banken und mit ihrem eigenen Vater eng befreundet war. Während sie miteinander tanzten, hatte Lyle ihr erzählt: »Das hier ist doch der reinste Kindergarten, Marsha. Ein paar von den Burschen haben eine Suite genommen, und wir waren fast den ganzen Abend über oben. Dort geht's rund, kann ich dir sagen.« Er schwang sich zu einem männlichen Lachen auf, das aber irgendwie zu einem Kichern abrutschte, und fragte dann geradezu: »Warum kommst du nicht auch rauf?« Ohne lange zu überlegen, hatte sie zugestimmt. Sie waren aus dem Tanzsaal geschlüpft und hatten sich in die kleine überfüllte Suite 1126-7 begeben, wo ihnen bereits an der Tür warme abgestandene Luftschwaden und schrilles Stimmengewirr entgegenschlugen. Es waren mehr Leute da, als sie erwartet hatte, und sie war auch nicht darauf gefaßt gewesen, daß einige von den Jungen bereits stark angetrunken waren. Die meisten der anwesenden Mädchen kannte sie, aber nur oberflächlich. Sie begrüßte sie kurz, obwohl es bei dem Lärm fast unmöglich war, sich verständlich zu machen. Eins der Mädchen, Sue Phillips, das gar nichts sagte, war offenbar hinüber, und ihr Begleiter, ein Junge aus Baton Rouge, schüttete Wasser über sie aus einem Schuh, den er im Bad immer wieder nachfüllte. Sues rosa Organdykleid triefte vor Nässe. Die Begrüßung durch die Jungen fiel etwas herzlicher aus; sie wandten sich jedoch sofort wieder der improvisierten Bar zu, einem Glasschränkchen, das man auf die Seite gekippt hatte. Jemand - sie war sich nicht sicher, wer - drückte ihr unbeholfen ein volles Glas in die Hand. Es war auch nicht zu übersehen, daß im Nebenzimmer irgend etwas vorging. Die Tür war zwar geschlossen, aber eine Gruppe von Jungen drängte sich vor dem Schlüsselloch zusammen. Auch Lyle, der Marsha im Stich gelassen hatte, war dort. Sie schnappte einzelne Satzfetzen auf und die immer wiederkehrende Frage: »Wie war's?« Die Antwort ging jedoch in einem wiehernden Gelächter unter. Als sie schließlich aus einigen weiteren Bemerkungen erriet, was sich hinter der geschlossenen Tür abspielte, hatte sie nur noch den Wunsch, wegzugehen. Alles war besser als das hier, sogar die große Villa, in der sie sich entsetzlich einsam fühlte, denn wenn ihr Vater auf Reisen war, wurde sie nur von ihr und den Dienstboten bewohnt. Ihr Vater war aber schon seit sechs Wochen verreist und würde mindestens noch zwei weitere Wochen wegbleiben. Beim Gedanken an ihren Vater fiel Marsha wieder ein, daß sie jetzt nicht hier wäre, wenn er sein Versprechen gehalten und rechtzeitig zu ihrem Geburtstag heimgekommen wäre. Dann wäre sie nicht zum Verbindungsball gegangen, sondern hätte zu Haus gefeiert, und Mark Preyscott hätte in seiner unbeschwerten, jovialen Art über eine Schar ausgewählter Freunde seiner Tochter präsidiert, Freunde, die gern auf den Alpha-Kappa-Epsilon-Ball verzichtet hätten, wenn er mit Marshas Einladung zusammenfiel. Aber er war nicht heimgekommen. Statt dessen hatte er sie reumütig wie immer angerufen, diesmal aus Rom. »Marsha, Liebling, ich hab's versucht, wirklich, aber ich schaff's nicht. Meine Geschäfte werden mich hier bestimmt noch zwei oder drei Wochen länger festhalten, aber ich mach's wieder gut, wenn ich nach Hause komme, Liebling.« Er erkundigte sich vorsichtig, ob Marsha nicht Lust hätte, ihre Mutter und deren neuesten Ehemann in Los Angeles zu besuchen, und als sie schlankweg ablehnte, hatte ihr Vater gesagt: »Na, ich wünsche dir jedenfalls alles Gute und Liebe, und es ist auch schon ein kleines Geburtstagsgeschenk für dich unterwegs, das dir, glaub' ich, gefallen wird.« Beim vertrauten Klang seiner Stimme hätte Marsha am liebsten geweint, ließ es aber bleiben, weil sie sich das Weinen schon vor Jahren abgewöhnt hatte. Es war auch zwecklos, darüber nachzudenken, warum der Eigentümer eines großen Warenhauses mit einem Stab hochbezahlter Geschäftsführer fester ans Geschäft gebunden sein sollte als ein Bürojunge. Vielleicht hielten ihn andere Dinge in Rom fest, über die er natürlich mit ihr nicht sprechen würde, so wie sie ihm niemals erzählen würde, was sich augenblicklich in der Nummer 1126 abspielte. Als sie sich zum Weggehen entschloß, war sie ans Fenster getreten, um dort ihr Glas abzustellen, und nun kamen die Klänge von »Stardust« von unten zu ihr herauf. Wie bei jedem Fest war jetzt der Zeitpunkt gekommen, wo die Musik auf die alten sentimentalen Schlager zurückgriff, besonders, wenn es sich bei der Band um Moxie Buchanan und seine All-Star Southern Gentlemen handelte, die fast bei allen feudalen Festivitäten des St. Gregory aufspielten. Sogar wenn sie vorhin nicht getanzt hätte, würde sie den Klang der Band sofort erkannt haben - der warme, weiche und doch kräftige Ton der Blasinstrumente war Moxie Buchanans Gütezeichen. Sie lehnte unschlüssig am Fenster und fragte sich, ob sie in den Tanzsaal zurückkehren sollte, obwohl sie sich ungefähr denken konnte, was sie unten vorfinden würde: verschwitzte Jungen im Smoking, die nervös an ihren Hemdkragen zupften; einige Tölpel, die sich nach ihrer Alltagskluft sehnten; und Mädchen, die den Waschraum umlagerten und sich hinter der verschlossenen Tür kichernd ihre Geheimnisse anvertrauten; in Marshas Augen hatte das Grnze eine peinliche Ähnlichkeit mit einem Kinderfest, bei dem Buben und Mädchen sich verkleiden, um Scharade zu spielen. Jungsein war abscheulich langweilig, dachte Marsha oft, zumal, wenn man das Los mit so vielen Gleichaltrigen teilte. Manchmal - wie eben jetzt - sehnte sie sich nach einem etwas reiferen Gefährten. Lyle Dumaire hatte sie enttäuscht. Er stand noch immer in der Gruppe vor der Verbindungstür, mit gerötetem Gesicht, zerknitterter Hemdbrust und schiefsitzender schwarzer Schleife. Marsha wunderte sich, daß sie ihn jemals ernst genommen hatte. Auch andere schickten sich nun zum Gehen an, und das Zimmer leerte sich so schnell, daß es den Anschein eines Massenauszugs hatte. Einer der älteren Jungen, von dem sie wußte, daß er Stanley Dixon hieß, kam aus dem Nebenraum, machte die Tür bedächtig hinter sich zu, wies mit dem Kopf nach nebenan und gab eine Erklärung ab, von der Marsha nur einige Worte auffing: »... Mädchen wollen gehen... sagen, sie haben genug... haben Angst... zuviel Tumult...« «... hab' dir gleich gesagt, wir hätten nicht soviel Wirbel machen sollen«, meinte ein anderer. »Warum nehmen nicht jemand von hier?« Lyle Dumaire hatte seine Stimme nicht mehr ganz unter Kontrolle. »Tjah, aber wen?« Ihre Augen schweiften abschätzend durch den Raum. Marsha ignorierte ihre Blicke geflissentlich. Ein paar Freunde von Sue Phillips bemühten sich um das betrunkene Mädchen und versuchten es aufzurichten, jedoch ohne Erfolg: »Marsha! Sue geht's ziemlich schlecht. Kannst du ihr nicht helfen?« Marsha, die auf dem Weg nach draußen war, blieb widerwillig stehen und betrachtete das Mädchen, das mit offenen Augen in einem Sessel lag, das kindliche Gesicht kreidebleich, mit schlaffem Mund und verschmiertem Lippenstift. Mit einem innerlichen Seufzer sagte sie: »Na schön, helft mir, sie ins Bad schaffen.« Als sie von drei Jungen hochgehoben wurde, fing Sue an zu weinen. An der Badezimmertür schien einer der Jungen nicht abgeneigt, den beiden Mädchen zu folgen, aber Marsha machte ihm energisch die Tür vor der Nase zu und schob den Riegel vor. Sie wandte sich zu Sue Phillips um, die sich entsetzt im Spiegel betrachtete. Der Schock hat wenigstens das eine Gute, dachte Marsha erleichtert, daß er sie zur Vernunft bringt. »Ich würde mir an deiner Stelle nicht zu viele Sorgen machen«, bemerkte sie. »Angeblich passiert das jedem von uns mal, und du hast's hinter dir.« »O Gott! Meine Mutter bringt mich um, wenn sie mich so sieht«, stöhnte Sue und machte einen wilden Satz auf das Klosettbecken zu, um sich zu übergeben. Marsha hockte sich auf den Rand der Badewanne. »Dir wird gleich viel wohler zumute sein. Wenn du fertig bist, wasch ich dir das Gesicht, und du machst dich ein bißchen zurecht.« Den Kopf noch immer über das Becken gebeugt, nickte das Mädchen kläglich. Als sie zehn oder fünfzehn Minuten später aus dem Bad kamen, waren alle Gäste fort bis auf Lyle Dumaire und seine Kumpane, die in einer Ecke die Köpfe zusammensteckten. An der Tür wartete Sues Begleiter, der Marsha um Hilfe gebeten hatte. Er lief auf sie zu und sagte hastig: »Wir haben vereinbart, daß eine von Sues Freundinnen sie zu sich nach Haus mitnimmt, und wahrscheinlich kann Sue auch bei ihr schlafen.« Als er das Mädchen am Arm faßte, ging sie folgsam mit. »Unten wartet ein Wagen auf uns. Vielen Dank, Marsha«, rief ihr der Junge über die Schulter hinweg zu, bevor er mit Sue im Korridor verschwand. Marsha sah ihnen erleichtert nach. Sie war im Begriff, ihre Stola zu holen, die sie weggelegt hatte, bevor sie sich um Sue Phillips kümmerte, als sie hörte, wie die äußere Tür zugezogen wurde. Stanley Dixon stand davor und hatte die Hände hinter dem Rücken. Das Schloß klickte leise zu. »He, Marsha«, sagte Lyle Dumaire. »Warum so eilig?« Marsha kannte Lyle seit ihrer Kindheit, aber nun hatte alles ein ganz anderes Gesicht bekommen. Dies war ein Fremder mit den Allüren eines betrunkenen Rowdys. »Ich gehe nach Hause«, erwiderte sie. »Ach was...« Er stolzierte großspurig auf sie zu. »Sei kein Spielverderber und trink noch was.« »Nein, danke.« Als hätte er nicht gehört, bohrte er weiter. »Du bist doch kein Spielverderber, Kleines, oder?« »Es bleibt natürlich unter uns«, sagte Stanley Dixon. Er hatte eine dumpfe nasale Stimme mit einem tückischen Unterton. »Ein paar von uns haben schon ihren Spaß gehabt. Und das hat uns Appetit gemacht.« Die zwei anderen, deren Namen sie nicht kannte, grinsten. »Euer Spaß interessiert mich nicht«, antwortete sie scharf, war sich aber bewußt, daß dicht unter der Oberfläche die Angst lauerte. Sie ging auf die Tür zu, aber Dixon schüttelte den Kopf. »Bitte, bitte, laßt mich gehen.« »Hör zu, Marsha«, kollerte Lyle, »wir wissen, daß du scharf drauf bist.« Er kicherte dreckig. »Alle Mädchen sind scharf drauf. Wenn sie nein sagen, meinen sie's gar nicht so. In Wirklichkeit wollen sie sagen: »Kommt und holt's euch.<« Er wandte sich an die anderen. »Stimmt's Kumpel?« Der dritte Junge sang leise vor sich hin: »That's the way it is. You gotta get in there and get it.« Alle vier kamen auf sie zu. Sie wirbelte herum. »Ich warne euch: wenn ihr mich anfaßt, schrei' ich.« »Das wär' ein Jammer«, murmelte Stanley Dixon. »Du könntest den ganzen Spaß verpassen.« Plötzlich, ohne daß er sich zu bewegen schien, war er hinter ihr, preßte ihr eine große verschwitzte Hand auf den Mund und drückte ihr mit der anderen die Arme gegen den Körper. Sein Kopf lag dicht an ihrem, sein Atem roch Übelkeit erregend nach Whisky. Sie wehrte sich heftig und versuchte ihn in die Hand zu beißen, aber ohne Erfolg. »Sei vernünftig, Marsha«, sagte Dyle und verzog sein Gesicht zu einem süßlichen Grinsen. »Du kriegst's auf jeden Fall verpaßt, also solltest du ebensogut deinen Spaß dran haben wie wir. Wenn Stan dich losläßt, versprichst du dann, keinen Lärm zu schlagen?« Sie schüttelte wild den Kopf. Einer von den Jungen packte ihren Arm. »Los, komm schon, Marsha. Lyle sagte, du bist kein Spielverderber. Warum beweist du's uns dann nicht?« Nun kämpfte sie verzweifelt, aber es war vergebens. Lyle ergriff ihren anderen Arm, und mit vereinter Kraft zerrten sie das Mädchen auf das Schlafzimmer zu. »Verdammt!« knurrte Dixon. »Einer von euch muß sie an den Beinen nehmen.« Der vierte Junge griff nach ihren Füßen und hob sie hoch. Sie versuchte nach ihm zu treten, erreichte damit aber nur, daß ihre Pumps zu Boden plumpsten. Mit einem Gefühl von Unwirklichkeit spürte Marsha, wie sie durch die Tür geschleppt wurde. »Ich frag' dich zum letzten Male«, sagte Lyle drohend. Die Tünche guter Laune war inzwischen abgeblättert. »Machst du freiwillig mit oder nicht?« Marshas einzige Antwort bestand in einem wütenden Aufbäumen. »Zieht sie aus«, sagte jemand, und eine andere Stimme - die des Jungen, der sie an den Beinen hielt - murmelte unschlüssig: »Sollten wir's nicht lieber sein lassen?« »Keine Bange.« Das war Lyle Dumaire. »Uns passiert schon nichts. Ihr alter Herr hurt in Rom herum.« In dem Raum standen Doppelbetten. Trotz heftiger Gegenwehr wurde Marsha auf das zunächststehende Bett gedrückt. Einen Moment später lag sie quer darauf, und unerbittliche Hände bogen ihren Kopf brutal zurück, bis sie nur noch die Zimmerdecke sehen konnte, deren einstmals weißer Anstrich grau geworden und in der Mitte, über der Lampe, mit einem Stuckornament verziert war. Im Lampenschirm hatte sich Staub angesammelt, und daneben befand sich ein gelber Wasserfleck. Mit einem Male ging die Deckenbeleuchtung aus, aber der Raum wurde noch immer schwach erhellt vom Schein einer anderen Lampe, die man angelassen hatte. Dixon hatte seinen Griff geändert. Er hockte auf der Bettkante, neben ihrem Kopf, aber die eiserne Klammer um ihren Körper und über ihrem Mund hielt so fest wie zuvor. Sie spürte andere Hände auf ihrem Leib, und Hysterie erfaßte sie. Sie krümmte sich und versuchte zu treten, konnte aber die Beine nicht bewegen. Sie versuchte sich auf den Bauch zu rollen und hörte, wie ihr Balenciagakleid zerriß. »Ich bin der erste«, sagte Stanley Dixon. Er atmete schwer. »Einer von euch muß rüberkommen und mich hier ablösen.« Schritte kamen leise auf dem Läufer um das Bett herum. Ihre Beine wurden noch immer fest heruntergedrückt, aber Dixons Hand auf ihrem Gesicht bewegte sich, und eine andere schob sich an ihre Stelle. Das war eine günstige Gelegenheit. Als die neue Hand sich über ihren Mund legte, biß Marsha mit aller Kraft zu. Ihre Zähne gruben sich in Fleisch und stießen auf den Knochen. Ein Schmerzensschrei gellte, und die Hand verschwand. Marsha holte tief Luft und kreischte. Sie kreischte dreimal und schloß mit dem verzweifelten Ruf: »Hilfe! Bitte, zu Hilfe!« Erst beim letzten Wort schlug ihr Stanley mit der Hand so derb auf den Mund, daß ihr fast die Sinne schwanden. »Du Blödian!« hörte sie ihn knurren. »Du verdammter Idiot!« »Aber sie hat mich gebissen!« Der Junge wimmerte vor Schmerz. »Die Schlampe hat mich in die Hand gebissen!« Dixon sagte wütend: »Was hast du erwartet? Daß sie dir die Hand küßt? Jetzt kriegen wir das ganze gottverdammte Hotel auf den Hals!« »Los, hauen wir ab!« drängte Lyle Dumaire. »Haltet den Rand!« kommandierte Dixon. Die vier Jungen lauschten stumm. »Es rührt sich nichts«, flüsterte Dixon. »Ich schätze, keiner hat was gehört!« Nun war alles aus, dachte Marsha trostlos. Tränen trübten ihr die Sicht. Alle ihre Kraft verließ sie. Sie war nicht mehr imstande, weiterzukämpfen. Jemand klopfte an die äußere Tür. Drei energische kurze Schläge. »Verdammt!« flüsterte einer von den Jungen. »Man hat uns doch gehört.« Er fügte mit einem Ächzen hinzu: »O Gott -meine Hand!« »Was machen wir jetzt?« fragte ein anderer nervös. Das Klopfen wurde wiederholt, diesmal noch energischer. Nach einer Pause rief eine Stimme von draußen: »Öffnen Sie bitte die Tür. Ich habe jemanden um Hilfe rufen hören.« Der Mann sprach mit einem weichen südlichen Akzent. Lyle Dumaire wisperte: »Es ist nur einer, und er ist allein. Vielleicht können wir ihn abwimmeln.« »Gute Idee! Ich gehe«, flüsterte Dixon. Er fügte leise hinzu: »Haltet sie ja fest. Sie darf keinen Mucks von sich geben.« Eine andere Hand legte sich über Marshas Mund, und ein anderer Arm umklammerte ihren Leib. Ein Schloß klickte; eine Tür öffnete sich quietschend. »Oh!« sagte Stanley Dixon, als wäre er überrascht. »Verzeihen Sie, Sir. Ich bin ein Angestellter des Hotels.« Das war die Stimme, die sie einen Moment früher gehört hatten. »Ich kam zufällig vorbei und hörte jemanden schreien.« »Kamen zufällig vorbei, eh?« wiederholte Dixon in seltsam feindseligem Ton. Dann, als hielte er es für besser, die Form zu wahren, fügte er freundlicher hinzu: »Na, jedenfalls vielen Dank. Das war bloß meine Frau. Sie hat sich vor mir schlafen gelegt und hat schlecht geträumt. Aber sie ist wieder ganz in Ordnung.« »Nun...« Der andere schien zu zögern. »Wenn Sie sicher sind, daß es sonst nichts war.« »Natürlich. Hat gar nichts zu bedeuten. Es ist nur eins von den Dingen, die dann und wann mal passieren.« Er wirkte überzeugend und war Herr der Lage. Marsha wußte, daß sich die Tür gleich wieder schließen würde. Seit sie sich entspannt hatte, war ihr aufgefallen, daß sich auch der Druck auf ihrem Gesicht vermindert hatte. Nun raffte sie ihre letzten Kräfte zusammen, bog sich seitwärts und bekam ihren Mund einen Moment lang frei. »Hilfe!« rief sie. »Glauben Sie ihm nicht! Bitte, helfen Sie mir!« wieder wurde sie brutal am Weitersprechen gehindert. Draußen entspann sich ein scharfer Wortwechsel. »Lassen Sie mich hinein«, sagte der Unbekannte. »Das ist ein privater Raum. Ich sagte Ihnen doch schon, daß meine Frau unter Alpdrücken leidet.« »Tut mir leid, Sir, aber ich glaube Ihnen nicht.« »Na schön, kommen Sie rein.« Als wollten sie kein Zeugnis gegen sich selbst ablegen, zogen sich die Hände von Marshas Körper zurück. Sobald sie frei war, rollte sie herum, richtete sich halb auf und blickte zur Tür. Ein junger Neger kam herein. Er schien Anfang der Zwanzig, hatte ein intelligentes Gesicht, war anständig angezogen und trug das kurze Haar gescheitelt und glatt gebürstet. Er durchschaute die Situation sofort und sagte streng: »Lassen Sie die junge Dame gehen.« »Seht euch das an, Jungs«, sagte Dixon. »Seht bloß mal, wer uns hier Befehle geben will.« Marsha nahm undeutlich wahr, daß die Tür zum Korridor noch immer leicht offenstand. »Okay, Nigger«, schnarrte Dixon, »du hast's so gewollt.« Seine rechte Faust schnellte fachgerecht nach vorn; er übertrug die ganze Kraft seiner breiten massigen Schultern in den Schlag, der den jungen Neger gefällt hätte, wenn er sein Ziel getroffen hätte. Aber der wich geschickt aus, der ausgestreckte Arm sauste an seinem Kopf vorbei, und Dixon stolperte nach vorn. Im gleichen Moment fuhr die linke Faust des Negers hoch und landete mit einem harten scharfen Knallen im Gesicht des Gegners. Irgendwo weiter unten im Korridor öffnete und schloß sich eine Tür. Eine Hand auf die Wange gepreßt, sagte Dixon: »Du gottverdammter Schuft!« Dann wandte er sich zu seinen Gefährten um. »Los, gebt's ihm!« Nur der Junge mit der verletzten Hand hielt sich heraus. Die drei anderen fielen, wie von einem einzigen Impuls angetrieben, gemeinschaftlich über den jungen Neger her, und er ging unter dem Massenangriff zu Boden. Marsha vernahm das dumpfe Klatschen von Schlägen und außerdem - auf dem Korridor - ein immer lauter werdendes Stimmengewirr. Auch die vier Jungen wurden von dem Stimmenlärm alarmiert. »Das ganze Hotel ist auf den Beinen«, warnte Lyle Dumaire. »Ich hab' euch gleich gesagt, wir sollten von hier verschwinden.« Sie rasten auf die Tür zu, an der Spitze der Junge, der sich an der Rauferei nicht beteiligt hatte, die drei anderen in wilder Flucht dicht hinter ihm. Marsha hörte, wie Stanley Dixon irgend jemandem erklärte: »Es gab ein kleines Mißverständnis. Wir holen Hilfe.« Der junge Neger erhob sich mit blutigem Gesicht vom Boden. Eine neue gebieterische Stimme übertönte den Tumult im Korridor. »Wo war die Störung, bitte?« »Wir haben Schreie und danach eine Rauferei gehört«, antwortete eine Frau erregt. »Dort drin!« »Ich hatte mich schon vorher beschwert«, knurrte ein Mann erbost, »aber niemand hat sich darum gekümmert.« Die Tür wurde aufgestoßen. Marsha erhaschte einen Schimmer neugierig spähender Gesichter und einer imponierenden, athletischen Gestalt. Dann wurde die Tür von innen geschlossen und die Deckenbeleuchtung angeknipst. Peter McDermott betrachtete den unordentlichen Raum. »Was ist hier vorgefallen?« Marsha lag zusammengekrümmt da, von Schluchzen geschüttelt. Sie versuchte sich aufzurichten, sank aber kraftlos gegen das Kopfende des Bettes und raffte die Fetzen ihres Kleides über der Brust zusammen. Schluchzend stammelte sie: »Sie wollten... mich... vergewaltigen...« McDermotts Miene verhärtete sich. Sein Blick heftete sich auf den jungen Neger, der an der Wand lehnte und sich mit dem Taschentuch das Blut vom Gesicht wischte. »Royce!« Kalte Wut funkelte in McDermotts Augen. »Nein! Nein!« rief Marsha flehend. »Er war's nicht! Er kam mir zu Hilfe!« Sie machte die Augen zu; ihr wurde übel beim Gedanken an weitere Gewalttaten. Der junge Neger richtete sich auf. Er steckte das Taschentuch weg und sagte spöttisch: »Nur zu, Mr. McDermott, warum schlagen Sie mich nicht? Sie brauchten sich danach bloß auf einen Irrtum herausreden.« »Ein Irrtum reicht mir. Ich habe Sie zu Unrecht verdächtigt und möchte mich deswegen bei Ihnen entschuldigen«, erwiderte Peter kurz. Er empfand eine tiefe Abneigung gegen Aloysius Royce, der die Rolle eines Kammerdieners bei dem Hotelbesitzer Warren Trent mit dem Studium der Jurisprudenz an der Loyola-Universität verband. Vor Jahrzehnten war sein Vater, der Sohn eines Sklaven, Warren Trents Leibdiener, Gefährte und Vertrauter geworden. Als der alte Mann ein Vierteljahrhundert später starb, rückte sein Sohn Aloysius, der im St. Gregory geboren und aufgewachsen war, an seine Stelle; er wohnte in der Privatsuite des Hoteleigentümers und durfte, auf Grund einer losen Übereinkunft, kommen und gehen, wie es ihm beliebte und seine Studien es erforderten. Aber Peter McDermott fand, daß Royce unnötig arrogant und herablassend auftrat und jede freundschaftliche Geste mit einer Mischung von Argwohn und aggressiver Feindseligkeit aufzunehmen schien. »Erzählen Sie mir, was Sie wissen«, sagte Peter. »Es waren vier - vier feine weiße junge Gentlemen.« »Haben Sie den einen oder anderen von ihnen erkannt?« Royce nickte. »Zwei.« »Das dürfte genügen.« Peter griff nach dem Telefon. »Wen wollen Sie anrufen?« »Die Polizei. Ich fürchte, wir müssen sie hinzuziehen.« Der junge Neger lächelte schwach. »Falls ich Ihnen einen Rat geben darf, ich würde es nicht tun.« »Warum nicht?« »Erstens mal«, sagte Aloysius gedehnt und beim Sprechen seinen lokalen Akzent absichtlich stark betonend, »würde ich als Zeuge auftreten müssen. Und es gibt kein Gericht in unserem souveränen Staat Louisiana, das der Aussage eines Negers in einem Fall versuchter Notzucht unter Weißen Glauben schenkt. Nein, Sir, und schon gar nicht, wenn vier aufrechte junge weiße Gentlemen behaupten, daß der Nigger lügt. Auch wenn Miss Preyscott die Aussage des Negers bestätigt, würde das Gericht sie ihm nicht abnehmen. Und ich bezweifle stark, ob ihr Daddy ihr das erlauben würde, wenn man bedenkt, welch ein Aufhebens die Zeitungen davon machen würden.« Peter legte den Hörer wieder auf. »Manchmal scheinen Sie's förmlich darauf anzulegen, die Dinge unnötig zu komplizieren«, sagte er. Aber er wußte, daß Royce recht hatte. Seine Augen schweiften zu Marsha hinüber. »Sagten Sie >Miss PreyscottHandelsschule<. Das ist das richtige, dachte ich mir; ich lerne einfach Schreibmaschine und Stenografie und suche mir eine Stellung, wo ich endlos viel zu tun habe. Und genauso ist es dann schließlich auch gekommen.« »Und wieso landeten Sie gerade im St. Gregory?« »Ich wohnte da - seit meiner Ankunft in New Orleans. Eines Morgens brachte man mir mit dem Frühstück auch die >Times -Picayune<, und im Inseratenteil fand ich ein Stellungsangebot für den Posten einer Privatsekretärin beim Hoteldirektor. Es war noch sehr früh, und ich dachte, ich würde als erste dort sein und warten. Damals war W. T. zeitiger im Büro als alle anderen. Ich ging in den Verwaltungstrakt und setzte mich ins Vorzimmer.« »Hat er Sie vom Fleck weg eingestellt?« »Eigentlich nicht... das heißt, offiziell engagiert wurde ich im Grunde nie. Als W. T. erfahren hatte, warum ich draußen wartete, rief er mich herein und fing an, mir Briefe zu diktieren und mich mit Anweisungen zu bombardieren. Die anderen Bewerber um den Posten trafen ein, nachdem ich schon stundenlang hart gearbeitet hatte, und so übernahm ich es denn auch, ihnen mitzuteilen, daß die Stellung bereits vergeben war.« Peter schmunzelte. »Das sieht dem Alten ähnlich.« »Selbst danach hätte er sich vielleicht nicht weiter um die Angelegenheit gekümmert, wenn ich ihm nicht drei Tage später einen Zettel auf den Schreibtisch gelegt hätte, auf dem, glaub' ich, stand: >Ich heiße Christine Francis und schlage das und das Gehalt vor.< Er gab mir den Zettel zurück, ohne Kommentar -nur mit seinen Initialen versehen, und das war alles.« »Das war eine hübsche Gute-Nacht-Geschichte.« Peter erhob sich vom Sofa und streckte sich. »Ihre Uhr da starrt mich schon wieder an. Es ist wohl Zeit, daß ich gehe.« »Aber das ist nicht fair«, protestierte Christine. »Wir haben die ganze Zeit nur über mich gesprochen.« Sie war sich der Wirkung bewußt, die Peters Männlichkeit auf sie ausübte; und doch war er auch gutmütig und sanft, dachte sie; das hatte sich heute nacht gezeigt, als er Albert Wells in die Decke hüllte und ins andere Zimmer hinübertrug. Sie ertappte sich bei der Frage, wie es wohl sein mochte, von ihm in den Armen gehalten zu werden. »Ich habe unser Zusammensein genossen... es war ein wundervoller Abschluß nach einem lausigen Tag.« Er hielt inne und sah sie gerade an. »Bis zum nächsten Mal. Ja?« Als sie nickte, beugte er sich vor und küßte sie flüchtig. Im Taxi, das er von Christines Appartement aus bestellt hatte, überließ sich Peter einer wohligen Müdigkeit und dachte über die Ereignisse des vergangenen Tages und des Abends nach. Der Tag hatte die übliche Quote von Problemen gebracht; am Abend war die Kurve jäh angestiegen und hatte ihm so unangenehme Zwischenfälle wie den Zusammenstoß mit dem Herzog und der Herzogin von Croydon beschert, die schwere Erkrankung von Albert Wells und den Vergewaltigungsversuch an Marsha Preyscott. Es gab auch noch einige ungeklärte Fragen in bezug auf Ogilvie, Herbie Chandler und nun auch Curtis O'Keefe, dessen Ankunft die Ursache für Peters Weggang sein konnte. Und dann war da noch Christine, die schon immer dagewesen war und die er vor heute nacht nie so recht beachtet hatte. Aber er sagte sich warnend: Frauen waren schon zweimal sein Verderben gewesen. Was immer zwischen Christine und ihm entstehen mochte, es mußte sich langsam entwickeln, und er mußte vorsichtig sein. Das Taxi raste auf den Elysian Fields stadteinwärts. Als sie die Stelle passierten, wo Christine und er auf der Hinfahrt angehalten worden waren, bemerkte er, daß die Absperrung entfernt und die Polizei verschwunden war. Aber die Erinnerung daran rief wieder das vage Unbehagen wach, das er schon früher verspürt hatte, und es bedrückte ihn auf dem ganzen Weg bis zu seinem eigenen Appartement, ein oder zwei Blocks vom St. Gregory entfernt. DIENSTAG 1 Wie alle Hotels erwachte das St. Gregory frühzeitig und erhob sich gleich einem kampferprobten alten Frontsoldaten aus kurzem leichtem Schlummer. Lange bevor die ersten Gäste verschlafen vom Bett ins Bad torkelten, war sacht das Räderwerk eines neuen Hoteltages angelaufen. Gegen fünf Uhr begannen müde nächtliche Reinmachetrupps, die während der vergangenen acht Stunden in den Gesellschaftsräumen, auf den unteren Treppen, im Küchentrakt und in der Halle schwer gearbeitet hatten, ihre Gerätschaften einzusammeln und sie für den Tag zu verstauen. Nach ihrem Abzug glänzten die Böden, schimmerten Holz- und Metallwerk, und sämtliche Räume rochen angenehm nach frischem Bohnerwachs. Eine Putzfrau, die alte Meg Yetmein, die seit nahezu dreißig Jahren im Hotel gearbeitet hatte, schleppte sich mühsam vorwärts, und jeder zufällige Beobachter hätte ihre unbeholfenen Bewegungen ihrer Müdigkeit zugeschrieben. Der wirkliche Grund war jedoch ein dreipfündiges Lendensteak, das an der Innenseite ihres Oberschenkels befestigt war. Vor einer halben Stunde, als sie für einige Minuten unbeaufsichtigt war, hatte Meg das Stück Fleisch aus der Kühltruhe in der Küche entwendet. Aus langjähriger Erfahrung wußte sie genau, wo sie nachsehen mußte und wie sie ihre Beute, in einen alten Putzlappen eingehüllt, unbemerkt bis zum Waschraum schaffen konnte. Dort, hinter einer verriegelten Tür vor Entdeckung geschützt, befestigte sie das Steak mit Heftpflaster. Obwohl sie fast eine Stunde lang mit ihrer kalten, klammen Last herumlaufen mußte, nahm sie die Unbequemlichkeit gern in Kauf, im Bewußtsein, daß sie unbefangen am Hausdetektiv vorbeimarschieren konnte, der den Personaleingang überwachte und ausgehende Päckchen und angeschwollene Taschen mißtrauisch untersuchte. Dies von ihr selbst ersonnene Verfahren war, wie sie schon oft zuvor erprobt hatte, absolut narrensicher. Zwei Stockwerke über Meg, hinter einer unmarkierten, gut versperrten Tür im Zwischengeschoß, legte eine Telefonistin ihr Strickzeug beiseite und erledigte den ersten morgendlichen Weckruf. Die Telefonistin war Mrs. Eunice Ball, Witwe, Großmutter und Seniorin der drei Frauen, die heute die Frühschicht hatten. Zwischen halb sechs und sieben Uhr würde das Trio in der Zentrale vereinzelt weitere Gäste wecken, deren Anweisungen vom Abend zuvor, auf Karten vermerkt und nach Viertelstunden geordnet, sich in Reichweite in einem Karteifach befanden. Nach sieben Uhr würde sich das Tempo erhöhen. Mit geübten Fingern blätterte Mrs. Ball die Karten durch. Sie stellte fest, daß sieben Uhr 45, wo fast hundertachtzig Anrufe fällig waren, wie immer der kritische Zeitpunkt war. Selbst bei größter Schnelligkeit würden die drei Telefonistinnen das Pensum kaum in weniger als zwanzig Minuten bewältigen, was bedeutete, daß sie früh, und zwar um 7 Uhr 35, beginnen mußten - sofern sie rechtzeitig mit den Anrufen um halb acht fertig geworden waren -, bis fünf vor acht zu tun haben und damit in das Acht-Uhr-Pensum hineingeraten würden. Mrs. Ball seufzte. Heute war es unvermeidlich, daß sich Gäste bei der Geschäftsleitung beschwerten, weil angeblich irgendeine stupide, vorm Klappenschrank eingedöste Telefonistin sie entweder zu früh oder zu spät geweckt hatte. Die Frühschicht hatte aber auch ihre Vorteile. Wenige Gäste waren zu so früher Stunde zum Reden aufgelegt oder hatten verliebte Anwandlungen, wie es nachts manchmal der Fall war -daher auch die unmarkierte versperrte Tür. Außerdem traf um acht Uhr die Tagschicht ein - fünfzehn insgesamt zur Hauptgeschäftszeit -, und die drei von der Frühschicht würden um neun glücklich zu Haus sein und im Bett liegen. Wieder war ein Weckruf fällig. Mrs. Ball steckte einen Stöpsel ein, betätigte den Umschalter, und irgendwo weit entfernt schlug ein Telefon schrill an. Zwei Stockwerke unter der Straße im Maschinenkontrollraum legte Wallace Santopadre, dritter Ingenieur, eine Taschenbuchausgabe von Toynbees Werk »Die Griechische Kultur« beiseite und verspeiste ein Erdnußbutterbrot, an dem er in Etappen herumgekaut hatte. In der letzten Stunde war alles ruhig gewesen, und er hatte zwischendurch gelesen. Nun war es Zeit für den letzten Rundgang. Als er die Tür zum Maschinenraum öffnete, empfing ihn das Summen der Motoren. Er überprüfte die Heißwasseranlage und stellte einen Temperaturanstieg fest, womit sich erwies, daß der Thermostat seine Pflicht tat. Für den unmittelbar bevorstehenden Zeitraum, in dem der Verbrauch am stärksten war, weil an die achthundert Menschen möglicherweise alle gleichzeitig baden oder duschen wollten, war genügend Heißwasser vorhanden. Die umfangreiche Klimaanlage - eine Spezialmaschine von riesigem Gewicht - lief wegen des nächtlichen Absinkens der Außentemperatur viel ruhiger. Die Abkühlung der Luft hatte es ermöglicht, einen Kompressor auszuschalten, und indem man auch die anderen abwechselnd entlastete, konnten Reparaturen, die während der Hitzewelle der letzten Wochen verschoben werden mußten, endlich ausgeführt werden. Der Chefingenieur würde sich darüber freuen, dachte Wallace Santopadre. Der alte Mann würde allerdings nicht so beglückt sein über die Nachricht, daß in der Nacht - gegen zwei Uhr - elf Minuten lang der Strom ausgefallen war, vermutlich infolge des Unwetters im Norden. Für das St. Gregory war das kein wirkliches Problem gewesen, und die meisten Gäste hatten fest geschlafen und ohnehin nichts davon gemerkt. Santopadre hatte sofort das Ersatzaggregat eingeschaltet, das von den hoteleigenen Generatoren gespeist wurde und seine Aufgabe zufriedenstellend erfüllte. Aber es hatte immerhin drei Minuten gedauert, bevor er die Generatoren gestartet und auf Hochtouren gebracht hatte, mit dem Resultat, daß alle elektrischen Uhren des St. Gregory - über zweihundert insgesamt - nun drei Minuten nachgingen. Ein Monteur würde für das mühselige Geschäft, jede Uhr mit der Hand zu regulieren, nahezu den ganzen nächsten Tag brauchen. Nicht weit vom Maschinenraum entfernt, in einem glühendheißen, übelriechenden, ummauerten Hof, war Booker T. Graham damit beschäftigt, die Ausbeute einer arbeitsreichen Nacht inmitten der Hotelabfälle zusammenzutragen. Um ihn her flackerte der Feuerschein von rauchgeschwärzten Wänden. Wenige Menschen im Hotel, die Angestellten mit eingeschlossen, hatten Bookers Domäne jemals gesehen, und alle, die sie kannten, erklärten, sie hätte viel Ähnlichkeit mit den Vorstellungen der Evangelisten von der Hölle. Aber Booker, der selbst einem liebenswerten Teufel glich, mit seinen leuchtenden Augen und blitzenden Zähnen in dem schweißglänzenden schwarzen Gesicht, genoß seine Arbeit und auch die Hitze des Verbrennungsofens. Peter McDermott gehörte zu den wenigen Hotelangestellten, die Booker T. Graham je zu Gesicht bekam. Bald nach seinem Eintritt im St. Gregory hatte Peter sich aufgemacht, die Geographie und das innere Gefüge des Hotels bis in die abgelegensten Winkel zu erforschen. Im Verlauf einer solchen Expedition entdeckte er den Verbrennungsofen. Seitdem schaute Peter gelegentlich vorbei, um persönlich nach dem Rechten zu sehen. Übrigens hielt er es bei den anderen Abteilungen genauso. Dieser Besuche wegen, und vielleicht infolge einer instinktiven gegenseitigen Sympathie, rangierte der junge Mr. McDermott in Booker T. Grahams Augen irgendwie hoch oben dicht unterhalb Gott. Jedesmal studierte Peter das verschmierte fleckige Schulheft, in dem Booker stolz den Ertrag seiner Arbeit notierte. Er setzte sich zusammen aus den Dingen, die andere Leute wegwarfen und die Booker T. aus den Abfällen herausklaubte. Der wichtigste Einzelposten bestand in Hotelbesteck. Booker, ein unkomplizierter Mann, fragte sich niemals, wie das Tafelsilber in den Müll gelangte. Erst Peter McDermott erklärte ihm, daß es sich um ein chronisches Problem handelte, mit dem alle größeren Hotels zu kämpfen hatten. Schuld daran waren zumeist abgehetzte Kellner und Hilfskräfte, die aus Unwissenheit oder Trägheit nicht darauf achteten, daß zugleich mit den Speiseüberresten, die sie in die Abfalltonnen schütteten, auch ein nicht abreißender Strom von Tafelsilber verschwand. Bis vor einigen Jahren hatte das St. Gregory seine Abfälle gepreßt, eingefroren und dann auf einen städtischen Müllabladeplatz befördert. Aber mit der Zeit nahm der Verlust an Tafelsilber einen so erschreckenden Umfang an, daß ein eigener Verbrennungsofen gebaut und Booker T. Graham angestellt wurde, um ihn mit der Hand zu beschicken. Seine Aufgabe war einfach. Der gesamte Abfall wurde in Tonnen gesammelt, die auf Karren standen. Booker T. schob die Karren nacheinander in den Hof, breitete den Inhalt der Tonnen auf einem großen Blech aus und harkte ihn wie der Gärtner ein Beet. Wenn dabei irgendeine Beute zutage gefördert wurde, wie Flaschen, Gläser, Tafelsilber und gelegentlich auch Schmuckstücke von Gästen, fischte Booker T. sie heraus. Dann wurde der durchsortierte Müll in den Ofen geschoben und die nächste Ladung in Angriff genommen. Die Ausbeute der vergangenen Nacht zeigte, daß das Gesamtergebnis für den fast abgelaufenen Monat dem normalen Durchschnitt entsprach. Es handelte sich um beinahe 2000 Stück Tafelsilber, im Wert von je einem Dollar für das Hotel, um etwa 4000 Flaschen, Wert zwei Cents pro Stück, 800 intakte Gläser, je ein Vierteldollar, und außerdem eine reiche Auswahl anderer Gegenstände, unter denen sich - unbegreiflicherweise - auch eine silberne Suppenterrine befand. Dem Hotel wurden dadurch jährlich an die vierzigtausend Dollar erspart. Booker T. Graham, der in der Woche 38 Dollar verdiente, war mit seiner Arbeit fertig, zog sich seine schmierige Jacke an und ging heim. Inzwischen war der Betrieb am Personaleingang, einem schmutzigbraunen Backsteintor in einer Seitenstraße der Common Street, immer stärker geworden. Allein und zu zweien tröpfelten Leute von der Nachtschicht hinaus, während die von der ersten Tagschicht aus allen Teilen der Stadt in ständig wachsender Flut hereinströmten. Im Küchentrakt wurden Lichter angeknipst, morgendliche Gehilfen vertauschten in den angrenzenden Umkleideräumen ihren Straßenanzug gegen frische weiße Kittel und verwandelten sich in Köche. In wenigen Minuten würden sie mit der Zurüstung der 1600 Hotelfrühstücke beginnen und gleich danach - lange, bevor die letzte Portion Rührei mit Schinken am späten Vormittag serviert war - die für den heutigen Tag angesetzten 2000 Lunchportionen in Angriff nehmen. In dem Gewimmel summender Kessel, riesiger Öfen und anderer Großküchenapparaturen sorgte ein kleines Paket Quäkerflocken für eine anheimelnde Note. Es war für die wenigen Unentwegten bestimmt, die, wie jedes Hotel wußte, zum Frühstück Porridge verlangten, ohne sich darum zu kümmern, ob die Außentemperatur fünf Grad unter Null oder vierzig Grad Wärme im Schatten war. In der Küchenbratstation überprüfte Jeremy Boehm, ein sechzehnjähriger Küchenjunge, den großen Tiefbrater, den er vor zehn Minuten eingeschaltet hatte. Instruktionsgemäß hatte er ihn auf 95 Grad eingestellt, so daß die Temperatur später schnell auf die erforderlichen 165 Grad erhöht werden konnte. Für das Menü des Hauptrestaurants war als Lunch-Spezialität Brathähnchen nach Art des Südens vorgesehen, und so würde der Brater an diesem Tag viel zu tun bekommen. Jeremy stellte fest, daß das Fett im Brater ordnungsgemäß heiß geworden war, aber er fand, daß es wesentlich mehr rauchte als sonst, trotz des überhängenden Rauchfangs und des eingeschalteten Ventilators. Er fragte sich, ob er seine Beobachtung melden sollte, wobei ihm einfiel, daß ein Assistent des Küchenchefs ihn erst gestern scharf zurechtgewiesen hatte, weil er sich für die Saucenzubereitung interessierte; das, wurde ihm bedeutet, ging ihn nichts an. Jeremy zuckte mit den Schultern. Der Brater ging ihn auch nichts an. Sollte sich ein anderer damit herumärgern. Einen halben Block entfernt, in der Hotelwäscherei, gab es bereits Ärger, wenn auch nicht gerade über Rauchentwicklung. Die Wäscherei, ein geschäftiger, dunstiger Bezirk, war für sich allein in einem älteren zweistöckigen Gebäude untergebracht und vom Haupttrakt des St. Gregory aus durch einen breiten Kellertunnel zu erreichen. Mrs. Isles Schulder, die temperamentvolle, scharfzüngige Leiterin der Wäscherei, war vor einigen Minuten - wie immer als erste - in ihrem Wirkungsbereich eingetroffen. Im Moment galt ihre Sorge einem Stapel schmutziger Tischwäsche. Im Laufe eines Arbeitstages bewältigte die Wäscherei etwa 25ooo Wäschestücke, angefangen von Frottiertüchern und Bettlaken über Schürzen und Kittel der Kellner und des Küchenpersonals bis zu den ölbeschmierten Overalls der Techniker. Das meiste erforderte die übliche Routinebehandlung, aber letzthin hatte eine lästige Unsitte in empörender Weise Schule gemacht. Die Urheber waren Geschäftsleute, die ihre Berechnungen auf dem Tischtuch anstellten und dazu Kugelschreiber benutzten. »Würden die Ferkel das bei sich z Hause auch machen?« fauchte Mrs. Schulder den Arbeiter an, der Nachtdienst gehabt und die anstößigen Tücher aus einem Haufen normal verschmutzter Tischwäsche aussortiert hatte. »Verdammt -wenn sie's täten, würden ihnen ihre Frauen ganz schön in den Arsch treten. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich diesen Hampelmännern von Oberkellnern schon gesagt habe, sie sollten ein Auge drauf haben und dem Geschmier ein Ende machen, aber nein... denen ist das doch ganz egal!« Sie äffte mit tiefer Stimme einen Kellner nach. »Jawohl, Sir, aber gewiß, Sir, steh' Ihnen ganz zu Diensten, Sir. Kritzeln Sie ruhig das Tischtuch voll, Sir, und hier ist noch ein Kugelschreiber, Sir. Solange ich ein fettes Trinkgeld kriege, schert mich die gottverdammte Wäscherei einen Dreck!« Mrs. Schulder verstummte. »Gehen Sie nach Haus«, sagte sie gereizt zu dem Arbeiter, der sie mit aufgerissenem Mund anstarrte. »Den ersten Ärger hab' ich weg, und Sie sind schuld dran.« Ein Glück, daß sie den Packen abgefangen hatte, bevor er im Wasser landete, dachte sie, als der Mann abgezogen war. Sobald Kugelschreibertinte erst einmal naß geworden war, konnte man das Tischtuch praktisch abschreiben, denn gegen solche Flecken half kein Mittel, außer Dynamit. So würde sich Nellie die Expertin im Fleckenentfernen - heute mit Tetrachlorkohlenstoff an die Arbeit machen, und wenn sie Glück hatten, würden sie den größten Teil des Packens retten. Aber auch dann - dachte Mrs. Schulder grimmig - hätte sie gern ein Wörtlein mit den Schmierfinken gesprochen, die all die Scherereien verursacht hatten. Und so lief überall im ganzen Hotel der Betrieb an. Vor und hinter den Kulissen - in der Wirtschaftsabteilung, den Büros, der Schreinerei, Bäckerei, Druckerei, Installation, im Einkauf, in der Innendekoration, der Magazinverwaltung, der Fernsehreparaturwerkstatt - begann ein neuer Tag. 2 In seiner privaten Sechs-Zimmer-Suite in der fünfzehnten Etage stieg Warren Trent von dem Friseursessel, in dem Aloysius Royce ihn rasiert hatte. Ein stechendes Zucken seines Ischiasnervs in der linken Hüfte gemahnte ihn daran, daß er wieder einen jener Tage vor sich hatte, an denen er sein reizbares Temperament würde zügeln müssen. Der private Friseursalon befand sich neben einem geräumigen Bad, das außer einem Dampfkabinett und einem in den Boden eingelassenen Becken im japanischen Stil auch ein eingebautes Aquarium enthielt, in dem tropische Fische mit Glotzaugen durch lamelliertes Glas starrten. Warren Trent schritt steifbeinig ins Bad und blieb vor einem wandbreiten Spiegel stehen, um die Rasur zu begutachten. Er fand nichts an ihr auszusetzen, während er sein Spiegelbild einer gründlichen Musterung unterzog. Es zeigte ihm ein tief gefurchtes und zerklüftetes Gesicht, einen schlaffen Mund mit einem Anflug von Humor, eine schnabelförmige Nase und tiefliegende Augen, deren undurchdringlicher Blick kein Geheimnis preisgab. Sein früher kohlschwarzes Haar war nun weiß, dicht und noch immer gelockt. Ein Eckkragen mit sorgfältig geknüpfter Krawatte vervollständigte das Portrait eines vornehmen Gentlemans aus den Südstaaten. Zu jeder anderen Zeit hätte ihm seine peinlich gepflegte Erscheinung Freude gemacht. Aber heute verdunkelte die niedergedrückte Stimmung, die ihn in den letzten Wochen überkommen hatte, alles andere. Heute war also Dienstag. In dieser endgültig letzten Woche zählte er die Tage - vier Tage, um zu verhindern, daß sich sein Lebenswerk in Nichts auflöste. Mit einem ärgerlichen Stirnrunzeln über seine trübseligen Gedanken humpelte der Hotelbesitzer in das Eßzimmer, wo Aloysius Royce den Frühstückstisch gedeckt hatte. Neben dem langen Eichenholztisch mit dem gestärkten Leinenzeug und dem blinkenden Tafelsilber stand ein Servierwagen mit Warmhalteplatten, der vor wenigen Sekunden im Eiltempo aus der Hotelküche heraufgebracht worden war. Warren Trent sank schwerfällig in den Sessel, den Royce zurückgeschoben hatte, und wies dann mit der Hand auf den gegenüberliegenden Platz. Der junge Neger legte unverzüglich ein zweites Gedeck auf und setzte sich. Auf dem Servierwagen stand ein zweites Frühstück bereit, für jene Gelegenheiten, wenn der alte Mann aus einer Laune heraus von seiner Gewohnheit, allein zu frühstücken, abging. Während er die zwei Portionen Rührei mit kanadischem Schinken und Maismehlgrütze servierte, blieb Royce stumm, da er wußte, daß sein Arbeitgeber das Gespräch eröffnen würde, wenn er dazu bereit war. Bisher hatte er sich weder zu Royces zerschundenem Gesicht noch zu den zwei Heftpflastern geäußert, die die ärgsten Spuren der nächtlichen Auseinandersetzung verdeckten. Schließlich schob Warren Trent seinen Teller zurück und bemerkte: »Halten Sie sich ordentlich ran. Für uns beide dürfte damit bald Schluß sein.« Royce fragte: »Die Bankleute haben also ihre Meinung über eine Erneuerung des Kredits nicht geändert?« »Nein, und sie werden sie auch nicht ändern.« Der alte Mann schlug plötzlich mit der Faust auf den Tisch. »Verflucht noch mal! - und es hat eine Zeit gegeben, wo sie nach meiner Pfeife tanzten und nicht ich nach ihrer. Damals rannten sie mir die Bude ein - Banken, Kreditgesellschaften und all die anderen -und drängten mir ihr Geld förmlich auf.« »Die Zeiten ändern sich für uns alle.« Aloysius Royce schenkte Kaffee ein. »Manches wird besser, anderes schlechter.« »Für Sie ist's leicht«, sagte Warren Trent grämlich. »Sie sind jung. Sie müssen nicht fast am Ende Ihres Lebens mit ansehen, wie alles, wofür Sie gearbeitet haben, auseinanderfällt.« So weit war es mit ihm gekommen, dachte er resigniert. Heute in vier Tagen - am Freitag vor Geschäftsschluß - wurde eine zwanzig Jahre alte Hypothek auf das Hotelgrundstück fällig, und die Finanzierungsgesellschaft, deren Schuldner er war, hatte es abgelehnt, die Hypothek zu erneuern. Als er von der Entscheidung erfuhr, war er zunächst überrascht, aber nicht beunruhigt gewesen. Eine ganze Reihe anderer Geldgeber würde nur zu gern einspringen - zweifellos zu einem höheren Zinssatz -, aber, wie immer ihre Bedingungen lauten mochten, sie würden jedenfalls die erforderlichen zwei Millionen Dollar zur Verfügung stellen. Erst, als er überall - von Banken, Kreditgesellschaften, Versicherungsgesellschaften und privaten Geldgebern - abschlägig beschieden wurde, begann seine ursprüngliche Zuversicht zu schwinden. Ein Bankier, den er gut kannte, gab ihm den aufrichtigen Rat: »Hotels wie deine sind nicht mehr gefragt, Warren. Eine Menge Leute sind der Ansicht, daß die Zeit der großen Unabhängigen vorbei ist und daß heutzutage nur noch die Hotelkonzerne einen vernünftigen Profit herauswirtschaften können. Sieh dir doch deine Bilanz mal an. Du hast ständig Geld verloren. Wie kannst du erwarten, daß Kreditgeber sich auf ein solches Risiko einlassen?« Sein Einwand, daß es sich um eine vorübergehende Krise handele und daß die Bilanz bei besserem Geschäftsgang aus dem Bereich der roten Zahlen herauskommen würde, machte keinen Eindruck. Man glaubte ihm einfach nicht. In dieser auswegslosen Situation hatte Curtis O'Keefe angerufen und für diese Woche eine Zusammenkunft in New Orleans vorgeschlagen. »Mir geht es wirklich nur um ein freundschaftliches Gespräch, Warren«, hatte der Hotelmagnat in seinem ungezwungenen, schleppenden texanischen Tonfall erklärt. »Schließlich sind wir zwei ein Paar bejahrter Gastwirte. Wir sollten einander öfter sehen.« Aber Warren Trent ließ sich von den glatten Worten nicht täuschen; der O'Keefe-Konzern hatte ihm schon früher Offerten gemacht. Die Aasgeier versammeln sich, dachte er. Curtis O'Keefe würde heute eintreffen, und zweifellos war er über die finanziellen Nöte des St. Gregory genauestens unterrichtet. Mit einem unterdrückten Seufzer wandte sich Warren Trent näherliegenden Problemen zu. »Sie sind im Nachtbericht genannt«, sagte er zu Aloysius Royce. »Ich weiß. Ich habe ihn gelesen.« Er hatte den Bericht, als er frühzeitig wie immer abgegeben wurde, überflogen und darin folgende Notiz entdeckt: »Beschwerden über starken Lärm in Zimmer 1126, und darunter in Peter McDermotts Handschrift: »Wurde erledigt von A. Royce und P. McD. Ausführlicher Bericht folgt.« »Nächstens werden Sie vermutlich auch noch meine private Post lesen«, knurrte Warren Trent. Royce grinste. »Bisher hab' ich's nicht getan. Möchten Sie denn, daß ich sie lese?« Frage und Antwort gehörten zu einem Gesellschaftsspiel, das sie miteinander spielten, ohne es sich einzugestehen. Royce wußte ganz genau, daß der alte Mann, falls er es unterlassen hätte, den Bericht zu lesen, ihm mangelndes Interesse an den Hotelangelegenheiten vorgeworfen hätte. Nun sagte Warren Trent sarkastisch: »Da anscheinend jedermann über die Ereignisse im Bilde ist, werden Sie's mir nicht verübeln, wenn ich um ein paar Einzelheiten bitte.« »Keineswegs.« Royce goß seinem Arbeitgeber Kaffee nach, »Miss Marsha Preyscott - Tochter des Mr. Preyscott - wurde gestern nacht beinahe vergewaltigt. Möchten Sie, daß ich Ihnen mehr darüber erzähle?« Als Trents Miene sich verfinsterte, fragte Royce sich einen Moment lang, ob er vielleicht zu weit gegangen war. Ihr lockeres, unklares Verhältnis beruhte größtenteils auf Präzedenzfällen, die Aloysius' Vater vor vielen Jahren gesetzt hatte. Der ältere Royce, der Warren Trent zuerst als Leibdiener und später als Gefährte und privilegierter Freund diente, hatte stets seine Meinung offen ausgesprochen, ohne sich um die Konsequenzen zu kümmern, was, in den ersten Jahren ihres Zusammenlebens, Trent in Weißglut versetzt und später, als es ihnen zur Gewohnheit geworden war, harte Worte zu wechseln, die beiden zu unzertrennlichen Freunden gemacht hatte. Aloysius war fast noch ein Junge, als sein Vater vor zehn Jahren starb, aber er hatte Warren Trents tiefbetrübtes, tränenfeuchtes Gesicht beim Begräbnis des alten Negers nie vergessen. Sie hatten den Mount-Olivet-Friedhof zusammen verlassen, hinter der Neger-Jazzband, die fröhlich »O, Didn't He Ramble« spielte, Trent hatte Aloysius an die Hand genommen und barsch gesagt: »Du bleibst bei mir im Hotel, und später denken wir uns was aus.« Der Junge stimmte vertrauensvoll zu - da seine Mutter bei seiner Geburt gestorben war, blieb er nach dem Tod des Vaters ganz allein zurück -, und ihre gemeinsamen Überlegungen hatten ihn zuerst ins College gebracht und danach an die Universität, wo er in einigen Wochen sein juristisches Staatsexamen ablegen würde. Während aus dem Jungen ein Mann wurde, hatte er nach und nach viele von den ehemaligen Pflichten seines Vaters übernommen, und obwohl die grobe Arbeit vom Hotelpersonal getan wurde, leistete er Warren Trent persönliche Dienste, die letzterer, je nach Laune, kommentarlos oder nörgelnd akzeptierte. Dann und wann stritten sie hitzig, vor allem wenn Aloysius, um Trents Erwartungen nicht zu enttäuschen, auf einen Köder anbiß, den Warren Trent ihm gesprächsweise hinhielt. Und doch, trotz ihrer Vertrautheit und der Erkenntnis, daß er sich Freiheiten herausnehmen konnte, die Warren Trent anderen nie gestattet hätte, war sich Aloysius Royce einer haarfeinen Grenze bewußt, die er niemals überschreiten durfte. Er fuhr fort: »Die junge Dame rief um Hilfe, und zufällig hörte ich sie.« Er schilderte sachlich seine Rettungsaktion und Peter McDermotts Eingreifen, das er weder lobte noch kritisierte. Warren Trent hörte aufmerksam zu. »McDermott hat sich ganz richtig verhalten. Warum mögen Sie ihn nicht?« Nicht zum erstenmal mußte sich Royce über den Scharfblick des alten Mannes wundern. »Vielleicht passen unsere chemischen Eigenschaften nicht zusammen. Oder vielleicht mag ich's auch nicht, wenn große weiße Fußballer beweisen wollen, wie nett sie sind, wenn sie farbige Jungen freundlich behandeln.« »Sie sind ein Querkopf.« Warren Trent beäugte Royce forschend. »Haben Sie schon daran gedacht, daß Sie McDermott möglicherweise unrecht tun?« »Genau; wie ich sagte, vielleicht ist's bloß chemisch.« »Ihr Vater hatte einen Blick für Menschen. Aber er war viel toleranter als Sie.« »Ein Hund mag Leute, die ihm den Kopf tätscheln, weil sein Verstand durch Wissen und Erziehung nicht belastet ist.« »Selbst wenn es so wäre, bezweifle ich, ob er gerade diese Worte gewählt hätte.« Trents abschätzender Blick brachte Royce zum Schweigen. Die Erinnerung an seinen Vater beunruhigte ihn stets. Der ältere Royce, dessen Eltern noch Sklaven waren, als er geboren wurde, verkörperte das, was Neger heutzutage verächtlich als »Onkel Tom Nigger« bezeichneten. Der alte Mann hatte alles, was das Leben ihm brachte, heiter, frag- und klaglos hingenommen. Probleme, die über seinen beschränkten Horizont hinausgingen, berührten ihn kaum. Und dennoch hatte er, wie sein Verhältnis zu Warren Trent bewies, eine geistige Unabhängigkeit und eine Menschenkenntnis besessen, die zu tief blickte, als daß man sie als bloße Sklavenweisheit abtun konnte. Aloysius hatte seinen Vater innig geliebt, und manchmal verwandelte sich diese Liebe - so wie jetzt - in ein schmerzliches Sehnen. »Vielleicht hab' ich die falschen Worte benutzt, aber das ändert nichts an ihrem Sinn.« Warren Trent nickte, ohne sich dazu zu äußern, und zog seine altmodische Taschenuhr heraus. »Sagen Sie dem jungen McDermott, daß ich ihn sprechen möchte. Bitten Sie ihn herauf. Ich bin heute morgen ein bißchen müde.« Der Hotelbesitzer murmelte versonnen: »Mark Preyscott ist in Rom, wie? Vermutlich müßte ich ihn wohl anrufen.« »Seiner Tochter lag sehr viel daran, daß er von der Sache nichts erfährt«, erwiderte Peter McDermott. Die zwei saßen im üppig ausgestatteten Salon von Warren Trents Suite; der alte Mann lehnte in einem tiefen, bequemen Sessel, die Füße auf einen Schemel gestützt, Peter saß ihm gegenüber. »Das entscheide immer noch ich«, polterte Warren Trent. »Wenn sie sich in meinem Hotel vergewaltigen läßt, muß sie die Folgen tragen.« »Die Vergewaltigung haben wir im letzten Moment verhindert. Aber ich möchte gern herausbekommen, was sich vorher abgespielt hat.« »Haben Sie das Mädchen heute morgen schon gesehen?« »Nein. Miss Preyscott schlief noch, als ich bei ihr vorbeischaute. Ich habe ihr die Nachricht hinterlassen, daß ich mit ihr sprechen möchte, bevor sie nach Hause geht.« Warren Trent seufzte und machte eine abschließende Handbewegung. »Schön, erledigen Sie das.« Sein Ton verriet, daß er von der Sache nichts mehr hören wollte. Es würde nicht mit Rom telefoniert, dachte Peter erleichtert. »Ein anderes Problem, das ich auch gern ein für allemal erledigen würde, betrifft den Empfang.« Peter beschrieb den Zwischenfall mit Albert Wells und sah, wie Warren Trents Miene sich verfinsterte, als er den eigenmächtigen Zimmertausch erwähnte. Der alte Mann knurrte: »Wir hätten den Raum schon vor Jahren schließen sollen. Vielleicht wär's besser, wir täten es jetzt.« »Ich glaube, das ist nicht nötig, vorausgesetzt, wir benutzen ihn nur im äußersten Notfall und machen den Gast darauf aufmerksam, auf was er sich einläßt.« Warren Trent nickte. »Kümmern Sie sich darum.« Peter zögerte. »Ich hätte in diesem Zusammenhang gern ein paar spezifizierte Anweisungen über Zimmertausch im allgemeinen erteilt. Wir hatten schon vorher Beschwerden deswegen, und meines Erachtens müßte man in aller Strenge darauf hinweisen, daß unsere Gäste nicht wie Möbelstücke herumgeschoben werden dürfen.« »Beschränken Sie sich auf den einen Fall. Wenn ich allgemeine Instruktionen für nötig halte, erlasse ich sie selbst.« Die knappe Zurechtweisung war ein typisches Beispiel dafür, was an der Geschäftsführung verkehrt war, dachte Peter resigniert. Alles war Stückwerk. Man begriff die Notwendigkeit nicht, Fehler bei der Wurzel zu packen und von Grund auf auszumerzen. »Mit dem Herzog und der Herzogin von Croydon gab es auch Ärger. Die Herzogin wollte Sie persönlich sprechen.« Er erzählte von der Affäre mit den verschütteten Shrimps Creole und gab auch die Version des Kellners Sol Natchez wieder. »Ich kenne das verdammte Frauenzimmer«, knurrte Warren Trent. »Sie gibt keine Ruhe, bevor der Kellner nicht hinausgeflogen ist.« »Für eine Kündigung liegt meiner Meinung nach kein Grund vor.« »Dann sagen Sie ihm, er soll für ein paar Tage bezahlten Urlaub nehmen und angeln gehen und sich im Hotel ja nicht blicken lassen. Und wenn er das nächste Mal was verschüttet, soll er dafür sorgen, daß es kochend heiß ist und daß er es der Herzogin über den Kopf gießt. Ich vermute, sie hat noch immer diese verdammten Köter.« »Ja.« Peter lächelte. In Louisiana war der Aufenthalt von Tieren in Hotelzimmern streng verboten. Im Fall der Croydons hatte sich Warren Trent bereit erklärt, die Anwesenheit der Bedlington-Terrier offiziell nicht zur Kenntnis zu nehmen, unter der Bedingung, daß sie durch eine Hintertür hinein- und herausgeschmuggelt wurden. Die Herzogin jedoch stolzierte jeden Tag mit den Hunden provozierend durch die Hotelhalle. Zwei erzürnte Hundebesitzer, deren Lieblingen der Zutritt verwehrt worden war, hatten sich bereits nach dem Grund für diese Bevorzugung erkundigt. »Ich hatte gestern nacht Scherereien mit Ogilvie«, berichtete Peter. Der Gegenstoß kam schnell. »Ich habe Ihnen schon mal gesagt, Sie sollen Ogilvie in Ruhe lassen. Er ist nur mir verantwortlich.« »Es erschwert einem aber die Dinge, wenn man -« »Sie haben gehört, was ich sage. Vergessen Sie Ogilvie!« Warren Trents Gesicht war rot, aber, wie Peter argwöhnte, mehr vor Verlegenheit als vor Ärger. Die Nachsicht, die Ogilvie zuteil wurde, war unsinnig, und der Hotelbesitzer wußte das. Womit mochte der Ex-Polizist seinen Arbeitgeber in der Hand haben? Das Thema unvermittelt wechselnd, sagte Warren Trent: »Curtis O'Keefe trifft heute ein. Er wünscht zwei nebeneinanderliegende Suiten. Ich habe den Empfang bereits informiert. Aber es ist vielleicht besser, wenn Sie sich selbst um alles kümmern. Im übrigen möchte ich benachrichtigt werden, sobald er da ist.« »Wird Mr. O'Keefe lange bleiben?« »Keine Ahnung. Kommt drauf an.« Einen Moment lang verspürte Peter eine Aufwallung von Mitgefühl für den älteren Mann. Was auch immer gegen die Art und Weise eingewandt werden konnte, in der das St. Gregory heute geleitet wurde, für Warren Trent war es mehr als ein Hotel; es war sein Lebenswerk. Er hatte mit angesehen, wie es aus kleinsten Anfängen zur Berühmtheit aufstieg, wie es sich aus einem ursprünglich bescheidenen Gebäude zu einem mächtigen Komplex entwickelte, der fast einen ganzen Wohnblock einnahm. Viele Jahre lang hatte das Hotel einen ausgezeichneten Ruf genossen; sein Name rangierte in den Staaten neben denen so renommierter Hotels wie des Biltmore oder des Palmer House in Chikago oder des St. Francis in San Franzisko. Es war gewiß schwer für Trent, sich mit der Tatsache abzufinden, daß das St. Gregory, trotz seines vormaligen Ansehens und Ruhms, mit den Zeiten nicht Schritt gehalten hatte. Und dabei war seine Rückständigkeit weder endgültig noch katastrophal, dachte Peter. Neue Geldmittel und eine energische Führung konnten Wunder wirken und vielleicht sogar dem Hotel seine alte Vorrangstellung wiedergeben. Aber wie die Dinge lagen, würde sowohl das Kapital als auch die Führung von außen kommen müssen - vermutlich durch Curtis O'Keefe. Und das erinnerte Peter wieder daran, daß seine eigenen Tage im Hotel wohl gezählt sein würden. Der Hotelbesitzer fragte: »Wie sieht's bei uns mit Kongressen aus?« »Etwa die Hälfte der Chemiker ist bereits abgereist; der Rest geht heute. Die Leute von Gold Crown Cola sind da und auch schon untergebracht. Sie haben dreihundertzwanzig Zimmer genommen, was besser ist, als wir erwartet hatten, und wir haben die Lunch- und Dinnerzahlen entsprechend erhöht.« Als der ältere Mann beifällig nickte, fuhr Peter fort: »Der Kongreß amerikanischer Zahnärzte beginnt morgen. Aber eine ganze Reihe von Teilnehmern ist schon gestern eingetroffen, und heute werden noch mehr kommen. Insgesamt dürften sie zweihundertachtzig Zimmer belegen.« Warren Trent grunzte befriedigt. Immerhin, dachte er, waren die Neuigkeiten nicht nur schlecht. Kongresse waren das tägliche Brot des Hotelgeschäfts, und zwei auf einmal waren eine Hilfe, wenn sie auch leider nicht genügten, um andere kürzliche Verluste wettzumachen. Dennoch war die Zahnärztetagung ein Gewinn. Der junge McDermott hatte auf einen glühheißen Tip, daß frühere Abmachungen des Zahnärztekongresses hinfällig geworden waren, prompt reagiert, war nach New York geflogen und hatte den Veranstaltern mit Erfolg New Orleans und das St. Gregory verkauft. »Gestern waren wir voll belegt«, sagte Warren Trent. Er fügte hinzu: »In unserem Gewerbe heißt's entweder schlemmen oder fasten. Können wir die heute eintreffenden Gäste unterbringen?« »Ich hab' die Zahlen gleich heute morgen nachgeprüft. An sich müßten genügend Zimmer frei werden, aber der Spielraum ist äußerst knapp. Wir haben uns bei den Vorbestellungen ein bißchen übernommen.« Wie alle Hotels, akzeptierte das St. Gregory regelmäßig mehr Vorbestellungen, als es sich nach dem verfügbaren Raum eigentlich leisten konnte. Gleich allen anderen Hotels spekulierte es dabei auf die Tatsache, daß von den Leuten, die sich Zimmer reservieren ließen, stets einige wegblieben, und so bestand das Problem darin, den Prozentsatz derjenigen, die ihre Vorbestellungen nicht beanspruchen würden, richtig abzuschätzen. Meistens bewirkten Erfahrung und Glück, daß die Rechnung glatt aufging und sämtliche Zimmer belegt waren -der Idealzustand für jedes Hotel. Aber gelegentlich stimmte die Voraussage nicht, und dann geriet das Hotel in ernstliche Schwierigkeiten. Es gab keinen kläglicheren Moment im Leben eines Hoteldirektors, als wenn er empörten Möchtegern-Gästen, die bestätigte Reservierungen hatten, erklären mußte, daß keine Zimmer mehr frei waren. Es schmerzte ihn als Mitmensch und auch, weil er sich voller Verzweiflung darüber klar war, daß die Leute, die er wegschickte, nie wieder - wenn es sich irgendwie vermeiden ließ - zu ihm zurückkommen würden. Peter hatte seine schlimmste Erfahrung auf diesem Gebiet gemacht, als ein Bäckerkongreß beschloß, einen Tag länger in New York zu bleiben, damit einige seiner Teilnehmer eine Dampferpartie machen und Manhattan im Mondschein genießen konnten. Zweihundertfünfzig Bäcker mit ihren Frauen verlängerten ihren Aufenthalt, unseligerweise, ohne das Hotel darüber zu informieren, das fest mit ihrer Abreise rechnete, weil es die Zimmer für einen Ingenieurkongreß brauchte. Bei der Erinnerung an das entsetzliche Durcheinander lief Peter noch jetzt ein kalter Schauer über den Rücken. In der Hotelhalle hatten Hunderte von erbosten Ingenieuren mitsamt Frauen Lager bezogen, und viele von ihnen schwenkten Vorbestellungen, die schon zwei Jahre vorher eingereicht worden waren. Da auch die anderen Hotels der Stadt überfüllt waren, wurden die Neuankömmlinge schließlich auf Motels in den New Yorker Außenbezirken verteilt, bis zum nächsten Tag, an dem die Bäcker unschuldig und ahnungslos das Feld räumten. Das Hotel aber mußte nicht nur die enormen Taxispesen der Ingenieure bezahlen, sondern auch eine beträchtliche Summe in bar, um einen Prozeß zu vermeiden, und verlor dabei mehr, als die beiden Kongresse eingebracht hatten. Warren Trent zündete sich eine Zigarre an und bot McDermott mit einer Handbewegung Zigaretten an. Peter nahm sich eine und sagte: »Ich habe mit dem Roosevelt gesprochen. Falls wir heute abend ins Gedränge kommen, können sie uns mit etwa dreißig Zimmern aushelfen.« Diese Aussicht hatte etwas Tröstliches, dachte er - wie ein geheimer Trumpf, der aber nur im äußersten Notfall ausgespielt werden durfte. Selbst scharfe Konkurrenten halfen einander in so einer Krise, weil keiner wußte, wann er selbst in Bedrängnis geraten würde. »Gut«, sagte Warren Trent, eine Rauchwolke über sich. »Und wie sind die Aussichten für den Herbst?« »Enttäuschend. Ich habe Ihnen ein Memorandum geschickt über die zwei großen Gewerkschaftstagungen, die uns durch die Lappen gegangen sind.« »Warum?« »Auf den Grund habe ich Sie schon früher hingewiesen. Wir halten an der Rassentrennung fest. Damit verstoßen wir gegen das Bürgerrechtsgesetz, und das paßt den Gewerkschaften nicht.« Peter sah unwillkürlich zu Aloysius Royce hinüber, der gerade hereingekommen war und einen Stapel Zeitschriften ordnete. Ohne aufzublicken, sagte der junge Neger: »Bemühen Sie sich nicht, meine Gefühle zu schonen, Mistuh McDermott« -Royce sprach in dem gleichen übertriebenen Tonfall wie in der Nacht zuvor -, »wir Farbigen sind längst an so etwas gewöhnt.« Warren Trent, das Gesicht in nachdenkliche Falten gelegt, brummte verdrossen: »Spielen Sie nicht den Clown.« »Ja, Sir!« Royce ließ seine Arbeit im Stich und wandte sich den beiden anderen zu. Seine Stimme klang wieder normal. »Aber ich will Ihnen folgendes sagen: Die Gewerkschaften handeln so, weil sie ein soziales Gewissen haben. Und sie sind nicht die einzigen. Noch mehr Kongresse und auch ganz einfache Leute werden so lange wegbleiben, bis das St. Gregory und andere Hotels zugeben, daß die Zeiten sich geändert haben.« »Antworten Sie ihm«, sagte Warren Trent zu Peter McDermott und wies auf Royce. »Hier, in diesen vier Wänden, nehmen wir kein Blatt vor den Mund.« »Zufällig bin ich der gleichen Meinung wie er«, antwortete Peter ruhig. »Und warum, Mr. McDermott?« höhnte Royce. »Weil Sie denken, es ist besser fürs Geschäft? Weil's Ihnen die Arbeit erleichtert?« »Das sind gute Gründe. Und wenn's Ihnen Spaß macht, sie für die einzigen zu halten, dann hab' ich nichts dagegen.« Warren Trent schlug mit der Hand heftig auf die Armlehne des Sessels. »Die Gründe sind unwichtig! Viel wichtiger ist, daß ihr verdammte Narren seid - alle beide.« Es war eine immer wieder auftauchende Frage. Obwohl in Louisiana Hotels, die zu Konzernen gehörten, die Rassentrennung schon vor Monaten nominell aufgehoben hatten, wehrten sich mehrere Unabhängige - angeführt von Warren Trent und dem St. Gregory - noch immer gegen die Änderung. Die meisten fügten sich für kurze Zeit dem Bürgerrechtsgesetz und kehrten dann, sobald die erste Aufregung sich gelegt hatte, in aller Stille zu ihrer seit langem bestehenden Politik der Rassentrennung zurück. Trotz mehrerer anhängiger Musterprozesse hatte es ganz den Anschein, als könnten die Gegner des Gesetzes, unterstützt von starken lokalen Kräften, einen jahrelangen Stellungskrieg durchhalten. »Nein!« Warren Trent drückte erbost seine Zigarre aus. »Was immer auch sonstwo in der Sache geschieht, ich sage, wir sind hier noch nicht reif dafür. Die Gewerkschaftskongresse haben wir also verloren. Na schön, dann müssen wir uns eben auf den Hosenboden setzen und uns was anderes einfallen lassen.« Vom Salon aus hörte Warren Trent, wie sich die äußere Tür hinter Peter McDermott schloß und wie die Schritte des jungen Negers in den kleinen, mit Büchern vollgestopften Raum zurückkehrten, der sein privater Bereich war. In wenigen Minuten würde Royce, wie er es jeden Tag um diese Zeit tat, zu einer Vorlesung gehen. Es war sehr still in dem großen Salon; nur die Klimaanlage rauschte, und gelegentlich verirrte sich ein Laut, der die dicken Wände und isolierten Fenster durchdrang, von draußen herein. Sonnenstrahlen schoben sich zollweise über den mit Teppichen ausgelegten Fußboden, und während er sie beobachtete, spürte Warren Trent, wie stark sein Herz klopfte - eine Folge des Zorns, der ihn vor wenigen Minuten überfallen hatte. Das war vermutlich ein Warnsignal, das er häufiger beachten sollte. Aber heutzutage, so schien es ihm, enttäuschten ihn so viele Dinge und machten es ihm schwer, seine Gefühle zu beherrschen, und noch schwerer, Schweigen zu bewahren. Vielleicht entsprangen diese Ausbrüche purer Reizbarkeit - der Reizbarkeit des Alters. Aber der tiefere Grund war wohl doch die Empfindung, daß ihm soviel entglitt, für immer aus seiner Reichweite entschwand. Abgesehen davon, hatte er von jeher zu Wutanfällen geneigt -außer in jenen kurzen Jahren, in denen Hester ihm seine Heftigkeit abgewöhnte und ihn Geduld und Humor lehrte und er für eine Weile ihren Rat befolgt hatte. Während er still dasaß, peinigte ihn die Erinnerung. Es schien so lange her! Vor über dreißig Jahren hatte er sie als Jungvermählte über die Schwelle eben dieses Raumes getragen. Und wie kurz die Zeit war, die sie miteinander verlebt hatten: nur ein paar Jahre, unendlich glückliche Jahre, bis Hester ganz plötzlich an der spinalen Kinderlähmung erkrankte. Die Krankheit tötete sie innerhalb von vierundzwanzig Stunden, und Warren Trent blieb trauernd und allein zurück mit dem Rest seines Lebens noch vor sich -und mit dem St.-Gregory-Hotel. Es gab nur wenige im Hotel, die sich noch an Hester erinnerten, und sollten sich ein paar von den alten Angestellten ihrer doch entsinnen, dann nur ganz verschwommen und nicht, wie Warren Trent selbst sich ihrer entsann: Für ihn war sie eine süße Frühlingsblume, die ihm seine Tage sanft und sein Leben reich gemacht hatte wie sonst niemand davor oder danach. In der Stille schien es ihm, als käme eine leichte rasche Bewegung und das Rascheln von Seide von der Tür hinter ihm. Er wandte den Kopf, aber die Erinnerung hatte ihm einen Streich gespielt. Der Raum war leer, und - was ihm selten geschah - die Augen wurden ihm feucht. Er erhob sich schwerfällig und mit schmerzverzerrtem Gesicht aus dem Sessel. Als er zum Fenster humpelte, bohrte sein Ischias wie ein Messer in seiner Hüfte. Er blickte über die Dachgiebel des Französischen Viertels - des Vieux Carre, wie es die Leute neuerdings wieder nannten - zum Jackson Square und zu den in der Sonne schimmernden Türmen der Kathedrale hinüber. Jenseits davon war der wirbelnde lehmige Mississippi, und inmitten des Stromes wartete eine Reihe vertäut liegender Schiffe auf einen freien Platz an einem der Kais und auf das Löschen. Das war ein Zeichen der Zeit, dachte er. Seit dem achtzehnten Jahrhundert war New Orleans zwischen Armut und Reichtum hin und her gependelt. Dampfschiffe, Eisenbahn, Baumwolle, Sklavenhandel, die Befreiung der Sklaven, Kanäle, Kriege, Touristen hatten der Stadt abwechselnd Unglück und Wohlstand gebracht. Im Moment gab es wieder einmal gute Zeiten - aber für das St.-Gregory-Hotel anscheinend nicht. War es eigentlich wirklich so wichtig - wenigstens für ihn selbst? Lohnte es sich überhaupt, um das Hotel zu kämpfen? Warum nicht aufgeben, verkaufen? Curtis O'Keefe würde ihm einen fairen Preis bieten. Der O'Keefe-Konzern war dafür bekannt, und Trent selbst würde gut dabei wegkommen. Nachdem er die fällige Hypothek zurückgezahlt und die kleineren Aktionäre abgefunden hatte, würde ihm genügend Geld übrigbleiben, um sich für den Rest seines Lebens so einzurichten, wie es ihm beliebte. Kapitulation: Vielleicht war das die Lösung. Kapitulation vor den geänderten Zeiten. Ein Hotel war schließlich doch nur so und so viele Backsteine und Mörtel. Er hatte versucht, mehr daraus zu machen, war aber am Ende gescheitert. Warum also nicht aufgeben? Und doch... falls er sich dazu entschloß, was blieb ihm dann eigentlich noch? Nichts. Ihm blieben nicht einmal die Geister, die durch diese Räume wandelten. Er blieb nachdenklich am Fenster stehen, mit seinen Blicken die Stadt liebkosend, die sich vor ihm ausbreitete. Auch sie hatte Umwälzungen erlebt, war französisch, spanisch und amerikanisch gewesen und hatte sich dennoch irgendwie immer ihr eigenes Gesicht bewahrt - ihre einmalige Individualität in einer Epoche der Gleichmacherei. Nein! Er würde nicht verkaufen. Noch nicht. Solange Hoffnung bestand, würde er aushalten. Er hatte noch vier Tage, um das Geld für die Hypothek irgendwo aufzutreiben, und abgesehen davon waren die gegenwärtigen Verluste eine vorübergehende Sache. Bald würde sich das Blatt wenden und das St. Gregory würde wieder zahlungsfähig werden und unabhängig bleiben. Von seiner Zuversicht erfüllt, schritt er quer durch den Raum zum gegenüberliegenden Fenster. Seine Augen erhaschten hoch oben am Himmel das Aufleuchten eines Flugzeuges, das von Norden kam. Es war eine Düsenmaschine, die an Höhe verlor und zur Landung auf dem Moisant-Flughafen ansetzte. Er fragte sich, ob sie Curtis O'Keefe an Bord hatte. 3 Als Christine Francis ihn kurz nach halb zehn aufspürte, stand Sam Jakubiec, der untersetzte Kreditmanager, ein Mann mit beginnender Glatze, im hinteren Teil des Empfangs und kontrollierte, wie jeden Tag, die Konten der Hotelgäste. Seine hastigen, nervösen Bewegungen hatten schon manche Leute zu der irrigen Ansicht verführt, daß er bei seiner Arbeit nicht allzu gründlich sei. In Wirklichkeit jedoch gab es fast nichts, was dem scharfen, von einem glänzenden Gedächtnis unterstützten Verstand des Kreditmanagers entging, eine Tatsache, die das Hotel vor faulen Kunden bewahrt und ihm den Verlust von Tausenden von Dollar erspart hatte. Seine Finger tanzten über den Buchungsautomaten, während er durch die dicken Brillengläser nach Name und Zimmernummer spähte, die einzelnen Rechnungsposten überprüfte und sich dann und wann auf einem Block Notizen machte. Ohne innezuhalten, blickte er kurz hoch und gleich wieder auf seine Arbeit. »In ein paar Minuten bin ich fertig, Miss Francis.« »Ich kann warten. Irgendwas Interessantes heute morgen?« Jakubiec nickte. »Einiges.« »Zum Beispiel?« Er machte sich wieder eine Notiz. »Zimmer 512, H. Baker. Traf um acht Uhr zehn ein, bestellte um acht Uhr zwanzig eine Flasche Whisky und ließ sie auf die Rechnung setzen.« »Vielleicht putzt er sich die Zähne damit.« Mit vorgebeugtem Kopf nickte Jakubiec. »Vielleicht.« Es war jedoch wesentlich wahrscheinlicher, dachte Christine, daß H. Baker in der Nummer 512 ein Nassauer war. Jeder Gast, der gleich nach der Ankunft eine Flasche Alkohol bestellte, erregte das Mißtrauen des Kreditmanagers. Die meisten Neuankömmlinge, die - nach einer Reise oder einem anstrengenden Tag - rasch etwas trinken wollten, ließen sich ein Mixgetränk von der Bar heraufschicken. Leute, die gleich ganze Flaschen bestellten, waren oft auf einer Sauftour und hatten vielleicht nicht die Absicht zu zahlen oder konnten es nicht. Christine wußte auch, was als nächstes folgen würde. Jakubiec würde eins der Zimmermädchen bitten, unter einem Vorwand in die Nummer 512 zu gehen und den Gast und sein Gepäck in Augenschein zu nehmen. Zimmermädchen wußten, wonach sie Ausschau halten mußten. Sie hatten festzustellen, ob der Gast über vernünftige Gepäckstücke und gute Bekleidung verfügte, und war beides vorhanden, dann würde sich der Kreditmanager vermutlich zunächst damit begnügen, das Konto des Gastes im Auge zu behalten. Manchmal mieteten sich solide achtbare Bürger in einem Hotel ein, um sich in aller Ruhe betrinken zu können, und solange sie zahlungsfähig waren und niemanden belästigten, war das ihre Privatangelegenheit. Stellte sich jedoch heraus, daß der Gast weder über einen Koffer noch andere substantielle Dinge verfügte, dann pflegte Jakubiec persönlich bei ihm vorzusprechen und diskret und höflich auf den Busch zu klopfen. Erwies sich der Gast als kreditwürdig, oder erklärte er sich zu einer Anzahlung bereit, dann trennten sie sich in aller Freundschaft. Bestätigte sich jedoch der ursprüngliche Verdacht, dann konnte der Kreditmanager sehr massiv werden, und der Gast flog hinaus, bevor eine hohe Rechnung zusammenkam. »Hier ist noch einer«, sagte Sam Jakubiec zu Christine. »Sanderson, Zimmer 1207. Übertrieben große Trinkgelder.« Sie betrachtete die Karte, die er in der Hand hielt. Auf ihr waren zwei Posten für Bemühungen des Zimmerkellners in Rechnung gestellt, und zwar je ein Posten über ein Dollar 50 und zwei Dollar. Beide Male war ein Trinkgeld von zwei Dollar hinzugefügt und mit der Unterschrift bestätigt worden. »Leute, die nicht zu zahlen beabsichtigen, schreiben oft die größten Trinkgelder auf«, sagte Jakubiec. »Übrigens reist er sowieso heute ab.« Wie bei dem anderen zweifelhaften Fall, würde sich der Kreditmanager auch hier behutsam vortasten. Ehrliche Gäste nicht zu vergrämen gehörte auch zu seinem Job und war ebenso wichtig wie das Verhindern von Betrügereien. Nach jahrelanger Erfahrung vermochte ein geschickter Kreditmanager normalerweise ganz instinktiv die Wölfe von den Schafen zu trennen, aber vor Irrtümern war auch er nicht gefeit - zum Schaden des Hotels. Das war der Grund, wie Christine sehr wohl wußte, warum Kreditmanager gelegentlich auch in zweifelhaften Fällen Kredit gewährten oder Schecks annahmen und sich damit auf einen Seiltanz einließen. Die meisten Hotels - sogar die vornehmsten - kümmerten sich nicht um die Moral ihrer Gäste, weil sie wußten, daß sie andernfalls sehr viel Kundschaft einbüßen würden. Ihnen ging es letzten Endes nur um die Zahlungsfähigkeit des Gastes. Dafür war der Kreditmanager da. Mit einer einzigen flinken Bewegung legte Sam Jakubiec die Kontenkarten an ihren Platz zurück und schob den Karteikasten zu. »Also, was kann ich für Sie tun?« fragte er. »Wir haben eine Privatpflegerin für die Nummer 1410 engagiert.« Christine berichtete kurz über Wells' nächtlichen Anfall. »Es beunruhigt mich ein bißchen, ob Mr. Wells sich das leisten kann, und ich bin mir nicht sicher, ob er sich klar darüber ist, wieviel das kostet.« Sie sagte natürlich nicht, daß es ihr mehr um Mr. Wells ging als um das Hotel. Jakubiec nickte. »Privatpflege geht ins Geld.« Sie verließen zusammen den Empfang und begaben sich quer durch die nun stark belebte Halle zum Büro des Kreditmanagers, einem kleinen quadratischen Raum hinter dem Portierschalter. Eine rundliche brünette Sekretärin arbeitete direkt vor einer Wand aus Karteifächern. »Madge«, sagte Sam Jakubiec, »sehen Sie doch mal nach, was wir über Wells, Albert, da haben.« Ohne zu antworten, schob sie einen Kasten zu, zog einen anderen auf und blätterte die Karten durch. Dann sagte sie in einem einzigen Atemzug: »Albuquerque, Coon Rapids, Montreal, suchen Sie sich den Richtigen aus.« »Montreal«, sagte Christine, und Jakubiec nahm die Karte, die ihm die Sekretärin reichte, und überflog sie. »Scheint in Ordnung zu sein. Wohnte sechsmal bei uns. Zahlte bar. Eine kleine Unstimmigkeit, die offenbar ausgebügelt wurde.« »Darüber bin ich im Bilde. Der Fehler lag bei uns.« Der Kreditmanager nickte. »Meiner Meinung nach besteht kein Grund zur Sorge. Ehrliche Leute hinterlassen ebenso Spuren ihres Verhaltens wie unehrliche.« Er gab der Sekretärin die Karte zurück, und sie ordnete sie wieder ein. Die Karteifächer enthielten Unterlagen über sämtliche Gäste, die in den letzten Jahren im Hotel abgestiegen waren. Sam Jakubiec fügte hinzu: »Aber ich werde mich trotzdem mit der Sache befassen und zunächst mal feststellen, wie teuer die Pflegerin kommt, und danach mit Mr. Wells sprechen. Falls er knapp dran ist, können wir ihm vielleicht aushelfen und mit dem Rückzahlen Zeit lassen.« »Danke, Sam.« Christine war erleichtert, denn sie wußte, daß Jakubiec, der faulen Kunden gegenüber unerbittlich war, in einem echten Notfall auch hilfsbereit und mitfühlend sein konnte. Als sie auf die Tür zuging, rief der Kreditmanager ihr nach: »Miss Francis, wie sieht's ein paar Treppen höher aus?« »Sie verlosen das Hotel, Sam. Eigentlich wollte ich's Ihnen nicht erzählen, aber Sie haben's mir abgeluchst.« Sie lächelte. »Sagen Sie ihnen, wenn sie meine Nummer ziehen, sollen sie sie bis zum nächsten Mal zurückstellen. Ich hab' so schon genug Sorgen.« Christine vermutete, daß der Kreditmanager trotz seines unbekümmerten Tons ebenso um seinen Posten bangte wie viele andere. Die jeweilige finanzielle Lage des Hotels war zwar angeblich eine vertrauliche Angelegenheit, blieb jedoch kaum jemals geheim, und auch diesmal hatte man nicht verhindern können, daß sich die Neuigkeit von den gegenwärtigen Schwierigkeiten ausbreitete wie eine ansteckende Krankheit. Sie durchquerte die Halle wieder, beantwortete Guten-Morgen-Grüße von Boys, von der Blumenhändlerin des Hotels und von einem Direktionsassistenten, der selbstherrlich hinter seinem Schreibtisch thronte, passierte die Fahrstühle und lief rasch die geschwungene mittlere Treppe hinauf ins Zwischengeschoß. Der Anblick des Direktionsassistenten hatte sie an seinen Vorgesetzten Peter McDermott erinnert. Seit gestern nacht hatte sie sehr viel über ihn nachgedacht. Sie fragte sich, ob ihr Zusammensein die gleiche Wirkung auf ihn gehabt haben mochte. Dann und wann ertappte sie sich bei dem Wunsch, es möchte so sein, aber jedesmal warnte eine innere Stimme sie vor einer überstürzten Beziehung. In den Jahren, in denen sie gelernt hatte allein zu sein, hatte es Männer in Christines Leben gegeben, aber sie hatte keinen von ihnen ernst genommen. Manchmal dachte sie, daß ein Instinkt sie vor allzu enger Bindung an andere Menschen schützte, um ihr den Schmerz eines erneuten Verlustes zu ersparen. Trotzdem fragte sie sich in diesem Moment, wo Peter sein und was er tun mochte; und sie sagte sich vernünftig, daß sie einander im Laufe des Tages bestimmt früher oder später begegnen würden. Als sie wieder in ihrem eigenen Büro im Verwaltungstrakt war, warf sie einen Blick in Warren Trents Büro, aber der Hotelbesitzer hatte seine Wohnung in der 15. Etage noch nicht verlassen. Auf ihrem Schreibtisch stapelte sich die Morgenpost, und mehrere Telefonanrufe mußten so bald wie möglich erledigt werden. Sie beschloß zunächst die Angelegenheit zu Ende zu führen, deretwegen sie beim Kreditmanager gewesen war. Sie griff nach dem Telefonhörer und verlangte Zimmer 1410. Eine weibliche Stimme - wahrscheinlich die der Pflegerin -meldete sich. Christine nannte ihren Namen und erkundigte sich höflich nach dem Befinden des Patienten. »Mr. Wells hatte eine ruhige Nacht«, erwiderte die Stimme, »und sein Zustand hat sich gebessert.« Christine fragte sich verwundert, warum manche Pflegerinnen sich veranlaßt fühlten, ihre Auskünfte im Ton offizieller Bulletins zu erteilen, und sagte: »In diesem Fall kann ich vielleicht gleich mal vorbeischauen.« »Vorläufig geht es leider nicht.« Man hatte den Eindruck, eine Wächterhand werde abwehrend erhoben. »Dr. Aarons besucht heute morgen den Patienten, und ich möchte mich auf seinen Besuch vorbereiten.« Es klang wie ein Staatsbesuch dachte Christine. Die Vorstellung, daß der pompöse Dr. Aarons einer ebenso pompösen Pflegerin seine Aufwartung machte, belustigte sie insgeheim. Laut sagte sie: »Gut. Würden Sie dann Mr. Wells bitte ausrichten, daß ich angerufen habe und ihn am Nachmittag aufsuchen werde?« 4 Die unergiebige Besprechung in der Suite des Hotelbesitzers hinterließ in Peter McDermott ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Alle Unterredungen mit Warren Trent verliefen so, dachte er resigniert, als Aloysius Royce hinter ihm die Tür geschlossen hatte und er den Korridor des fünfzehnten Stockwerkes entlangeilte. Wie schon oft wünschte er sich glühend, man würde ihm sechs Monate Zeit und freie Hand bei der Verwaltung des Hotels geben. Unweit der Fahrstühle blieb er stehen und erkundigte sich über einen Hausanschluß beim Empfang, welche Zimmer für Curtis O'Keefe reserviert worden waren. Er erfuhr, daß es sich um zwei nebeneinanderliegende Suiten in der zwölften Etage handelte, und benutzte die Personaltreppe, um zwei Stockwerke tiefer zu steigen. Wie alle großen Hotels, unterschlug das St. Gregory die dreizehnte Etage und bezeichnete sie statt dessen als vierzehnte. Die vier Türen der zwei reservierten Suiten standen offen, und aus dem Inneren tönte Peter das Summen eines Staubsaugers entgegen. Zwei Zimmermädchen arbeiteten fleißig unter den kritischen Blicken von Mrs. Blanche du Quesnay, der scharfzüngigen, aber äußerst tüchtigen Ersten Hausdame des St. Gregory, einer rothaarigen Mittvierzigerin. Als Peter eintrat, wandte sie sich um und funkelte ihn mit ihren klugen Augen an. »Dacht ich mir's doch, daß einer von euch Männern hier aufkreuzen würde! Als ob ich nicht selbst imstande wäre, nach dem Rechten zu sehen, und nicht von ganz allein wüßte, daß alles tipptopp sein muß für den hohen Gast!« Peter grinste. »Regen Sie sich ab, Mrs. Q. Mr. Trent hat mich gebeten, hier vorbeizuschauen.« Er mochte die resolute Frau gern; sie war eine der zuverlässigsten Mitarbeiterinnen. Die beiden Zimmermädchen lächelten. Er zwinkerte ihnen zu und sagte zu Mrs. du Quesnay: »Wenn Mr. Trent allerdings geahnt hätte, daß Sie sich persönlich um alles kümmern, wäre er völlig beruhigt gewesen.« »Sie sind ein Schmeichler. Falls uns in der Wäscherei die Schmierseife ausgeht, werden wir Sie holen«, erwiderte die Hausdame mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln, während sie die Kissen zweier Sofas sachkundig zurecht klopfte. Er lachte. »Sind die Blumen und der Obstkorb bestellt?« Der Hotelmagnat war des unvermeidlichen Obstkorbs vermutlich schon längst überdrüssig; er war die Begrüßungsformel aller Hotels für sehr prominente Gäste. Aber sein Fehlen konnte möglicherweise unangenehm auffallen. »Sie sind auf dem Weg nach oben.« Mrs. du Quesnay blickte auf und fügte anzüglich hinzu: »Wie ich gehört hab', bringt sich Mr. O'Keefe seine Blumen selbst mit, und nicht mal in Vasen.« Peter verstand die Anspielung. Sie bezog sich darauf, daß Curtis O'Keefe fast immer in Damenbegleitung reiste, wobei die Damen allerdings häufig wechselten. Er überhörte sie diskret. Mrs. du Quesnay warf ihm einen blitzschnellen schnippischen Blick zu. »Sehen Sie sich ruhig um. Das kostet nichts.« Beide Suiten waren, wie Peter bei seinem Rundgang feststellte, einer gründlichen Säuberung unterzogen worden. Auf den ordentlich ausgerichteten Möbeln - in Weiß und Gold mit einem französischen Motiv - lag kein Stäubchen. Bettwäsche in den Schlafzimmern und Frottiertücher im Bad waren makellos rein und korrekt gefaltet. Waschbecken und Wanne schimmerten in mattem trockenem Glanz, die Toilettensitze waren abgeseift und poliert, die Deckel zugeklappt. Spiegel und Fenster funkelten. Alle Lampen funktionierten, desgleichen die Rundfunk-Fernseh-Kombination. Die Klimaanlage reagierte auf jede Veränderung des Thermostats, obwohl die Außentemperatur nur noch zwanzig Grad betrug. Alles in Ordnung, dachte Peter, als er in der zweiten Suite einen letzten Blick in die Runde warf. Dann kam ihm plötzlich ein Gedanke. Es fiel ihm ein, daß Curtis O'Keefe betont fromm war und gelegentlich seine Frömmigkeit zur Schau zu stellen liebte. Der Hotelier betete oft und meistens in aller Öffentlichkeit. Gerüchte behaupteten, daß er, wenn ihn ein neues Hotel interessierte, darum betete wie ein Kind um ein Spielzeug und daß vor den Verhandlungen ein privater Gottesdienst stattfand, dem die Direktoren des O'Keefe-Konzerns pflichtschuldigst beiwohnten. Peter erinnerte sich daran, daß der Chef eines konkurrierenden Hotelkonzerns einmal boshaft gesagt hatte. »Curtis verpaßt keine Gelegenheit zum Beten. Deshalb pinkelt er auch im Knien.« Dieser Gedanke veranlaßte Peter, die Gideon-Bibeln zu inspizieren - in jedem Raum eine. Nachher war er froh, daß er darauf gekommen war. Wie immer, wenn sie seit längerer Zeit im Gebrauch waren, waren die ersten Seiten mit den Telefonnummern von Call-Girls bedeckt, da - wie jeder erfahrene Reisende wußte - eine Gideon-Bibel der Ort war, wo man zuerst nach derlei Informationen suchte. Peter hielt Mrs. du Quesnay stumm die zwei Bücher unter die Nase. Sie schnalzte mit der Zunge. »Mr. O'Keefe wird die beiden Exemplare wohl nicht brauchen. Ich lasse neue heraufschicken.« Die Bibeln unter den Arm klemmend, musterte sie Peter forschend. »Was Mr. O'Keefe mag oder nicht mag, wird wohl künftig hier den Ausschlag geben? Ich meine, ob Leute ihren Job behalten oder nicht?« Er schüttelte den Kopf. »Da bin ich überfragt, Mrs. Q. Ich weiß darüber genausowenig wie Sie.« Als er die Suite verließ, spürte er, wie ihm ihre Augen folgten. Mrs. du Quesnay unterhielt von ihrem Verdienst einen invaliden Ehemann, und jede Veränderung, die ihre Stellung bedrohte, war für sie ein Grund zu echter Sorge. Er empfand aufrichtige Sympathie für sie, als er im Lift zum Zwischengeschoß hinunterfuhr. Im Fall eines Besitzerwechsels würde sich vermutlich den jüngeren und intelligenteren Angehörigen des Personals die Gelegenheit bieten, zu bleiben. Er nahm an, daß die meisten von ihnen die Chance ergreifen würden, da der O'Keefe-Konzern für sein gutes Betriebsklima bekannt war. Ältere Angestellte jedoch, und natürlich vor allem solche, die im Dienst nachlässig geworden waren, hatten Grund zur Beunruhigung. Als Peter McDermott sich dem Verwaltungstrakt näherte, begegnete er dem Chefingenieur Doc Vickery. Er blieb stehen und sagte: »Fahrstuhl Nummer vier hat gestern nacht Schwierigkeiten gemacht. Ich hab' mich gefragt, ob Sie's schon wissen.« Der Chef nickte verdrießlich mit seinem kahlen gewölbten Schädel. »Es ist ein undankbares Geschäft, mit Maschinen umzugehen, in die man von Rechts wegen einen Haufen Geld stecken müßte.« »Ist es denn wirklich so schlimm?« Das Budget für die technische Abteilung war unlängst gekürzt worden, und Peter hörte zum erstenmal von ernsthaften Schwierigkeiten mit den Fahrstühlen. Doc Vickery schüttelte den Kopf. »Falls Sie meinen, ob wir einen schweren Unfall riskieren, ist die Antwort nein. Ich passe auf die Sicherungsvorrichtungen auf wie ein Luchs. Aber wir hatten schon eine Reihe kleinerer Pannen, und irgendwann wird's auch mal zu einer größeren kommen. Es brauchen bloß ein paar Kabinen einige Stunden lang steckenbleiben, und der gesamte Hotelbetrieb geht aus den Fugen.« Peter nickte. Wenn nichts Schlimmeres zu erwarten war, hielt er es für unnötig, sich übermäßig aufzuregen. »Wieviel würden Sie brauchen?« Der Chef spähte über seine dickrandige Brille. »Fürs erste einhunderttausend Dollar. Wenn ich die hätte, würde ich die alten Fahrstühle rausreißen und neue einbauen, und ein paar andere Dinge würde ich auch ersetzen.« Peter stieß einen leisen Pfiff aus. »Ich will Ihnen was sagen«, erklärte der Chef. »Gute Maschinen sind was Schönes und haben manchmal beinahe was Menschliches. Die meiste Zeit leisten sie mehr, als man ihnen zugetraut hat, und danach, wenn man sie zusammenflickt und ihnen gut zuredet, holt man noch immer eine Menge Arbeit aus ihnen heraus. Aber irgendwann kommt ein toter Punkt, wo's nicht mehr weitergeht, egal wie sehr man selbst - und die Maschine - es auch möchte.« Peter sann noch über die Worte des Chefs nach, als er sein Büro betrat. Wo mochte der tote Punkt für ein ganzes Hotel liegen? Für das St. Gregory war er bestimmt noch nicht gekommen, aber er vermutete, daß die derzeitige Geschäftsführung den ihren schon längst erreicht hatte. Auf seinem Schreibtisch lag ein Stapel Post, Berichte und telefonische Mitteilungen. Er griff nach der obersten und las: >Miss Marsha Preyscott hat zurückgerufen und will in Zimmer 555 warten, bis sie von Ihnen hört.< Die Notiz erinnerte ihn an seinen Vorsatz, mehr über die nächtlichen Ereignisse in der Nummer 1126-7 herauszufinden. Noch eins: Er mußte möglichst bald bei Christine vorbei schauen. Einige kleinere Dinge, die allerdings nicht wichtig genug waren, um bei der Unterredung heute morgen zur Sprache zu kommen, bedurften einer Rückfrage bei Warren Trent. Gleich darauf zankte er sich grinsend aus: >Hör auf, dir was vorzumachen! Du möchtest sie sehen, und warum auch nicht?< Während er darüber nachdachte, was er als erstes tun sollte, schrillte das Telefon. Es war der Empfangschef. »Ich dachte mir, Sie würden es wissen wollen«, sagte er. »Mr. Curtis O'Keefe ist eben angekommen.« 5 Curtis O'Keefe schoß in die geschäftige gewölbte Hotelhalle wie ein Pfeil, der einen Apfel durchbohrt. Und der Apfel war leicht angefault, dachte er kritisch. Mit den Augen des erfahrenen Hoteliers sah er die faulen Stellen mit einem Blick. Winzige, aber bedeutsame Anzeichen zeigten ihm, daß das Hotel schlecht geführt wurde. Eine auf einem Sessel liegengebliebene Zeitung, die nicht weggeräumt worden war; ein halbes Dutzend Zigarettenstummel in einer Sandurne bei den Fahrstühlen; der fehlende Knopf an der Uniform eines Boys; zwei ausgebrannte Birnen im Kronleuchter an der Decke. Vor dem Eingang auf der St. Charles Avenue schwatzte der uniformierte Türsteher mit einem Zeitungsverkäufer, umwogt vom Strom der Gäste und Passanten. Ein älterer Direktionsassistent saß vor sich hin brütend hinter seinem Schreibtisch und schien nichts von alledem zu bemerken. Hätte sich in einem Hotel des O'Keefe-Konzerns das Unwahrscheinliche ereignet, daß all diese Mängel zur gleichen Zeit aufgetreten wären, dann hätte es ein Donnerwetter, scharfe Verweise und vielleicht sogar einige Kündigungen gegeben. Aber das St. Gregory ist nicht mein Hotel, sagte sich Curtis O'Keefe. Noch nicht. Er steuerte auf den Empfang zu, ein schlanker, gewandter, einsachtzig großer Mann, der sich in seinem anthrazitgrauen exakt gebügelten Anzug mit tänzelnden Schritten vorwärts bewegte. Dies elastische Trippeln war charakteristisch für O'Keefe, ob er sich nun auf einem Handballplatz befand, in einem Ballsaal oder auf dem schwankenden Deck seiner seetüchtigen Motorjacht »Innkeeper IV«. Fast die ganzen sechsundfünfzig Jahre seines Lebens hindurch war er auf einen geschmeidigen Athletenkörper stolz gewesen, Jahre in denen er sich von einem Niemand der unteren Mittelklasse zu einem der reichsten - und rastlosesten - Männer in den Vereinigten Staaten hinaufgearbeitet hatte. Am Empfangstisch schob ihm der Empfangschef nach einem flüchtigen Blick einen Anmeldeblock hin. Der Hotelier ignorierte die Geste. Er erklärte gelassen: »Mein Name ist O'Keefe, und ich habe zwei Suiten reservieren lassen, eine für mich selbst, die andere auf den Namen von Miss Dorothy Lash.« Am Rande seines Blickfeldes konnte er nun Dodo die Halle betreten sehen: nur Beine und Busen und Sex ausstrahlend wie ein Feuerwerk. Köpfe fuhren herum, den Zuschauern stockte der Atem, wie immer, wenn Dodo in Erscheinung trat. Er hatte sie beim Wagen zurückgelassen, um das Ausladen des Gepäcks zu beaufsichtigen. Solche Dinge machten ihr gelegentlich Spaß. Alles, was größere geistige Anstrengungen erforderte, überstieg ihren Horizont. Seine Worte hatten die Wirkung einer gut gezielten Handgranate. Der Empfangschef erstarrte und straffte die Schultern. Als sein Blick den kühlen grauen Augen begegnete, die ihn -mühelos - zu durchbohren schienen, verwandelte sich seine Teilnahmslosigkeit in übereifrige Ehrerbietung. Mit einer nervösen Handbewegung griff er sich instinktiv an die Krawatte. »Verzeihen Sie, Sir. Mr. Curtis O'Keefe?« Der Hotelier nickte, flüchtig lächelnd, mit ruhigem Gesicht, demselben Gesicht, das einem wohlwollend von einer halben Million Schutzumschläge der Broschüre »Ich bin Ihr Wirt« entgegenstrahlte; in jedem Hotelzimmer des O'Keefe Konzerns lag ein Exemplar davon deutlich sichtbar aus, mit folgendem Begleittext: »Dies Büchlein soll Sie unterhalten und erfreuen. Wenn Sie es gern mitnehmen möchten, geben Sie bitte dem Zimmerkellner Bescheid, und er wird es Ihnen mit 1,25 Dollar in Rechnung stellen.« »Ja, Sir. Ich bin sicher, daß die beiden Suiten bereit sind, Sir. Gedulden Sie sich bitte einen Moment.« Während der Angestellte in seiner Reservierungs- und Zimmerliste blätterte, trat O'Keefe einen Schritt zurück, um anderen Neuankömmlingen Platz zu machen. Der Empfang, an dem es vor einigen Minuten noch ziemlich ruhig zugegangen war, erlebte plötzlich einen Massenansturm, wie er sich in jedem großen Hotel mehrmals am Tag abspielt. Draußen, im hellen warmen Sonnenschein, entluden Flughafenbusse und Taxis ihre Passagiere, die - gleich O'Keefe - mit der frühen Düsenmaschine von New York nach dem Süden gereist waren. O'Keefe bemerkte, daß ein Kongreß im Anzug war. Ein von der gewölbten Decke der Halle herabhängendes Transparent verkündete: WILLKOMMEN, DELEGIERTE ZUM KONGRESS AMERIKANISCHER ZAHNÄRZTE Dodo gesellte sich zu ihm, und zwei mit Gepäck beladene Boys folgten ihr wie Meßgehilfen einer Göttin. Unter dem riesigen Hut, der das lange, weiche aschblonde Haar nicht verbarg, waren die babyblauen Augen in dem makellosen, kindlichen Gesicht wie immer weit geöffnet. »Curtie, ich habe gehört, daß ein Haufen Zahnärzte hier wohnt.« Er erwiderte trocken: »Ich bin froh, daß du's mir gesagt hast. Andernfalls hätte ich vielleicht nie etwas davon erfahren.« »Ich wollte mir doch immer diese Füllung machen lassen. Vielleicht kann ich jetzt... « »Die Leute sind hier, weil sie ausnahmsweise mal ihre eigenen Schnauzen aufmachen wollen und nicht die von anderen Leuten.« Dodo machte ein verwirrtes Gesicht, wie so oft, als wären die Geschehnisse um sie herum etwas, das sie eigentlich begreifen müßte, aber irgendwie nicht begreifen konnte. Einer von O'Keefes leitenden Angestellten, der nicht ahnte, daß sein Boß zuhörte, hatte unlängst über Dodo geäußert: »Ihr Grips sitzt im Ausschnitt; leider kann er sich da nicht äußern, er ist zu gut gepolstert.« O'Keefe wußte, daß einige seiner Bekannten sich verwundert fragten, warum er ausgerechnet Dodo zu seiner Reisegefährtin gemacht hatte, obwohl er bei seinem Reichtum und Einfluß so ziemlich jede Frau haben konnte, die er wollte. Wovon sie allenfalls etwas ahnten und was sie ganz bestimmt unterschätzten, war Dodos wilde Sinnlichkeit, die sie je nach Wunsch aufdrehen oder zuvorkommenderweise auf kleinem Feuer am Kochen halten konnte. Ihre Einfalt und ihre häufigen Taktlosigkeiten, die andere zu stören schienen, erheiterten ihn nur, vielleicht, weil er zuzeiten der klugen Köpfe in seiner Umgebung überdrüssig war, die stets danach strebten, mit seinem Scharfsinn Schritt zu halten. Er nahm jedoch an, daß er demnächst auf Dodo verzichten würde. Seit beinahe einem Jahr - länger als die meisten anderen vor ihr - war sie eine Art Fixstern an seinem Himmel. In Hollywood gab es noch eine Menge kleiner Sternchen, die nur auf einen freundlichen Wink warteten. Natürlich würde er Dodo versorgen, würde seinen weitreichenden Einfluß benutzen, um ihr ein oder zwei gute Rollen beim Film zu verschaffen, und wer weiß, vielleicht wurde sie sogar ein Star. Den Körper und das Gesicht dazu hatte sie. Andere hatten es mit diesen nützlichen Attributen weit gebracht. Der Empfangschef kam zum Schalter zurück. »Es ist alles bereit, Sir.« Curtis O'Keefe nickte. Dann setzte sich die kleine Prozession, angeführt von Herbie Chandler, der sich schleunigst eingefunden hatte, in Bewegung und marschierte zum wartenden Lift hinüber. 6 Kurz nachdem Curtis O'Keefe und Dodo ihre Suiten bezogen hatten, nahm Julius »Keycase« Milne ein Einzelzimmer. Keycase rief um zehn Uhr 45 im St. Gregory an und benutzte dazu die direkte Leitung vom Moisant-Flughafen zum Hotel (Telefonieren Sie kostenlos mit New Orleans' feinstem Hotel). Als er um die Bestätigung einer Reservierung bat, die er vor einigen Tagen von außerhalb getätigt hatte, wurde ihm versichert, mit der Vorbestellung sei alles in Ordnung, und falls er sich gütigst auf schnellstem Weg in die Stadt aufmachen würde, könne man ihn sofort unterbringen. Da sein Entschluß, im St. Gregory abzusteigen, erst einige Minuten alt war, hatte sich Keycase über die Mitteilung gefreut, wenn sie ihn auch nicht überraschte, denn er hatte sich vorsichtshalber in sämtlichen größeren Hotels von New Orleans angemeldet, und zwar in jedem unter einem anderen Namen. Im St. Gregory hatte er sich als »Byron Meader« angemeldet, ein Name, den er einer Zeitung entnommen hatte, weil der rechtmäßige Eigentümer beim Toto einen beträchtlichen Gewinn eingestrichen hatte. Dies schien ihm von guter Vorbedeutung zu sein, und auf Vorzeichen gab Keycase sehr viel. Sie schienen ihm bei mehreren Gelegenheiten tatsächlich Glück gebracht zu haben. So war zum Beispiel bei seinem letzten Gastspiel vor Gericht und gleich nach seinem Schuldgeständnis ein Sonnenstrahl schräg über den Richtertisch gefallen, und der Urteilsspruch, der kurz darauf erging, verdonnerte Keycase zu milden drei Jährchen, während er mit mindestens fünf gerechnet hatte. Auch die Serie von Jobs, die ihn dann schließlich ins Gefängnis brachte, hatte sich zunächst über Erwarten gut abgewickelt. Bei seinen nächtlichen Besuchen in mehreren Detroiter Hotelzimmern war alles glatt gegangen. Wie er vermutete, hauptsächlich deshalb, weil alle Zimmernummern außer der letzten seine Glückszahl, eine Zwei, enthielten. In diesem Raum schließlich, dem die ermutigende Ziffer fehlte, erwachte die Bewohnerin und schrie gellend auf, gerade, als Keycase ihren Nerzmantel in einen Koffer stopfte, nachdem er bereits ihren Schmuck und ihr Bargeld in einer seiner besonders geräumigen Manteltaschen verstaut hatte. Vielleicht infolge der unheilvollen Nummernsituation wollte es das Pech, daß sich ein Hausdetektiv in Hörweite der Hilferufe befand und prompt darauf reagierte. Keycase, ein Philosoph, fügte sich mit Grazie ins Unvermeidliche und verzichtete sogar auf jede Ausrede, obwohl ihm seine erfindungsreichen Erklärungen schon manchmal gute Dienste geleistet hatten. Bei der Tat ertappt zu werden, war jedoch ein Risiko, das jeder Dieb und auch ein so erfahrener Spezialist wie Keycase in Kauf nehmen mußte. Aber nun, nachdem er wegen guter Führung vorzeitig entlassen worden war und auch schon einen zehntägigen erfolgreichen Beutezug in Kansas City hinter sich hatte, freute er sich auf zwei einträgliche Wochen in New Orleans. Der Start war vielversprechend. Kurz vor halb acht war er auf dem Moisant-Flughafen eingetroffen, nach kurzer Fahrt von dem Chef Menteur Highway aus, wo er die vergangene Nacht in einem billigen Motel verbracht hatte. Es war ein prächtiges modernes Flughafengebäude, dachte Keycase, mit viel Glas und Chrom und zahllosen Papierkörben, die für seine Zwecke besonders wichtig waren. Auf einer Tafel las er, daß der Flughafen nach John Moisant benannt worden war, einem Bürger von New Orleans und Flugpionier, und stellte dabei frohlockend fest, daß die Anfangsbuchstaben des Namens mit seinen eigenen Initialen übereinstimmten, was auch ein günstiges Omen sein konnte. Er fand, daß es genau die Sorte Flugplatz war, auf der er selbst gern in einer Düsenmaschine landen würde. Vielleicht konnte er sich diesen Luxus bald leisten, falls die Dinge weiterhin so glatt liefen wie vor seinem letzten Gefängnisaufenthalt, der ihn eine Weile aus der Übung gebracht hatte. Aber er hatte fast wieder seine alte Form erreicht, auch wenn er heute manchmal zögerte, wo er früher kühl zugepackt hätte. Aber das war natürlich und hatte seinen Grund. Er wußte, daß er diesmal, falls er wieder gefaßt wurde, mit zehn bis fünfzehn Jahren rechnen mußte. Die Strafe würde nicht leicht zu verkraften sein. Mit zweiundfünfzig hatte man nicht mehr viel Zeit zu verschwenden. Während er unauffällig durchs Flughafengebäude schlenderte - für den Betrachter eine adrette gut gekleidete Gestalt mit einer zusammengefalteten Zeitung unter dem Arm -, hielt Keycase seine Augen sorgsam offen. Von der äußeren Erscheinung her wirkte er entspannt und zuversichtlich wie ein wohlhabender Geschäftsmann. Nur seine Augen waren unausgesetzt in Bewegung und nahmen die Reisenden scharf aufs Korn, die ihre Hotels frühzeitig verlassen hatten und in Bussen und Taxis vor dem Flughafengebäude anlangten. Der Strom riß nicht ab. Es war der erste Massenaufbruch des Tages nach dem Norden, und er war um so stärker, als United, National, Eastern und Delta mit planmäßigen Düsenmaschinen nach New York, Washington, Chikago, Miami und Los Angeles starteten. Zweimal erspähte er das, worauf er wartete, und beide Male blieb es im Ansatz stecken. Zwei Männer stießen, als sie in die Tasche griffen, um Flugschein oder Kleingeld herauszuholen, auf ihren Hotelzimmerschlüssel, den sie versehentlich eingesteckt hatten. Der erste beherzigte den Rat auf dem Plastikanhänger des Schlüssels, machte sich auf die Suche nach einem Briefkasten und warf ihn ein. Der andere übergab ihn einem Angestellten am Flugscheinschalter, und der deponierte ihn im Geldfach, um ihn bei nächster Gelegenheit dem Hotel zuzustellen. Beide Zwischenfälle waren enttäuschend, aber für Keycase eine alte Erfahrung. Er blieb weiter auf dem Posten. Er war ein geduldiger Mann und wußte, daß er nicht umsonst warten würde. Zehn Minuten später wurde seine Wachsamkeit belohnt. Ein Mann mit frischem rotem Gesicht und beginnender Glatze, der einen Mantel, eine pralle Flugtasche und eine Kamera trug, blieb auf dem Weg zur Abflugrampe stehen, um sich eine Illustrierte zu kaufen. Am Zeitungsstand entdeckte er in seiner Rocktasche einen Hotelschlüssel und stieß einen verärgerten Ruf aus. Seine Frau, eine dünne freundliche Person, machte ihm leise einen Vorschlag, den er mit einem barschen »Dazu haben wir keine Zeit mehr!« beantwortete. Keycase, dem kein Wort entgangen war, heftete sich an ihre Fersen. Tatsächlich! Als sie an einem Abfallkorb vorbeikamen, warf der Mann den Schlüssel hinein. Alles übrige war für Keycase Routine. Er schlenderte an dem Papierkorb vorbei und ließ seine zusammengefaltete Zeitung hineinplumpsen; dann als hätte er sich plötzlich eines anderen besonnen, machte er kehrt und fischte sie wieder heraus. Dabei suchte er das Innere mit den Augen ab, erspähte den weggeworfenen Schlüssel und nahm ihn unauffällig an sich. Hinter der verriegelten Tür der Herrentoilette stellte er wenige Minuten später fest, daß der Schlüssel aus dem St.-Gregory-Hotel stammte und zum Zimmer 641 gehörte. Anscheinend hatte er eine ausgesprochene Glückssträhne, denn eine halbe Stunde später gelang ihm ein zweiter Fischzug. Auch dieser Schlüssel kam aus dem St. Gregory - eine Annehmlichkeit, die Keycase dazu veranlaßte, unverzüglich im Hotel anzurufen und seine Reservierung zu bestätigen. Er beschloß, sein Glück nicht ungebührlich dadurch herauszufordern, daß er noch länger im Flughafengebäude verweilte. Der Start war vielversprechend gewesen, gegen Abend würde er sich im Bahnhof auf die Lauer legen und in ein paar Tagen noch einmal dem Flughafen einen Besuch abstatten. Im übrigen gab es noch andere Mittel und Wege, um zu Hotelschlüsseln zu kommen, und er hatte gestern abend einige diesbezügliche Vorkehrungen getroffen. Nicht ohne Grund hatte ein New Yorker Staatsanwalt vor Jahren während einer Verhandlung gesagt: »Alles, womit sich dieser Mann befaßt, Eurer Ehren, wird zum Schlüsselfall. Für mich ist er, offen gestanden, allmählich zum Schlüsselfall Milne geworden.« Die Anmerkung gelangte bis in die Polizeiakten, und der Name »Keycase« - Schlüsselfall - Milne blieb an ihm hängen. Sogar Keycase selbst benutzte ihn nun mit einem gewissen Stolz. Es war ein Stolz, der seine Würze erhielt durch die erfahrungsmäßig belegte Tatsache, daß die Chance groß war, mit ein wenig Zeit, Geduld und Glück, einen Schlüssel zu so ziemlich jedem Schloß zu ergattern. Die Spezialkenntnisse, die Keycase derzeit anwandte, stützten sich auf die Gleichgültigkeit der Leute gegenüber Hotelschlüsseln - eine Einstellung, die Hoteliers in der ganzen Welt zur Verzweiflung brachte. Theoretisch sollte jeder abreisende Gast beim Bezahlen der Rechnung seinen Zimmerschlüssel abliefern. Aber die Praxis sah anders aus. Unzählige Schlüssel wurden versehentlich in Taschen und sonstigen Behältnissen aus dem Hotel getragen. Gewissenhafte Menschen warfen sie in den Briefkasten, und ein großes Hotel wie das St. Gregory zahlte wöchentlich fünfzig Dollar und mehr an Porto für zurückgeschickte Schlüssel. Aber es gab auch Leute, die einen versehentlich mitgenommenen Schlüssel entweder behielten oder einfach wegwarfen. Diese letzte Gruppe sorgte dafür, daß die Geschäfte von professionellen Hoteldieben wie Keycase Milne ständig florierten. Vom Flughafengebäude aus begab sich Keycase zum Parkplatz und zu seinem fünf Jahre alten Ford, den er in Detroit gekauft hatte und mit dem er zunächst nach Kansas City und dann nach New Orleans gefahren war. Für Keycase war der Wagen ideal - unauffällig, dunkelgrau und weder zu alt noch zu neu, um übertriebene Aufmerksamkeit zu erregen oder im Gedächtnis behalten zu werden. Nur eine Sache beunruhigte ihn ein wenig. Das Nummernschild von Michigan - ein attraktives Grün auf weißem Grund war ein wenig zu auffällig. Kennzeichen anderer Staaten waren zwar in New Orleans nichts Ungewöhnliches, aber er hätte dennoch gern auf das kleine charakteristische Merkmal verzichtet. Er hatte die Benutzung eines gefälschten Nummernschildes von Louisiana in Erwägung gezogen, jedoch erschien ihm dieses Risiko noch größer. Außerdem war Keycase schlau genug, sich nie allzu weit von seinem Spezialgebiet zu entfernen. Der Motor sprang sofort an und brummte gleichmäßig, das Resultat einer Generalüberholung, die Keycase selbst vorgenommen hatte. Diese Kunst hatte er sich auf Staatskosten während einer seiner zahlreichen Gefängnisstrafen angeeignet. Er fuhr die vierzehn Meilen in die Stadt, die Geschwindigkeitsbeschränkungen sorgsam beachtend, und steuerte das St. Gregory an, das er am Tag zuvor ausfindig gemacht und ausgekundschaftet hatte. Er parkte unweit der Canal Street, einige Blocks vom Hotel entfernt, und holte zwei Koffer aus dem Wagen. Den Rest seines Gepäcks hatte er in seiner Motelkabine zurückgelassen, die er auf mehrere Tage im voraus bezahlt hatte. Ein solcher Unterschlupf lief ins Geld, war aber eine wohlüberlegte Vorsichtsmaßnahme. Die Kabine würde ihm als Versteck dienen für alles, was er erbeutete, und konnte notfalls völlig preisgegeben werden. Keycase hatte darauf geachtet, daß nichts in ihr zurückblieb, was ihn verraten konnte. Der Kabinenschlüssel war im Luftfilter des Vergasers seines Fords versteckt. Mit zuversichtlicher Miene betrat er das St. Gregory, überließ sein Gepäck einem Türsteher und trug sich als B. W. Meader aus Ann Arbor, Michigan, ein. Der Empfangschef, beeindruckt von dem gut geschnittenen Anzug und den festen, scharfen Gesichtszügen, die von Autorität zeugten, behandelte den Neuankömmling mit Respekt und wies ihm Zimmer 830 an. Jetzt besaß er drei Schlüssel des St. Gregory, dachte Keycase frohgestimmt, einer, von dem das Hotel wußte, und zwei, von denen es nichts ahnte. Zimmer 830, in das der Boy ihn kurz danach führte, erwies sich als ideal. Es war geräumig und komfortabel und - wie Keycase bereits auf dem Weg festgestellt hatte - nur einige Meter von der Personaltreppe entfernt. Sobald er allein war, packte er sorgfältig aus. Später wollte er dann ein Schläfchen machen, um sich auf die vor ihm liegende schwere Nachtarbeit vorzubereiten. 7 Als Peter McDermott in der Halle ankam, waren Curtis O'Keefe und sein Troß schon abgezogen. Peter beschloß, ihm nicht zu folgen; es gab Zeiten, wo einem Gast zu viel Aufmerksamkeit ebenso lästig sein konnte wie zu wenig. Außerdem würde Warren Trent die offizielle Begrüßung des St. Gregory übernehmen. Nachdem Peter sich vergewissert hatte, daß der Hotelbesitzer von O'Keefes Ankunft unterrichtet worden war, suchte er Marsha Preyscott in der Nummer 555 auf. Sie öffnete die Tür und sagte: »Ich bin froh, daß Sie da sind. Ich dachte schon, Sie würden nicht mehr kommen.« Marsha trug ein ärmelloses aprikosenfarbenes Kleid, das sie sich offenbar diesen Morgen hatte holen lassen. Es lag leicht am Körper an. Ihr langes schwarzes Haar hing locker um die Schultern. Es lag etwas seltsam Herausforderndes - beinahe Atemberaubendes - in der halb kindlichen, halb fraulichen Erscheinung. »Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat.« Er musterte sie anerkennend. »Aber wie ich sehe, haben Sie die Zeit gut genutzt.« »Ich dachte, Sie würden vielleicht den Pyjama brauchen«, erwiderte sie lächelnd. »Der ist nur für den Notfall da - wie dieses Zimmer. Ich benutze es sehr selten.« »Das hat mir das Mädchen auch gesagt. Und deshalb würde ich gern wenigstens noch eine Nacht hier bleiben, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« »Oh! Darf ich fragen, warum?« »Ich weiß es selbst nicht genau.« Sie sah ihn unschlüssig an. »Vielleicht, weil ich mich von dem, was gestern nacht passierte, erholen möchte und weil das hier der beste Platz dafür ist.« Aber sich selbst gestand sie den wirklichen Grund offen ein. Sie wollte die Rückkehr in das große leere Haus im Gartendistrikt noch ein wenig aufschieben. Er nickte zweifelnd. »Wie fühlen Sie sich?« »Besser.« »Das freut mich.« »Man kommt natürlich nicht in ein paar Stunden über eine solche Erfahrung hinweg«, sagte Marsha. »Aber es war, fürchte ich, furchtbar dumm von mir, überhaupt herzukommen - das haben Sie mir ja auch zu verstehen gegeben.« »Ich habe nichts dergleichen gesagt.« »Nein, aber Sie haben's gedacht.« »Falls ich das getan habe, hätte ich dran denken sollen, daß wir alle manchmal in eine Patsche geraten.« Nach einem kurzen Schweigen fügte Peter hinzu: »Setzen wir uns doch.« Sobald sie bequem saßen, begann Peter: »Ich hatte gehofft, Sie würden mir erzählen, wie alles anfing.« »Ich weiß.« In der unverblümten Art, an die er sich allmählich gewöhnte, fügte sie hinzu: »Und ich hab' mich gefragt, ob ich's Ihnen überhaupt erzählen soll.« Gestern nacht war sie vor allem erschrocken, in ihrem Stolz verletzt und völlig erschöpft gewesen, dachte Marsha. Aber nun war der Schock vergangen, und ihr Stolz würde vermutlich weniger leiden, wenn sie schwieg, als wenn sie sich verteidigte. Vermutlich war im nüchternen Licht des Morgens auch Lyle Dumaire und seinen Kumpanen die Lust dazu vergangen, mit ihrer Heldentat zu prahlen. »Ich kann Sie natürlich nicht zum Reden zwingen. Aber ich möchte Sie daran erinnern, daß Leute, die beim erstenmal ungeschoren davonkommen, es häufig noch einmal versuchen -nicht bei Ihnen vielleicht, aber bei jemand anderem.« Ihre Augen blickten beunruhigt drein, als er fortfuhr: »Ich weiß nicht, ob die jungen Männer, die gestern nacht dabei waren, Freunde von Ihnen sind oder nicht. Aber selbst wenn sie's wären, gibt es für meine Begriffe nicht den mindesten Grund, sie zu schützen.« »Einer war ein Freund. Wenigstens hab' ich das immer gedacht.« »Freund oder nicht, der springende Punkt ist, was sie vorhatten und auch ausgeführt hätten, wenn Royce nicht eingegriffen hätte. Kommt noch hinzu, daß alle vier, als es brenzlig wurde, wie die Ratten davonschossen und Sie allein ließen.« »Gestern nacht hörte ich Sie sagen, daß Sie die Namen von zweien wüßten.« »Das Zimmer war unter dem Namen Stanley Dixon registriert. Dann wurde mir noch der Name Dumaire genannt. Waren die beiden beteiligt?« Sie nickte. »Wer war der Anführer?« »Ich glaube... Dixon.« »Schön, und nun erzählen Sie mir bitte, was sich davor abspielte.« Marsha wurde klar, daß ihr die Entscheidung in gewisser Weise aus der Hand genommen worden war. Es kam ihr vor, als werde sie geführt. Die Erfahrung war für sie neu, und sie stellte erstaunt fest, daß sie ihr gefiel. Gehorsam schilderte sie der Reihe nach die Ereignisse. Am Schluß drängte es sie, ihm noch mehr zu erzählen. Das Ganze, sagte sie, wäre vermutlich gar nicht passiert, wenn sie gestern nicht Geburtstag gehabt hätte. Er schien überrascht zu sein. »Gestern war Ihr Geburtstag?« »Ich wurde neunzehn.« »Und Sie waren allein?« Da sie ihm schon so viel anvertraut hatte, wäre es sinnlos gewesen, ihm irgend etwas vorzuenthalten. Marsha beschrieb den Anruf aus Rom und ihre Enttäuschung darüber, daß ihr Vater nicht rechtzeitig zurück sein würde. »Das tut mir leid«, sagte er, als sie zu Ende war. »Jetzt verstehe ich einiges.« »Es wird nie wieder vorkommen. Nie!« »Davon bin ich überzeugt.« Er schlug einen mehr geschäftsmäßigen Ton an. »Ich würde von dem, was Sie mir erzählt haben, jetzt ganz gern Gebrauch machen.« Sie fragte zweifelnd: »Aber wie?« »Ich werde die vier jungen Leute - Dixon, Dumaire und die zwei anderen - zu einem Gespräch ins Hotel bitten.« »Vielleicht kommen sie nicht.« »O doch, sie werden kommen.« Peter hatte sich seinen Angriffsplan bereits zurechtgelegt. Marsha war sich noch nicht schlüssig. »Aber würden auf diese Art nicht eine Menge Leute von der Sache erfahren?« »Nach der Unterredung wird die Wahrscheinlichkeit, daß jemand schwatzt, sogar noch geringer sein als vorher, das verspreche ich Ihnen.« »Na schön. Und vielen Dank für alles.« Marsha fühlte sich unsäglich erleichtert. Es war über Erwarten leicht gegangen, dachte Peter. Jetzt, wo er alle Informationen hatte, die er brauchte, brannte er darauf, sie zu verwenden. Aber vielleicht sollte er lieber noch ein paar Minuten bleiben, um dem Mädchen seine Unbefangenheit wiederzugeben. »Da ist noch etwas, das ich Ihnen erklären muß, Miss Preyscott.« »Marsha.« »Okay, ich heiße Peter.« Gegen diesen Mangel an Form war vermutlich nichts einzuwenden, obwohl leitende Hotelangestellte dazu angehalten wurden, ihn zu vermeiden, außer bei den Gästen, die sie gut kannten. »Es passieren eine Menge Dinge im Hotel, Marsha, bei denen wir ein Auge zudrücken. Aber wenn sich so etwas, wie gestern nacht, ereignet, können wir sehr unangenehm werden. Das gilt auch für alle Angehörigen unseres Personals, wenn wir herausfinden, daß sie an der Affäre beteiligt waren.« Peter wußte, daß dieser Punkt, der mit dem guten Ruf des Hotels eng zusammenhing, Warren Trent ebenso nahegehen würde wie ihm selbst und daß jede seiner Maßnahmen -vorausgesetzt, er konnte die Tatsachen beweisen - die volle Unterstützung des Hotelbesitzers haben würde. Das Gespräch hatte seinen Zweck erfüllt, fand Peter. Er stand auf und ging zum Fenster. Von dieser Seite des Hotels aus konnte er auf den vormittäglichen Verkehr in der Canal Street hinabsehen. Die sechs Fahrbahnen waren vollgepackt mit schnellen und langsamen Fahrzeugen, auf den Gehsteigen drängten sich Scharen von Kauflustigen. An der Kreuzung, wo die Fahrbahnen wie Blattrippen zusammenliefen, ballte sich der Verkehr, während in der Sonne funkelnde, aluminiumverkleidete Busse mit Klimaanlage auf dem Mittelstreifen vorbeiglitten. Er stellte fest, daß die N. A. A. C. P. wieder einige Geschäfte bestreikte. »Dieser Laden macht Rassenunterschiede. Kaufen Sie woanders« war auf einem Plakat zu lesen, und es gab noch andere. Die Träger marschierten langsam durch das Gewühl der Passanten. »Sie sind neu in New Orleans, nicht wahr?« fragte Marsha, die ihm zum Fenster gefolgt war. Er verspürte ein zartes Parfüm. »Ziemlich neu. fch denke, mit der Zeit werde ich die Stadt besser kennenlernen.« »Ich weiß eine Menge über die Geschichte von New Orleans«, sagte sie mit plötzlicher Begeisterung, »und ich würde Sie schrecklich gern herumführen.« »Also..., ich hab' mir ein paar Bücher angeschafft. Zu Besichtigungen hab' ich einfach keine Zeit.« »Die Bücher können Sie später immer noch lesen. Es ist viel besser, wenn man sich vorher alles ansieht. Außerdem möchte ich Ihnen so gern meine Dankbarkeit beweisen...« »Das ist nicht nötig.« »Na schön, ich würd's aber auch sonst gern tun. Bitte!« Sie legte ihm die Hand auf den Arm. Er sagte: »Das ist ein interessantes Angebot«, und fragte sich im stillen, ob er klug handelte. »Gut! Abgemacht! Morgen abend gebe ich ein Essen. Ganz im alten New-Orleans-Stil. Und danach unterhalten wir uns über die lokale Geschichte.« »Sachte!« protestierte er. »Soll das heißen, daß Sie bereits verabredet sind?« »Nun, nicht unbedingt.« »Fein, dann ist das also auch abgemacht«, sagte Marsha entschieden. Im Gedanken an die Vergangenheit und weil er Beziehungen zu einem jungen Mädchen, das auch ein Gast des Hotels war, unbedingt vermeiden wollte, zögerte Peter. Dann entschied er, daß es unhöflich wäre, die Einladung abzulehnen. Die Teilnahme an einem Dinner war schließlich keine Entgleisung, zumal, wenn noch andere Gäste dabei waren. »Wenn ich einwillige, dann nur unter einer Bedingung.« »Und die wäre?« »Gehen Sie nach Haus, Marsha. Verlassen Sie das Hotel und gehen Sie heim.« Ihre Augen begegneten einander. Wieder nahm ihn ihre Jugendfrische und zarte Anmut gefangen. »Gut«, sagte sie, »wenn Sie's wollen, geh' ich.« Gedankenversunken betrat Peter McDermott einige Minuten später sein Büro im Zwischengeschoß. Es ging ihm zu Herzen, daß jemand, der so jung war wie Marsha Preyscott und der vermutlich mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden war, so offensichtlich vernachlässigt wurde. Gerade weil ihr Vater im Ausland und ihre Mutter durchgebrannt war - er hatte von den mehrfachen Ehen der vormaligen Mrs. Preyscott gehört -, fand er es unglaublich, daß keine Schutzvorkehrungen für das junge Mädchen getroffen worden waren. Wenn ich ihr Vater wäre, dachte er... oder ihr Bruder... Er wurde von Flora Yates unterbrochen, seiner unschönen, sommersprossigen Sekretärin. Floras kurze, dicke Finger, die flinker über die Tasten einer Schreibmaschine tanzten, als er es je zuvor erlebt hatte, umklammerten ein Bündel Telefondurchsagen. Er zeigte darauf und fragte: »Irgendwas Dringendes?« »Ja, aber auch das hat Zeit bis heute nachmittag.« »Schön, sollen sie warten. Ich habe die Kasse gebeten, mir die Rechnung für Zimmer 1126-7 heraufzuschicken. Der Name ist Stanley Dixon.« »Hier ist sie.« Flora zog von mehreren Schnellheftern auf seinem Schreibtisch einen hervor. »Ein Kostenvoranschlag von der Schreinerei über den angerichteten Schaden in der Suite ist auch dabei. Ich habe beides zusammen eingeheftet.« Er überflog die zwei Schriftstücke. Die Rechnung, die mehrere Posten für Dienste des Zimmerkellners enthielt, betrug 75 Dollar, der Kostenvoranschlag der Schreinerei belief sich auf 110 Dollar. »Suchen Sie mir die Telefonnummer für diese Adresse heraus. Sie läuft vermutlich unter dem Namen seines Vaters.« Auf seinem Schreibtisch lag eine zusammengefaltete Zeitung, in die er bisher noch keinen Blick geworfen hatte. Es war die Morgenausgabe der »Times-Picayune«. Als Flora hinausgegangen war, schlug er die Zeitung auf, und fettgedruckte Schlagzeilen sprangen ihm förmlich entgegen. Der Unfall mit Fahrerflucht vom letzten Abend hatte sich zu einer doppelten Tragödie ausgewachsen, denn auch die Mutter des getöteten Kindes war in den frühen Morgenstunden im Krankenhaus ihren Verletzungen erlegen. Peter las den Bericht, der das, was der Polizist ihm und Christine in der vergangenen Nacht erzählt hatte, ergänzte, hastig durch. Es hieß darin: »Bisher führen keine eindeutigen Spuren zu dem Unfallwagen und seinem Fahrer. Die Polizei hält jedoch die Aussage eines nicht genannten Zeugen für aufschlußreich, nach dessen Beobachtungen ein sehr schnell fahrender, niedriger schwarzer Wagen Sekunden nach dem Unfall den Tatort verließ.« Die »Times-Picayune« fügte hinzu, daß städtische und Staatspolizei gemeinsam in ganz Louisiana nach einem wahrscheinlich beschädigten Auto fahndeten, auf das diese Beschreibung paßte. Peter fragte sich, ob Christine den Zeitungsbericht schon gelesen hatte. Ihr eigener flüchtiger Kontakt mit dem Unfallort schien seine Wirkung noch zu erhöhen. Floras Rückkehr mit der von ihm gewünschten Telefonnummer zwang ihn, sich auf Näherliegendes zu konzentrieren. Er schob die Zeitung beiseite und rief die Nummer über eine direkte Leitung selbst an. Am anderen Ende meldete sich eine tiefe männliche Stimme: »Villa Dixon.« »Ich hätte gern mit Mr. Stanley Dixon gesprochen. Ist er zu Haus?« »Darf ich ihm sagen, wer anruft, Sir?« Peter nannte seinen Namen und fügte hinzu: »Das St.-Gregory-Hotel.« Eine Pause trat ein, in der sich Schritte gemächlich entfernten und im gleichen Tempo zurückkehrten. »Bedaure, Sir, Mr. Dixon junior ist leider verhindert.« »Richten Sie ihm bitte folgendes aus«, sagte Peter scharf. »Sollte er sich auch weiterhin weigern, ans Telefon zu kommen, dann werde ich mich direkt an seinen Vater wenden.« »Es wäre vielleicht besser, wenn Sie das gleich täten...« »Gehen Sie schon. Richten Sie ihm aus, was ich sagte.« Der andere zögerte spürbar. Dann murmelte er: »Sehr wohl, Sir«, und tappte wieder davon. Gleich darauf klickte es in der Leitung, und eine mürrische Stimme knurrte: »Hier ist Stanley Dixon. Wo brennt's denn?« Peter antwortete schroff: »Ich rufe wegen des Vorfalls gestern nacht an. Überrascht Sie das vielleicht?« »Wer sind Sie?« Er wiederholte seinen Namen. »Mit Miss Preyscott habe ich schon gesprochen. Jetzt will ich noch mit Ihnen sprechen.« »Sie sprechen ja mit mir«, sagte Dixon. »Sie haben erreicht, was Sie wollten, oder etwa nicht?« »Nein. Ich schlage vor, daß Sie mich in meinem Büro im Hotel aufsuchen.« Am anderen Ende wurde ein Protestruf laut, den Peter ignorierte. »Um vier Uhr morgen nachmittag, mit den drei anderen. Sie werden sie mitbringen.« Die Antwort kam schnell und ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. »Teufel, das könnte Ihnen so passen! Ich denke gar nicht daran. Wer immer Sie auch sind, Bürschchen, für mich sind Sie bloß ein mieser kleiner Hotelangestellter, uid ich laß mir von Ihnen nichts befehlen. Und machen Sie sich ja nicht mausig. Mein alter Herr kennt Warren Trent.« »Zu Ihrer Information, ich habe die Angelegenheit bereits mit Mr. Trent besprochen. Er hat alles Weitere mir überlassen, auch die Entscheidung darüber, ob wir Strafantrag stellen sollen oder nicht. Aber ich werde ihm sagen, daß Sie es wünschen, wenn wir Ihren Vater verständigen. Danach werden wir weitersehen.« »Moment mal!« Durch die Leitung kam das Geräusch schnaufender Atemzüge und dann in merklich gemäßigtem Ton die Antwort: »Morgen um vier hab' ich Unterricht.« »Schwänzen Sie ihn und veranlassen Sie auch die anderen dazu«, sagte Peter. »Mein Büro befindet sich im Zwischengeschoß. Denken Sie dran - Punkt vier Uhr.« Als er den Hörer auflegte, stellte er fest, daß er sich auf die morgige Zusammenkunft freute. 8 Die auseinandergerissenen Seiten der Morgenzeitung lagen verstreut um das Bett der Herzogin von Croydon. Es gab kaum eine Meldung, die sie nicht wenigstens überflogen hatte, und nun saß sie in die Kissen zurückgelehnt und dachte angestrengt nach. Noch nie hatte sie ihren Scharfsinn und ihre Findigkeit so dringend gebraucht wie jetzt. Auf einem Tischchen neben dem Bett stand ein Tablett, das benutzt und beiseite geschoben worden war. Selbst in Krisenzeiten konnte die Herzogin auf ein ausgiebiges Frühstück nicht verzichten. Diese Angewohnheit stammte noch aus ihrer Kindheit, die sie in »Fallingbroke Abbey«, dem Landsitz ihrer Familie, verbracht hatte. Dort war das Frühstück eine umfangreiche herzhafte Mahlzeit aus mehreren Gängen und wurde häufig erst nach einem flotten Querfeldeingalopp eingenommen. Der Herzog, der allein im Salon gefrühstückt hatte, war vor einigen Minuten ins Schlafzimmer zurückgekehrt. Auch er hatte die Zeitung sofort nach ihrem Eintreffen gierig gelesen. Nun schritt er in einem gegürtelten scharlachroten Morgenmantel, unter dem die Pyjamahosen hervorsahen, rastlos auf dem Teppich auf und ab. Gelegentlich fuhr er sich mit der Hand durch sein noch wirres Haar. »Bleib stehen, um Himmels willen!« Die Anspannung, unter der sie beide standen, kam in der erregten Stimme seiner Frau zum Ausdruck. »Wie soll ich nachdenken, wenn du wie ein Wilder im Zimmer umherläufst!« Er drehte sich zu ihr um; im hellen Licht des Morgens wirkte sein Gesicht zerknittert und verzweifelt. »Nachdenken nutzt uns verteufelt wenig. Das ändert auch nichts mehr.« »Nachdenken hilft immer - wenn man gründlich und methodisch vorgeht. Deshalb bringen es manche Leute zu etwas und andere nicht.« Er fuhr sich erneut durchs Haar. »Unsere Lage hat sich seit gestern abend nicht gebessert.« »Aber sie hat sich auch nicht verschlimmert«, sagte sie nüchtern, »und das ist schon ein Grund, um dankbar zu sein. Wir sind noch immer hier - unversehrt.« Der Herzog schüttelte müde den Kopf. Er hatte in der Nacht kaum ein Auge zugetan. »Und wieso hilft uns das?« »Nun, so wie ich es sehe, ist das Ganze eine Frage der Zeit. Und die Zeit arbeitet für uns. Je länger wir warten und je länger nichts geschieht...« Sie unterbrach sich und dachte dann laut weiter. »Was wir jetzt verzweifelt nötig hätten, wäre ein bißchen Publicity. Wir müssen die öffentliche Aufmerksamkeit auf dich lenken, aber so, daß die andere Sache zu phantastisch erscheint, als daß sie jemals auch nur in Betracht gezogen wird.« Beide schienen stillschweigend übereingekommen zu sein, ihren nächtlichen Streit nicht mehr zu erwähnen. Der Herzog nahm seinen Marsch durchs Zimmer wieder auf. »Das einzige, womit wir das erreichen können, wäre eine Verlautbarung, die meine Berufung nach Washington bestätigt.« »Richtig.« »So was kann man nicht übers Knie brechen. Wenn Hal merkt, daß man ihn antreibt, jagt er das Dach von Downing Street in die Luft. Die ganze Sache ist sowieso verflucht heikel - « »Sie kann viel peinlicher werden, falls -« »Als ob ich das nicht selbst wüßte, zum Teufel noch mal! Du kannst mir glauben, ich hab' schon ein paarmal gedacht, wir könnten ebensogut gleich aufgeben!« Die Stimme des Herzogs klang leicht hysterisch. Er zündete sich mit zitternder Hand eine Zigarette an. »Wir geben nicht auf! « Im Gegensatz zu ihrem Mann sprach die Herzogin in trockenem, geschäftsmäßigem Ton. »Sogar Premierminister reagieren auf Druck, wenn er von der richtigen Seite kommt. Hal ist keine Ausnahme. Ich rufe London an.« »Warum?« »Ich will mit Geoffrey sprechen und ihn bitten, sein möglichstes zu tun, um deine Ernennung zu beschleunigen.« Der Herzog schüttelte zweifelnd den Kopf, ohne jedoch den Vorschlag gänzlich von der Hand zu weisen. Er hatte zu oft erlebt, über welch bemerkens werten Einfluß die Familie seiner Frau verfügte. Dennoch sagte er warnend: »Wir vernageln uns damit vielleicht unsere eigenen Geschütze, altes Mädchen.« »Nicht unbedingt. Geoffrey versteht sich auf sanfte Gewalt, wenn er will. Außerdem, wenn wir hier herumsitzen und warten, schaden wir uns womöglich noch mehr.« Die Herzogin griff nach dem Hörer des Telefons neben ihrem Bett und sagte zu dem Mädchen in der Zentrale: »Ich möchte ein Gespräch mit London..., Lord Selwyn.« Sie gab eine Nummer in Mayfair an. Der Anruf kam nach zwanzig Minuten durch. Als die Herzogin ihr Anliegen vorgebracht hatte, zeigte sich ihr Bruder, Lord Selwyn, wenig begeistert. Der Herzog konnte das tiefe protestierende Organ seines Schwagers, das die Membran im Telefon zum Schwingen brachte, quer durch die ganze Breite des Schlafzimmers hören. »Herrje, Sis, damit scheuchst du womöglich ein ganzes Vipernnest auf. Was soll's also? Ich will dir lieber gleich sagen, daß Simons Berufung nach Washington im Moment nicht genehm ist. Ein paar von den Burschen im Kabinett halten ihn jetzt nicht für den richtigen Mann. Nicht daß ich ihnen etwa beipflichte, aber es hat keinen Zweck, sich was vorzumachen, stimmt's?« »Falls wir gar nichts unternehmen, wie lange müßten wir dann auf eine Entscheidung warten?« »Schwer zu sagen, altes Mädchen. Aber nach dem, was ich gehört habe, kann's noch Wochen dauern.« »So lange können wir einfach nicht warten. Ich versichere dir, Geoffrey, es wäre ein entsetzlicher Fehler, wenn wir nicht jetzt auf der Stelle etwas unternehmen.« »Das leuchtet mir nicht ein«, sagte ihr Bruder gereizt. Ihr Ton wurde schärfer. »Ich bitte dich nicht nur unseretwegen, sondern auch um der Familie willen. Darauf gebe ich dir mein Wort.« Am anderen Ende blieb es eine Weile still, und dann ertönte die vorsichtige Frage: »Ist Simon bei dir?« »Ja.« »Was steckt hinter alledem? Hat er wieder was angestellt?« »Selbst, wenn es eine Antwort darauf gäbe, wäre ich kaum so töricht, sie am Telefon auszuposaunen«, erwiderte die Herzogin von Croydon. Wieder gab es eine kurze Pause, und dann rang sich Lord Selwyn widerwillig das Zugeständnis ab: »Na ja, im allgemeinen weißt du, was du tust, das muß ich sagen.« Die Herzogin suchte den Blick ihres Mannes und nickte ihm fast unmerklich zu. Dann fragte sie ihren Bruder: »Soll das heißen, daß du tun wirst, worum ich dich bitte?« »Die Sache gefällt mir nicht, Sis. Sie gefällt mir ganz und gar nicht.« Er verstummte und fügte dann mürrisch hinzu: »Schön, ich werde sehen, was sich machen läßt.« Kaum hatte die Herzogin den Hörer aufgelegt, als der Apparat erneut läutete. Beide Croydons zuckten zusammen, und der Herzog fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. Als seine Frau sich meldete, lauschte er angespannt. »Ja?« Eine flache, nasale Stimme fragte: »Herzogin von Croydon?« »Am Apparat.« »Ogilvie. Hausdetektiv.« Man hörte ein kräftiges Schnauben, und dann verstummte der Anrufer, als wollte er der Herzogin Zeit geben, die Information zu verdauen. Die Herzogin wartete. Als nichts weiter erfolgte, fragte sie scharf: »Was wollen Sie?« »Ein Gespräch unter vier Augen. Mit Ihrem Gatten und Ihnen.« Es war keine Bitte, sondern eine sachliche Feststellung. »Falls es sich um eine Hotelangelegenheit handelt, befinden Sie sich, fürchte ich, in einem Irrtum. Solche Dinge besprechen wir grundsätzlich nur mit Mr. Trent.« »Wie Sie wollen. Nur werden Sie's diesmal bereuen.« Aus der kalten unverschämten Stimme klang unmißverständliche Zuversicht. Die Herzogin zögerte und stellte dabei fest, daß ihre Hände zitterten. Sie zwang sich zu der Antwort: »Ihr Besuch kommt uns ungelegen.« »Wann?« Wieder eine lange Pause, die nur von einem gelegentlichen Schnauben unterbrochen wurde. Was immer dieser Mann auch wußte oder von ihnen wollte, er verstand sich jedenfalls darauf, einen psychologischen Vorteil wahrzunehmen. »Später vielleicht«, entgegnete sie. »In einer Stunde bin ich bei Ihnen«, erklärte der Mann noch immer in demselben leidenschaftslosen kühlen Ton. »Aber dann sind wir -« Ihr Protest wurde durch ein gedämpftes Klicken abgeschnitten, als der unbekannte Anrufer auflegte. »Wer war das? Was wollte er?« Der Herzog machte einen Schritt auf sie zu. Sein hageres Gesicht war verkrampft und totenbleich. Die Herzogin schloß einen Moment lang die Augen. Sie sehnte sich verzweifelt danach, wenigstens einmal von ihrer Führerrolle und der Verantwortung für sie beide erlöst zu werden; jemanden neben sich zu haben, der ihr die Last der Entscheidung abnahm. Aber sie wußte, daß die Hoffnung vergeblich war; solange sie denken konnte, war sie vergeblich gewesen. Wenn man mit einem Charakter geboren wurde, vor dem sich alle Menschen in ihrer Umgebung beugten, gab es kein Entkommen. Sogar in ihrer eigenen Familie, die über ein gerütteltes Maß an Willensstärke verfügte, richteten sich alle instinktiv nach ihr, folgten ihrem Rat, erkannten neidlos ihre Überlegenheit an. Selbst Geoffrey, der so begabt und dabei so halsstarrig war, ließ sich schließlich stets von ihr umstimmen -so wie vorhin. Der Moment der Schwäche entschwand, und sie wandte sich entschlossen der Wirklichkeit zu. »Es war ein Hoteldetektiv. Er will uns in einer Stunde aufsuchen.« »Dann weiß er es also! Mein Gott - er weiß alles!« »Auf jeden Fall ahnt er etwas. Er sagte aber nicht, was.« Der Herzog richtete sich plötzlich auf, hob den Kopf, straffte die Schultern. Seine Hände hörten auf zu zittern, sein Mund bekam einen festen Zug. Er machte die gleiche Wandlung durch wie in der Nacht zuvor. »Es würde unsere Lage erleichtern -selbst jetzt noch - wenn ich mich stelle - wenn ich zugebe -« »Nein!« Die Augen seiner Frau funkelten. »So versteh doch endlich! Nichts, aber auch gar nichts, was du unternehmen könntest, würde unsere Lage auch nur im mindesten verbessern!« Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, dann fügte die Herzogin grübelnd hinzu: »Wir werden nichts tun. Wir werden auf diesen Mann warten und sehen, was er weiß und was er vorhat.« Einen Moment lang hatte es den Anschein, als wollte der Herzog widersprechen. Dann nickte er unlustig. Er hüllte sich enger in den scharlachroten Morgenmantel, tappte in den angrenzenden Raum hinüber und kam wenige Minuten später mit zwei Gläsern puren Whiskys zurück. Als er seiner Frau das eine hinhielt, sagte sie abwehrend: »Du weißt doch, so früh trinke ich nie -« »Schon gut. Du kannst's gebrauchen.« Mit einer Fürsorglichkeit, die sie von ihm nicht gewöhnt war, drückte er ihr das Glas in die Hand. Überrascht und nachgiebig nahm sie es und trank einen Schluck. Der unverdünnte Alkohol brannte in ihrer Kehle, raubte ihr den Atem und durchdrang sie gleich danach mit einer tröstlichen Wärme. 9 »So schlimm kann's doch nicht sein!« An ihrem Schreibtisch im äußeren Büro der Direktorensuite brütete Christine Francis stirnrunzelnd über einem Brief, den sie in der Hand hielt. Nun blickte sie auf und sah Peter McDermotts fröhliches derbes Gesicht zur Tür hereinspähen. Ihre Miene erhellte sich. »Schlimm? Es ist ein neuer Schuß aus dem Hinterhalt. Aber bei dem vielen Ärger, den wir so schon haben, kann uns einer mehr eigentlich egal sein.« »So gefallen Sie mir.« Peter schob seine riesige Gestalt durch die Tür. Christine musterte ihn anerkennend. »Dafür, daß Sie sehr wenig Schlaf gehabt haben, machen Sie einen erstaunlich munteren Eindruck.« Er grinste. »Ich hatte heute früh eine Unterredung mit Ihrem Boß. Sie wirkte wie eine kalte Dusche. Ist er noch nicht unten?« Sie schüttelte den Kopf und blickte dann auf den Brief, den sie gerade gelesen hatte. »Ich fürchte, das hier wird ihm nicht gefallen, wenn er herunterkommt.« »Ist es ein Geheimnis?« »Ich glaube nicht. Außerdem geht es Sie ganz besonders an.« Peter setzte sich dem Schreibtisch gegenüber in einen Ledersessel. »Sie erinnern sich doch sicher noch an den Mann«, sagte Christine, »dem auf der Carondelet Street eine Flasche von oben auf den Kopf flog. Er wurde ziemlich bös zugerichtet.« »Freilich.« Peter nickte. »Verdammtes Pech! Die Flasche wurde aus einem unserer Zimmer geworfen, das steht außer Frage. Aber wir konnten den Gast, der's getan hat, nicht ermitteln.« »Was für eine Sorte Mensch war er... ich meine, der Mann, der verletzt wurde?« »Netter kleiner Bursche, soweit ich mich erinnere. Ich sprach danach mit ihm, und wir bezahlten die Krankenhauskosten. Unsere Anwälte wiesen aber in einem Brief eigens darauf hin, daß es sich dabei um eine reine Gefälligkeit unsererseits handelte und daß wir für den Unfall nicht haftbar gemacht werden könnten.« »Die freundliche Geste hat nicht gewirkt. Er will das Hotel auf zehntausend Dollar Schadenersatz verklagen. Er macht Schock, Körperverletzung und Verdienstausfall geltend und behauptet, wir wären fahrlässig gewesen.« »Er wird nicht einen Cent kassieren«, erklärte Peter bestimmt. »In gewisser Weise ist das wohl nicht ganz fair, aber er hat nicht die geringste Chance, damit durchzukommen.« »Woher können Sie das so genau wissen?« »Weil es eine Menge Gerichtsentscheidungen gibt, in denen es um die gleiche Sache geht. Verteidiger brauchen bloß auf diese Präzedenzfälle zurückgreifen und sie vor Gericht zu zitieren.« »Und das genügt, um eine Entscheidung durchzusetzen?« »Im allgemeinen ja«, versicherte er. »Die Rechtsprechung auf diesem Gebiet ist schon seit Jahren ziemlich einheitlich. Da gab es beispielsweise einen klassischen Fall in Pittsburgh - im William-Penn-Hotel. Ein Mann wurde von einer Flasche getroffen, die aus einem der Gästezimmer geworfen wurde und das Verdeck seines Wagens durchschlug. Er verklagte das Hotel.« »Und er gewann den Prozeß nicht?« »Nein, er verlor ihn in erster Instanz und legte Berufung beim Obersten Gerichtshof von Pennsylvania ein. Das wies ihn ab.« »Warum?« »Das Gericht sagte, kein Hotel wäre für die Handlungen seiner Gäste verantwortlich. Als einzige Ausnahme könnte man eventuell gelten lassen, wenn einer der leitenden Angestellten, sagen wir, der Hoteldirektor, im voraus von der Attacke Kenntnis hatte und nichts unternahm, um sie zu verhindern.« Peter kramte in seinem Gedächtnis und runzelte vor lauter Anstrengung die Stirn. »Dann war da noch ein Fall - in Kansas City, glaube ich. Einige Kongreßteilnehmer ließen mit Wasser gefüllte Wäschesäcke aus ihren Fenstern auf die Straße plumpsen. Als die Säcke barsten, stoben die Leute auf dem Gehsteig auseinander, und dabei wurde ein Passant unter einen fahrenden Wagen gestoßen. Er wurde schwer verletzt. Später verklagte er das Hotel, kam aber auch nicht damit durch. Es gibt noch eine Menge anderer Gerichtsentscheidungen - im Wortlaut sind sie alle ziemlich gleich.« »Woher wissen Sie das alles?« fragte Christine neugierig. »Unter anderem habe ich in Cornell auch Vorlesungen über Hotelrecht gehört.« »Na, ich finde, das alles klingt gräßlich unfair.« »Es ist hart für die Betroffenen, aber fair dem Hotel gegenüber. Im Grunde müßte natürlich der Schuldige zur Rechenschaft gezogen werden. Der Haken dabei ist bloß, daß es bei den vielen Fenstern zur Straße nahezu unmöglich ist, den Schuldigen zu finden. Und so rutschen sie meistens durch.« Christine hatte aufmerksam zugehört, den Ellenbogen auf den Schreibtisch und das Kinn leicht in die Hand gestützt. Sonnenlicht sickerte durch die halb geschlossenen Jalousien herein und setzte ihr rotes Haar in Flammen. Im Moment kräuselte eine nachdenkliche verwirrte Falte ihre Stirn, und Peter ertappte sich bei dem Wunsch, sie sanft mit zwei Fingern wegzustreicheln. »Ganz begriffen hab' ich das noch immer nicht«, sagte sie. »Wollen Sie im Ernst behaupten, daß kein Hotel für die Handlungen seiner Gäste gesetzlich verantwortlich ist - nicht mal für das, was ein Gast dem anderen antut?« »Allerdings, zumindest auf dem Gebiet, über das wir eben gesprochen haben. Die Rechtsprechung ist da ganz eindeutig, und zwar schon seit langer Zeit. Tatsächlich geht ein Großteil unserer Gesetze auf die englischen Wirtshäuser zurück, beginnend mit dem 14. Jahrhundert.« »Erzählen Sie mir davon.« »Ich will Ihnen eine Kurzfassung geben. Es fängt damit an, daß die englischen Herbergen nur eine einzige große, von einem offenen Feuer erwärmte und beleuchtete Halle hatten, in der alle zusammen schliefen. In der Nacht war es Sache des Wirts seine Gäste vor Dieben und Mördern zu schützen.« »Das klingt vernünftig.« »Es war auch vernünftig. Und man erwartete das gleiche auch dann noch vom Wirt, als kleinere Schlafzimmer aufkamen, weil in ihnen stets mehrere Gäste untergebracht wurden - oder zumindest untergebracht werden konnten.« »Wenn man's sich genau überlegt«, sagte Christine versonnen, »dann war das damals keine Zeit für Abgeschiedenheit und Einsamkeit.« »Die Absonderung kam erst mit den Einzelzimmern, zu denen die Gäste Schlüssel hatten. Und von da an ging auch die Rechtsprechung von anderen Gesichtspunkten aus. Der Wirt war lediglich verpflichtet, seine Gäste vor Dieben und Einbrechern zu schützen. Aber darüber hinaus hatte er keine Verantwortung, und zwar weder für das, was ihnen in ihren Zimmern zustieß, noch für das, was sie da machten.« »Mit dem Schlüssel änderte sich also alles.« »Ja, und so wie damals ist's noch heute. In dem Punkt sind sich die Gesetze gleichgeblieben. Wenn wir einem Gast einen Schlüssel geben, ist das ein Rechtssymbol. Es bedeutet, daß der Wirt über den Raum nicht länger verfügen kann oder nicht noch jemanden dort einquartieren darf. Andererseits haftet das Hotel auch nicht für den Gast, sobald der die Tür seines Zimmers hinter sich geschlossen hat.« Er wies auf den Brief, den Christine beiseite gelegt hatte. »Deshalb müßte unser Freund da schon den Flaschenwerfer ausfindig machen und sich an ihn halten. Wenn er uns belangt, hat er keine Chance.« »Ich ahnte nicht, daß Sie so ungeheuer viel darüber wissen.« »Es war nicht meine Absicht, diesen Eindruck zu erwecken. Ich nehme an, daß W. T. über die Rechtslage im Bilde ist, falls er aber eine Zusammenfassung der Präzedenzfälle haben möchte, so habe ich eine, die ich ihm geben kann.« »Er wird vermutlich dankbar dafür sein. Ich hefte eine diesbezügliche Notiz an den Brief.« Sie sah Peter offen an. »All das macht Ihnen Spaß, nicht wahr? Ein Hotel zu leiten und was sonst damit zusammenhängt.« »Ja«, antwortete er ehrlich. »Obwohl es mir noch mehr Spaß machen würde, wenn wir hier ein paar Veränderungen durchdrücken könnten. Hätten wir das schon früher getan, dann brauchten wir jetzt vielleicht Curtis O'Keefe nicht. Dabei fällt mir ein... wissen Sie schon, daß er angekommen ist?« »Sie sind der siebzehnte, der mir das sagt. Ich glaube, das Telefon fing in dem Moment an zu läuten, als er erst mit einem Bein aus dem Wagen gestiegen war.« »Das ist nicht überraschend. Inzwischen werden sich eine Menge Leute fragen, warum er hier ist. Oder vielmehr, wann man uns offiziell mitteilt, warum er hier ist.« »Ich habe eben alles für ein privates Dinner heute abend in W. T.s Suite in die Wege geleitet - für Mr. O'Keefe und seine Begleiterin. Haben Sie sie schon gesehen? Sie soll etwas ganz Besonderes sein.« Er schüttelte den Kopf. »Mein eigenes Dinner interessiert mich mehr. Ich rechne dabei auf Sie. Deshalb bin ich hier.« »Falls das eine Einladung für heute abend sein soll, kann ich bloß sagen, ich bin frei und Hunger habe ich auch.« »Fein!« Er sprang auf und überragte sie wie ein Turm. »Ich hole Sie um sieben in Ihrer Wohnung ab.« Auf dem Weg nach draußen erspähte er auf einem Tisch dicht neben der Tür ein zusammengefaltetes Exemplar der »Times-Picayune.« Er blieb stehen und erkannte an der fetten Schlagzeile über den Tod der beiden Unfallopfer, daß es sich um dieselbe Ausgabe handelte, die er auch gerade gelesen hatte. »Ich nehme an, Sie haben das hier schon gesehen?« fragte er bedrückt. »Ja. Es ist schrecklich, nicht? Beim Lesen hatte ich das gräßliche Gefühl, als hätte ich das Ganze mit angesehen, weil wir gestern nacht da vorbeikamen.« »Komisch, daß Sie das sagen.« Er blickte sie seltsam an. »Ich hatte auch ein ganz eigenartiges Gefühl dabei. Es hat mich gestern nacht verfolgt und heute morgen wieder.« »Was für ein Gefühl?« »Ich bin mir nicht sicher. Irgendwie kommt's mir vor, als wüßte ich etwas - genauer kann ich's nicht ausdrücken -, und dabei weiß ich nichts.« Peter zuckte mit den Schultern und schlug sich den Gedanken aus dem Kopf. »Wahrscheinlich haben Sie recht. Ich bilde mir das ein, weil wir da vorbeigefahren sind.« Er legte die Zeitung wieder auf den Tisch. Als er mit Riesenschritten hinausging, wandte er sich um und winkte ihr lächelnd zu. Christine ließ sich, wie schon oft, zum Lunch belegte Brote und Kaffee heraufbringen. Während sie noch beim Essen war, tauchte Warren Trent auf, blieb jedoch nur, um die Post zu lesen, bevor er sich zu einem seiner Streifgänge durchs Hotel aufmachte, die, wie Christine wußte, Stunden dauern konnten. Es bekümmerte sie, als sie das abgespannte Gesicht des Hotelbesitzers sah und bemerkte, wie schwerfällig er sich fortbewegte, ein sicheres Anzeichen dafür, daß sein Ischias ihm zu schaffen machte. Um halb drei, nachdem sie einer der Sekretärinnen im Vorzimmer Bescheid gesagt hatte, begab sie sich zu einem Besuch bei Albert Wells. Sie fuhr im Lift in die vierzehnte Etage hinauf und erspähte, als sie in den Korridor einbog, eine sich nähernde untersetzte Gestalt. Es war Sam Jakubiec, der Kreditmanager. In der Hand hielt er ein Blatt Papier, und seine Miene war verdrossen. Als er Christine sah, blieb er stehen. »Ich habe eben mit Ihrem kranken Freund, Mr. Wells, gesprochen.« »Wenn Sie bei ihm genauso finster dreingeschaut haben, kann der Besuch für ihn nicht sehr vergnüglich gewesen sein.« »Na, ehrlich gesagt, für mich war's auch nicht gerade ein Vergnügen. Ich hab' ihm das hier abgeluchst, aber weiß der Himmel, ob's was taugt.« Christine griff nach dem Blatt Papier, das der Hotelmanager in der Hand hatte. Es war ein schmieriger Bogen Hotelbriefpapier mit einem Fettfleck in einer Ecke. Darauf hatte Albert Wells in plumper sperriger Schrift eine Zahlungsanweisung über zweihundert Dollar für eine Bank in Montreal ausgestellt und mit seinem Namen unterzeichnet. »Er ist auf seine stille Art ein zäher alter Bursche«, sagte Jakubiec. »Zuerst wollte er gar nichts herausrücken. Erklärte, er würde seine Rechnung bezahlen, sobald sie fällig wäre. Als ich ihm sagte, wir würden ihm, wenn nötig, die Zahlungsfrist verlängern, schien ihn das nicht zu interessieren.« »Wenn es um Geld geht, sind die Leute empfindlich«, meinte Christine. »Besonders, wenn sie knapp dran sind.« Der Kreditmanager schnalzte ungeduldig mit der Zunge. »Teufel! - die meisten von uns sind knapp bei Kasse. Ich bin's immer. Aber da laufen die Leute herum und bilden sich ein, es wäre eine Schande, und dabei gäb's in den meisten Fällen einen Ausweg, wenn sie bloß offen mit der Sprache herauskämen.« »Ist das legal?« fragte Christine und betrachtete das Papier bedenklich. »Es ist legal, wenn Geld auf dem Konto ist. Man kann einen Scheck auf Notenpapier oder einer Bananenschale ausschreiben, wenn's einem in den Kram paßt. Aber die meisten Leute, die Geld auf der Bank haben, benutzen ein vorgedrucktes Scheckheft. Ihr Freund Wells sagte, er könne seines nicht finden.« Als Christine ihm den Wisch zurückgab, fügte Sam Jakubiec hinzu: »Wissen Sie, was ich glaube? Ich glaube, er ist ehrlich und hat das Geld - aber gerade so viel und nicht mehr - und wird sich krummlegen, um es aufzutreiben. Der Haken dabei ist, er schuldet schon mehr als die Hälfte von den zweihundert, und die Privatpflege wird den Rest verdammt schnell schlucken.« »Was werden Sie machen?« Der Kreditmanager fuhr sich mit der Hand über die Glatze. »Zuerst mal werde ich das Geld für einen Anruf in Montreal springen lassen und mich erkundigen, ob der Scheck hier gut ist oder nicht.« »Und wenn er schlecht ist, Sam?« »Dann muß Ihr Freund gehen - wenigstens, soweit es mich betrifft. Falls Sie allerdings mit Mr. Trent reden wollen und der ihn bleiben läßt -«, Jakubiec zuckte mit den Schultern -, »ist das natürlich was anderes.« Christine schüttelte den Kopf. »Ich möchte W. T. nicht damit belästigen. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir Bescheid sagen, bevor Sie etwas unternehmen.« »Gern, Miss Francis.« Der Kreditmanager nickte und stapfte dann mit kurzen, energischen Schritten den Korridor hinunter. Gleich darauf klopfte Christine an die Tür des Zimmers 1410. Eine uniformierte Pflegerin mittleren Alters mit ernstem Gesicht und Hornbrille öffnete. Christine nannte ihren Namen, und die Krankenschwester sagte: »Warten Sie bitte einen Moment. Ich werde Mr. Wells fragen, ob er sie sehen möchte.« Christine hörte aus dem Inneren des Zimmers Schritte und mußte lächeln, als eine Stimme nachdrücklich sagte: »Natürlich möchte ich sie sehen. Lassen Sie sie nicht warten.« Als die Pflegerin zurückkehrte, schlug Christine ihr vor: »Falls Sie eine Weile weggehen wollen, könnte ich Sie solange vertreten.« »Also, ich weiß nicht recht...« Sie zögerte, taute aber sichtlich auf. Die Stimme aus dem Zimmer sagte: »Gehen Sie ruhig. Miss Francis kennt sich aus. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte's mich gestern nacht erwischt.« »Nun gut«, sagte die Pflegerin. »Ich bleibe nur zehn Minuten weg, und sollten Sie mich in der Zwischenzeit brauchen, können Sie mich in der Cafeteria erreichen.« Albert Wells strahlte über das ganze Gesicht, als Christine hereinkam. Der kleine Mann saß zurückgelehnt in einem Berg von Kissen und sah winzig aus. Seine äußere Erscheinung, die gebrechliche, in ein altmodisches Nachthemd gehüllte Gestalt, erinnerte noch immer an einen Sperling, aber im Vergleich zu seiner beinahe hoffnungslosen Schwäche in der vergangenen Nacht an einen recht munteren Sperling. Seine Gesichtsfarbe war noch blaß, aber nicht mehr grau. Er atmete, von einem gelegentlichen Keuchen abgesehen, regelmäßig und anscheinend mühelos. »Es ist nett von Ihnen, daß Sie mich besuchen, Miss«, sagte er. »Mit Nettigkeit hat das nichts zu tun. Ich wollte wissen, wie es Ihnen geht.« »Viel besser, und das hab' ich Ihnen zu verdanken. »Er zeigte auf die Tür, die sich gerade hinter der Pflegerin schloß. »Aber die da, die ist ein regelrechter Drachen.« »Sie tut Ihnen aber gut, scheint mir.« Christine sah sich anerkennend im Zimmer um. Alles darin, auch die persönlichen Habseligkeiten des alten Mannes, war sorglich aufgeräumt. Auf einem Tisch neben dem Bett stand ein Tablett mit Medikamenten. Der Sauerstoffzylinder, den sie in der vergangenen Nacht benutzt hatten, war noch da, aber der Plastikbeutel war durch eine zünftige Maske ersetzt worden. »Oh, sie kennt sich aus«, gab Albert Wells zu. »Das nächstemal hätte ich aber gern eine hübschere Schwester.« Christine lächelte. »Es geht Ihnen wirklich besser.« Sie fragte sich, ob sie etwas über ihr Gespräch mit Sam Jakubiec verlauten lassen sollte, entschied dann aber dagegen. Statt dessen sagte sie: »Gestern nacht sprachen Sie davon, daß die Anfälle anfingen, als Sie Bergmann waren.« »Damals holte ich mir die Bronchitis; das stimmt.« »Waren Sie sehr lange Bergmann, Mr. Wells?« »Länger als ich denken mag, Miss. Aber es gibt immer was, das einen dran erinnert... mal ist es die Bronchitis, mal die hier...« Er legte die gespreizten Hände mit dem Handteller nach oben auf die Decke, und Christine sah, daß sie hart und knorrig waren von der schweren körperlichen Arbeit vieler Jahre. Impulsiv streckte sie den Arm aus und streichelte sie. »Darauf können Sie stolz sein, finde ich. Wollen Sie mir nicht davon erzählen? Ich würde gern mehr darüber hören.« Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht ein andermal. Dazu braucht man Zeit und viel Geduld. Das meiste sind sowieso bloß Altmännergeschichten, und alte Männer finden kein Ende, wenn man ihnen eine Chance gibt.« Christine setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett. »Ich habe sehr viel Ausdauer, und ich glaube einfach nicht, daß Ihre Geschichten langweilig sind.« »Es gibt ein paar Leute in Montreal, die Ihnen da nicht beistimmen würden«, sagte er schmunzelnd. »Ich war schon immer neugierig auf Montreal. Ich war noch nie dort.« »Die Stadt ist eine Mischung aus allem Möglichen - in gewisser Weise ähnelt sie New Orleans.« »Kommen Sie deshalb jedes Jahr hierher?« fragte sie neugierig. »Weil es Sie an zu Hause erinnert?« Der kleine Mann überlegte, die mageren Schultern tief im Kissenberg vergraben. »Daran hab' ich eigentlich nie gedacht, Miss. Ich schätze, ich komme her, weil ich altmodische Dinge mag und weil nicht mehr viele Plätze übrig sind, wo man sie findet. Mit dem Hotel hier ist's das gleiche. An manchen Stellen ist es schon ein bißchen fadenscheinig, das wissen Sie selbst, Miss. Aber im großen und ganzen ist's behaglich, und ich meine das im besten Sinn. Ich hasse Standardhotels. Da ist eins wie das andere - geleckt und auf Hochglanz poliert, und wenn man drin wohnt, kommt man sich vor wie in einer Fabrik.« Christine zögerte einen Moment lang. Dann, im Bewußtsein, daß die Ereignisse des Tages die bisherige Heimlichtuerei ohnehin überflüssig machten, sagte sie: »Ich habe Neuigkeiten für Sie, die Ihnen nicht gefallen werden. Ich fürchte, das St. Gregory wird auch bald zu den Standardhotels gehören.« »Wenn's so weit käme, würde ich das bedauern. Obwohl ich mir gedacht hab', daß ihr hier in Geldschwierigkeiten seid.« »Woran haben Sie das gemerkt?« »An allem möglichen, Miss.« Der alte Mann sann nach. »Als ich das letzte- und auch das vorletztemal hier war, merkte ich gleich, daß ihr in einer Klemme seid. Was ist's denn diesmal -Bankschulden, Kündigung einer Hypothek oder was sonst?« An diesem ehemaligen Bergmann kamen immer neue, überraschende Charakterzüge zum Vorschein, dachte Christine, nicht zuletzt ein sicherer Instinkt für die Wahrheit. Sie antwortete lächelnd: »Vermutlich hab' ich schon zuviel ausgeplaudert. Aber Sie werden es sowieso erfahren. Mr. Curtis O'Keefe ist heute eingetroffen.« »O nein! - Nicht O'Keefe.« Auf Albert Wells' Gesicht spiegelte sich aufrichtiger Kummer. »Wenn der das Hotel hier in die Finger bekommt, ist's bald bloß noch ein Abklatsch von seinen anderen. Dann wird's wirklich eine Fabrik. Das Hotel hätte ein paar Veränderungen dringend nötig, aber nicht solche, wie O'Keefe sie vorhat.« »Welche denn, Mr. Wells?« fragte Christine neugierig. »Ein guter Hotelfachmann könnte Ihnen das besser erklären als ich, obwohl ich mir auch so meine Gedanken gemacht habe. Eins weiß ich jedenfalls genau, Miss - die Leute machen sich wieder mal zum Narren einer Mode. Im Moment sind sie versessen auf Politur und Chrom, und alles soll gleich aussehen. Aber mit der Zeit kriegen sie das satt und möchten die alten Dinge zurückhaben - solche Sachen wie echte Gastlichkeit und ein bißchen Charakter und eine persönliche Atmosphäre; kein Standardhotel, wie sie's in fünfzig Städten gefunden haben und in fünfzig anderen finden könnten, sondern was Besonderes. Der Haken ist bloß, daß, wenn die Leute das endlich begriffen haben, die meisten guten Häuser - und das hier vielleicht auch -nicht mehr existieren werden.« Er verstummte und fragte dann: »Wann wird sich's entscheiden?« »Das weiß ich wirklich nicht.« Die Tiefe des Gefühls, die in den Worten des kleinen Mannes zum Ausdruck kam, hatte Christine erschreckt. »Nur glaube ich nicht, daß Mr. O'Keefe lange hierbleiben wird.« Albert Wells nickte. »Nach allem, was ich gehört hab', bleibt er nirgends lange. Ein schneller Arbeiter, sobald er sich was in den Kopf gesetzt hat. Also, ich kann nur nochmal sagen, es wäre ein Jammer, und sollte es wirklich dazu kommen, dann sehen Sie mich hier nicht wieder.« »Wir werden Sie vermissen, Mr. Wells. Mir wenigstens werden Sie fehlen - sofern ich den Wechsel überlebe.« »Oh, Sie werden ihn überleben, und Sie werden das erreichen, was Sie erreichen wollen, Miss. Nur wird's vielleicht nicht gerade ein Posten im Hotel sein, wenn ein junger Bursche aufkreuzt, der ein bißchen Verstand hat.« Sie lachte, ohne ihm zu antworten, und danach plauderten sie über andere Dinge, bis ein kurzes Klopfen an der Tür die Rückkehr des gestrengen Schutzengels ankündigte. »Danke, Miss Francis«, sagte die Pflegerin steif und sah nachdrücklich auf ihre Uhr. »Mein Patient muß jetzt seine Medizin nehmen und ruhen.« »Ich kann ohnehin nicht bleiben«, erklärte Christine. »Morgen besuche ich Sie wieder, Mr. Wells, wenn ich darf.« »Das wäre nett, Miss.« Als sie hinausging, zwinkerte er ihr zu. Auf ihrem Schreibtisch fand sie eine Notiz mit der Bitte, Sam Jakubiec anzurufen. Sie griff nach dem Hörer, und der Kreditmanager meldete sich. »Ich dachte mir, daß Sie vielleicht gern Bescheid haben würden«, sagte er. »Ich hab' mit dieser Bank in Montreal gesprochen. Es sieht so aus, als wäre Ihr Freund okay.« »Das ist eine gute Nachricht, Sam. Was haben Sie erfahren?« »Also, irgendwie ist das Ganze komisch. Sie wollten mir nicht sagen, für wieviel der Kunde gut ist, obwohl Banken das sonst tun. Sagten nur, ich sollte den Scheck zur Zahlung einreichen, und als ich ihnen den Betrag nannte, schien sie das nicht weiter zu beunruhigen. Deshalb nehme ich an, daß er das Geld hat.« »Das freut mich.« »Mich auch, aber ich werde seine Rechnung trotzdem im Auge behalten, damit sie nicht zu hoch wird.« »Sie sind ein scharfer Wachhund, Sam«, erwiderte sie lachend. »Und schönen Dank für den Anruf.« 10 Curtis O'Keefe und Dodo hatten sich in ihren zwei nebeneinanderliegenden Suiten bequem eingerichtet, wobei Dodo wie immer für beide auspackte, weil ihr das Freude machte. Der Hotelier saß nun im größeren der zwei Salons und studierte einen Geschäftsbericht, einen von mehreren, die sich in einer blauen Mappe mit der Aufschrift »Vertraulich - St. Gregory, vorläufiges Gutachten« befanden. Dodo inspizierte den prachtvollen Obstkorb, der auf Peter McDermotts Anweisung hin in der Suite abgeliefert worden war, entschied sich für einen Apfel und war gerade dabei, ihn zu schälen, als das Telefon neben O'Keefes Ellenbogen innerhalb weniger Minuten zweimal läutete. Der erste Anrufer war Warren Trent, der den Gast höflich begrüßte und sich erkundigte, ob alles in Ordnung sei. Nachdem Curtis O'Keefe freundlich versichert hatte, daß sie sich wohl fühlten - »Könnte gar nicht besser sein, mein lieber Warren, nicht mal in einem O'Keefe-Hotel« -, nahm er für sich selbst und Dodo die Einladung an, am Abend privat mit dem Besitzer des St. Gregory zu speisen. »Es wird uns ein Vergüngen sein«, erklärte der Hotelier huldvoll. »Übrigens, ich bewundere Ihr Haus.« »Das hatte ich befürchtet«, erwiderte Warren Trent trocken. O'Keefe lachte schallend. »Wir unterhalten uns heute abend darüber, Warren. Vielleicht auch ein wenig über Geschäfte, wenn's sein muß, aber vor allem freue ich mich auf ein Gespräch mit einem großen Hotelmann.« Als er den Hörer auflegte, fragte Dodo mit nachdenklich gekrauster Stirn: »Wenn er ein so großer Hotelmann ist, Curtie, warum verkauft er dann an dich?« Wie immer gab er ihr eine ernsthafte Antwort, obwohl er im voraus wußte, daß sie sie nicht begreifen würde. »In der Hauptsache, weil die Zeiten sich geändert haben und er das nicht begriff. Heutzutage genügt es nicht, ein guter Hotelier zu sein; man muß auch kalkulieren können.« »Herrje«, sagte Dodo, »sind die Äpfel groß!« Der zweite Anruf, der dem ersten unmittelbar folgte, kam aus einem Münzfernsprecher in der Hotelhalle. »Hallo, Odgen«, sagte Curtis O'Keefe, nachdem der Anrufer seinen Namen genannt hatte, »ich lese gerade Ihren Bericht.« Elf Stockwerke tiefer, in der Halle, nickte ein Mann mit fahlem Gesicht und schütterem Haar, der wie ein Buchhalter aussah, was er - unter anderem - auch war, seinem jüngeren Gefährten zu, der vor der Telefonzelle wartete. Er hieß Odgen Bailey, wohnte auf Long Island und hatte die letzten zwei Wochen unter dem Namen Richard Fountain aus Miami im Hotel verbracht. Es war typisch für seine Umsicht, daß er weder den Hausanschluß benutzte noch von seinem Zimmer in der vierten Etage aus anrief. Nun sagte er in korrektem Tonfall: »Es gibt da noch einige Punkte, die wir gern ergänzen würden, Mr. O'Keefe, und einige zusätzliche Informationen, die Sie, glaube ich, brauchen werden.« »Sehr gut. Ich erwarte Sie in fünfzehn Minuten.« Beim Auflegen sagte Curtis O'Keefe belustigt zu Dodo: »Es freut mich, daß du das Obst magst. Sonst hätte ich all diesen Früchtesegen schon längst abgestellt.« »Also, eigentlich bin ich gar nicht so scharf drauf.« Sie sah ihn mit ihren babyblauen Augen groß an. »Aber du ißt nie welches, und es kommt mir so gräßlich verschwenderisch vor.« »In einem Hotel geht kaum etwas verloren«, versicherte er ihr. »Was du stehenläßt, nimmt sich ein anderer, und meistens verschwindet es durch die Hintertür.« »Meine Mom ist verrückt auf Obst.« Dodo brach eine Weintraube ab. »Bei einem Korb wie dem hier würde sie überschnappen.« Er hatte wieder nach dem Bericht gegriffen. Nun legte er ihn weg. »Warum schickst du ihr dann nicht einen?« »Meinst du jetzt gleich?« »Natürlich.« Er hob den Telefonhörer ab und verlangte den Blumenladen im Hotel. »Hier ist Mr. O'Keefe. Ich glaube, Sie haben einen Obstkorb in meine Suite geliefert.« Eine weibliche Stimme antwortete ängstlich: »Ja, Sir. Stimmt etwas damit nicht?« »Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Ich möchte nur, daß genauso ein Obstkorb nach Akron, Ohio, geliefert wird. Setzen Sie ihn auf meine Rechnung. Einen Moment...« Er reichte Dodo den Hörer. »Gib ihnen die Adresse und eine Nachricht für deine Mutter.« Als sie fertig war, schlang sie impulsiv die Arme um seinen Hals. »Herrje, Curtie, du bist ein Schatz!« Er sonnte sich in ihrer Freude, die völlig echt war. Es war seltsam, dachte er, daß Dodo, die wie alle ihre Vorgängerinnen gegen kostspielige Geschenke nichts einzuwenden hatte, sich allem Anschein nach über Kleinigkeiten - wie beispielsweise den Obstkorb für ihre Mutter - am meisten freute. Kaum hatte er die Berichte in der Mappe durchgelesen, als es, pünktlich nach fünfzehn Minuten, an der Tür klopfte. Dodo, die öffnete, führte zwei Männer herein, die beide Aktentaschen trugen - Odgen Bailey und Sean Hall, seinen Kollegen. Hall war die jüngere Ausgabe seines Vorgesetzten und würde in zehn Jahren oder so die gleiche fahle konzentrierte Miene haben, die zweifellos vom unausgesetzten Brüten über Bilanzen und Gutachten herrührte. Der Hotelier begrüßte beide Männer herzlich. Odgen Bailey -alias Richard Fountain - war eine wichtige Schlüsselfigur in der O'Keefe-Organisation. Er war nicht nur ein hervorragender Wirtschaftsprüfer, sondern besaß dazu die ungewöhnliche Fähigkeit, sich in jedes beliebige Hotel einzuschmuggeln und nach ein- oder zweiwöchigen diskreten Beobachtungen, von denen die Hotelleitung im allgemeinen nichts ahnte, eine Expertise vorzulegen, die den hoteleigenen Berechnungen unheimlich nahekam. Hall, den Bailey entdeckt und angelernt hatte, war ein vielversprechender Schüler und trat bereits jetzt in die Fußstapfen seines Lehrmeisters. Wie O'Keefe im voraus gewußt hatte, lehnten beide Männer den Drink, den er ihnen anbot, höflich ab. Sie setzten sich auf ein Sofa ihm gegenüber und unterließen es, ihre Aktenmappen zu öffnen, als wüßten sie, daß zunächst bestimmte andere Zeremonien verrichtet werden mußten. Dodo hatte sich wieder auf den Obstkorb gestürzt und schälte eine Banane. »Es freut mich, daß Sie kommen konnten, Gentlemen«, sagte Curtis O'Keefe, als wäre die Zusammenkunft nicht schon seit Wochen geplant gewesen. »Bevor wir uns jedoch den Geschäften zuwenden, wollen wir Gott, den Allmächtigen, um seinen Beistand bitten.« Mit einer Gelenkigkeit, die lange Übung verriet, kniete der Hotelier nieder und faltete inbrünstig die Hände vor der Brust. Odgen Bailey folgte seinem Beispiel mit einer Miene, die an Resignation grenzte und anzeigte, daß er mit dieser Gepflogenheit durchaus vertraut war, und nach kurzem Zögern fiel auch Hall in die Knie. O'Keefe sah zu Dodo hinüber, die stillvergnügt ihre Banane aß. »Meine Liebe«, sagte er ruhig, »wir wollen Gott für unser Vorhaben um seinen Segen bitten.« Dodo legte die Banane weg. »Okay«, sagte sie bereitwillig und glitt vom Sessel, »ich bin ganz Ohr, Curtie.« Noch vor einigen Monaten hatten die häufigen Gebetsübungen ihres Wohltäters, die dazu noch in den unwahrscheinlichsten Momenten stattfanden, Dodo gelegentlich aus der Fassung gebracht, obwohl sie selbst nicht hätte sagen können, warum. Aber schließlich hatte sie sich, wie es ihre Art war, so weit daran gewöhnt, daß sie sie nicht mehr aufregten. »Weißt du«, hatte sie einer Freundin anvertraut, »Curtie ist wirklich ein Schatz, und ich finde, wenn ich mich für ihn auf den Rücken lege, kann ich ebensogut auch für ihn in die Knie gehen.« »Allmächtiger Gott«, intonierte Curtis O'Keefe mit geschlossenen Augen und feierlichem, rosig überhauchtem Löwenantlitz, »verleih uns, falls es Dein Wille ist, bei dem, was wir vorhaben, Erfolg. Beim Kauf dieses Hotels, das den Namen Deines Heiligen Gregor trägt, erflehen wir Deinen Segen und Deine Hilfe. Gestatte uns, es jenen Hotels hinzuzufügen, die wir bereits - durch unsere Gesellschaft - für Deine Sache gewonnen haben und die in Deinem Namen verwaltet werden von Deinem ergebenen Knecht, der zu Dir spricht.« Auch wenn er es mit Gott zu tun hatte, blieb Curtis O'Keefe seiner Gewohnheit treu, keine langen Umschweife zu machen. Mit nach oben gewandtem Gesicht, die Worte rollend, daß sie wie ein Fluß mächtig dahinströmten, fuhr er fort: »Wir bitten auch, falls es Dein Wille ist - und beten darum, daß er es sein möge -, den Kauf schnell und unter Vermeidung unnötiger Kosten in die Wege zu leiten, damit der Schatz, den wir, Deine Knechte, besitzen, nicht übermäßig angegriffen, sondern bewahrt wird zu Deinem weiteren Nutzen. Außerdem, o Herr, erflehen wir Deinen Segen für alle jene, die im Interesse des Hotels mit uns verhandeln, auf daß sie sich allein von Deinem Geist leiten und bei allem, was sie tun, Vernunft und Einsicht walten lassen. Endlich, o Gott, sei bei uns immerdar, gib, daß unsere Sache blüht und unser Werk gedeiht, damit wir es unsererseits Dir weihen können, zu Deinem höheren Ruhm, Amen. Also, meine Herren, wieviel werde ich für das Hotel zahlen müssen?« O'Keefe war bereits auf seinen Sessel zurückgeschnellt. Es dauerte jedoch ein oder zwei Sekunden, bevor den beiden anderen klar wurde, daß der letzte Satz nicht mehr zum Gebet gehörte, sondern ihr Geschäftsgespräch einleitete. Bailey schaltete als erster, nahm schnell auf dem Sofa Platz und zog ein Bündel Papiere aus seiner Aktenmappe. Hall rappelte sich erschrocken hoch und setzte sich neben ihn. Odgen Bailey antwortete respektvoll: »Über den Preis möchte ich mich nicht äußern, Mr. O'Keefe. Diese Entscheidung liegt natürlich wie immer bei Ihnen. Aber zweifellos dürften sich die Verhandlungen durch die Hypothek von zwei Millionen Dollar, die am Freitag fällig ist, wesentlich leichter gestalten, wenigstens für uns.« »Dann hat sich in dem Punkt also nichts geändert? Kein Wort von Verlängerung oder Ablösung?« Bailey schüttelte den Kopf. »Ich habe hier einige recht gute Informationsquellen angezapft, und sie haben mir versichert, daß damit nicht zu rechnen ist. Keiner der Finanziers will sich darauf einlassen, hauptsächlich wegen der Verluste des Hotels -ein Gutachten darüber habe ich Ihnen bereits gegeben -, die mit der allgemein bekannten schlechten Leitung eng zusammenhängende Der Hotelier nickte nachdenklich und schlug die blaue Mappe auf, deren Inhalt er gerade erst durchgelesen hatte. Er suchte ein einzelnes maschinebeschriebenes Blatt heraus. »Bei Ihrer Einschätzung künftiger Verdienstmöglichkeiten sind Sie ungewöhnlich optimistisch.« Seine hellen Augen nahmen Bailey aufs Korn. Das Gesicht des Wirtschaftsprüfers verzog sich zu einem dünnen, verkniffenen Lächeln. »Ich neige nicht zu Übertreibungen, wie Sie wissen. Aber ich bin überzeugt davon, daß sich in kürzester Frist ein beträchtlicher Gewinn herauswirtschaften ließe, und zwar sowohl durch die Erschließung neuer Einnahmequellen als auch durch bessere Ausnutzung der alten. Hier ist der ausschlaggebende Faktor die Verwaltung. Sie ist unvorstellbar schlecht.« Er nickte dem jüngeren Mann zu. »Sean hat in dieser Richtung einige Ermittlungen angestellt.« Ein wenig befangen und immer wieder seine Notizen zu Rate ziehend, begann Hall: »Die Befugnisse sind nicht genau begrenzt und werden nicht überwacht, mit dem Ergebnis, daß sich einige Abteilungsleiter eine erstaunliche Machtvollkommenheit angeeignet haben. Der Lebensmitteleinkauf beispielsweise -« »Moment mal.« Der Einspruch seines Arbeitgebers brachte Hall jäh zum Schweigen. »Auf die Einzelheiten können wir hier verzichten«, erklärte Curtis O'Keefe entschieden. »Ich verlasse mich darauf, daß Sie, Gentlemen, sich darum kümmern. Bei unseren Besprechungen möchte ich lediglich in großen Umrissen informiert werden.« Obwohl der Verweis verhältnismäßig milde ausfiel, lief Hall rot an, und Dodo warf ihm quer durch den Raum einen mitfühlenden Blick zu. »Ich schließe aus alledem«, fügte O'Keefe hinzu, »daß sich infolge der unfähigen Leitung ein allgemeiner Schlendrian breitgemacht hat mit Durchstechereien, die den Gewinn erheblich schmälern.« Der jüngere Wirtschaftsprüfer nickte nachdrücklich. »Allerdings, Sir, vor allem bei den Lebensmitteln und Getränken.« Er war im Begriff, seine geheimen Beobachtungen in den verschiedenen Bars und Gesellschaftsräumen zu schildern, hielt sich jedoch zurück. Damit konnte man sich später befassen, nach Abschluß der Übernahme und dem Einzug der »Wühlmäuse«. Aus eigener Erfahrung wußte Sean Hall, daß sich die Eingliederung eines neuen Hotels in den O'Keefe-Konzern unweigerlich nach ein und demselben Schema abspielte. Zuerst, Wochen vor dem Beginn von Verhandlungen, pflegte ein »Schnüfflerteam« - zumeist angeführt von Odgen Bailey - in das fragliche Hotel einzuziehen, wobei sich die Mitglieder als normale Gäste eintrugen. Durch genaue und systematische Beobachtungen, die gelegentlich mit Hilfe von Bestechungen vervollständigt wurden, gelang es dem Team, indem es Unzulänglichkeiten aufdeckte und nicht genutzte Einnahmequellen ausfindig machte, einen umfassenden Bericht zusammenzustellen. Wo es möglich war - wie beispielsweise im gegenwärtigen Fall -, wurden außerhalb des Hotels bei den Geschäftsleuten der Stadt diskrete Informationen eingeholt. Die magische Wirkung des Namens O'Keefe und die Aussicht auf lukrative Geschäfte mit dem größten Hotelkonzern der Vereinigten Staaten genügten im allgemeinen, um die gewünschten Auskünfte zutage zu fördern. In finanziellen Kreisen, das hatte Sean Hall schon vor langer Zeit gelernt, rangierte Loyalität bestenfalls an zweiter Stelle hinter dem Eigennutz. Dann, ausgerüstet mit dem Gutachten, pflegte Curtis O'Keefe die Kaufsverhandlungen einzuleiten, die meistens erfolreich waren. Zuletzt rückten die »Wühlmäuse« an. Die sogenannten Wühlmäuse waren eine abgebrühte, fixe Gruppe von Verwaltungsexperten unter der Führung eines Vizepräsidenten des O'Keefe-Konzerns. Sie waren imstande, jedes beliebige Hotel innerhalb erstaunlich kurzer Zeit dem Einheitsmodell anzugleichen. Bei den ersten Veränderungen handelte es sich für gewöhnlich um administrative und personelle Probleme; umfangreichere Maßnahmen wie Umbauten und dergleichen folgten später. Vor allem aber ging die Gruppe mit lächelndem Gesicht an die Arbeit und versicherte allen, die betroffen waren, daß es nicht zu drastischen Neuerungen kommen werde, sogar wenn sie bereits damit angefangen hatte. Wie ein Mitglied des Teams es ausdrückte: »Wenn wir irgendwo anrücken, verkünden wir als erstes, daß keine personellen Veränderungen geplant sind. Und dann starten wir mit den Kündigungen.« Manchmal mußte Hall, der ein nachdenklicher junger Mann und unter Quäkern aufgewachsen war, sich über seine Rolle bei diesem Spiel wundern. Obwohl er noch nicht lange für O'Keefe arbeitete, hatte er bereits mehrfach beobachtet, wie Hotels von erfreulicher Individualität von der gesteuerten Gleichmacherei des Konzerns verschluckt wurden. Irgendwie stimmte ihn diese Entwicklung traurig. Auch die moralischen Grundsätze, die zur Erreichung des Ziels angewandt wurden, bereiteten ihm Unbehagen. Aber stets wogen persönlicher Ehrgeiz und die Tatsache, daß Curtis O' Keefe Dienstleistungen großzügig bezahlte, schwerer als vage Unlustgefühle. Sein monatlicher Gehaltsscheck und ein ständig anwachsendes Bankkonto erfüllten Sean Hall mit Befriedigung, auch in unruhigen Momenten. Es gab für ihn auch noch andere Möglichkeiten, die er sich allerdings, selbst in seinen ausschweifendsten Träumen, nur ganz verschwommen auszumalen wagte. Seit Betreten der Suite war er sich Dodos Gegenwart nur zu sehr bewußt, obwohl er es vermied, sie offen anzusehen. Ihre blonde und aufreizende Sexualität, die den Raum wie eine Aura zu durchdringen schien, rief in Sean Hall Empfindungen wach, die seine hübsche brünette Frau - Schwarm ihrer Partner auf den heimischen Tennisplätzen und Schriftführerin der P. T. A. - nie in ihm erregte. Angesichts des mutmaßlichen Glücks von Curtis O'Keefe hatte der Gedanke, daß der große Mann seine Laufbahn auch als junger ehrgeiziger Buchhalter begonnen hatte, etwas seltsam Anfeuerndes. Curtis O'Keeefe riß ihn mit einer Frage aus seinen Grübeleien. »Gelten Ihre Beobachtungen in puncto schlechte Verwaltung für das gesamte Personal?« »Nein, Sir.« Sean Hall warf einen Blick auf seine Notizen und wendete seine ganze Aufmerksamkeit dem Thema zu, das in den letzten zwei Wochen für ihn vertrautes Gebiet geworden war. »Ein Mann, der stellvertretende Direktor McDermott, macht einen ausgezeichneten Eindruck. Er ist zweiunddreißig und hat die Cornell-Universität absolviert. Leider war seine Führung nicht ganz einwandfrei. Unser Personalbüro zog Erkundigungen ein. Ich habe den Bericht hier.« Der Hotelier überflog das Blatt, das der junge Wirtschaftsprüfer ihm überreichte. Der Bericht enthielt die wesentlichen Fakten über Peter McDermotts Entlassung aus dem Waldorf und seine anschließenden, bis zu seiner Anstellung im St. Gregory erfolglosen Versuche, einen neuen Posten zu finden. O'Keefe gab das Blatt zurück, ohne sich dazu zu äußern. Was mit McDermott geschehen würde, entschieden die »Wühlmäuse«. Aber sie wußten natürlich alle, daß der Hotelmagnat in seinem Konzern nur Angestellte mit makellosem Leumund duldete. Folglich war es höchst unwahrscheinlich, daß McDermott, wie tüchtig er auch immer sein mochte, von dem neuen Regime übernommen werden würde. »Es gibt auch noch einige andere gute Leute in untergeordneten Positionen«, fügte Sean Hall hinzu. Die Besprechung dauerte noch etwa fünfzehn Minuten. Dann verkündete Curtis O'Keefe: »Ich danke Ihnen, meine Herren. Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas Neues hören, das wichtig ist. Andernfalls setze ich mich mit Ihnen in Verbindung.« Dodo brachte die beiden Männer zur Tür. Als sie zurückkam, hatte sich O'Keefe auf dem Sofa ausgestreckt. Seine Augen waren geschlossen. Von seinen geschäftlichen Anfängen an hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, den Tag über, wann immer es sich einrichten ließ, ein kurzes Nickerchen einzuschieben, um die Energie, die seine Untergebenen manchmal für unerschöpflich hielten, neu aufzuladen. Dodo küßte ihn sanft auf den Mund. Er spürte ihre feuchten Lippen auf den seinen und ihren üppigen Körper. Ihre langen Finger tasteten nach seinem Nacken und massierten behutsam seinen Haaransatz. Eine weiche seidige blonde Strähne streifte über sein Gesicht. Er sah lächelnd auf. »Ich lade meine Batterie auf«, sagte er und fügte dann befriedigt hinzu: »Was du tust, hilft mir dabei.« Die Finger bewegten sich weiter. Nach zehn Minuten war er ausgeruht und erfrischt. Er streckte sich und öffnete die Augen. Dann stand er auf und breitete die Arme aus. Sie kam ihm voller Hingebung entgegen, schmiegte sich begierig an ihn an. Er fühlte, daß ihre stets leise schwelende Sinnlichkeit bereits zu einer wilden verlangenden Glut aufgeflammt war. Mit wachsender Erregung führte er sie ins angrenzende Schlafzimmer. 11 Chefdetektiv Ogilvie, der erklärt hatte, er würde eine Stunde nach seinem geheimnisvollen Anruf in der Suite der Croydons erscheinen, stellte sich erst nach zwei Stunden ein. Infolgedessen waren die Nerven des Herzogs und der Herzogin bis zum Zerreißen gespannt, als der Summer endlich ertönte. Die Herzogin öffnete selbst. Sie hatte ihre Zofe unter einem Vorwand weggeschickt und den Sekretär mit dem Mondgesicht unbarmherzigerweise damit beauftragt, die Bedlington-Terrier auszuführen - der Ärmste fürchtete sich vor Hunden. Daß die beiden jeden Moment zurückkehren konnten, trug nicht zur Verminderung ihrer Nervosität bei. Von einer übelriechenden Rauchwolke umhüllt, trat Ogilvie ein und folgte der Herzogin in den Salon. Dort sah sie betont auf die Zigarre, die dem fetten Mann im Mundwinkel hing, und sagte: »Mein Mann und ich finden starken Rauch unerträglich. Würden Sie die Zigarre bitte ausmachen.« Die Schweinsäuglein des Detektivs musterten sie ironisch, schweiften durch das geräumige, behaglich eingerichtete Zimmer und streiften dabei den Herzog, der mit dem Rücken zum Fenster stand und unsicher von einem zum anderen blickte. »Ganz hübsche Bude habt ihr Leute hier.« Ogilvie nahm gemächlich den ärgerniserregenden Zigarrenstummel aus dem Mund, klopfte die Asche ab und schnippte den Stummel nach rechts zum dekorativen Kamin hinüber. Er verfehlte ihn, und die Zigarre landete auf dem Kaminteppich, wo sie liegenblieb. Die Herzogin preßte die Lippen zusammen. »Sie sind vermutlich nicht hergekommen, um sich mit uns über Innenausstattung zu unterhalten«, sagte sie scharf. Als Ogilvie anerkennend kicherte, gerieten die Fettmassen seines aufgeschwemmten Körpers ins Wabbeln. »Nein, Gnädigste, könnte nicht behaupten, daß ich deshalb hergekommen bin. Aber ich mag hübsche Dinge.« Er senkte die Stimme. »Hübsche Dinge, wie zum Beispiel Ihren Wagen. Ich meine den, der unten in der Garage steht. Ein Jaguar, stimmt's?« »Ah!« Es war kein Ausruf, nur ein gepreßter Laut, den der Herzog beim Ausatmen von sich gab. Seine Frau warf ihm einen warnenden Blick zu. »Aus welchem Grund interessieren Sie sich für unseren Wagen?« Als wäre die Frage der Herzogin ein Startzeichen gewesen, machte das Benehmen des Hausdetektivs eine jähe Wandlung durch. Er erkundigte sich abrupt: »Wer ist sonst noch in der Suite?« »Niemand«, antwortete der Herzog. »Wir haben unsere Leute weggeschickt.« »Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.« Mit einer bei seiner Korpulenz erstaunlichen Beweglichkeit strich der fette Mann durch die Suite, inspizierte die Zimmer, sah hinter die Türen. Offenbar war er über die Raumeinteilung genau im Bilde. Nachdem er einen Blick in den Hotelkorridor geworfen hatte, kehrte er, anscheinend befriedigt, in den Salon zurück. Die Herzogin hatte sich inzwischen auf einen Stuhl gesetzt. Ogilvie blieb stehen. »Also«, sagte er, »ihr zwei seid in den Unfall verwickelt.« Sie sah im gerade in die Augen. »Wovon reden Sie eigentlich?« »Lassen Sie die Mätzchen, Lady. Die Sache ist kein Spaß.« Er holte eine neue Zigarre hervor und biß das eine Ende ab. »Sie haben die Zeitungen gelesen. Auch im Radio wurde eine Menge darüber gebracht.« Im blassen Gesicht der Herzogin zeichneten sich zwei rote Flecke ab. »Was Sie da behaupten, ist die dümmste, abscheulichste -« »Ich hab' Ihnen gesagt, Sie sollen das lassen!« stieß er hervor, jedes Wort einzeln ausspuckend; seine katzenfreundliche Sanftmut war verlogen. Ohne die Herzogin zu beachten, fuchtelte Ogilvie mit der unangezündeten Zigarre herum. »Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Lady! Die ganze Stadt ist aus dem Häuschen - Polente, Bürgermeister und die gesamte Bevölkerung. Wenn sie herauskriegen, wer den Unfall gestern nacht verschuldet hat, zuerst das Kind und die Mutter umgebracht und sich danach aus dem Staub gemacht hat, dann schnappen sie sich ihn, egal, wer er ist oder ob er einen extrafeinen Titel hat. Na, und ich weiß, was ich weiß, und falls ich täte, was ich von Rechts wegen tun müßte, dann würde Ihnen die Polente so rasch auf die Bude rücken, daß es staubt. Aber ich wollte fair sein und zu Ihnen kommen, damit Sie mir Ihre Version von der Geschichte erzählen können.« Die Schweinsäuglein zwinkerten und wurden dann hart. »Wenn's Ihnen auf die andere Art lieber ist, brauchen Sie's bloß zu sagen.« Die Herzogin von Croydon, von der vererbten Arroganz mehrerer Jahrhunderte geprägt, gab sich nicht so schnell geschlagen. Sie sprang auf und bot empört uid mit blitzenden graugrünen Augen dem fetten, plumpen Menschen Trotz. »Sie unverschämter Lump! Was unterstehen Sie sich!« Ihr Ton hätte jeden, der sie kannte, niedergeschmettert. Auch Ogilvies Selbstvertrauen geriet einen Moment lang ins Wanken. Aber der Herzog schaltete sich ein. »Ich fürchte, es hat keinen Zweck, altes Mädchen, obwohl's den Versuch wert war«, sagte er und wandte sich dann an den Detektiv. »Was Sie uns vorwerfen, trifft zu. Ich bin schuld daran. Ich steuerte den Wagen und tötete das kleine Mädchen.« »Das klingt schon besser.« Ogilvie zündete sich seine Zigarre an. »Jetzt kommen wir endlich vom Fleck.« Müde und in der Haltung einer Besiegten sank die Herzogin von Croydon auf den Stuhl zurück. Sie faltete die Hände, um ihr Zittern zu verbergen, und fragte: »Was wissen Sie?« »Okay, ich will's Ihnen sagen.« Der Hoteldetektiv ließ sich Zeit, paffte gleichmütig eine blaue Rauchwolke in die Luft und beäugte dabei ironisch die Herzogin, als wollte er ihren Einspruch herausfordern. Aber bis auf ein angewidertes Naserümpfen enthielt sie sich jeden Kommentars. Ogilvie zeigte auf den Herzog. »Gestern ziemlich früh am Abend gingen Sie zu >Lindy's Place< in Irish Bayou. Sie fuhren in Ihrem noblen Jaguar und hatten 'ne Dame bei sich. Ich schätze wenigstens, man könnte sie so nennen, wenn man's nicht zu genau nimmt.« Als Ogilvie grinsend zur Herzogin hinüberblickte, sagte der Herzog scharf: »Los, die Details können Sie sich sparen!« »Also«, das fette selbstgefällige Gesicht wandte sich wieder dem Herzog zu, »wie ich gehört hab', gewannen Sie einhundert Lappen beim Spiel und verloren sie dann wieder an der Bar. Sie hatten gerade die Hälfte vom zweiten Hunderter auf den Kopf gehauen - mit einer wirklich flotten Gesellschaft -, da platzte Ihre Frau mit einem Taxi dazwischen.« »Woher wissen Sie das alles?« »Tjah, sehen Sie, Herzog - ich bin schon seit einer Ewigkeit hier in der Stadt und im Hotel. Ich hab' überall Freunde. Mal erweis' ich ihnen einen Gefallen und ein andermal sie mir, und so bin ich immer auf dem laufenden. Wenn die Leute, die hier im Hotel wohnen, was anstellen, erfahr' ich's meistens. Im allgemeinen ahnen sie gar nicht, daß ich was weiß; sie kennen mich nicht mal. Sie bilden sich ein, ihre kleinen Geheimnisse wären sicher verstaut, und das sind sie auch. Ich kann schweigen. So 'n Fall wie Ihrer ist natürlich was anderes.« Der Herzog sagte kalt: »Ich verstehe.« »Eins würde ich gern wissen. Ich bin von Natur aus neugierig, Gnädigste. Wie haben Sie herausbekommen, wo er war?« »Sie wissen so viel... ck macht das vermutlich auch nichts mehr aus. Mein Mann hat die Angewohnheit, sich beim Telefonieren Notizen zu machen. Und er vergißt dann oft, sie zu zerreißen.« Ogilvie klickte vorwurfsvoll mit der Zunge. »Tjah, wenn man in Kleinigkeiten nachlässig ist, Herzog... nun sehen Sie selbst, in was für Schwulitäten einen das bringt. Na und den Rest stell' ich mir etwa so vor. Sie gondeln nach Haus, mit Ihrer Frau, und Sie sitzen am Steuer, obwohl's nach allem, was später passiert ist, besser gewesen wäre, sie hätte am Steuer gesessen.« »Meine Frau kann nicht fahren.« »Damit wäre der Punkt auch geklärt.« Der Detektiv nickte verständnisvoll. »Und außerdem, schätz' ich, hatten Sie geladen, und zwar schwer... « Die Herzogin unterbrach ihn. »Dann wissen Sie also doch nichts! Nichts Genaues jedenfalls! Sie können womöglich nicht mal beweisen, daß -« »Lady, ich hab' so viele Beweise, wie ich brauche.« »Laß ihn ausreden, altes Mädchen«, sagte der Herzog warnend. »Ganz recht. Halten Sie die Klappe und sperren Sie die Ohren auf. Gestern nacht hab' ich Sie zufällig bei der Rückkehr ins Hotel gesehen. Sie sind durchs Souterrain gekommen und nicht durch die Halle und waren beide verdammt blaß um die Nase. Ich war auch gerade erst gekommen und hab' mir natürlich so meine Gedanken gemacht. Wie ich schon sagte, bin ich neugierig von Natur aus.« »Weiter«, flüsterte die Herzogin. »Ziemlich spät gestern nacht kam dann die Meldung über den Unfall mit Fahrerflucht durch, und das hat mich auf die Idee gebracht. Ich ging hinunter in die Garage und besah mir in aller Stille Ihren Wagen. Sie wissen's vielleicht nicht, aber er steht hinter einem Pfosten in einer Ecke, wo die Garagisten ihn nicht sehen, wenn sie vorbeikommen.« Der Herzog fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich nehme an, das hilft uns jetzt auch nichts mehr.« »Vielleicht nicht«, gab Ogilvie zu. »Na, jedenfalls hab' ich erst mal ein paar Auskünfte eingeholt - gegenüber im Polizeipräsidium, wo ich auch gut bekannt bin.« Er legte eine Pause ein, um kräftig an seiner Zigarre zu ziehen, während seine Zuhörer schweigend auf die Fortsetzung warteten. Als das Ende der Zigarre rot aufglühte, betrachtete er es prüfend und fuhr dann fort: »Drüben hatten sie drei Dinge, auf die sie sich bei den Ermittlungen stützen: einen Scheinwerferring, der abgegangen sein muß, als der Wagen das Kind und die Frau wegschleuderte; ein paar Splitter vom Scheinwerferglas; und dann haben die Kleider des Kindes sie darauf gebracht, daß es vermutlich auch eine Wischspur gibt.« »Eine was?« »Wenn man Stoff gegen was Hartes reibt, Herzogin, sagen wir einen Kotflügel, der noch dazu blank poliert ist, dann bleibt genau wie bei Fingerabdrücken eine Spur zurück. Die Leute vom Polizeilabor können sie abnehmen wie andere Spuren - sie bestäuben's mit Puder, und schon hat sich's.« »Das ist interessant«, sagte der Herzog, als spräche er von etwas, das ihn nicht betraf. »Das wußte ich nicht.« »Die wenigsten wissen das. Ich glaub' allerdings nicht, daß es in Ihrem Fall viel ausmacht. Der eine Scheinwerfer ist beschädigt, und der Ring ist futsch. Das reicht schon als Beweis, auch ohne die anderen Spuren und das Blut. O ja, ich hätt's Ihnen gleich sagen sollen. Es ist eine ganze Menge Blut am Wagen, obwohl es auf dem schwarzen Lack nicht sehr auffällt.« »Oh, mein Gott!« Die Herzogin preßte eine Hand vor die Augen und wandte sich ab. »Und was haben Sie nun mit uns vor?« erkundigte sich der Herzog. Der fette Mann rieb sich die Hände und blickte auf seine fleischigen Finger. »Wie ich schon sagte, bin ich hergekommen, um mir Ihre Version anzuhören.« »Was könnte ich denn dazu noch sagen?« fragte der Herzog verzweifelt. »Sie wissen doch, was passiert ist. Rufen Sie am besten gleich die Polizei. Dann haben wir's hinter uns.« »Warum haben Sie's so eilig?« Ogilvies absurde Fistelstimme klang plötzlich versonnen. »Was passiert ist, ist passiert. Überstürzte Maßnahmen machen das Kind und die Mutter auch nicht wieder lebendig. Außerdem würde Ihnen das, was sie drüben im Präsidium mit Ihnen anstellen, nicht gefallen, Herzog. Nein, Sir, es würde Ihnen ganz bestimmt nicht gefallen.« Die beiden anderen hoben langsam die Augen. »Ich hatte gehofft, ihr zwei würdet mir einen besseren Vorschlag machen.« »Das verstehe ich nicht«, murmelte der Herzog unsicher. »Aber ich«, sagte die Herzogin. »Sie wollen Geld, nicht wahr? Sie sind gekommen, um uns zu erpressen.« Falls sie erwartet hatte, ihre Worte würden Ogilvie aus der Fassung bringen, wurde sie enttäuscht. Der Hoteldetektiv zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Nennen Sie's, wie Sie wollen, Herzogin; mir ist das schnuppe. Ich bin bloß hier, um euch beiden aus der Klemme zu helfen. Aber ich muß schließlich auch leben.« »Wenn wir Ihnen Geld geben, würden Sie das, was Sie wissen, für sich behalten?« »Ich denke schon.« »Aber nach allem, was Sie sagen, würde es uns nichts nützen«, wandte die Herzogin ein. Sie hatte für den Moment ihre innere Sicherheit wiedergefunden. »Der Wagen würde in jedem Fall entdeckt werden.« »Das Risiko müssen Sie schon in Kauf nehmen, schätz' ich. Aber es spricht einiges dafür, daß es vielleicht nicht dazu kommen wird.« »Wieso?« »Also, ganz klar ist mir das auch noch nicht. Aber als Sie das Kind überfuhren, waren Sie auf dem Weg aus der Stadt und nicht in die Stadt, wie man's von Rechts wegen erwarten sollte.« »Wir haben uns auf dem Rückweg verfahren und sind irgendwie in die umgekehrte Richtung geraten«, erklärte die Herzogin. »In New Orleans mit seinen gewundenen Straßen passiert einem das leicht. Später fuhren wir auf Seitenwegen zum Hotel zurück.« »Ich hab' mir gleich gedacht, daß es so gewesen sein könnte.« Ogilvie nickte verständnisinnig. »Aber die Polizei hat sich das anders zurechtgelegt. Sie tippt auf jemanden, der außerhalb wohnt, und kämmt deshalb im Moment die Vororte und umliegenden Städte durch. Mit der Zeit wird sie vermutlich auch die Innenstadt absuchen, aber so weit ist es noch nicht.« »Wie lange kann es noch dauern?« »Drei, vier Tage vielleicht. Sie müssen vorher einen Haufen anderer Orte abgrasen.« »Und was haben wir davon - von dem Aufschub, meine ich?« »Eine ganze Menge. Sie könnten den Wagen fortschaffen -falls er nicht vorher entdeckt wird, und wenn man bedenkt, wo er jetzt steht, haben Sie eine gute Chance.« »Fortschaffen? Sie meinen, aus Louisiana?« »Ich meine, aus dem Süden.« »Das wäre aber nicht einfach?« »Nein, Gnädigste, einfach nicht. Sämtliche Staaten um uns herum - Texas, Arkansas, Mississippi, Alabama und die übrigen - werden die Augen nach einem Wagen mit beschädigtem Scheinwerfer offenhalten.« Die Herzogin überlegte. »Wäre es nicht möglich, ihn vorher reparierenzu lassen? Falls die Reparatur diskret durchgeführt würde, wären wir bereit, sie gut zu bezahlen.« Der Hausdetektiv schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ausgeschlossen. Wenn Sie das versuchen, können Sie ebensogut gleich rüber ins Präsidium gehen und sich stellen. Jede Reparaturwerkstatt in Louisiana weiß, daß sie die Polizei rufen muß, sobald ihr ein beschädigter Wagen unterkommt, der verdächtig ist. Und sie würden's melden, verlassen Sie sich drauf. Ihr zwei seid ein heißes Eisen.« Die Herzogin von Croydon nahm sich fest an die Kandare. Ihre Gedanken rasten, aber sie wußte, daß es von höchster Wichtigkeit war, einen kühlen Kopf zu bewahren. In den letzten Minuten hatte sich ein ungezwungener Ton in die Unterhaltung eingeschlichen, als ginge es um irgendein belangloses häusliches Problem und nicht um Leben oder Tod. Sie beabsichtigte, den Plauderton beizubehalten. Wie schon sooft war ihr wieder die Führerrolle zugefallen, während ihr Mann bei der Auseinandersetzung mit dem bösen, fetten Menschen nur ein angsterfüllter, aber passiver Zuschauer war. Gleichviel. Mit dem Unvermeidlichen mußte man sich abfinden. Nun kam es vor allem darauf an, alle Möglichkeiten sorgsam in Betracht zu ziehen. Sie hatte eine Idee. »Wie nennt man das Stück von unserem Wagen, das die Polizei gefunden hat?« »Einen Scheinwerferring.« »Ist es eine echte Spur?« Ogilvie nickte. »Freilich. Sie können feststellen, von welcher Sorte Wagen es stammt - Fabrikat, Modell und vielleicht sogar das Baujahr. Das gleiche gilt für die Glassplitter. Da es sich aber um einen ausländischen Wagen handelt, wird es vermutlich ein paar Tage dauern.« »Aber dann weiß die Polizei, daß sie nach einem Jaguar suchen muß?« »Tjah.« Heute war Dienstag. Nach allem, was dieser Mann sagte, hatten sie eine Gnadenfrist bis Freitag oder höchstens Samstag. Mit berechneter Kälte durchdachte die Herzogin das Problem: Gesetzt den Fall, der Hoteldetektiv ließe sich kaufen, dann bestand ihre einzige - schwache - Chance darin, den Wagen so schnell wie möglich fortzuschaffen. Gelang es, ihn nach dem Norden zu bringen, in eine der Großstädte, wo man von der Tragödie in New Orleans und den Nachforschungen nichts wußte, dann könnte man dort in aller Stille die nötigen Reparaturen durchführen lassen und die belastenden Spuren beseitigen. Und sollte sich der Verdacht später doch noch auf die Croydons richten, dann war ihnen wenigstens nichts mehr nachzuweisen. Fragte sich nur, wie man den Wagen hinausbefördern sollte. Zweifellos hatte dieser flegelhafte Mensch recht mit seiner Behauptung, daß sämtliche Nachbarstaaten von Louisiana in Alarmbereitschaft waren. Jede Verkehrsstreife würde ein scharfes Auge auf Wagen mit beschädigtem Scheinwerfer haben. Vermutlich gab es auch Straßensperren. Es würde nicht einfach sein, den Kontrollen zu entgehen. Aber vielleicht war es doch zu schaffen. Wenn man nur in der Nacht fuhr und den Wagen tagsüber versteckte. Es gab genügend einsame Fleckchen zu beiden Seiten der Autostraße, wo man unbeobachtet war. Natürlich war es riskant, aber hierzubleiben, wo man sie höchstwahrscheinlich aufspüren würde, war genauso riskant. Sie würden Seitenwege benutzen und eine Route wählen, auf der man sie nicht vermutete. Man mußte jedoch mit anderen Komplikationen rechnen. Es war schwierig, sich auf Nebenstraßen zurechtzufinden, wenn man die Gegend nicht kannte. Die Croydons kannten sie nicht und verstanden sich auch nicht auf das Lesen von Landkarten. Wenn sie irgendwo tankten, was unvermeidlich war, würde ihr Benehmen und ihre Sprache Aufsehen erregen und sie verraten. Und dennoch mußten sie diese Gefahren auf sich nehmen. Oder gab es vielleicht einen Ausweg? Die Herzogin sah Ogilvie an. »Wieviel Geld verlangen Sie?« Ihre abrupte Frage brachte ihn einen Moment lang aus dem Gleichgewicht. »Also... ich schätze, ihr Leute seid ziemlich gut betucht.« »Ich habe gefragt, wieviel«, sagte sie kalt. Die Schweinsäuglein blinzelten. »Zehntausend Dollar.« Sie verzog keine Miene, obwohl die Forderung doppelt so hoch war, als sie erwartet hatte. »Und wenn wir Ihnen diese groteske Summe zahlen, was bekommen wir als Gegenwert?« Der fette Mann machte ein verdutztes Gesicht. »Das hab' ich Ihnen doch schon gesagt. Ich behalte das, was ich weiß, für mich.« »Und was wäre die Alternative?« Er zuckte mit den Schultern. »Ich gehe runter in die Halle und telefoniere.« »Nein! Wir zahlen nicht!« Ihr Ton ließ keinen Zweifel daran, daß sie es ernst meinte. Während der Herzog beunruhigt von einem Fuß auf den anderen trat, lief das knollige Gesicht des Hausdetektivs rot an. »Hören Sie, Lady -« Sie fiel ihm herrisch ins Wort. »Ich höre nicht. Jetzt bin ich an der Reihe, und Sie hören mir zu. Mit den zehntausend Dollar würden wir uns nur eine Frist von drei bis vier Tagen einhandeln, sonst nichts. Sie selbst haben uns das überdeutlich klargemacht.« Sie blickte ihn fest an; ihr schönes Gesicht mit den hohen Wangenknochen sah anmaßender aus denn je. »Immerhin haben Sie die Chance -« »Schweigen Sie!« Ihre Stimme war wie ein Hieb mit der Peitsche, ihr Blick bohrte sich in den seinen. Er schluckte und gehorchte mürrisch. Was nun kam, würde vielleicht die wichtigste Tat in ihrem Leben sein, darüber war sich die Herzogin im klaren. Es durfte keinen Mißgriff, kein Schwanken, kein kleinliches Feilschen geben. Wer um den höchsten Gewinn spielte, mußte einen hohen Einsatz wagen. Sie wollte auf die Habgier des fetten Mannes spekulieren. Und sie mußte so geschickt vorgehen, daß ihr der Erfolg sicher war. »Wir zahlen Ihnen nicht zehntausend Dollar, sondern fünfundzwanzigtausend«, erklärte sie entschieden. Der Hoteldetektiv riß beide Augen auf. »Dafür werden Sie unseren Wagen nach dem Norden schaffen«, fügte sie gelassen hinzu. Ogilvie starrte sie weiter an. »Fünfundzwanzigtausend Dollar«, wiederholte sie. »Zehntausend gleich, den Rest von fünfzehntausend sobald wir in Chikago zusammentreffen.« Der fette Mann fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, ohne einen Ton von sich zu geben. Seine Schweinsäuglein waren, als traute er seinen Sinnen nicht, auf das Gesicht der Herzogin gerichtet. Ein lastendes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Dann, während sie ihn angespannt beobachtete, nickte er beinahe unmerklich. Noch immer blieb es still. Endlich fragte Ogilvie: »Stört Sie die Zigarre, Herzogin?« Als sie nickte, machte er sie aus. 12 »Es ist komisch.« Christine ließ die liesengroße, in vielen Farben prangende Speisekarte sinken. »Aber ich werde in dieser Woche das Gefühl nicht los, daß irgend etwas Folgenschweres passieren wird.« Peter McDermott lächelte ihr über den Tisch hinweg zu. Tafelsilber und das gestärkte weiße Leinenzeug schimmerten im Kerzenlicht. »Vielleicht ist es schon passiert.« »Nein«, sagte Christine. »Wenigstens nicht auf die Art, die Sie meinen. Es ist irgendwie beklemmend. Ich wollte, ich könnte es abschütteln.« »Gut essen und trinken tut Wunder.« Seine gate Laune wirkte ansteckend. Sie lachte und klappte die Speisekarte zu. »Schön, dann bestellen Sie für uns beide.« Sie waren in Brennan's Restaurant im Französischen Viertel. Vor einer Stunde hatte Peter Christine mit einem Wagen, den er am Schalter von Hertz in der Halle des St. Gregory gemietet hatte, in ihrer Wohnung abgeholt. Sie parkten in Iberville, an der Peripherie des Viertels, und schlenderten die Royal Street entlang, vorbei an den Schaufenstern der Antiquitätenläden, in denen Kunstgegenstände, importierter Kitsch und Waffen der Konföderierten - »jeder Säbel in dieser Kiste zehn Dollar« -bunt durcheinanderlagen. Es war eine warme, schwüle Nacht, die erfüllt war von den für diese Stadt typischen Geräuschen -dem sonoren Brummen der Busse in den engen Straßen, dem Klappern und Rasseln der Droschken und dem wehmütigen Tuten eines ausfahrenden Frachters auf dem Mississippi. Brennan's war, wie es sich für das eleganteste Speiserestaurant von New Orkans gehörte, zur Dinnerzeit bis zum letzten Platz besetzt. Während sie auf ihren Tisch warteten, hatten Peter und Christine im stillen, schummrigen Patio einen nach Kräutern duftenden Old Fashioned getrunken. Peter fühlte sich in Christines Gesellschaft unendlich wohl, Seine Hochstimmung hielt an, als sie zu einem Tisch im Hauptrestaurant geleitet wurden. Nun winkte er einen Kellner heran. Er bestellte für sich und Christine die Spezialität des Hauses, und zwar eine Zusammenstellung von Austern Rockefeller, Bienville und Roffignac, Flunder Nouvelle Orleans, gefüllt mit Krabbenfleisch und Kräutern, Blumenkohl Polonaise, pommes au four und eine Flasche Montrachet. »Es ist angenehm, wenn man nicht selbst entscheiden muß«, sagte Christine anerkennend und beschloß, das beklemmende Gefühl, von dem sie gerade gesprochen hatte, einfach nicht mehr zu beachten. Es war wohl ohnehin nur Einbildung und erklärte sich vermutlich aus der Tatsache, daß sie in der vergangenen Nacht wenig Schlaf gehabt hatte. »Bei einer so ausgezeichneten Küche wie hier spielt es letztlich keine Rolle, wofür man sich entscheidet. Man hat höchstens die Qual der Wahl zwischen lauter exquisiten Gerichten.« »Man merkt, daß Sie sich in der Branche auskennen«, sagte sie neckend. »Verzeihung. Ich fürchte, ich rede andauernd davon.« »Eigentlich nicht. Und wenn Sie's unbedingt wissen wollen, mir gefällt's. Ich hab' mich allerdings manchmal gefragt, wie Sie darauf gekommen sind, ins Hotelfach zu gehen.« »Ins Hotelfach?« Ich war ein Boy mit Ambitionen.« »War es wirklich so einfach?« »Vermutlich nicht. Ich hatte auch ziemlich viel Glück. Ich wohnte in Brooklyn und arbeitete in den Schulferien als Boy in Manhattan. Eines Nachts, in meinem zweiten Sommer, brachte ich einen Betrunkenen ins Bett - half ihm die Treppe hinauf, zog ihn aus und deckte ihn zu.« »Gehörte das zu Ihren Obliegenheiten?« »Nein. Aber zufällig war es eine ruhige Nacht, und außerdem hatte ich ziemlich viel Übung darin. Ich hatte zu Hause seit Jahren meinem alten Herrn denselben Gefallen erwiesen.« Seine Augen blickten einen Moment lang traurig drein. »Na, später stellte sich dann heraus, daß der Bursche, den ich ins Bett verfrachtet hatte, ein Mitarbeiter vom >New Yorker< war. Ein oder zwei Wochen danach schrieb er über den Vorfall und nannte uns, glaube ich, >das Hotel, in dem man sich wie bei Muttern fühlt<. Wir wurden deswegen ganz schön gefoppt, aber für das Hotel war es eine gute Reklame.« »Und Sie wurden daraufhin befördert?« »In gewisser Weise. Wichtiger war, man beachtete mich.« »Da kommen die Austern.« Der Kellner stellte zwei vorgewärmte Teller mit den köstlich duftenden überbackenen Austern, die auf einer Unterlage von Steinsalz ruhten, vor sie hin. Während Peter den Montrachet probierte und zustimmend nickte, sagte Christine: »Wieso kann man eigentlich in Louisiana das ganze Jahr über Austern essen, egal, ob der Monat ein >R< hat oder nicht?« »Man kann Austern überall und zu jeder Jahreszeit essen«, antwortete Peter nachdrücklich. »Die Idee von den Monaten mit und ohne >R< ist Schwindel und wurde vor vierhundert Jahren von einem alten englischen Landpfarrer in die Welt gesetzt. Ich glaube, der alte Knabe hieß Butler. Wissenschaftler haben sich darüber lustig gemacht, die amerikanische Regierung hält sie für albern, aber die Leute glauben immer noch daran.« Christine kostete eine Auster Bienville. »Ich dachte immer, es kommt daher, weil sie im Sommer laichen.« »Für Austern in New England und New York trifft das in manchen Jahren zu, nicht aber für die Chesapeake Bay, wo die ertragreichsten Austernbänke der Welt sind. Dort und im Süden laichen sie so ziemlich zu jeder Jahreszeit. Folglich gibt's keinen einzigen einleuchtenden Grund, warum Nordstaatler nicht auch das ganze Jahr über Austern essen sollten, wie die Leute hier in Louisiana.« Nach kurzem Schweigen sagte Christine: »Vergessen Sie denn nie, was sie mal gelernt haben?« »Das meiste behalte ich, glaub' ich. Ich hab' ein komisches Gedächtnis, an dem die unmöglichsten Dinge hängenbleiben -es ist ein bißchen wie das Fliegenpapier, das man früher verwendete. In gewisser Hinsicht ist mir das zustatten gekommen.« Er spießte eine Auster Rockefeller auf und schnupperte genießerisch den zarten leicht bitteren Duft von Absinth ein. »Inwiefern kam es Ihnen zustatten?« »Also, im gleichen Sommer, in dem die Sache mit dem Mann vom >New Yorker< passierte, durfte ich mich im Hotel in allen möglichen Jobs versuchen, und so landete ich auch hinter der Bar. Inzwischen hatte ich Feuer gefangen und mir einige Fachbücher geliehen, unter anderem auch eins über das Mixen von Drinks.« Peter hielt inne, in einem Winkel seines Gedächtnisses nach Ereignissen kramend, die er fast schon vergessen hatte. »Einmal war ich allein hinter der Bar, als ein Gast hereinkam. Ich kannte ihn nicht, aber er sagte: >Ich hab' gehört, daß Sie der helle Bursche sind, über den der >New Yorker< geschrieben hat. Können Sie mir einen Rostigen Nagel mixen?« »Er wollte Sie uzen?« »Nein. Ich hätte es sicher auch für einen dummen Witz gehalten, wenn ich das Rezept nicht zufällig zwei Stunden früher gelesen hätte. Das meine ich damit, wenn ich sage, ich hätte Glück gehabt. Die Zutaten sind Scotch und Drambuie. Ich machte ihm also den Drink zurecht, und nach dem ersten Schluck sagte er: >In Ordnung, aber auf die Art werden Sie im Hotelfach nichts lernen. Die Dinge haben sich geändert seit >Work of Art.< Ich antwortete ihm, ich hielte mich nicht für Myron Weagle, hätte aber nichts dagegen, Evelyn Orcham zu sein. Er lachte darüber; vermutlich hatte er auch Arnold Bennett gelesen. Dann gab er mir seine Visitenkarte und sagte, ich sollte ihn am nächsten Tag aufsuchen.« »Ich nehme an, er besaß mindestens fünfzig Hotels.« Peter schüttelte den Kopf. »Tatsächlich besaß er gar nichts. Er hieß Herb Fischer und war Handlungsreisender - Konserven und dergleichen. Er war außerdem ein Wichtigtuer und Schwätzer und schrecklich aufdringlich. Aber er kannte das Hotelgeschäft und die meisten Leute, die damit zu tun hatten, weil er da seine Waren absetzte.« Die Teller mit den Austernschalen wurden weggenommen. Der Kellner servierte ihnen nun, unter den wachsamen Blicken eines Oberkellners in rotem Frack, die dampfende Flunder. »Das riecht so gut, daß ich fast Angst hab', davon zu essen«, sagte Christine. »Es kann unmöglich so gut schmecken, wie es riecht.« Sie probierte den saftigen, hervorragend gewürzten Fisch. »Mmmm! Nicht zu glauben, aber es schmeckt sogar noch besser.« Nach einer Weile sagte sie: »Erzählen Sie mir von Mr. Fischer.« »Zuerst hielt ich ihn für einen Angeber, wie man ihn in Bars zu Hunderten begegnet. Ein Brief aus Cornell brachte mir eine andere Meinung über ihn bei. Ich sollte mich in Statler Hall -der Hotelfachschule - zur Aufnahmeprüfung melden. Es kam dann schließlich so, daß sie mir ein Stipendium anboten und daß ich von der Oberschule dahin überwechselte. Später fand ich heraus, daß Herb ein paar Hotelleute dazu überredet hatte, meine Aufnahme zu befürworten. Er war ein guter Vertreter, glaube ich.« »Sie glauben es nur?« »Ich war mir nie ganz sicher«, erwiderte Peter versonnen. »Ich verdanke Herb Fischer eine Menge, aber manchmal fragte ich mich, ob die Leute nicht nur deshalb soviel für ihn taten und Geschäfte mit ihm machten, weil sie ihn loswerden wollten. Er ging einem entsetzlich auf die Nerven. Ich sah ihn nur noch ein einziges Mal, nachdem die Sache mit Cornell geklappt hatte. Ich wollte mich bei ihm bedanken und gab mir alle Mühe, ihn gern zu haben. Aber er ließ beides nicht zu - warf nur mit großen Worten um sich und prahlte mit den Abschlüssen, die er gemacht hatte oder machen wollte. Dann sagte er, für das College brauchte ich ein paar anständige Anzüge, was stimmte, und drängte mir förmlich zweihundert Dollar als Darlehen auf. Für ihn muß das ein Haufen Geld gewesen sein, denn ich erfuhr später, daß es mit seinen Kommissionen nicht weit her war. Ich zahlte ihm das Geld in Raten zurück, aber meistens löste er meine Schecks gar nicht ein.« »Das Ganze klingt wie ein Märchen.« Christine hatte gespannt zugehört. »Warum besuchen Sie ihn nicht mehr?« »Er ist tot. Ich verabredete mich noch ein paarmal mit ihm, aber irgendwie schafften wir es beide nicht. Dann, vor ungefähr einem Jahr, rief mich sein Anwalt an - Herb hatte offenbar keine Familie. Ich ging zum Begräbnis. Und dort entdeckte ich dann, daß es acht von uns gab - allen hatte er auf die gleiche Art geholfen wie mir. Das Merkwürdige daran war, daß er, trotz seiner Prahlerei, keinem von uns von den anderen sieben erzählt hatte.« »Ich könnte heulen.« Er nickte. »Ich weiß. Genauso war mir damals zumute. Die Geschichte hat sicher irgendeine Moral, nur bin ich nie dahintergekommen, welche. Vielleicht könnte man sagen, daß manche Menschen eine große feste Schranke aufrichten und sich dabei glühend wünschen, daß jemand sie niederreißt, und wenn man das nicht tut, lernt man sie niemals richtig kennen.« Während des Kaffees schwieg sich Christine aus; sie hatten beide auf den Nachtisch verzichtet. Schließlich fragte sie: »Wissen wir denn wirklich, was wir uns wünschen?« Peter überlegte. »Nur zum Teil, nehme ich an. Aber ich kenne etwas, das ich haben möchte - das oder wenigstens etwas Gleichartiges.« Er ließ sich die Rechnung bringen. »Sagen Sie's mir.« »Ich hab' eine bessere Idee: ich zeig's Ihnen.« Draußen vor dem Restaurant blieben sie stehen, um sich nach der Kühle im Inneren an die warme Nachtluft zu gewöhnen. In der Stadt war nicht mehr so viel Betrieb wie noch vor einer Stunde. Einige Lichter in ihrer Umgebung erlöschten; das nächtliche Treiben im Viertel versickerte in andere Bezirke. Peter faßte Christine unter und führte sie schräg über die Royal Street. An der Südwestecke von St. Louis machten sie halt und wandten den Blick geradeaus. »So etwas würde ich gern aufbauen«, sagte er. »Etwas ebenso Gutes oder vielleicht noch Besseres.« Unter anmutig geschwungenen schmiedeeisernen Balkons und geriffelten Säulen warfen flackernde Gaslaternen Licht und Schatten auf die weißgraue klassische Fassade des Royal-Orleans-Hotels. Durch gebogene, längsgeteilte Fenster fiel ambrafarbenes Licht nach draußen. Auf dem breiten Gehsteig spazierte ein Türhüter in reichbetreßter Uniform auf und ab, auf dem Kopf eine pillenschachtelförmige Mütze. Hoch oben knatterten Fahnen in einer plötzlich aufkommenden Brise an ihren Masten. Ein Taxi fuhr vor. Der Türhüter trat rasch heran, um die Wagentür zu öffnen. Hohe Absätze klickten, Gelächter klang auf, und das Paar verschwand im Hotel. Eine Tür knallte zu. Das Taxi fuhr ab. »Ein paar Leute halten das Royal Orleans für das beste Hotel in Nordamerika«, sagte Peter. »Ob man dem beipflichtet oder nicht, spielt keine Rolle. Der springende Punkt ist: es beweist, wie gut ein Hotel sein kann.« Sie überquerten St. Louis und gingen auf das Gebäude zu, das früher einmal Hotel und Zentrum der kreolischen Gesellschaft gewesen war, dann Sklavenmarkt, Hospital im Bürgerkrieg, Sitz der Regierung und nun wieder Hotel. Peters Stimme klang immer begeisterter. »Es hat alles, was ein gutes Hotel haben muß - Geschichte, Stil, moderne technische Anlagen und Fantasie. Mit der Ausstattung hat man zwei hiesige Architekten beauftragt - einen traditionsbewußten und einen modernen. Die zwei haben bewiesen, daß man erneuern und trotzdem den alten Charakter bewahren kann.« Der Türhüter blieb stehen und hielt ihnen die Tür auf. Geradeaus bewachten zwei riesige Negerstatuen eine weiße Marmortreppe, die zur Galerie über der Halle hinaufführte. »Das Komische dabei st«, bemerkte Peter, »daß das Royal Orleans bei all seiner Individualität zu einem Hotelkonzern gehört.« Er fügte gepreßt hinzu: »Allerdings nicht von der Art, die Curtis O'Keefe vertritt.« »Mehr nach der Art Peter McDermotts, nicht wahr?« »Bis dahin ist's noch ein weiter Weg. Und ich bin schon mal gestolpert. Ich nehme an, Sie wissen darüber Bescheid.« »Ja, ich weiß. Aber Sie werden's trotzdem schaffen. Ich wette tausend Dollar, daß Sie's schaffen.« Er drückte ihren Arm. »Wenn Sie so viel Geld haben, sollten Sie sich lieber Aktien des O'Keefe-Konzerns kaufen.« Sie schlenderten durch die Halle des Royal Orleans - weißer Marmor und antike Tapisserien in Weiß, Zitronengelb und Beige - und verließen sie durch den Ausgang zur Royal Street. Anderthalb Stunden lang bummelten sie durch das Viertel, machten in der Preservation Hall halt, ertrugen die erstickende Hitze und das Menschengewimmel auf den überfüllten Bänken, um sich den echten Dixieland anzuhören; sie verweilten auf dem Jackson Square, wo es verhältnismäßig kühl war, tranken Kaffee auf dem Französischen Markt am Flußufer und übten Kritik an den schlechten »Kunstwerken«, mit denen New Orleans überschwemmt wurde; später tranken sie unter einem bestirnten Himmel, gefiederten Bäumen, gedämpftem Licht im Hof der zwei Schwestern einen Mint Julep. »Es war wundervoll«, sagte Christine. »Gehen wir?« Als sie gemächlich nach Iberville und zu ihrem geparkten Wagen zurückgingen, sprach sie ein kleiner Negerjunge an, der einen Pappkarton mit Bürsten trug. »Schuheputzen, Mister?« Peter schüttelte den Kopf. »Zu spät, mein Sohn.« Der blitzäugige Junge rührte sich nicht vom Fleck und betrachtete Peters Füße. »Ich wette mit Ihnen um fünfundzwanzig Cents, daß ich weiß, was Sie unter den Schuhen haben. Wenn ich richtig rate, krieg' ich das Geld von Ihnen, wenn ich falsch rate, kriegen Sie's von mir. Okay?« Peter hatte die Schuhe vor einem Jahr in Tenafly, New Jersey, gekauft. Er zögerte, im Gefühl, daß die Chancen zu ungleich verteilt waren, und nickte dann. »Okay.« Der Junge blickte mit einem breiten Grinsen auf. »Unter Ihren Schuhen haben Sie das Pflaster von New Orleans, Louisiana, Mister. Wir haben bloß darum gewettet, daß ich weiß, was Sie unter Ihren Schuhen haben und nicht, wo Sie sie herhaben, stimmt's?« Christine hängte sich bei Peter ein, als er den Vierteldollar bezahlte. Sie lachten, bis sie bei ihrem Wagen anlangten, und lachten immer noch, als sie zu Christines Appartement fuhren. 13 Im Speisezimmer von Warren Trents Privatsuite paffte Curtis O'Keefe genießerisch eine Zigarre. Er hatte sie sorglich unter mehreren ausgewählt, die Aloysius Royce ihm in einem Kirschholzkästchen gereicht hatte. Ihr Aroma verquickte sich auf seinem Gaumen mit dem Nachgeschmack des Louis-XIII.-Cognac, der zum Kaffee serviert worden war. Links von O'Keefe, an der Schmalseite des Eichentisches, an dem sie das delikate aus fünf Gängen bestehende Dinner eingenommen hatten, präsidierte Warren Trent mit patriarchalischer Herzlichkeit: Ihm gegenüber rauchte Dodo, in einem hautengen schwarzen Abendkleid, eine Orientzigarette, die Royce ihr offeriert und angezündet hatte. »Herrje«, sagte Dodo, »ich komm' mir vor wie genudelt.« O'Keefe lächelte nachsichtig. »Das Essen war hervorragend, Warren. Übermitteln Sie bitte dem Küchenchef mein Kompliment.« Der Besitzer des St. Gregory neigte artig den Kopf. »Er wird sich über das Lob freuen, vor allem, wenn er hört, von wem es kommt. Es wird Sie übrigens vielleicht interessieren, daß es heute abend in meinem Hauptrestaurant genau das gleiche Menu gab.« Curtis O'Keefe nickte, aber er war nicht beeindruckt. Seiner Meinung nach war ein umfangreiches, ausgetüfteltes Menu in einem Hotelrestaurant ebensowenig am Platze wie Gänseleberpastete in einem Lunchkorb. Kam noch hinzu, daß er vorhin, zur Hauptessenszeit, einen Blick ins Restaurant des St. Gregory geworfen und festgestellt hatte, daß der weite gewölbte Saal nur zu einem Drittel besetzt war. Im O'Keefe-Imperium war das Dinner standardisiert und umfaßte eine beschränkte Auswahl einfacher populärer Gerichte. Hinter dieser Geschäftstaktik stand Curtis O'Keefes Überzeugung, daß das Publikum erfahrungsgemäß beim Essen auf Abwechslung keinen Wert legte und höchst phantasielos war. In den Hotels des O'Keefe-Konzerns kamen Feinschmecker, obwohl die Speisen sorgfältig zubereitet und mit antiseptischer Reinlichkeit serviert wurden, nicht auf ihre Kosten; man betrachtete sie als eine überflüssige, unrentable Minorität. »Es gibt heutzutage nicht mehr viele Hotels, die eine solche Küche führen«, bemerkte der Hotelmagnat. »Die meisten, die sie hatten, mußten sich den veränderten Verhältnissen anpassen.« »Die meisten, aber nicht alle. Nicht jeder ist so fügsam, und warum sollte er auch?« »Weil unser Geschäft eine Wandlung durchgemacht hat, Warren, das ist eine feststehende Tatsache, ob sie uns nun gefällt oder nicht. Die Zeiten individueller Gastlichkeit und Bedienung sind vorbei. Möglich, daß die Leute früher für solche Dinge was übrig hatten. Jetzt haben sie andere Bedürfnisse.« Die Direktheit, mit der beide Männer sich äußerten, schien anzudeuten, daß mit beendeter Mahlzeit auch der Austausch höflicher Phrasen ein Ende hatte. Dodo blickte mit ihren babyblauen Augen neugierig von einem zum anderen wie ein Zuschauer, der irgendeine fast unverständliche Szene auf der Bühne verfolgt. Aloysius Royce hantierte, dem Trio den Rücken zuwendend, an einem Seitentisch. »Bei manchen würden Sie mit Ihrer Ansicht auf Widerspruch stoßen«, sagte Warren Trent scharf. O'Keefe betrachtete das glühende Ende seiner Zigarre. »Für alle, die mir nicht beipflichten, habe ich nur eine Antwort: meine Bilanz im Vergleich zu der anderer Hotels -beispielsweise der des St. Gregory.« Trent errötete und preßte die Lippen zusammmen. »Beim St. Gregory handelt es sich um eine temporäre Krise. Es ist nicht die erste, und sie wird vorübergehen wie alle anderen davor.« »Nein. Wenn Sie das glauben, drehen Sie sich selbst den Strick. Und Sie haben sich etwas Besseres verdient, Warren -nach all den Jahren.« Nach einer mürrischen Pause knurrte Trent: »Ich habe nicht mein ganzes Leben daran gewendet, ein erstklassiges Hotel aufzubauen, nur um mit anzusehen, wie es zu einem billigen Massenquartier absinkt.« »Falls Sie meine Hotels damit meinen, so ist keins von ihnen ein billiges Massenquartier.« Nun lief O'Keefe vor Ärger rot an »Und ich bin mir gar nicht so sicher, ob das St. Gregory ein erstklassiges Haus ist.« Das lastende feindselige Schweigen wurde von Dodo unterbrochen. »Wird das eine richtige Rauferei oder bloß eine mit Worten?« fragte sie. Die zwei Männer lachten, Warren Trent allerdings ein wenig gezwungen. Curtis O'Keefe hob beschwichtigend beide Hände. »Sie hat recht, Warren. Ein Streit zwischen uns ist sinnlos. Auch wenn wir weiterhin getrennte Wege gehen, können wir doch wenigstens Freunde bleiben.« Warren Trent nickte, halb besänftigt. Schuld an seinem scharfen Ausfall war zum Teil sein Ischiasnerv, der ihn eben ganz besonders arg gezwickt hatte; der Schmerz war aber wieder abgeklungen. Als ob es nicht auch ohnedies schwer genug wäre, dachte er erbittert, sich nicht über diesen aalglatten, siegesbewußten Mann zu erbosen, dessen finanzielle Erfolge von den seinen so sehr abstachen. »Das, was das Publikum heutzutage von einem Hotel erwartet, läßt sich in drei Worten zusammenfassen«, erklärte Curtis O'Keefe. »Ein leistungsfähiges, wirtschaftliches Programm. Wir können es aber nur liefern, wenn wir sämtliche Leistungen - unsere eigenen und die unserer Gäste - genau kalkulieren; dazu gehört ein rationeller Betrieb und vor allem ein Minimum an Gehältern, und das wiederum bedeutet Automation und Verzicht auf Personal und Gastlichkeit im alten Stil, wo immer es möglich ist.« »Und das ist alles? Sie wollen auf alles verzichten, was man früher von einem guten Hotel zu erwarten pflegte? Sie wollen leugnen, daß ein guter Hotelier jedem Haus seinen persönlichen Stempel aufdrücken kann?« Der Besitzer des St. Gregory schnaubte verächtlich. »Ein Besucher Ihrer Sorte Hotel hat nicht das Gefühl, dazu zu gehören, eine wichtige Persönlichkeit zu sein, der man ein bißchen mehr gibt - an Wärme und Gastlichkeit -, als die Rechnung später aufzeigt.« »Das ist eine Illusion, die er nicht braucht«, sagte O'Keefe bissig. »Ein Hotel gewährt Gastlichkeit, weil es dafür bezahlt wird, das ist alles. Heute durchschauen die Leute Unaufrichtigkeit und Gefühlsduselei. Aber sie respektieren Fairness - einen fairen Profit für das Hotel; einen fairen Preis für den Gast, und genau das gebe ich ihnen. Oh, ich leugne durchaus nicht, daß es stets ein paar Tusculums für solche Gäste geben wird, die auf individuelle Bedienung Wert legen und bereit sind, sich das was kosten zu lassen. Aber dabei handelt es sich um kleine Hotels für einige wenige Außenseiter. Große Häuser, wie Ihres, müssen sich - wenn sie die Konkurrenz, die ich ihnen mache, überleben wollen - zu meiner Anschauung bekehren.« »Sie haben hoffentlich nichts dagegen, wenn ich noch eine Weile unbekehrt bleibe«, sagte Warren Trent trocken. O'Keefe schüttelte ungeduldig den Kopf. »Es war nichts Persönliches in dem, was ich sagte. Ich sprach von der Entwicklung im allgemeinen.« »Zum Teufel damit! Mein Instinkt sagt mir, daß sehr viele Menschen noch immer gern erster Klasse fahren und sich ein bißchen mehr davon versprechen als eine Box mit einem Bett drin.« »Der Vergleich hinkt.« O'Keefe lächelte kühl. »Aber ich will ihn trotzdem anfechten. Außer für einige wenige ist die erste Klasse erledigt, tot.« »Warum?« »Weil der Düsenverkehr den Erster-Klasse-Reisen und zugleich damit einer bestimmten Geisteshaltung den Garaus gemacht hat. Davor war die erste Klasse von einer Aura der Vornehmheit umgeben. Aber der Düsenverkehr hat den Leuten bewiesen, wie albern und verschwenderisch die alten Einrichtungen gewesen waren. Die Flugverbindungen wurden immer besser und schneller, so daß sich die erste Klasse einfach nicht mehr lohnte. Folglich zwängten sich die Leute in die Touristenklasse und hörten auf, sich über Rangunterschiede den Kopf zu zerbrechen - der Preis war zu hoch. Ziemlich bald wurde die Touristenklasse sogar ausgesprochen gesellschaftsfähig. Die feinsten Leute benutzten sie und erzählten einander über ihren Lunchkartons, die erste Klasse wäre nur noch etwas für Narren und Verschwender. Die Leute wissen ganz genau, was ihnen der Düsenverkehr liefert, nämlich ein leistungsfähiges, wirtschaftliches Programm. Und das gleiche fordern sie auch vom Hotelgeschäft.« Dodo suchte vergebens ein Gähnen hinter der Hand zu verbergen und drückte dann ihre Zigarette aus. Sofort stand Aloysius Royce neben ihr, bot ihr eine neue an und reichte ihr ein brennendes Streichholz. Sie lächelte warm, und der junge Neger lächelte zurück; es war ein Lächeln, das diskret sein Mitgefühl zum Ausdruck brachte. Gewandt und unauffällig ersetzte er die gebrauchten Aschenbecher auf dem Tisch durch neue, schenkte Dodo und danach den beiden Männern Kaffee nach und schlüpfte leise hinaus. »Sie haben da einen guten Mann, Warren«, bemerkte O'Keefe. »Er ist schon sehr lange bei mir«, erwiderte Warren Trent zerstreut. Auch er hatte Royce beobachtet und sich dabei gefragt, wie sein Vater auf die Nachricht, daß die Leitung des Hotels demnächst in andere Hände übergehen würde, reagiert hätte. Vermutlich mit einem Schulterzucken. Geld und Gut hatten dem kleinen alten Mann wenig bedeutet. Warren Trent konnte ihn fast mit seiner rauhen lebhaften Stimme sagen hören: Sie haben so lange Ihren Kopf durchgesetzt, daß ein paar schlechte Jahre vielleicht nur zu Ihrem Besten sind. Gott beugt unseren Rücken und demütigt unseren hochfahrenden Sinn, damit wir nicht vergessen, daß wir trotz unserer großmächtigen Ideen nur seine ungeratenen Kinder sind. Und dann hätte der alte Mann vielleicht in bewußter Inkonsequenz hinzugefügt: Aber wenn man an etwas glaubt, muß man dafür kämpfen. Wer tot ist, erschießt niemanden mehr, denn er kann nicht mehr zielen. Die Mahnung seines alten Freundes beherzigend, kämpfte Warren Trent weiter. »Wenn man Ihnen zuhört, bekommt alles, was mit einem Hotel zu tun hat, einen verdammt antiseptischen Beigeschmack. Ihren Hotels fehlt Wärme und Menschlichkeit. Sie sind für Automaten mit Lochkartenhirn und Schmieröl statt Blut.« O'Keefe hob die Schultern. »Sie werfen Dividenden ab.« »Finanziell mögen sie ein Erfolg sein, in menschlicher Beziehung betrachte ich sie als ein Unglück.« Die letzte Bemerkung ignorierend, sagte O'Keefe: »Bisher war nur vom derzeitigen Stand unseres Geschäfts die Rede. Gehen wir noch einen Schritt weiter. Ich habe von meiner Organisation einen Entwurf für die Zukunft ausarbeiten lassen. Vermutlich würden manche es als Vision bezeichnen, obwohl es viel mehr eine wohlüberlegte Projektion dessen ist, wie Hotels -wenigstens die des O'Keefe-Konzerns - in einigen Jahren beschaffen sein werden. Als erstes wird der Empfang vereinfacht; die Formalitäten dürfen höchstens ein paar Sekunden in Anspruch nehmen. Die Mehrzahl unserer Gäste wird direkt vom Flughafen in einem Hubschrauber ins Hotel befördert, so daß sich ein Empfangsschalter auf dem Dach direkt neben dem Landeplatz befindet. Andere Empfangsschalter befinden sich im Souterrain; dort werden die motorisierten Gäste abgefertigt; sie können mit dem Wagen direkt hineinfahren, so daß der heute übliche Umweg über die Halle wegfällt. An allen diesen Punkten gibt es von einem Elektronengehirn gesteuerte Verteileranlagen; nebenbei bemerkt wurden diese Geräte von IBM bereits entwickelt. Gäste, die ihr Zimmer im voraus bestellen, bekommen einen programmierten Schlüssel zugeschickt. Sie stecken ihn in einen Schlitz und werden sofort von einer in Streckenabschnitte geteilten >denkenden< Rolltreppe zu einem Zimmer befördert, das möglicherweise eben erst geräumt wurde. Sollte es noch nicht fertig sein - und auch das wird vorkommen«, gab O'Keefe zu, »genau wie heute -, dann haben wir kleine transportable Zwischenstationen. Das sind Kabinen mit zwei Stühlen, einem Waschbecken und Abstellplatz für das Gepäck, gerade groß genug, um sich nach einer Reise aufzufrischen und für sich allein zu sein. Man kann sie betreten und verlassen wie ein reguläres Zimmer, und meine Ingenieure arbeiten gegenwärtig an einem Schema, nach dem die Zwischenstationen so beweglich werden, daß sie sich später selbsttätig vor dem angewiesenen Zimmer einklinken. Der Gast braucht dann nur noch eine IBM-gesteuerte Tür zu öffnen und aus der Kabine in sein Zimmer zu treten. Für alle, die im eigenen Wagen eintreffen, wird es gleichartige Einrichtungen geben, mit programmierten Lichtsignalen, die sie zu ihrer eigenen Wagenbox dirigieren, von wo sie dann auf anderen >denkenden< Rolltreppen in ihre Zimmer gebracht werden. Wir werden auch die Gepäckabfertigung abkürzen durch Verwendung von Sortiermaschinen und Förderwerken; die Gepäckstücke werden so schnell in die einzelnen Zimmer geschleust, daß sie praktisch vor den Gästen dort eintreffen. Ebenso wird der gesamte Service durch ein vollautomatisiertes Zustellsystem vereinfacht - Zimmerkellner, Getränke, Speisen, Blumenhändler, Drugstore, Zeitungsstand; sogar die Rechnung kann auf diesem Wege in Empfang genommen und bezahlt werden. Und nebenbei, ganz abgesehen von anderen Vergünstigungen, fällt damit auch der Trinkgeldzwang weg, eine Tyrannei, die wir - und unsere Gäste - schon viel zu lange erduldet haben.« Schweigen senkte sich auf den getäfelten Speiseraum herab, als sich der Hotelmagnat mit einem Schluck Kaffee stärkte, bevor er wieder das Wort ergriff. »Meine Baupläne und die Vollautomatisierung werden es nahezu überflüssig machen, daß Gästezimmer von Hotelangestellten betreten werden müssen. Betten, die in die Wand zurückrollen, werden von außen maschinell bedient. Die Luftfilteranlagen sind bereits heute so weit vervollkommnet, daß Staub und Schmutz kein Problem mehr sind. Teppiche könnte man etwa auf Böden aus feinem Maschendraht verlegen, mit Luftraum darunter, der einmal am Tag abgesaugt wird, sobald sich ein Relais einschaltet. All dies und noch mehr läßt sich schon heute verwirklichen. Die restlichen Probleme, die wir natürlich auch lösen werden« -O'Keefe ging mit einer für ihn typischen geringschätzigen Handbewegung darüber hinweg -, »die restlichen Probleme sind hauptsächlich solche der Koordination, Konstruktion und Investierung.« »Ich kann nur hoffen, daß ich solche Veränderungen in meinem Hotel nicht mehr erlebe«, sagte Warren Trent energisch. »Sie werden sie nicht erleben«, erklärte O'Keefe. »Dazu müßte man Ihr Haus abreißen und völlig neu aufbauen.« »Das würden Sie tun!« rief Warren Trent schockiert. O'Keefe zuckte mit den Schultern. »Ich kann hier natürlich nicht alle meine zukünftigen Pläne aufdecken. Aber ich würde doch sagen, daß unsere Politik in nicht allzulanger Zeit darauf hinauslaufen dürfte. Falls Sie sich über das Fortleben Ihres Namens Gedanken machen, könnte ich Ihnen versprechen, daß wir im neuen Gebäude eine Tafel zur Erinnerung an das ursprüngliche Hotel und, wenn möglich, auch an Ihr Wirken anbringen.« »Eine Gedenktafel!« Der Besitzer des St. Gregory schnaubte verächtlich. »Wo würden Sie sie denn hinhängen - in die Herrentoilette?« Dodo kicherte plötzlich. Als die zwei Männer ihr unwillkürlich den Kopf zuwandten, sagte sie: »Vielleicht gibt's keine mehr. Ich meine, wer braucht so was noch bei all den Transportanlagen?« Curtis O'Keefe musterte sie scharf. Es gab immer wieder Augenblicke, wo er sich fragte, ob Dodo nicht vielleicht gescheiter war, als sie zugab. Warren Trent war vor Verlegenheit rot angelaufen. Nun sagte er höflich: »Bitte, entschuldigen Sie meine höchst unpassende Bemerkung, meine Gnädigste.« »Herrje, lassen Sie sich durch mich nicht stören«, antwortete Dodo verblüfft. »Jedenfalls finde ich das Hotel fabelhaft.« Sie richtete ihre großen, unschuldig dreinschauenden Augen auf Curtis O'Keefe. »Warum mußt du's abreißen, Curtie?« Er entgegnete gereizt: »Ich habe davon lediglich als von einer Möglichkeit gesprochen. Auf jeden Fall ist es an der Zeit, daß Sie sich aus dem Hotelgeschäft zurückziehen, Warren.« Im Vergleich zu dem bissigen Seitenhieb vor ein paar Minuten war die Antwort erstaunlich maßvoll. »Selbst, wenn ich dazu bereit wäre, müßte ich doch, außer an mich, auch an andere denken. Die meisten meiner alten Angestellten vertrauen mir genauso wie ich ihnen immer vertraut habe. Sie sagen mir, Sie hätten die Absicht, Menschen durch Maschinen zu ersetzen. Diese Vorstellung macht es mir unmöglich, aus dem Geschäft auszusteigen. So viel wenigstens schulde ich meinem Personal für die Loyalität, die es mir stets bewiesen hat.« »Sind Hotelangestellte jemals loyal? Würden denn nicht alle oder fast alle Sie noch in diesem Moment verkaufen, wenn sie sich einen Vorteil davon versprächen?« »Aber nein, ausgeschlossen. Ich leite dieses Haus seit über dreißig Jahren, und ein solcher Zeitraum schafft ein enges Loyalitätsverhältnis. Aber vielleicht haben Sie in dieser Richtung nicht so viele Erfahrungen gesammelt wie ich.« »Ich habe mir darüber meine eigene Meinung gebildet«, sagte O'Keefe geistesabwesend. Er ging in Gedanken den Bericht von Odgen Bailey und Sean Hall durch, den er am Vormittag gelesen hatte. Zwar hatte er Hall ermahnt, sich nicht zu sehr in Einzelheiten zu verlieren, aber nun kam ihm ein Detail, das in dem Gutachten angeführt war, zustatten. Er dachte angestrengt nach und sagte schließlich: »Sie haben doch einen alten Angestellten, der die Pontalba-Bar verwaltet, nicht wahr?« »Ja. Tom Earlshore. Er ist beinahe genauso lange im Hotel wie ich.« In gewissem Sinne verkörperte Tom Earlshore den Typ des alten Angestellten, den er nicht im Stich lassen konnte. Als er Earlshore engagierte, waren sie beide junge Männer, und heute gehörte der ältliche Barkeeper, obwohl er mit den Jahren krumm und bei der Arbeit langsamer geworden war, zu den Angestellten, die Warren Trent als persönliche Freunde betrachtete. Und wie einem Freund hatte er Tom Earlshore geholfen. Als Toms jüngste Tochter mit einer deformierten Hüfte geboren wurde, sorgte Warren Trent dafür, daß sie in die Mayo-Klinik geschickt und operiert wurde. Danach bezahlte er stillschweigend die Rechnungen, was Tom Earlshore zu Beteuerungen ewiger Dankbarkeit und Treue veranlaßte. Earlshores Jüngste war nun eine verheiratete Frau mit eigenen Kindern, aber das Band zwischen ihrem Vater und dem Hotelbesitzer bestand unverändert weiter. »Wenn es einen Menschen gibt, dem ich blind vertraue«, sagte er zu Curtis O'Keefe, »dann ist es Tom.« »Sie wären ein Narr, wenn Sie das täten«, antwortete O'Keefe beißend. Ich weiß positiv, daß er Sie bis zum Weißbluten betrügt.« Als Trent entsetzt schwieg, begann O'Keefe auszupacken. Es gab unendlich viele Möglichkeiten für einen unredlichen Barkeeper, seinen Arbeitgeber zu bestehlen - indem er schlecht ausschenkte und bei jeder Flasche ein bis zwei Drinks gutmachte; indem er nicht jede Bestellung über die Registrierkasse laufen ließ; indem er seine eigenen, unter der Hand gekauften Vorräte in die Bar einschmuggelte, so daß eine Bestandsaufnahme zwar kein Defizit aufweisen würde, die Einnahmen jedoch - mit erheblichem Profit - in die Tasche des Bartenders wanderten. Tom Earlshore schien sich aller drei Methoden bedient zu haben. Außerdem hatten Sean Halls Beobachtungen, die sich über mehrere Wochen erstreckten, ergeben, daß Earlshores zwei Gehilfen mit ihm unter einer Decke steckten. »Ein hoher Prozentsatz Ihrer Gewinne aus der Bar wird abgeschöpft«, erklärte O'Keefe, »und nach allem, was ich sonst gehört habe, würde es mich nicht wundem, wenn das nicht schon eine ganze Weile so geht.« Warren Trent hatte dem Bericht reglos, mit ausdrucksloser Miene gelauscht, obwohl er innerlich heftig bewegt und erbittert war. Trotz des Vertrauens, das er Tom Earlshore entgegengebracht, und ihrer langjährigen Freundschaft, an die er geglaubt hatte, bezweifelte er nicht im mindesten, daß O'Keefes Informationen der Wahrheit entsprachen. Er hatte zu viel von den Spionagetricks der großen Hotelkonzerne gehört, um nicht überzeugt zu sein, und außerdem hätte Curtis O'Keefe die Anschuldigung ohne ausreichende Beweise wohl kaum geäußert. Warren Trent argwöhnte seit langem, daß sich O'Keefes Spitzel vor der Ankunft ihres Chefs ins St. Gregory eingeschlichen hatten. Mit dieser ätzenden persönlichen Demütigung hatte er allerdings nicht gerechnet. »Sie sagten, nach allem, was Sie sonst gehört haben... was meinten Sie damit?« »Ich möchte damit sagen, daß Ihr angeblich so loyales Personal bis in die Knochen korrumpiert ist. Es gibt kaum eine Abteilung, in der man Sie nicht ausbeutet und betrügt. Meine Informationen sind natürlich lückenhaft, aber was ich an Material habe, überlasse ich Ihnen gern. Wenn Sie es wünschen, fordere ich einen detaillierten Bericht an.« »Danke.« Die Antwort war ein kaum vernehmbares Flüstern. »Die Leute, die für Sie arbeiten, sind zu fett. Das war das erste, was mir bei der Ankunft auffiel. Ich habe das von jeher als Warnsignal betrachtet. Sie haben sich den Bauch mit gutem Hotelessen vollgestopft. Außerdem plündert man Sie aus, was das Zeug hält.« Die Stille in dem kleinen Speisezimmer wurde nur vom gedämpften Ticken einer holländischen Wanduhr unterbrochen. Nach einer Weile sagte Warren Trent mühsam und mit einem Anflug von Müdigkeit: »Was Sie mir eben mitgeteilt haben, dürfte meine Einstellung ändern.« »Das dachte ich mir.« Curtis O'Keefe machte Anstalten, sich die Hände zu reiben, besann sich aber gerade noch rechtzeitig. »Nun, da wir diesen Punkt erreicht haben, wäre es mir lieb, wenn Sie mein Angebot in Erwägung ziehen würden.« Warren Trent erwiderte trocken: »Mir hat geschwant, daß das kommen würde.« »Es ist ein faires Angebot, besonders unter den gegenwärtigen Umständen. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, daß ich über Ihre derzeitige finanzielle Lage im Bilde bin.« »Das überrascht mich nicht.« »Lassen Sie mich kurz zusammenfassen: Ihr persönlicher Anteil an diesem Hotel beträgt einundfünfzig Prozent des Aktienkapitals; damit haben Sie die Kontrolle.« »Richtig.« »Im Jahre 1939 haben Sie das Hotel neu finanziert - mit einer Hypothek von vier Millionen Dollar. Davon sind zwei Millionen noch nicht beglichen und am Freitag fällig. Falls Sie nicht zahlen, übernehmen die Gläubiger das Hotel.« »Stimmt auch« »Vor vier Monaten versuchten Sie die Hypothek zu erneuern. Man wies Sie ab. Sie boten den Gläubigern bessere Bedingungen, aber auch darauf gingen sie nicht ein. Seitdem sind Sie auf der Suche nach anderen Geldgebern. Erfolglos. Und in den paar Tagen, die Ihnen noch bleiben, haben Sie nicht die mindeste Chance, noch jemanden aufzutreiben.« »Das kann ich nicht akzeptieren«, knurrte Warren Trent. »Derartige Transaktionen werden häufig kurzfristig arrangiert.« »Nein, eben nicht. Und ganz besonders dann nicht, wenn die Verluste so hoch sind wie bei Ihnen.« Warren Trent kniff die Lippen zusammen, sagte jedoch nichts. »Ich erbiete mich, Ihnen das Hotel für vier Millionen Dollar abzukaufen«, erklärte O'Keefe. »Zwei Millionen werden erzielt durch Erneuerung der Hypothek, und ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu versichern, daß es mir ein leichtes sein wird, das in die Wege zu leiten.« Trent nickte, die unverhohlene Selbstzufriedenheit des anderen verdrießlich zur Kenntnis nehmend. »Die Restsumme setzt sich zusammen aus einer Million Dollar in bar, die es Ihnen ermöglicht, Ihre kleinen Aktionäre auszuzahlen, und einer Million Dollar in Aktien des O'Keefe-Konzerns - eine Neuauflage, die noch geregelt werden muß. Außerdem behalten Sie, als zusätzliche persönliche Entschädigung, das Nutzungsrecht über Ihre Wohnung, mit der ausdrücklichen Versicherung meinerseits, daß - sollten sich Umbauten nicht vermeiden lassen - eine andere, alle Teile befriedigende Lösung gefunden wird.« Der Besitzer des St. Gregory saß reglos da; sein Gesicht verriet weder seine Gedanken noch seine Überraschung. Die Bedingungen waren besser, als er erwartet hatte. Falls er sie akzeptierte, blieb ihm persönlich etwa eine Million Dollar -keine kleine Errungenschaft; damit konnte man sich nach einem arbeitsamen Leben guten Gewissens zur Ruhe setzen. Aber sich zur Ruhe setzen bedeutete wegzugehen, alles zu verlassen, was er aufgebaut und geliebt hatte oder - dachte er grimmig - was er zum mindesten bis vor ein oder zwei Minuten zu lieben glaubte. »Ich könnte mir vorstellen«, meinte O'Keefe, der sich bemüßigt fühlte, einen heiteren Ton anzuschlagen, »daß Ihr Leben hier in der gewohnten Umgebung recht erträglich sein dürfte. Sie hätten keine Sorgen, Ihr Diener würde Sie betreuen wie bisher.« Warren Trent hielt es für überflüssig, zu erklären, daß Aloysius Royce demnächst sein Jurastudium beendete und aller Voraussicht nach andere Pläne für seine Zukunft hatte. Er erinnerte ihn jedoch daran, daß er hier oben in seinem Horst, in einem Hotel, das ihm nicht mehr gehörte, sehr einsam sein würde. »Angenommen, ich weigere mich, zu verkaufen«, sagte er unvermittelt. »Was würden Sie dann tun?« »Ich würde mich nach einem anderen Grundstück umsehen und bauen. Ich glaube allerdings, daß Sie Ihr Hotel längst verloren haben, bevor es dazu kommt. Andernfalls wird unsere Konkurrenz Sie endgültig matt setzen.« O'Keefe sprach in gewollt gleichgültigem Ton, aber sein Verstand war hellwach und mit Überlegungen beschäftigt. In Wirklichkeit lag dem O'Keefe-Konzern ungeheuer viel am St. Gregory. Bisher fehlte ihm ein Stützpunkt in New Orleans, und das war wie eine Zahnlücke in dem sonst so kräftigen Gebiß, mit dem sich der Konzern sein Stück vom Touristenkuchen erschnappte. Die Lücke hatte sich schmerzlich bemerkbar gemacht durch den Verlust von Referenzgeschäften von und nach anderen Städten - dem lebensspendenden Sauerstoff eines erfolgreichen Hotelkonzerns. Sehr beunruhigend war auch, daß Konkurrenzunternehmen die Lücke gewinnbringend ausnutzten. Das Sheraton-Charles bestand seit langem. Hilton betrieb nicht nur das Flughafenrestaurant, sondern baute auch im Vieux Carre. Das Royal Orleans gehörte der Hotel Corporation of America. Auch die Bedingungen, die Curtis O'Keefe Warren Trent geboten hatte, waren durchaus realistisch. Die Gläubiger des St. Gregory waren von einem Abgesandten O'Keefes vorsichtig sondiert worden und hatten sich als äußerst wenig entgegenkommend erwiesen. Es zeigte sich schnell, daß sie beabsichtigten, zunächst die Kontrolle über das Hotel an sich zu reißen, um dann beim Verkauf möglichst viel herauszuschlagen. Wenn das St. Gregory überhaupt zu einem vernünftigen Preis zu haben war, dann jetzt. »Wieviel Bedenkzeit würden Sie mir einräumen?« fragte Warren Trent. »Es wäre mir lieber, wenn ich Ihre Antwort sofort bekäme.« »Darauf bin ich nicht vorbereitet.« »Nun denn...« O'Keefe dachte nach. »Am Samstag muß ich in Neapel sein. Ich möchte nicht später als Donnerstag abend von hier abreisen. Wie wär's, wenn wir uns auf Donnerstag mittag einigten?« »Das sind weniger als achtundvierzig Stunden!« »Ich sehe keinen Anlaß, länger zu warten.« Eigensinn machte Warren Trent geneigt, auf einer längeren Bedenkzeit zu bestehen. Aber seine Vernunft sagte ihm, daß er durch den Aufschub nichts gewann, da der Freitag für ihn ohnehin der letzte Termin war. Er willigte ein. »Wenn Sie darauf beharren, muß ich mich wohl fügen.« »Fein!« Mit einem breiten Lächeln schob O'Keefe seinen Stuhl zurück und nickte Dodo zu, die Warren Trent mit teilnahmsvoller Miene beobachtet hatte. »Es wird Zeit für uns, meine Liebe. Es war ein genußreicher Abend, Warren.« Die anderthalb Tage Wartezeit waren lästig, aber kein Unglück, dachte der Hotelmagnat. Schließlich konnte kein Zweifel darüber bestehen, wie Trents Antwort ausfallen würde. An der Tür zum Korridor wandte Dodo ihre großen blauen Augen dem Gastgeber zu. »Vielen Dank, Mr. Trent.« Er nahm ihre Hand und beugte sich darüber. »Es ist lange her, daß diese alten Räume von so viel Liebreiz erhellt wurden.« O'Keefe, der die Aufrichtigkeit des Kompliments bezweifelte, blickte hastig zur Seite, wurde jedoch sogleich eines Besseren belehrt. Trent meinte es ernst. Auch das war merkwürdig an Dodo: Manchmal verstand sie sich, offenbar ganz instinktiv, mit den unwahrscheinlichsten Leuten. Als sie im Korridor die Hand unter seinen Arm schob, spürte er, wie sich seine Sinne regten. Aber er sagte sich mahnend, daß er zuerst beten und, wie es sich gebührte, Gott seinen Dank abstatten mußte für den erfolgreichen Abend. 14 »Es ist ausgesprochen spannend, wenn ein Mädchen in seiner Handtasche nach dem Wohnungsschlüssel kramt«, bemerkte Peter McDermott. »Und es ist außerdem ein zwiefaches Symbol«, sagte Christine und suchte weiter. »Die eigene Wohnung ist ein Beweis für die Unabhängigkeit der Frauen, aber am Verschlampen des Schlüssels zeigt sich, daß sie noch ein paar weibliche Eigenschaften übrigbehalten haben. Hier! Ich hab' ihn gefunden!« »Halten Sie ihn schön fest.« Peter nahm Christine bei den Schultern und küßte sie. Es war ein langer Kuß, und am Ende lag Christine in Peters Armen. Schließlich sagte sie ziemlich atemlos: »Die Miete ist bezahlt. Wenn wir schon solche Absichten haben, dann wenigstens unter Ausschluß der Öffentlichkeit in meinen eigenen vier Wänden.« Peter nahm ihr den Schlüssel aus der Hand und sperrte die Wohnungstür auf. Christine legte ihre Tasche auf ein Seitentischchen und sank auf das Sofa. Mit einem erleichterten Aufatmen streifte sie ihre engen Lacklederpumps ab. »Zigarette?« Er setzte sich neben sie. »Ja, bitte.« Ein Gefühl freudiger Erwartung und leichter Benommenheit erfüllte ihn. Er war sich der Situation überdeutlich bewußt und spürte, daß alles, was zwischen ihnen geschehen mußte, noch heute geschehen würde, falls er es so wollte. »Das ist wohltuend«, sage Christine. »Einfach bloß dazusitzen und zu reden.« »Aber wir reden ja gar nicht.« Er griff nach ihrer Hand. »Dann sagen Sie doch was.« »Reden war eigentlich nicht das, was -« »Ich weiß. Fragt sich nur, wohin wir gehen und ob überhaupt und warum.« »Könnten wir nicht einfach den Dingen ihren Lauf lassen... « »Dann wäre es kein Spiel. Nur eine Gewißheit.« Sie verstummte und dachte nach. »Das war eben der zweite Kuß, und etwas Chemisches hat da unbedingt mitgespielt.« »Also, ich finde, was das betrifft, waren wir auf dem besten Wege.« »Wir brauchten also nur die natürliche Entwicklung abzuwarten.« »Freilich, und da bin ich Ihnen schon meilenweit voraus.« »Im Bett, vermute ich.« Er sagte träumerisch: »Ich habe die linke Hälfte genommen -wenn man mit Blickrichtung zum Kopfende steht.« »Ich fürchte, ich habe eine Enttäuschung für Sie.« »Sagen Sie's nicht. Lassen Sie mich raten. Sie haben vergessen, sich die Zähne zu putzen. Macht nichts, ich warte.« Sie lachte. »Mit Ihnen kann man nicht reden...« »Reden war eigentlich nicht das, was...« »Ich weiß, und damit sind wir wieder am Anfang angelangt.« Peter lehnte sich zurück und blies ein, zwei, drei Rauchringe in die Luft. »Das wollte ich auch immer, aber ich hab's nie geschafft«, sagte Christine. »Was für eine Enttäuschung?« fragte er. »Es ist nur so ein Gedanke. Ich finde, falls... das geschieht, was geschehen könnte, dann sollte es uns beiden eigentlich etwas bedeuten.« »Und würde es Ihnen denn etwas bedeuten?« »Ich glaube schon. Ich bin mir nicht sicher.« Wie sie auf das, was nun kam, reagieren würde, wußte sie noch weniger. Er machte seine Zigarette aus, griff dann nach Christines Zigarette und drückte sie auch aus. Als er ihre Hände in seine nahm, spürte sie, wie ihre Selbstsicherheit zerbröckelte. »Wir müssen uns kennenlernen.« Sein Blick forschte in ihrem Gesicht. »Worte sind nicht immer das beste Mittel.« Seine Arme streckten sich ihr entgegen, und sie kam zu ihm, zuerst fügsam sich seinen Küssen unterwerfend, dann mit wachsender Erregung. Sie stieß verlangende, unzusammenhängende Laute aus; ihre Besonnenheit schwand dahin, alle Vorbehalte lösten sich in nichts auf. Zitternd und mit Herzklopfen sagte sie sich, daß nun alles seinen Lauf nehmen mußte; weder Zweifel noch Einwände würden jetzt noch etwas ändern. Sie konnte Peters hastige Atemzüge hören und schloß die Augen. Eine Pause, und dann waren sie plötzlich nicht mehr nahe beieinander. »Es gibt manchmal Dinge, an die man sich erinnert, und die im unpassendsten Moment mit einmal auftauchen«, sagte Peter und nahm sie wieder in die Arme, aber weniger stürmisch als eben. »Du hattest ganz recht«, sagte er sanft. »Wir haben ja Zeit.« Er küßte sie sanft, und dann entfernten sich seine Schritte. Christine hörte, wie sich die Wohnungstür öffnete und einen Moment später schloß. Sie machte die Augen auf und flüsterte: »Peter, Liebster, du brauchst nicht zu gehen. Bitte, geh nicht!« Aber um sie war Stille; nur das gedämpfte Surren des Lifts drang von draußen herein. 15 Der Dienstag war fast vorüber. Es war einige Minuten vor Mitternacht. In einem Striptease-Lokal in der Bourbon Street preßte sich eine breithüftige Blondine dichter an ihren Partner; ihre eine Hand lag auf seinem Oberschenkel, mit der anderen tätschelte sie ihm den Nacken. »Klar«, sagte sie. »Klar möchte ich gern mit dir ins Bett gehen, Süßer.« Er wär' Stan Dingsbums, hatte er gesagt, aus einem Kaff in Iowa, von dem sie noch nie etwas gehört hatte. Und wenn er mir nochmal seinen Atem ins Gesicht pustet, dachte sie, dann muß ich kotzen. Der riecht nicht aus dem Mund; der hat eine direkte Leitung zur Senkgrube. »Worauf warten wir dann noch?« lallte der Mann mit dicker Stimme. Er nahm ihre Hand und schob sie an der Innenseite seines Schenkels höher. »Ich hab' hier was Besonderes für dich, Baby.« Die Kerle waren alle gleich, dachte sie verächtlich, Bauerntölpel, die das Maul aufrissen und sich einbildeten, das Ding zwischen ihren Beinen wäre was Außergewöhnliches, etwas, worauf Frauen ganz versessen waren. Sie taten immer so blödsinnig stolz damit, als hätten sie es selbst gezüchtet wie eine preisgekrönte Gurke. Falls man es aber wirklich auf einen Versuch ankommen ließ, dann hatte der Bursche hier höchstwahrscheinlich nichts im Spind und würde nur winseln wie die anderen. Aber sie dachte gar nicht daran, ihn auf die Probe zu stellen. Mein Gott - wie der Kerl aus dem Mund stank. Einige Meter von ihrem Tisch entfernt beendete die Jazz Combo, die zu dilettantisch war, um in den besseren BourbonStreet-Lokalen wie »Famous Door« und »Paddock« Arbeit zu finden, ihre Nummer mit einem holprigen Schlußakkord. Als Tänzerin - falls man ihr unbeholfenes Gehopse als Tanz bezeichnen konnte - hatte sich eine Jane Mansfield produziert. (Es gehörte zu den Geschäftstricks der Bourbon Street, die Namen berühmter Stars mit unerheblichen Schreibfehlern zu versehen und unbekannte Künstlerinnen mit ihnen zu schmücken, in der Hoffnung, Passanten könnten die falsche Ware für die echte halten.) »Hör mal«, sagte der Mann aus Iowa ungeduldig, »warum hauen wir nicht endlich ab?« »Ich hab's dir doch schon erklärt, Schatz. Ich arbeite hier. Ich kann noch nicht gehen. Ich hab' noch einen Auftritt.« »Scheiß auf deinen Auftritt!« »Also, Süßer, das ist aber nicht nett.« Als sei ihr plötzlich eine Erleuchtung gekommen, fragte die breithüftige Blondine: »In welchem Hotel wohnst du?« »Im St. Gregory.« »Das ist nicht weit von hier.« »Stimmt. Kannst in fünf Minuten deine Schlüpfer runter haben.« Sie sagte vorwurfsvoll: »Krieg' ich nicht vorher wenigstens noch einen Drink?« »Aber sicher! Los, gehen wir.« »Wart' mal, Stanley, Liebling! Ich hab' eine Idee.« Alles lief glatt, dachte sie, wie in einem gutgezimmerten Einakter. Und warum auch nicht? Sie hatte die Vorstellung schon an die tausendmal durchexerziert. Seit anderthalb Stunden war Stan Dingsbums aus Dingsda ein williges Opfer der abgenutzten alten Routine: der erste Drink - eine Art Versuchsballon, der ihn viermal soviel kostete wie in einer soliden Bar. Dann hatte der Kellner sie herübergelotst, damit der Gast Gesellschaft hatte. Man hatte ihnen einen Drink nach dem anderen serviert. Allerdings hatte sie, wie die anderen Mädchen, die auf Kommission arbeiteten, kalten Tee getrunken statt des billigen Whiskys, den die Kunden vorgesetzt bekamen. Später hatte sie dem Kellner einen Wink gegeben, mit der vollen Behandlung zu beginnen - das war eine Flasche gespritzter einheimischer Champagner, die, obwohl der Dummkopf Stanley das noch nicht wußte, vierzig Dollar kosten würde - und er sollte nur mal versuchen, sich vor dem Zahlen zu drücken! Nun brauchte sie ihn bloß noch los zu werden, und vielleicht sprang dabei, wenn sie die Sache richtig anfing, noch ein kleiner Nebenverdienst für sie heraus. Schließlich stand ihr eine Art Bonus dafür zu, daß sie seinen stinkenden Atem so lange ertragen hatte. »Was für eine Idee, Baby?« fragte er. »Laß mir deinen Zimmerschlü ssel da. Du kannst dir im Hotel einen anderen geben lassen; sie haben immer welche in Reserve«. Sie knetete seinen Oberschenkel. »Sobald ich hier fertig bin, komm' ich nach. Sorg nur dafür, daß ich nicht umsonst komme.« »Keine Bange.« »Okay. Gib mir den Schlüssel.« Er holte ihn hervor, gab ihn aber nicht her. »He«, sagte er zweifelnd, »legst du mich auch bestimmt nicht herein... « »Aber nein, Süßer, ich werde fliegen, das verspreche ich dir.« Ihre Hand drückte wieder zu. Das widerliche Ferkel würde sich vermutlich in einer Minute die Hosen naß machen. »Schließlich, Stan, welches Mädel wäre nicht wild drauf?« Er lieferte ihr den Schlüssel aus. Bevor er es sich anders überlegte, hatte sie den Tisch verlassen. Den Rest konnte der Kellner erledigen, mit Hilfe eines Muskelmannes, falls Schlechter-Mundgeruch wegen der hohen Rechnung Schwierigkeiten machte. Aber er würde vermutlich wie ein Lamm bezahlen und nicht wiederkommen. Solche wie er kamen nie wieder. Sie fragte sich, wie lange er in seinem Hotelzimmer wach liegen und auf sie warten, und wann er endlich begreifen würde, daß er vergebens hoffte, daß er sie nie wiedersehen würde, selbst wenn er für den Rest seines nutzlosen Lebens dort bliebe. Etwa zwei Stunden später, am Ende eines Tages, der genauso trübselig verlaufen war wie die meisten anderen - nur daß er ihr ein bißchen mehr eingebracht hatte, und das war immerhin ein Trost -, verkaufte die breithüftige Blondine den Schlüssel für zehn Dollar an Keycase Milne. MITTWOCH 1 Als ein neuer Morgen über New Orleans heraufdämmerte und den Himmel mit den ersten grauen Streifen sprenkelte, saß Keycase - erfrischt, wach und einsatzbereit - auf dem Bett in seinem Zimmer im St. Gregory. Er hatte den Nachmittag des vergangenen Tages bis zum Abend fest durchgeschlafen. Dann hatte er vom Hotel aus einen kleinen Streifzug unternommen, von dem er gegen zwei Uhr nachts zurückgekehrt war. Danach hatte er wieder anderthalb Stunden geruht und sich pünktlich zur vorgesehenen Zeit erhoben. Er hatte sich rasiert, warm geduscht und schließlich den Hahn der Brause kalt aufgedreht. Unter dem eisigen Wasserstrahl prickelte seine Haut und begann zu glühen, als er sich kräftig abfrottierte. Vor jedem professionellen Ausflug gehörte es zu seinem Ritual, frische Unterwäsche und ein reines gestärktes Oberhemd anzuziehen. Die angenehme Kühle der Wäsche vervollständigte gewissermaßen das Gefühl äußerster Anspannung, das wie eine Batterie seine Kraft speiste. Wenn ihn dennoch sekundenlang Zweifel beschlich, ein Anflug lähmender Angst beim Gedanken an die fünfzehn Jahre Gefängnis, die ihm bei der nächsten Verhaftung sicher waren -, dann verbannte er ihn energisch. Der Gedanke, wie glatt die Vorbereitungen abgelaufen waren, verschaffte ihm mehr Befriedigung. Seit seiner Ankunft hatte sich die Zahl der Schlüssel von drei auf fünf erhöht. Einen davon hatte er am Abend zuvor auf die denkbar einfachste Art und Weise ergattert, indem er beim Empfang darum bat. Seine eigene Zimmernummer war 830. Er hatte den Schlüssel von 803 verlangt. Bevor es soweit war, hatte er einige elementare Vorsichtsmaßregeln getroffen. Er hatte sich vergewissert, daß der Schlüssel von 803 an seinem Haken hing und daß das Fach darunter keine Post oder sonstige Nachrichten enthielt. In diesem Falle hätte er gewartet, da der Empfangschef beim Aushändigen der Post den Schlüsseleigentümer nach ihrem Namen zu fragen pflegte. So lungerte er nur herum, bis der Andrang vorm Empfang stärker wurde, und reihte sich dann in die Menschenschlange ein. Der Schlüssel wurde ihm ohne weiteres ausgeliefert. Wäre etwas schiefgegangen, so hätte er glaubhaft erklärt, daß er die beiden Nummern verwechselt habe. Er sagte sich, daß die Mühelosigkeit, mit der sich alles abgewickelt hatte, ein gutes Omen sein mußte. Sobald die Angestellten am Empfang abgelöst worden waren, würde er sich noch die Schlüssel von Zimmer 380 und 930 besorgen. Auch eine andere Schlüsselquelle hatte sich als ergiebig erwiesen. Vor zwei Nächten hatte er durch einen zuverlässigen Verbindungsmann gewisse Abmachungen mit einem Animiermädchen in der Bourbon Street getroffen. Sie hatte ihm den fünften Schlüssel gegeben, mit dem Versprechen, noch mehr zu liefern. Nur der Bahnhof hatte sich - obwohl Keycase die Abfahrt mehrerer Züge abgewartet hatte - als aufgelegte Pleite entpuppt. Da ihm das schon öfter passiert war, beschloß Keycase, von der Erfahrung zu profitieren. Bahnreisende waren offensichtlich konservativer als Flugreisende und gingen achtsamer mit Hotelschlüsseln um. In Zukunft würde er Bahnhöfe von seinem Programm streichen. Er sah auf die Uhr. Es bestand kein Grund, den Aufbruch noch länger hinauszuzögern, aber es war ihm merkwürdig zuwider, sich von dem Bett, auf dem er saß, zu rühren. Er gab sich einen Ruck und traf die letzten Vorbereitungen. Im Bad wartete bereits ein halbes Glas Scotch auf ihn. Er gurgelte mit dem Whisky, ohne auch nur einen Tropfen hinunterzuschlucken, und spuckte ihn dann ins Waschbecken. Dann griff er nach einer zusammengefalteten Zeitung - der Frühausgabe der heutigen »Times-Picayune«, die er gestern nacht gekauft hatte - und steckte sie sich unter den Arm. Zum Schluß klopfte er seine Taschen ab, auf die er die Kollektion von Schlüsseln systematisch verteilt hatte, und verließ das Zimmer. Auf Kreppsohlen schlich er geräuschlos die Personaltreppe hinunter. Rasch, aber nicht hastig, strebte er der zwei Stockwerke tiefer liegenden sechsten Etage zu. Auf dem Gang warf er einen unauffälligen Blick nach links und rechts, wobei er - für den Fall, daß man ihn beobachtete - eine harmlose Miene zur Schau trug. Der Korridor lag still und wie ausgestorben da. Keycase hatte den Hotelplan und die Reihenfolge der Zimmer genau im Kopf. Den Schlüssel der Nummer 641 lose in der Hand haltend, steuerte er gemächlich die Richtung an, in der, wie er wußte, das Zimmer lag. Es war der erste Schlüssel, der vom Moisant-Flughafen; denn Keycase hatte einen methodischen Verstand. Nun hatte er die Tür der Nummer 641 unmittelbar vor sich. Er hielt an. Kein Lichtschein drang unter ihr hervor, kein Laut drang aus dem Inneren. Er nahm Handschuhe aas der Tasche und streifte sie über. Er spürte, wie seine Sinne sich schärften. Behutsam steckte er den Schlüssel ins Schloß und sperrte auf. Die Tür öffnete sich unhörbar. Er zog den Schlüssel heraus, trat ein und machte die Tür vorsichtig hinter sich zu. Fahles Dämmerlicht milderte die Finsternis im Inneren des Raums. Keycase blieb stehen, um sich zu orientieren und seine Augen an das Halbdunkel zu gewöhnen. Es gab mehrere Gründe, warum erfahrene Hoteldiebe gerade die Morgendämmerung bei ihren Beutezügen begünstigten. Um diese Tageszeit war es gerade hell genug, um Hindernisse zu sehen und ihnen aus dem Weg gehen zu können, aber andererseits noch dunkel genug, um notfalls unbemerkt zu entkommen. Außerdem war es der tote Punkt im Leben eines jeden Hotels - die Wachsamkeit der Nachtschicht ließ nach, je mehr sich ihr Dienst dem Ende zuneigte; und die Frühschicht war noch nicht eingetroffen. Die Gäste - selbst späte Nachtschwärmer und andere Unentwegte - hatten sich in ihre Zimmer begeben und schliefen vermutlich längst. Auch verlieh die Morgendämmerung ein Gefühl der Sicherheit, als seien die Fährnisse der Nacht endgültig vorüber. Unmittelbar vor sich konnte Keycase den Umriß eines Toilettentisches erkennen. Rechts im Dunkeln befand sich das Bett. Tiefe, regelmäßige Atemzüge ließen darauf schließen, daß der rechtmäßige Inhaber des Zimmers fest schlummerte. Ein Toilettentisch war stets der erste und sicherste Tip, wenn man auf das Geld aus war. Keycase setzte sich in Bewegung, den Boden vor sich mit den Füßen abtastend nach allem, worüber er stolpern könnte. Er streckte den Arm aus und berührte den Toilettentisch. Seine Fingerspitzen glitten tastend über die Tischplatte. Zuerst stieß er auf ein Häuflein Kleingeld. Münzen interessierten ihn nicht; sie machten beim Wegstecken zuviel Lärm. Aber wo Kleingeld war, gab es höchstwahrscheinlich auch eine Brieftasche. Da! Keycase hatte sie gefunden, und sie fühlte sich erfreulich prall an. Im Zimmer blitzte grelles Licht auf. Es geschah so plötzlich - ohne ein Geräusch, das ihn gewarnt hätte -, daß seine Geistesgegenwart, auf die er so stolz war, ihn völlig im Stich ließ. Seine erste Reaktion war ganz instinktiv. Er ließ die Brieftasche los und fuhr schuldbewußt herum. Der Mann, der die Nachttischlampe angeknipst hatte, trug einen Pyjama und saß aufrecht im Bett. Er war ziemlich jung, muskulös und sehr erbost. »Was, zum Teufel, haben Sie hier zu suchen?« fragte er aufgebracht. Keycase stand da, mit blöd aufgerissenen Augen, und bekam kein Wort heraus. Später sagte er sich, daß der Schläfer vermutlich auch ein oder zwei Sekunden brauchte, um sich zu fassen, und daß ihm deshalb das ertappte Herumfahren seines Besuchers entging. Aber im Moment begriff Keycase nur, daß er einen kostbaren Vorsprung eingebüßt hatte, und raffte sich verspätet zum Handeln auf. Schwankend, wie ein Betrunkener, blubberte er beleidigt: »Was meinen Sie damit, was ich hier zu suchen hab'? Wie kommen Sie überhaupt in mein Bett?« Er streifte sich verstohlen die Handschuhe ab. »Hol Sie der Henker! Das ist mein Bett. Und mein Zimmer!« Keycase taumelte auf das Bett zu und blies dem anderen seinen whiskygeschwängerten Atem ins Gesicht. Er sah wie der Mann angewidert zurückwich. Sein Verstand arbeitete nun schnell und eiskalt, wie immer, wenn es hart auf hart ging. Er hatte sich schon aus schlimmeren Situationen herausgewunden. Er wußte, daß es nun an der Zeit war, in die Defensive zu gehen, weil der rechtmäßige Inhaber des Zimmers es sonst mit der Angst bekam und womöglich Hilfe herbeirief. Der Mann, mit dem er es diesmal zu tun hatte, sah allerdings so aus, als könnte er sehr gut allein für sich einstehen. »Ihr Zimmer?« fragte Keycase verdutzt. »Wissen Sie das genau?« Der Mann im Bett war wütender denn je. »Du lausiger Saukopf! Natürlich weiß ich's genau!« »Ist das nicht die 614?« »Nein, du Hammel! Es ist die 641.« »Tschuldigung, Alter. Schätze, ich habe mich vertan.« Keycase zog die Zeitung, die er bei sich trug, um den Eindruck zu erwecken, daß er von draußen käme, unter dem Arm hervor. »Hier - das ist die Frühausgabe. Sonderschu... Sonderzustellung.« »Ich will deine gottverdammte Zeitung nicht! Nimm sie und hau ab!« Es hatte geklappt! Die wohlüberlegte Ausflucht hatte sich wieder einmal bewährt. »Tut mir wirklich leid, Alter. Okay, okay, ich geh' ja schon.« Er zog sich in Richtung Tür zurück. Er war beinahe draußen; der Mann im Bett funkelte ihn noch immer zornig an. Er benutzte einen zusammengefalteten Handschuh, um den Türknopf zu drehen. Dann hatte er es geschafft. Erleichtert zog er die Tür hinter sich zu. Angespannt lauschend, hörte er, wie der Mann drinnen aus dem Bett stieg, durchs Zimmer tappte und mit einem Rasseln die Sicherheitskette vorlegte. Keycase rührte sich nicht vom Fleck. Volle fünf Minuten lang stand er im Korridor und wartete, ob der Mann mit dem Empfang telefonierte. Das zu erfahren, war wesentlich. Dann mußte Keycase sofort in sein Zimmer zurückkehren, bevor Alarm gegeben wurde. Aber es war kein Laut zu vernehmen, kein Klingeln, kein Surren der Drehscheibe. Die unmittelbare Gefahr war gebannt. Später jedoch würde die Sache vermutlich anders aussehen. Wenn Mr. 641 von neuem erwachte, im strahlenden Licht des Morgens, würde er sich an den nächtlichen Zwischenfall erinnern. Während er darüber nachdachte, würde er sich vielleicht einige Fragen vorlegen. Zum Beispiel: Angenommen, jemand hatte sich wirklich in der Zimmernummer geirrt, wieso kam es dann, daß der Schlüssel paßte? Und warum war er im Dunkeln geblieben und hatte nicht das Licht angeknipst. Dann war da noch Keycases schuldbewußtes Verhalten ganz am Anfang. Ein intelligenter, wohlausgeruhter Mann konnte diesen Teil der Szene womöglich rekonstruieren und sich einen Reim darauf machen. Auf jeden Fall wäre das Ganze Grund genug zu einem empörten Anruf bei der Hotelleitung. Die Hotelleitung - vertreten durch einen Hausdetektiv -würde sich über die Sachlage sofort im klaren sein. Eine Routineuntersuchung würde folgen. Man würde sich den Bewohner von 614 vorknöpfen und ihn, womöglich, dem Bewohner von 641 gegenüberstellen. Beide würden versichern, daß sie einander noch nie gesehen hätten. Den Hausdetektiv würde das nicht überraschen, aber es würde seinen Verdacht bestätigen, daß ein professioneller Hoteldieb am Werk war. Die Nachricht würde sich schnell herum sprechen. Bevor Keycase seine Kampagne richtig gestartet hatte, würde das gesamte Hotelpersonal gewarnt sein und die Augen offenhalten. Man mußte auch damit rechnen, daß sich das Hotel an die Polizei wandte. Die wiederum würde den FBI um Auskünfte über bekannte Hoteldiebe bitten, die derzeit auf freiem Fuß waren. Und wenn eine solche Liste eintraf, würden sie ganz bestimmt den Namen von Julius Keycase Milne enthalten. Auch Bilder von ihm würden dabeisein - Polizeifotos zum Herumzeigen beim Empfang und sonstwo. Das einzig Vernünftige für ihn wäre, seine Sachen zu packen und sich davonzumachen. Wenn er sich beeilte, konnte er in einer knappen Stunde aus der Stadt sein. Nur, ganz so einfach war es eben nicht. Er hatte Geld investiert - der Wagen, das Motel, das Hotelzimmer, das Bourbon-Street-B-Mädchen. Im Moment war er knapp bei Kasse. Er mußte aus New Orleans einen Profit herausschlagen -einen anständigen Profit. Denk nach, sagte sich Keycase, denk gut nach. Bisher hatte er die Dinge nur von der schwärzesten Seite betrachtet. Man konnte sie aber auch anders sehen. Selbst, wenn die Ereignisse sich so abwickelten, wie er es sich ausgemalt hatte, würde es mehrere Tage dauern, bevor die Polizei etwas unternahm. Sie war - laut Bericht in der Morgenzeitung - damit beschäftigt, einen Fall von Fahrerflucht aufzuklären. Der Unfall hatte zwei Todesopfer gefordert, die Bevölkerung war sehr erregt, und sämtliche verfügbaren Polizeidetektive arbeiteten mit Hochdruck an der Ermittlung des Täters. Es war nicht wahrscheinlich, daß die Polizei kostbare Zeit opfern würde, da im Hotel schließlich gar kein Verbrechen verübt worden war. Irgendwann würde sie sich natürlich auch damit befassen. Das tat sie immer. Welche Frist blieb ihm also noch? Bei vorsichtiger Schätzung ein Tag, vielleicht sogar zwei. Er dachte angestrengt nach. Das würde reichen. Bis zum Freitag morgen konnte er ordentlich abgestaubt haben und, ohne eine Fährte zu hinterlassen, über alle Berge sein. Die Entscheidung war gefallen. Was jetzt? Sollte er in sein Zimmer in der achten Etage zurückkehren und alle Aktionen auf morgen verschieben, oder sollte er weitermachen? Er war stark versucht, das Ganze für heute abzublasen. Wenn er ehrlich war, mußte er sich eingestehen, daß der Zwischenfall ihn mehr erschüttert hatte als sonst einer zuvor. Sein Zimmer erschien ihm wie ein sicherer geschützter Hafen. Aber dann raffte er sich grimmig entschlossen auf. Er hatte irgendwo gelesen, daß man Militärpiloten, die nicht durch eigenes Verschulden Bruch gemacht hatten, sofort wieder in die Luft schickte, bevor sie die Nerven verloren. Er würde dasselbe Rezept befolgen. Der erste Schlüssel hatte sich als Mißerfolg erwiesen. Das war vielleicht ein Omen - ein Wink des Schicksals, daß er es in umgekehrter Reihenfolge probieren und mit dem letzten anfangen sollte. Mit der Nummer 1062, den er von dem Mädchen aus der Bourbon Street bekommen hatte. Noch ein Omen! - und diesmal ein gutes - seine Glücksziffer, die Zwei. Die einzelnen Stockwerke zählend, stieg Keycase die Personaltreppe hinauf. Stanley, der Mann aus Iowa, der auf den ältesten Neppschwindel der Bourbon Street hereingefallen war, lag im Bett und schlief. Er hatte lange auf die breithüftige Blondine gewartet, zuerst voller Zuversicht, dann, als die Stunden verstrichen, mit sinkender Hoffnung, bis ihm schließlich schwante, daß man ihn hereingelegt hatte, und wie hereingelegt! Endlich, als er seine Augen nicht mehr offenhalten konnte, rollte er sich herum und versank in einen tiefen Schlaf. Er hörte weder wie Keycase hereinkam, noch wie er sich vorsichtig und systematisch durch das Zimmer bewegte. Er schnarchte friedlich, als Keycase seine Brieftasche plünderte und Uhr, Siegelring, goldenes Zigarettenetui, vergoldetes Feuerzeug und diamantene Manschettenknöpfe einsackte. Er rührte sich auch nicht, als Keycase auf leisen Sohlen davonschlich. Mr. Stanley aus Iowa erwachte erst am späten Vormittag, und es dauerte noch eine Stunde, bevor er - behindert von einem mordsmäßigen Kater - wahrnahm, daß man ihn bestohlen hatte. Als ihm das ganze Ausmaß seines Elends aufging - dies neue Unglück, der Katzenjammer, der kostspielige und erfolglose Barbesuch -, sank er in einen Sessel und greinte wie ein Kind. Keycase hatte seinen Raub inzwischen längst in Sicherheit gebracht. Nach seinem erfolgreichen Fischzug in der Nummer 1062 stellte Keycase fest, daß es zu hell wurde, um noch einen Coup zu riskieren. Er kehrte in sein Zimmer zurück und zählte das Geld. Es belief sich auf 94 Dollar, in der Hauptsache Fünfer und Zehner, und alles gebrauchte Scheine, so daß sie nicht identifiziert werden konnten. Zufrieden verstaute er sie in seiner Brieftasche. Die Uhr und die anderen Wertgegenstände stellten ein größeres Problem dar. Er hatte zuerst geschwankt, ob er sie überhaupt mitgehen lassen sollte, war aber seiner Habgier und der Gunst des Augenblicks erlegen. Das bedeutete natürlich, daß irgendwann im Laufe des Tages Alarm geschlagen werden würde. Es kam vor, daß Leute Geld verloren und nicht wußten, wie und wo, das Verschwinden von Wertgegenständen wies jedoch eindeutig auf Diebstahl hin. Die Möglichkeit einer prompten Polizeiaktion wurde dadurch größer und die Frist, die er sich gesetzt hatte, vermutlich kürzer. Vielleicht aber auch nicht. Er merkte, wie sein Selbstvertrauen zunahm und zugleich damit seine Bereitschaft, ruhig etwas zu riskieren, wenn es sein mußte. Unter seinen Habseligkeiten befand sich ein kleiner Vertreterkoffer, mit dem man in einem Hotel aus und ein gehen konnte, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Keycase packte die gestohlenen Dinge hinein und sagte sich, daß sie ihm bei einem zuverlässigen Hehler fraglos hundert Dollar einbringen würden, obwohl sie in Wirklichkeit viel mehr wert waren. Er wartete, bis das Hotel erwacht und die Halle einigermaßen belebt war. Dann fuhr er im Lift hinunter und begab sich mit dem Koffer zu einem Parkplatz an der Canal Street, wo er nachts zuvor seinen Wagen abgestellt hatte. Von dort fuhr er in gemächlichem Tempo zum Motel und seiner Kabine am Chef Menteur Highway. Unterwegs machte er einmal halt, hob die Kühlerhaube des Ford und mimte Motorschaden, während er seinen Kabinenschlüssel aus der Luftdüse des Vergasers herausfischte. Er blieb gerade lange genug im Motel, um die Wertsachen in einer anderen verschließbaren Tasche zu verstauen. Auf der Rückfahrt in die Stadt wiederholte er das kleine Spielchen mit dem Schlüssel. Nachdem er den Wagen -auf einem anderen Platz - geparkt hatte, befand sich weder an seiner Person noch in seinem Hotelzimmer auch nur der geringste Hinweis auf das Diebesgut. Ihm war so froh zumute, daß er einen Abstecher in die Cafeteria des St. Gregory machte, um zu frühstücken. Als er herauskam, erblickte er die Herzogin von Croydon. Sie war gerade dem Lift entstiegen. Die Bedlington-Terrier -drei auf der einen und zwei auf der anderen Seite - tollten ausgelassen vor ihr her und strebten wie feurige kleine Vorreiter dem Ausgang zu. Sie hielt sie fest und gebieterisch an der Leine, obwohl sie offensichtlich mit den Gedanken ganz woanders war; ihre Augen schienen irgendeinen fernen Punkt jenseits der Hotelmauer anzuvisieren. Aber ihre hochmütige Arroganz wirkte überzeugend wie immer. Nur aufmerksame Beobachter hätten vielleicht den erschöpften, angespannten Zug in ihrem Gesicht entdeckt, den sie bei aller Willensstärke und trotz ihres Make-ups nicht gänzlich zu verbergen vermochte. Keycase blieb entgeistert stehen. Er traute seinen Augen nicht. Aber es war wirklich die Herzogin von Croydon. Keycase, ein eifriger Leser von Zeitungen und Illustrierten, hatte zu viele Fotos von ihr gesehen, um seiner Sache nicht sicher zu sein. Und allem Anschein nach wohnte die Herzogin im Hotel. Seine Gedanken überschlugen sich fast. Die Herzogin von Croydon besaß bekanntermaßen eine der kostbarsten Juwelenkollektionen der Welt, und nie zeigte sie sich in der Öffentlichkeit ohne das eine oder andere Schmuckstück. Beim Anblick ihrer Ringe und eines Saphirclips am Aufschlag ihres Kostüms kniff Keycase abschätzend die Augen zusammen. Die Angewohnheit der Herzogin ließ darauf schließen, daß sich ein Teil ihres Schmucks - trotz aller Vorsichtsmaßnahmen - stets in greifbarer Nähe befand. Eine halbgare Idee - ein leichtsinniger, verwegener, unmöglicher Plan..., oder war er gar nicht so abenteuerlich? -begann sich in Keycases Kopf abzuzeichnen. Er stand da und schaute, während die Herzogin von Croydon hinter den Terriern durch die Halle des St. Gregory schritt und auf die sonnenhelle Straße hinaustrat. 2 Herbie Chandler stellte sich zeitig im Hotel ein, wenn auch zu seinem eigenen Nutzen und nicht zu dem des Hotels. Zu seinen dunklen Nebengeschäften gehörte auch das Zusammengießen und Horten von Schnapsresten, eine Prozedur, die in zahlreichen Hotels im Schwange war. Gäste, die in ihren Zimmern Besucher bewirteten oder auch allein zechten, hatten bei der Abreise häufig Flaschen übrig, die noch nicht ganz leer waren. Meist unterließen sie es, die angebrochenen Flaschen mit einzupacken, entweder in der Besorgnis, sie könnten auslaufen, oder um sich den Zuschlag der Fluggesellschaften für Übergepäck zu ersparen. Aber alles in ihnen sträubte sich dagegen, guten Alkohol wegzuschütten, und so blieben die Flaschen auf den Toilettentischen der geräumten Zimmer stehen. Wurden sie von einem Boy beim Hinausbefördern des Gepäcks bemerkt, dann kehrte der innerhalb weniger Minuten ins Zimmer zurück und kassierte die Hinterlassenschaft ein. Trugen die Gäste ihre Koffer selbst hinunter, dann pflegte das Zimmermädchen einem Boy Bescheid zu sagen, und der beteiligte sie dann schließlich an seinem Gewinn. Die Schnapsreste gelangten auf Umwegen in den Winkel eines Vorratsraumes im Souterrain, der privaten Domäne des Chefportiers. Er verdankte sie der Vermittlung eines Lagerverwalters, der seinerseits bei gewissen Diebereien von Herbie Chandler unterstützt wurde. Der Transport der Flaschen erfolgte für gewöhnlich in Wäschesäcken, mit denen Boys im Hotel herumwandern konnten, ohne Verdacht zu erregen. Die Vorräte, die sich innerhalb von zwei oder drei Tagen ansammelten, waren erstaunlich groß. Alle zwei oder drei Tage - wenn Kongresse im Hotel tagten sogar noch öfter - machte Herbie Chandler Inventur. Damit war er auch im Moment beschäftigt. Er sortierte sämtliche Ginflaschen aus und stellte sie zu einer Batterie zusammen. Dann wählte er zwei von den besseren Marken und füllte mit einem Trichter alle Reste hinein. Am Ende hatte er eine volle Flasche und eine dreiviertelvolle. Er versah beide mit einem Verschluß und stellte die zweite beiseite, um sie bei der nächsten Inventur aufzufüllen. Dieselbe Prozedur wiederholte er bei Bourbon, Scotch und Rye. Der Gesamtertrag belief sich schließlich auf sieben volle Flaschen und mehrere halbvolle. Einen Rest Wodka leerte er nach kurzem Zögern in die Ginflasche. Später, im Laufe des Tages, würden die sieben vollen Flaschen in einer Bar abgeliefert werden, die nur ein paar Blocks vom St. Gregory entfernt lag. Der Barbesitzer, an der Qualität seiner Ware nur mäßig interessiert, schenkte den Alkohol an seine Kunden aus und zahlte Herbie den halben Großhandelspreis. In regelmäßigen Abständen schüttete Herbie für alle jene, die im Hotel mit ihm zusammenarbeiteten, eine Dividende aus - zumeist eine so niedrige, wie er es gerade noch wagen konnte. In letzter Zeit waren die Geschäfte gut gegangen, und der Ertrag dieses einen Tages hätte Herbie froh gestimmt, wenn er nicht mit anderen Problemen beschäftigt gewesen wäre. Spät in der Nacht hatte Stanley Dixon angerufen. Der junge Mann hatte ihm seine Version von dem Telefongespräch mit Peter McDermott wiedergegeben und ihm auch erzählt, daß er und seine Freunde für vier Uhr nachmittags in McDermotts Büro verabredet wären. Dixon wollte vor allem von Herbie erfahren, wieviel McDermott eigentlich wisse. Diese Frage konnte Herbie Chandler nicht beantworten. Aber er riet Dixon, Diskretion zu wahren und nichts zuzugeben. Seitdem hatte er sich den Kopf darüber zerbrochen, was sich vor zwei Nächten in der Suite 1126-7 nun wirklich abgespielt hatte und wieweit der stellvertretende Direktor über Herbies Anteil an den Vorfällen im Bilde war. Es waren noch neun Stunden bis vier Uhr. Herbie ahnte, daß sie ihm endlos lang vorkommen würden. 3 Morgens pflegte Curtis O'Keefe meist erst zu duschen und danach zu beten. Diese Reihenfolge war sehr zweckmäßig, weil er dabei sauber vor Gott trat und außerdem in den zwanzig Minuten, die er, in einen Bademantel gehüllt, auf den Knien verbrachte, gründlich trocken wurde. Heller Sonnenschein fiel in die behagliche, klimatisierte Suite und erfüllte den Hotelier mit einem Gefühl des Wohlbefindens. Das Gefühl übertrug sich auf seine weitschweifigen Gebete, die dadurch etwas von einem intimen Gespräch von Mann zu Mann bekamen. Curtis O'Keefe vergaß jedoch nicht, Gott daran zu erinnern, daß er - O'Keefe - sich nach wie vor für das St. Gregory interessierte. Das Paar frühstückte in Dodos Suite. Dodo bestellte für beide, nachdem sie lange über einer Speisekarte gebrütet und endlos mit dem Zimmerservice telefoniert hatte, wobei sie ihre Anordnungen mehrmals völlig über den Haufen warf. Am meisten Kopfzerbrechen bereitete ihr diesmal der Fruchtsaft; sie konnte sich nicht entscheiden, welchen sie wählen sollte, und unterhielt sich mehrere Minuten lang mit ihrem unsichtbaren Gesprächspartner über den Qualitätsunterschied zwischen Ananas, Pampelmuse und Apfelsine. Curtis O'Keefe malte sich belustigt das Chaos aus, das dieser Anruf elf Stockwerke tiefer beim ohnehin überlasteten Zimmerservice auslösen mußte. Während er auf das Frühstück wartete, blätterte er in den Morgenzeitungen - dem Lokalblatt »Times-Picayune« und einer per Luftpost zugesandten »New York Times«. In der Fahrerfluchtaffäre, die im Lokalblatt noch immer den ersten Platz einnahm, hatte sich, wie er feststellte, nichts Neues ergeben. Aus dem Börsenteil der »New York Times« ersah er, daß die Aktien des O'Keefe-Konzerns um dreiviertel Punkte gefallen waren. Der Rückgang war unbedeutend, eine ganz normale Kursschwankung; der Kurs würde ganz bestimmt steigen, sobald sich das Gerücht von der O'Keefeschen Neuerwerbung in New Orleans herumgesprochen hatte, und sehr lange konnte das nicht mehr dauern. Dabei fielen ihm die zwei lästigen Tage ein, die ihn noch vom Abschluß des Geschäfts trennten. Er bereute, daß er nicht auf einer prompten Entscheidung bestanden hatte; da er aber sein Wort gegeben hatte, blieb ihm nun nichts anderes übrig, als geduldig auszuharren. Er zweifelte nicht im mindesten an einer günstigen Antwort Warren Trents. Für Trent war es praktisch die einzige Chance. Während des Frühstücks kam ein Anruf von Hank Lemnitzer, Curtis O'Keefes persönlichem Beauftragten an der Westküste. Dodo nahm den Anruf entgegen. Da O'Keefe sich jedoch ungefähr denken konnte, worum es sich handelte, verlegte er das Gespräch in seine eigene Suite, nicht ohne die Verbindungstür vorsorglich hinter sich zu schließen. Das Thema, auf das er gewartet hatte, kam zur Sprache nach einem Routinebericht über verschiedene außerhalb des Hotelgeschäfts liegende finanzielle Interessen, die Lemnitzer für ihn wahrnahm. »Dann ist da noch eine Sache, Mr. O'Keefe«, sagte der Kalifornier in seinem nasalen, schleppenden Tonfall, »ich meine die Sache mit Jenny LaMarsh, der Puppe... eh, der jungen Dame, die Ihnen damals im Beverly-Hills-Hotel so angenehm auffiel. Besinnen Sie sich noch auf sie?« O'Keefe erinnerte sich ihrer sehr wohl: Jenny LaMarsh war eine eindrucksvolle langbeinige Brünette mit einer prächtigen Figur, einem kühl belustigten Lächeln und einem schlagfertigen, boshaften Witz. Ihm hatten nicht nur ihre offenkundigen weiblichen Qualitäten imponiert, sondern auch ihre Bildung. Wenn ihn nicht alles täuschte, hatte irgend jemand gesagt, daß sie in Vassar studiert hatte. Sie hatte eine Art Vertrag mit einem der kleineren Filmstudios. »Ja, ich erinnere mich.« »Ich hab' mich mit ihr unterhalten, Mr. O'Keefe - ein paarmal, und sie würde Sie gern auf einer Reise begleiten. Auch auf zweien.« Die Frage, ob sich Miss LaMarsh über die Konsequenzen einer gemeinsamen Reise im klaren war, erübrigte sich. Hank Lemnitzer hatte sich bestimmt darum gekümmert. Curtis O'Keefe konnte nicht leugnen, daß die Aussicht ihn reizte. Der Umgang mit Jenny LaMarsh - ihre Gespräche, von anderen Dingen ganz zu schweigen - würde anregend sein. Ihr würde es gewiß nicht schwerfallen, sich bei den Leuten durchzusetzen, die sie zusammen kennenlernten. Und über so einfache Probleme wie die Wahl eines Fruchtsaftes würde sie sich nicht lange den Kopf zerbrechen. Dennoch - und das überraschte ihn selbst - zögerte er. »Bevor ich mich entscheide, muß ich die Gewähr haben, daß Miss Lashs Zukunft gesichert ist.« Hank Lemnitzers Stimme dröhnte zuversichtlich quer durch den Kontinent. »Überlassen Sie das ruhig mir. Ich kümmere mich schon um Dodo genau wie bei den anderen.« »Darum handelt es sich nicht«, sagte Curtis O'Keefe scharf. Trotz seiner Nützlichkeit mangelte es Lemnitzer gelegentlich an Zartgefühl. »Worum handelt es sich denn, Mr. O'Keefe?« »Ich möchte, daß Sie für Miss Lash etwas Besonderes ausfindig machen. Etwas wirklich Gutes. Und ich möchte darüber informiert werden, bevor sie von hier weggeht.« Lemnitzer erwiderte zweifelnd: »Ich schätze, das ließe sich einrichten. Natürlich ist Dodo nicht gerade die gescheiteste -« »Es darf nicht nur etwas x-beliebiges sein, verstehen Sie«, beharrte O'Keefe. »Und lassen Sie sich Zeit, wenn's sein muß.« »Was ist mit Jenny LaMarsh?« »Sie hat sonst nichts vor...?« »Nein, ich glaube nicht?«, gab Lemnitzer widerwillig zu. Gleich darauf sagte er im alten forschen Ton: »Okay, Mr. O'Keefe, wird besorgt. Sie hören von mir.« Als O'Keefe in den Salon der anderen Suite zurückkehrte, stellte Dodo gerade das gebrauchte Frühstücksgeschirr auf dem Servierwagen zusammen. »Laß das sein!« fauchte er gereizt. »Es sind genug Leute da, die für die Arbeit bezahlt werden.« -»Aber ich mach's doch gern, Curtie.« Sie wandte ihm ihre großen ausdrucksvollen Augen zu, und er sah, daß sie bestürzt und verletzt war. Dennoch gehorchte sie. Er verstand seine schlechte Laune selbst nicht recht. »Ich mache einen Rundgang durchs Hotel«, erklärte er und beschloß, Dodo später - gewissermaßen als Entschädigung - zu einer Besichtigungstour durch die Stadt einzuladen. Soweit er sich erinnerte, konnte man auf einem plumpen alten Heckraddampfer, der »S. S. President«, durch den Hafen fahren. Im allgemeinen war das Schiff vollgepackt mit Touristen, aber gerade solche harmlosen Vergnügungen machten Dodo den meisten Spaß. Als er bereits an der Tür stand, trieb es ihn, ihr davon zu erzählen Sie warf ihm begeistert die Arme um den Hals. »Es wird einfach himmlisch sein, Curtie! Ich steck' mir das Haar hoch, weil's auf dem Wasser immer so windig ist. Guck mal, so!« Sie hob einen schlanken Arm von seiner Schulter, strich sich ihr lose herabhängendes aschblondes Haar aus dem Gesicht und raffte es im Nacken zu einem Ponyschweif zusammen. Ihr aufwärts gekehrtes Gesicht, ihre ungekünstelte Freude waren von so atemberaubender schlichter Schönheit, daß er nahe daran war, seine unmittelbaren Pläne zu ändern und zu bleiben. Statt dessen knurrte er nur, er würde bald zurück sein, und machte die Tür der Suite abrupt hinter sich zu. Er fuhr im Lift bis zum Zwischengeschoß und ging von da aus über die Treppe in die Halle hinunter, wo er sich Dodo resolut aus dem Sinn schlug. Während er scheinbar zerstreut umherschlenderte, entgingen ihm weder die verstohlenen Blicke der Hotelangestellten noch der plötzliche Arbeitseifer, von dem sie bei seinem Auftauchen befallen wurden. Ohne sich von ihnen stören zu lassen, setzte er seine Betrachtungen fort und verglich dabei in Gedanken seine eigenen Schlüsse mit denen von Odgen Bailey. Seine gestern geäußerte Ansicht, daß das St. Gregory einer festen leitenden Hand bedurfte, wurde durch das, was er sah, bestätigt. Er teilte auch Baileys Standpunkt hinsichtlich des Ausbaus neuer Einnahmequellen. So sagte ihm beispielsweise seine Erfahrung, daß die dicken Säulen in der Halle höchstwahrscheinlich nur Dekorationszwecken dienten. Traf das zu, dann wäre es die einfachste Sache von der Welt, sie teilweise auszuhöhlen und den auf diese Art gewonnenen Raum als Schaukasten an ortsansässige Geschäftsleute zu vermieten. In der Passage unter der Halle, einem ausgesucht guten Platz, befand sich ein Blumenladen. Das Hotel bezog daraus vermutlich etwa dreihundert Dollar Miete im Monat. Eine moderne, phantasievoll ausgestattete Cocktaildiele - zum Beispiel in Gestalt eines Flußboots - würde an der gleichen Stelle gut an die fünfzehnhundert Dollar monatlich einbringen, und dem Blumenstand konnte man bequem einen anderen Platz zuweisen. Bei der Rückkehr in die Halle entdeckte er noch mehr ungenutzten Raum. Wenn man die Fläche, die gegenwärtig dem Publikum zur Verfügung stand, energisch beschnitt, konnte man noch ein weiteres halbes Dutzend Verkaufsschalter -Fluggesellschaften, Leihwagen, Stadtrundfahrten, Schmuck, vielleicht auch einen Drugstore - gewinnbringend hineinzwängen. Natürlich würde sich damit auch der Charakter der Hotelhalle verändern; die Atmosphäre ungezwungenen Komforts würde verschwinden zusammen mit den grünen Gewächsen und den dicken weichen Teppichen. Aber heutzutage waren es die hellerleuchteten Hallen mit den Reklameschildern, wohin das Auge blickte, die dazu beitrugen, die Bilanz eines Hotels erfreulicher zu gestalten. Noch ein Punkt: Ein Großteil der Sessel mußte entfernt werden. Wenn die Leute sich ausruhen wollten, sollten sie sich in eine der Bars oder eines der Restaurants setzen; dabei sprang für das Hotel mehr heraus. Vor Jahren war ihm eine Lektion über kostenloses Herumsitzen erteilt worden, und er hatte sie sich zu Herzen genommen. Es war in seinem allerersten Hotel gewesen - einer schlecht gebauten, auf Fassade getrimmten, feuergefährlichen Spelunke in einer Kleinstadt des Südwestens. Das Hotel hatte nur einen Vorzug: ein Dutzend Münzklosetts, die von jedem Farmer oder Rancharbeiter hundert Meilen im Umkreis zu den verschiedensten Zeiten benutzt wurden. Zum großen Staunen des jungen O'Keefe flossen ihm aus dieser Quelle beträchtliche Einnahmen zu; sie erhöhten sich jedoch aus einem bestimmten Grunde nicht. Schuld daran war ein staatliches Gesetz, nach dem für die Benutzung von einer der zwölf Toiletten keine Gebühren erhoben werden durften, und die Angewohnheit der sparsamen Farmarbeiter, da Schlange zu stehen, wo es nichts kostete. O'Keefe löste das Problem, indem er den Trunkenbold der Stadt anheuerte. Für zwanzig Cent die Stunde und eine Flasche billigen Wein hielt der Mann Tag für Tag beharrlich die gebührenfreie Toilette besetzt, woraufhin die Einnahmen bei den elf anderen ruckartig in die Höhe schnellten. Curtis O'Keefe lächelte versonnen. In der Halle herrschte nun reges Treiben. Eine Gruppe neuer Gäste war gerade eingetroffen und trug sich ein, während einige Nachzügler noch das Gepäck nachprüften, das von einem Flughafenbus abgeladen wurde. Vor dem Empfangstisch hatte sich eine kleine Schlange gebildet. O'Keefe blieb stehen und sah zu. In diesem Moment bemerkte er etwas, das offenbar bis jetzt noch niemandem aufgefallen war. Ein gut gekleideter Neger in mittleren Jahren kam, einen Koffer in der Hand, durch die Halle geschlendert, so unbekümmert, als machte er seinen nachmittäglichen Spaziergang. Er trat an den Empfangstisch, stellte seinen Koffer ab und reihte sich in die Schlange ein. Der Wortwechsel, der wenig später folgte, war deutlich vernehmbar. »Guten Morgen«, sagte der Neger. Seine Stimme - der Aussprache nach stammte er aus dem mittleren Westen - klang freundlich und kultiviert. »Ich bin Dr. Nicholas; Sie haben ein Zimmer für mich reserviert.« Während des Wartens hatte er seinen scharzen Homburg abgenommen; sein sorgfältig gebürstetes Haar war eisengrau. »Ja, Sir. Würden Sie sich bitte eintragen, Sir.« Der Angestellte am Empfang leierte sein Sprüchlein mechanisch herunter, ohne aufzublicken. Dann hob er den Kopf, und seine Miene erstarrte. Seine Hand schnellte vor und zog den Anmeldeblock zurück, den er dem Gast gerade erst hingeschoben hatte. »Bedaure«, sagte er entschieden, »das Hotel ist besetzt.« »Mein Zimmer ist bestellt«, erwiderte der Neger gelassen. »Ich besitze eine Bestätigung des Hotels.« Er zog seine Brieftasche heraus, aus der einige Papiere hervorragten, und nahm eines davon heraus. »Tut mir leid, das muß ein Versehen sein.« Der Angestellte warf einen flüchtigen Blick auf den Brief, der vor ihm lag. »Wir haben im Moment einen Kongreß im Haus.« »Ich weiß.« Der andere nickte; sein Lächeln war matter geworden. »Den Zahnärztekongreß. Ich gehöre nämlich dazu.« Der Angestellte schüttelte den Kopf. »Bedaure, aber ich kann nichts für Sie tun.« Der Neger steckte seine Brieftasche weg. »In diesem Fall möchte ich mit jemand anderem sprechen.« Während des Gesprächs hatten sich weitere Neuankömmlinge an die Schlange vor dem Empfangstisch angeschlossen. Nun erkundigte sich ein Mann in einem Regenmantel ungeduldig: »Was ist los da vorn? Geht's nicht bald weiter?« O'Keefe blieb wie angewurzelt stehen. Er hatte das Gefühl, in der nun von Menschen wimmelnden Hotelhalle ticke eine Zeitbombe, die jeden Moment explodieren würde. »Sie können mit dem stellvertretenden Minager sprechen«, sagte der Angestellte und rief, sich über den Tisch beugend, mit schriller Stimme: »Mr. Bailey!« Am entgegengesetzten Ende der Halle blickte ein ältlicher Mann von einem in einer Nische stehenden Schreibtisch hoch. »Mr. Bailey, würden Sie bitte mal herüberkommen?« Der stellvertretende Manager nickte und hievte sich mit einem Anflug von Müdigkeit aus seinem Sessel. Während er gemächlich herüberkam, breitete sich über sein faltiges, gedunsenes Gesicht das Lächeln des professionellen Begrüßers. Ein alter Angestellter, dachte Curtis O'Keefe, dem man zum Lohn für langjährige treue Dienste hinter dem Empfangstisch einen Sessel und Schreibtisch in der Halle eingeräumt hatte, mit der Befugnis, geringfügige Probleme selbst zu lösen. Der Titel eines stellvertretenden Managers war hier, wie in den meisten Hotels, nur ein Zugeständnis an die Eitelkeit des Publikums; er sollte die Gäste zu dem Glauben verleiten, sie hätten es mit einer bedeutenden Persönlichkeit zu tun. Die wirklich wichtigen Leute befanden sich jedoch in den Verwaltungsbüros außer Sichtweite. »Mr. Bailey, ich habe dem Gentleman hier bereits erklärt, daß das Hotel voll belegt ist.« »Und ich habe darauf hingewiesen, daß mir das Hotel die Zimmerreservierung bestätigt hat.« Der stellvertretende Manager lächelte gutmütig in die Runde; sein offenkundiges Wohlwollen umfaßte auch die Schlange der wartenden Gäste. »Nun ja«, sagte er beschwichtigend, »wir müssen eben sehen, was sich tun läßt.« Er legte eine mollige, nikotinverfärbte Hand auf den Ärmel von Dr. Nicholas' teuren Maßanzug. »Würden Sie so freundlich sein, drüben Platz zu nehmen?« Während er mit dem Neger auf die Nische zusteuerte, füge er hinzu: »Leider kommt es immer wieder mal zu so einem Versehen. Wir tun natürlich unser möglichstes, um es auszubügeln.« Curtis O'Keefe gab im stillen zu, daß der ältliche Mann sich auf sein Fach verstand. Höflich und ohne viel Aufhebens hatte er eine Szene, die äußerst peinlich hätte werden können, von der Mitte der Bühne in die Seitenkulissen manövriert. Inzwischen hatte auch der Empfang Verstärkung bekommen, so daß die wartenden Gäste schnell abgefertigt werden konnten. Nur ein verhältnismäßig junger, breitschultriger Mann, dem eine dicke Brille ein eulenhaftes Aussehen gab, war aus der Reihe getreten und beobachtete, wie sich die Dinge weiterentwickelten. Nun ja, dachte Curtis O'Keefe, vielleicht kommt es doch nicht zu einer Explosion. Trotzdem harrte er aus. Der stellvertretende Manager bot Dr. Nicholas einen Sessel an und ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder. Mit undurchdringlicher Miene lauschte er aufmerksam dem Bericht des Negers, der im wesentlichen das wiederholte, was er bereits am Empfangstisch vorgebracht hatte. Schließlich nickte der ältliche Mann. »Nun, Doktor -«, er schlug einen forschen geschäftsmäßigen Ton an, »ich möchte mich wegen des Mißverständnisses bei Ihnen entschuldigen. Ich bin sicher, wir können in der Stadt eine andere Unterkunft für Sie finden.« Mit der einen Hand zog er das Telefon heran und hob den Hörer ab, mit der anderen nahm er verstohlen ein Blatt Papier vom Schreibtisch, das eine Liste von Telefonnummern enthielt. »Moment mal!« Zum erstenmal bekam die weiche Stimme des Gastes eine gewisse Schärfe. »Sie behaupten, das Hotel wäre belegt. Aber wie ich sehe, fertigen Ihre Angestellten am laufenden Band neue Gäste ab. Haben die vielleicht eine besondere Sorte von Reservierungen?« »So könnte man es nennen, schätze ich.« Das berufsmäßige Lächeln war verschwunden. »Jim Nicholas!« schallte es lärmend fröhlich durch die Halle. Ein kleiner alter Mann mit einem lebhaften runden Gesicht unter einem Schopf widerspenstigen weißen Haars kam mit hastigen Trippelschritten auf die Nische zu. Der Neger stand auf. »Dr. Ingram! Wie schön, Sie hier zu sehen!« Er streckte seine Hand aus, die der andere kräftig schüttelte.« »Wie geht's, Jim, mein Junge? Nein, antworten Sie mir nicht! Ich kann selbst sehen, daß es Ihnen gut geht. Erfolg haben Sie auch, wenn mich meine Augen nicht täuschen. Ihre Praxis blüht, nehme ich an.« »Ja, danke.« Dr. Nicholas lächelte. »Natürlich kostet mich die Arbeit an der Universität eine Menge Zeit.« »Wem sagen Sie das! Als ob ich das nicht wüßte! Ich bringe mein ganzes Leben damit zu, Burschen wie Sie zu unterrichten, und dann fliegt ihr aus und verschafft euch eine einträgliche Praxis.« Als der andere breit grinste, fügte er hinzu: »Na, Sie haben sich jedenfalls als Forscher und Praktiker bewährt. Ihre Abhandlung über bösartige Mundtumore hat ziemlich viel Aufhebens gemacht, und wir freuen uns alle auf einen Bericht aus erster Hand. Übrigens werde ich das Vergnügen haben, Sie auf dem Kongreß einzuführen. Sie wissen wohl schon, daß man mich diesmal zum Präsidenten ernannt hat?« »Ja, ich hörte davon. Ich könnte mir keine bessere Wahl vorstellen.« Während die beiden miteinander plauderten, hatte sich der stellvertretende Manager langsam von seinem Sessel erhoben. Seine Augen schweiften unsicher von einem Gesicht zum anderen. Der kleine weißhaarige Mann, Dr. Ingram, lachte. Er klopfte seinem jüngeren Kollegen jovial auf die Schulter. »Geben Sie mir Ihre Zimmernummer, Jim. Ein paar von uns kommen nachher auf einen Drink zusammen. Ich möchte, daß Sie dabei sind.« »Unglücklicherweise wurde mir eben mitgeteilt, daß ich kein Zimmer bekommen kann«, sagte Dr. Nicholas. »Es scheint irgendwie mit meiner Hautfarbe zu tun zu haben.« Ein schockiertes Schweigen folgte, und der Präsident des Zahnärztekongresses errötete tief. Dann schob er das Kinn vor und erklärte: »Überlassen Sie das mir, Jim. Ich werde dafür sorgen, daß man sich bei Ihnen entschuldigt und Sie hier unterbringt. Andernfalls werden alle Kongreßteilnehmer sofort aus dem Hotel ausziehen, das verspreche ich Ihnen.« Der stellvertretende Manager hatte indessen einen Boy herangewinkt. Nun flüsterte er ihm hastig zu: »Holen Sie Mr. McDermott, aber schnell!« 4 Für Peter McDermott begann der Tag mit einem geringfügigen Organisationsproblem. Unter seiner Morgenpost befand sich ein Bericht vom Empfang mit der Information, daß Mr. und Mrs. Justin Kubek aus Tuscaloosa am folgenden Tag im St. Gregory eintreffen würden. Was die Kubeks zu einem Sonderfall machte, ging aus einem beigefügten Brief von Mrs. Kubek hervor, in dem sie darauf hinwies, daß ihr Mann zwei Meter zehn groß war. Hinter seinem Schreibtisch sitzend, wünschte sich Peter, daß alle Hotelprobleme so einfach seien. »Sagen Sie der Schreinerei Bescheid«, instruierte er seine Sekretärin Flora Yates. »Sie haben vermutlich noch das Bett und die Matratze, die wir für General de Gaulle benutzten; wenn nicht, müssen sie was anderes zurechtmachen. Sorgen Sie dafür, daß gleich morgen früh ein Zimmer angewiesen und das Bett hineingestellt wird, bevor die Kubeks eintreffen. Geben Sie auch der Hausdame Bescheid. Sie wird extra große Laken und Decken brauchen.« Flora, die ihm gegenüber auf der anderen Seite des Schreibtisches saß und sich Notizen machte, war die Ruhe selbst. Peter konnte sich darauf verlassen, daß sie seine Anordnungen korrekt weiterleiten und sich morgen unaufgefordert vergewissern würde, ob sie ausgeführt waren. Er hatte Flora bei seiner Ankunft im St. Gregory zusammen mit dem Büro übernommen und war ziemlich bald dahintergekommen, daß sie die ideale Sekretärin war - tüchtig, zuverlässig, an die Vierzig, glücklich verheiratet und unansehnlich wie eine Betonwand. Was den Umgang mit Flora so angenehm machte, war, daß man sie schrecklich gern haben konnte - und Peter hatte sie sehr gern -, ohne daß es einen von der Arbeit ablenkte. Wäre beispielsweise Christine bei ihm beschäftigt, würde sich das ganz anders auswirken. Seit seinem überstürzten Aufbruch aus Christines Appartement hatte er fast unausgesetzt an sie gedacht. Sogar im Schlaf, denn er hatte von ihr geträumt. Im Traum waren sie friedlich auf einem von grünen Ufern gesäumten Fluß entlanggeglitten (vermutlich in einem Kahn, aber er war sich dessen nicht ganz sicher), umsäuselt von einer Art Sphärenmusik, bei der Harfen, soweit er sich erinnerte, den Ton angaben. Er hatte Christine, als er sie gleich am Morgen anrief, davon erzählt, und sie hatte gefragt: »Fuhren wir stromaufwärts oder stromabwärts? - das müßte doch eigentlich irgendeine Bedeutung haben.« Das wußte er aber nicht mehr. Er wußte nur noch, daß er das Ganze unendlich genossen hatte, und sagte zu Christine, hoffentlich könne er später da weiterträumen, wo er gestern nacht aufgehört hatte. Vorher jedoch - irgendwann heute abend - wollten sie sich wieder treffen. Beide stimmten darin überein, daß man Ort und Zeit später vereinbaren würde. »Dann habe ich wenigstens einen Grund, dich anzurufen«, meinte Peter. »Wer braucht dazu schon einen Grund?« entgegnete sie. »Übrigens habe ich mir bereits vorgenommen, gleich nachher ein furchtbar wichtiges Schriftstück zu finden, das ich ganz plötzlich dir persönlich überbringen muß.« Ihre Stimme klang glücklich, fast atemlos, als wäre die Erregung, die gestern nacht jeder im anderen entfacht hatte, auch auf den neuen Tag übergesprungen. In der stillen Hoffnung, daß Christine bald auftauchen würde, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Flora und der Morgenpost zu. Der Stapel Briefe enthielt die übliche Mischung, darunter auch mehrere Anfragen wegen Kongressen, mit denen er sich zuerst befaßte. Wie gewöhnlich nahm er die Stellung ein, die er beim Diktieren bevorzugte - die hochgelegten Füße ruhten auf einem großen ledernen Papierkorb, und der gepolsterte Drehsessel war so weit nach hinten gekippt, daß Peters Körper beinahe waagerecht lag. Er fand, er könne in dieser Haltung besonders gut nachdenken, und er hatte sie durch ständiges Experimentieren so weit verbessert, daß sich der Stuhl an der äußersten Grenze des Gleichgewichts befand und eine Katastrophe nur um Haaresbreite vermieden wurde. Flora beobachtete den Balanceakt, wie so oft, mit erwartungsvoller Miene. Aber sie beugte sich sogleich wieder über den Stenogrammblock und enthielt sich jeden Kommentars. Bei der Post war diesmal noch ein Brief, den Peter vordringlich beantwortete. Er kam von einem Mann aus New Orleans, dessen Frau vor einigen Wochen an einem privaten Hochzeitsempfang im Hotel teilgenommen hatte. Dabei hatte sie ihre Nerzjacke zu den Mänteln der anderen Gäste auf einen Flügel gelegt. Später entdeckte sie in dem kostbaren Stück ein Loch, das von einer Zigarette stammte. Die Reparatur kostete hundert Dollar. Der Ehemann versuchte den Betrag beim Hotel einzutreiben, und sein letzter Brief enthielt eine massive Prozeßandrohung. Peters Antwort war höflich, aber bestimmt. Er wies noch einmal darauf hin, daß sich im Hotel Garderobenablagen befanden, von denen die Frau des Briefschreibers jedoch keinen Gebrauch gemacht hatte. Wäre das der Fall gewesen, hätte das Hotel einen Ersatzanspruch in Erwägung gezogen. So wie die Dinge lagen, war das Hotel für den Schaden nicht verantwortlich. Vermutlich handelte es sich bei dem Brief des Ehemannes nur um einen Einschüchterungsversuch, der sich nicht unbedingt zu einer Klage auswachsen mußte, obwohl man das nie im voraus wissen konnte. Es war schon zu vielen Prozessen aus ähnlich nichtigen Gründen gekommen. Im allgemeinen wiesen die Gerichte solche Klagen ab, aber sie waren wegen des Aufwandes von Zeit und Energie, den sie forderten, ein Ärgernis. Manchmal hatte es fast den Anschein, dachte Peter, als betrachte die Öffentlichkeit ein Hotel als bequeme Milchkuh mit einem strotzenden Euter. Er hatte sich einen neuen Brief herausgegriffen, als jemand an die Verbindungstür zum äußeren Büro klopfte. Er sah auf in der Erwartung, Christine zu erblicken. »Ich bin's bloß«, sagte Marsha Preyscott. »Es war niemand draußen, deshalb...« Sie erspähte Peter auf seinem schwankenden Sitz. »Um Himmels willen! Sind Sie noch nie umgekippt?« »Bis jetzt nicht«, erwiderte er - und verlor prompt das Gleichgewicht. Dem ohrenbetäubenden Krachen folgte ein sekundenlanges, bestürztes Schweigen. Auf dem Fußboden hinter seinem Schreibtisch liegend, nahm Peter den angerichteten Schaden in Augenschein. Sein linker Knöchel, der beim Sturz gegen das Stuhlbein gestoßen war, schmerzte. Auch sein Hinterkopf tat weh, als er ihn behutsam abtastete; aber zum Glück hatte der Teppich die Wucht des Aufpralls gedämpft. Allerdings hatte auch seine persönliche Würde einen Puff bekommen - das bewiesen ihm Marshas schallendes Gelächter und Floras diskretes Lächeln. Sie kamen um den Schreibtisch, um ihm auf die Beine zu helfen. Trotz seines Unbehagens empfand er wieder Marshas strahlende, atemberaubende Jugendfrische bewußt. Heute trug sie ein schlichtes blaues Leinenkleid, das ihr halb kindliches, halb frauliches Wesen unterstrich. Ihr schimmerndes langes schwarzes Haar hing ihr, wie am Tag zuvor, auf die Schultern herab. »Sie sollten mit Netz arbeiten«, sagte Marsha, »wie die Zirkusleute.« Peter grinste beschämt. »Vielleicht sollte ich mir auch gleich das Kostüm vom dummen August borgen.« Flora richtete den schweren Drehsessel wieder auf. Als sich Peter mit Hilfe von Marsha und Flora mühselig hoch hievte, kam Christine herein. Sie blieb, ein Papier in der Hand schwenkend, auf der Schwelle stehen. »Störe ich?« »Nein«, sagte Peter. »Ich... also, ich bin vom Stuhl gefallen.« Christines Augen schweiften zu dem massiven Drehsessel hinüber, der an seinem alten Platz stand. »Er kippte nach hinten.« »Das haben Stühle so an sich, nicht wahr? Immer.« Christine sah Marsha an. Flora hatte sich diskret zurückgezogen. Peter stellte die beiden einander vor. »Wie geht es Ihnen, Miss Preyscott?« sagte Christine. »Ich habe von Ihnen gehört.« Marsha blickte abschätzend von Peter auf Christine. »Wenn man in einem Hotel arbeitet, hört man vermutlich allen möglichen Klatsch, Miss Francis«, antwortete sie kühl. »Sie arbeiten doch hier, nicht wahr?« »Klatsch habe ich eigentlich nicht gemeint. Aber Sie haben recht, ich arbeite hier. Folglich kann ich jederzeit wiederkommen, wenn es hier nicht mehr so stürmisch zugeht.« Peter spürte eine spontane Feindseligkeit zwischen Marsha und Christine und fragte sich, was sie verursacht haben könnte. Als hätte sie seine Gedanken erraten, sagte Marsha mit einem charmanten Lächeln: »Meinetwegen brauchen Sie nicht zu gehen, Miss Francis. Ich hab' nur rasch vorbeigeschaut, um Peter an das Dinner heute abend zu erinnern.« Sie sah ihn an »Sie haben es doch nicht vergessen, oder?« »Nein.« Peter hatte ein hohles Gefühl im Magen. »Nein«, log er, »ich habe es nicht vergessen.« Ein kurzes Schweigen folgte, das Christine mit der Frage unterbrach: »Heute abend?« »Ach herrje!« rief Marsha. »Muß er vielleicht arbeiten oder so was?« Christine schüttelte energisch den Kopf. »Er hat nichts vor. Ich selbst werde dafür sorgen, daß er rechtzeitig wegkommt.« »Das ist wirklich süß von Ihnen.« Marsha bedachte Christine wieder mit dem charmanten Lächeln. »Also, ich mach' mich jetzt besser auf die Beine. O ja - um sieben Uhr«, fügte sie zu Peter gewandt hinzu, »und die Adresse ist Prytania Street - das Haus mit den vier großen Säulen. Auf Wiedersehen, Miss Francis.« Sie winkte einen lässigen Gruß, ging hinaus und schloß die Tür. Mit unschuldsvoller Miene erkundigte sich Christine: »Soll ich die Adresse nicht aufschreiben?... Das Haus mit den vier großen Säulen... damit du's nicht vergißt?« Er hob hilflos die Hand. »Ich weiß - wir waren verabredet. Die Sache mit Marsha war mir völlig entfallen. Nach dem gestrigen Abend hab' ich bloß noch an uns beide gedacht. Und als wir heute morgen miteinander telefonierten, war ich doch ziemlich durcheinander.« »Das wundert mich nicht«, sagte Christine vergnügt. »Welcher Mann würde nicht durcheinander geraten, wenn er so umschwärmt wird.« Sie hatte beschlossen - obwohl es sie einige Mühe kostete -, die Sache leichtzunehmen und, wenn nötig, Verständnis zu zeigen. Sie sagte sich, daß die gestrige Nacht ihr noch kein festes Anrecht auf Peters Zeit gab und daß seine Erklärung vermutlich stimmte. »Hoffentlich hast du einen angenehmen Abend«, fügte sie hinzu. Er bewegte sich unruhig in seinem Sessel. »Marsha ist noch ein Kind.« Alles hatte seine Grenzen, fand Christine, auch Geduld und Verständnis. Ihre Augen forschten in seinem Gesicht. »Ich nehme an, du glaubst das wirklich. Als Frau weiß ich das besser, und ich kann dir nur sagen, daß die kleine Miss Preyscott einem Kind so ähnlich ist wie eine Katze einem Tiger. Aber vermutlich macht es einem Mann Spaß, aufgefressen zu werden.« »Du siehst das Ganze völlig falsch.« Er schüttelte ungeduldig den Kopf. »Die Sache ist einfach die, daß sie vor zwei Nächten eine scheußliche Erfahrung machte und... « »Einen Freund brauchte.« »Richtig.« »Und da warst du zur Stelle!« »Wir kamen ins Gespräch. Und ich sagte, ich würde heute abend zu ihr zu einer Dinnerparty kommen. Es werden noch andere Gäste da sein.« »Bist du sicher?« Bevor er antworten konnte, schrillte das Telefon. Verärgert griff er nach dem Hörer. »Mr. McDermott«, sagte eine erregte Stimme, »hier unten gib's Ärger, und der stellvertretende Manager sagt, Sie möchten bitte so schnell wie möglich in die Halle kommen.« Als Peter den Hörer auflegte, war Christine nicht mehr da. 5 Es gab Zwangslagen, von denen man immer hoffte, sie würden einem erspart bleiben, dachte Peter McDermott grimmig. Kam es dann doch so weit, dann war es, als wäre ein lange gefürchteter Albtraum Wirklichkeit geworden. Schlimmer noch, Seelenfrieden, Überzeugungen, Integrität und Verpflichtungen gingen dabei in die Brüche. In wenigen Augenblicken hatte er die Situation in der Halle überschaut, obwohl die Auseinandersetzung noch im Gange war. Der würdevolle Neger mittleren Alters, der ruhig neben dem Schreibtisch in der Nische saß, der empörte Dr. Ingram, hochgeschätzter Präsident des Zahnärztekongresses, und der unverhohlene Gleichmut des stellvertretenden Managers, nun, da die Verantwortung von seinen Schultern genommen war - all das sagte Peter genug. Es war nur zu deutlich, daß die Krise, die sich so plötzlich angebahnt hatte, eine Explosion auslösen konnte, falls man ihr nicht geschickt begegnete. Peter gewahrte zwei Zuschauer: das vertraute, so oft in den Zeitungen abgebildete Gesicht von Curtis O'Keefe, der die Szene aus diskreter Entfernung gespannt beobachtete, und einen jugendlichen, breitschultrigen Mann mit dicker Brille, grauen Flanellhosen und Tweedjacke. Er stand neben einem vielgereisten Koffer und schien sich oberflächlich in der Halle umzusehen, dennoch entging ihm nichts von dem Drama, das sich neben dem Schreibtisch abspielte. Der Präsident des Zahnärztekongresses richtete sich zu seiner vollen Größe von einsvierundsechzig auf, sein rundes rosiges Gesicht unter dem widerspenstigen weißen Haarschopf war hochrot, sein Mund eine dünne Linie. »Mr. McDermott, sollten Sie und Ihr Hotel auf diesem unerhörten Affront beharren, dann möchte ich Sie jetzt schon darauf vorbereiten, daß Sie sich damit eine Menge Ärger auf den Hals laden.« Die Augen des kleinen Doktors funkelten zornig, seine Stimme schwoll an. »Dr. Nicholas ist ein hochgeachtetes Mitglied unseres Verbandes. Wenn Sie ihm ein Zimmer verweigern, betrachte ich das als eine persönliche Kränkung und als eine Verunglimpfung sämtlicher Tagungsteilnehmer.« Wäre ich nur Statist und nicht unmittelbar betroffen, dachte Peter, dann würde ich jetzt vermutlich Hurra rufen. Aber man muß den Tatsachen ins Gesicht sehen. Er war betroffen, und sein Job verlangte, daß er alles tat, um einen Skandal zu verhindern. »Vielleicht würden Sie und Dr. Nicholas« - sein Blick schloß den Neger höflich mit ein - »in mein Büro kommen, wo wir die Angelegenheit in aller Ruhe besprechen können.« »Nein, Sir! Wir werden hier darüber sprechen. Wir haben nichts zu verbergen.« Der zornige kleine Doktor wich und wankte nicht. »Also geben Sie nun meinem Freund und Kollegen Dr. Nicholas ein Zimmer oder nicht?« Köpfe wandten sich um. Mehrere Leute blieben auf dem Weg durch die Halle stehen. Der Mann in der Tweedjacke, der noch immer Interesselosigkeit vortäuschte, schob sich näher heran. Welch ein Verhängnis hatte es gefügt, daß er sich gerade einem Mann wie Dr. Ingram widersetzen mußte, fragte sich Peter McDermott niedergeschlagen, einem Mann, den er instinktiv bewunderte. Und es war eine besondere Ironie des Schicksals, daß er erst am Tage zuvor gegen Warren Trents Vorurteile Sturm gelaufen war, die diesen Zwischenfall praktisch heraufbeschworen hatten. Einen Moment lang war Peter versucht, die Frage des ungeduldigen kleinen Doktors mit einem Ja zu beantworten und auf die Konsequenzen zu pfeifen. Aber er wußte, daß es sinnlos gewesen wäre. Er konnte dem Empfang alle möglichen Befehle erteilen, nur nicht, daß er einem Neger ein Zimmer anwies. Diesbezüglich existierte ein strenges Verbot, das nur vom Hotelbesitzer selbst aufgehoben werden konnte. Eine Auseinandersetzung mit dem Empfang würde die peinliche Szene nur verlängern, ohne daß etwas dabei herauskam.« »Ich bedaure es ebensosehr wie Sie, Dr. Ingram«, sagte er, »daß ich zu solch einem Schritt gezwungen bin. Die in diesem Haus geltenden Satzungen verbieten es mir leider, Dr. Nicholas hier unterzubringen. Ich wollte, ich könnte sie ändern, aber das steht nicht in meiner Macht.« »Dann bedeutet Ihnen eine bestätigte Reservierung also gar nichts?« »Doch, sehr viel sogar. Aber es gibt da gewisse Einschränkungen, auf die wir hätten hinweisen müssen, als Ihr Kongreß bei uns buchte. Daß wir es unterließen, war unser Fehler.« »Hätten Sie's getan«, fauchte der kleine Doktor, »dann wären wir nicht zu Ihnen gekommen. Im übrigen können wir den Kongreß auch jetzt noch verlegen.« Der stellvertretende Manager warf dazwischen: »Ich erbot mich, woanders eine Unterkunft zu besorgen, Mr. McDermott.« »Wir sind nicht interessiert!« Dr. Ingram wandte sich wieder Peter zu. »McDermott, Sie sind ein junger Mann und intelligent, sollte man meinen. Was empfinden Sie eigentlich bei dem, was Sie da gerade tun?« Warum ausweichen, dachte Peter und erwiderte: »Offengestanden, Doktor, ich habe mich selten mehr geschämt.« Und im stillen fügte er hinzu: Falls ich den Mut meiner Überzeugung hätte, würde ich kündigen und auf der Stelle gehen. Aber seine Vernunft wandte ein: Wäre damit irgend etwas gewonnen? Dr. Nicholas würde sein Zimmer trotzdem nicht bekommen, und Peter verlöre jede Möglichkeit, auf Warren Trent einzuwirken. War es nicht schon aus diesem Grund besser zu bleiben und auch weiterhin alles zu tun, was man tun konnte? Er wünschte jedoch, er wäre seiner Sache sicherer. »Gottverdammt noch mal, Jim!« Die Stimme Dr. Ingrams klang tief bekümmert. »Auf diese Art lass' ich mich nicht abspeisen.« Der Neger schüttelte den Kopf. »Es tut weh, das kann ich nicht leugnen, und meine streitbaren Freunde würden mir vermutlich sagen, ich sollte mich stärker zur Wehr setzten. Aber -« er zuckte mit den Schultern - »ich bin ein Mann der Wissenschaft und kein Kämpfer. Am Nachmittag geht eine Maschine nach dem Norden. Ich werde versuchen, mit ihr zurückzufliegen.« Dr. Ingram sah Peter an. »Begreifen Sie denn nicht? Dieser Mann ist ein bekannter Lehrer und Forscher. Er soll uns einen äußerst wichtigen Vortrag halten.« Gibt es wirklich keinen Ausweg, fragte sich Peter wütend. »Ich frage mich, ob Sie einen Vorschlag in Erwägung ziehen würden«, sagte er. »Falls sich Dr. Nicholas mit der Unterbringung in einem anderen Hotel einverstanden erklärt, will ich dafür sorgen, daß er hier an den Sitzungen teilnehmen kann.« Es war ein leichtsinniges Versprechen, darüber war sich Peter im klaren. Es würde schwer durchzudrücken sein und einen harten Kampf mit Warren Trent kosten. Aber soviel wollte er wenigstens fertigbringen - oder selbst seiner Wege gehen. »Und die geselligen Zusammenkünfte - die Dinner- und Lunchveranstaltungen?« Der Neger blickte ihn gerade an. Peter schüttelte langsam den Kopf. Es war zwecklos, Zugeständnisse zu machen die er nicht erfüllen konnte. Dr. Nicholas zuckte mit den Schultern; seine Miene verhärtete sich. »Dann hätte das Ganze doch keinen Sinn. Ich werde meinen Bericht mit der Post verschicken, Dr. Ingram, damit er auf diese Art die Runde macht. Ich glaube, Sie werden einiges darin finden, das Sie interessiert.« »Jim!« Der kleine weißhaarige Mann war heftig bewegt. »Jim, ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll. Aber verlassen Sie sich darauf, in dieser Sache ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.« Als Dr. Nicholas sich nach seiner Reisetasche umsah, sagte Peter: »Ich rufe einen Boy.« »Nein!« Dr. Ingram drängte ihn beiseite. »Den Koffer trage ich! Das ist ein Privileg, das ich mir nicht nehmen lasse.« »Gestatten Sie, Gentlemen«, sagte eine Stimme hinter ihnen. Als sie sich umwandten, klickte eine Kamera. »Danke. Und jetzt noch mal.« Der Mann in der Tweedjacke spähte durch den Sucher seiner Rolleiflex und knipste wieder. Den Apparat senkend, bemerkte er: »Diese hochempfindlichen Filme sind phantastisch. Früher hätte ich blitzen müssen.« »Wer sind Sie?« fragte Peter heftig. »Meinen Sie wer oder was?« »Egal! Auf jeden Fall ist das hier privates Gebiet...« »Ach, hören Sie schon auf damit! Immer dieselbe alte Leier.« Der Mann mit der Kamera verstellte die Blende. Als Peter auf ihn zutrat, blickte er hoch. »Immer sachte, Kumpel. Ihr Hotel wird ganz schön sinken, wenn ich mit ihm fertig bin. Das Verprügeln eines Fotografen macht sich in so einem Bericht immer gut.« Er grinste breit, als Peter zögerte. »Sie denken schnell, das muß ich Ihnen lassen.« »Sind Sie ein Zeitungsmann?« warf Dr. Ingram ein. »Gute Frage, Doktor.« Der Mann mit der dicken Brille grinste wieder. »Mein Boß ist gelegentlich anderer Meinung. Aber wenn ich ihm diesen kleinen Knüller aus meinem Urlaub schicke, wird er seine Meinung revidieren, schätz' ich.« »Welche Zeitung?« Peter hoffte, daß es sich um irgendein obskures Blatt handelte. »New York Herald Tribune.« »Fein!« Der Präsident des Zahnärztekongresses nickte beifällig. »Die wird die Sache groß herausbringen. Ich hoffe, Sie haben gesehen, was hier passiert ist.« »Sicher, ich bin im Bilde«, erwiderte der Zeitungsmann. »Ich brauche nur noch ein paar Auskünfte von Ihnen, damit ich die Namen richtig hinkriege. Vorher möchte ich draußen noch ein Foto machen - mit Ihnen und dem anderen Doktor.« Dr. Ingram faßte seinen farbigen Kollegen am Arm. »Das ist die richtige Art, die Sache auszufechten, Jim. Wir werden den Namen dieses Hotels durch sämtliche Zeitungen der Staaten zerren.« »Darauf können Sie Gift nehmen«, pflichtete der Zeitungsmann bei. »Die Agenturen werden sich um die Story reißen; und um meine Fotos auch, wenn mich nicht alles täuscht.« Der Neger nickte bedächtig. Da konnte man nichts machen, dachte Peter finster. Gar nichts. Curtis O'Keefe war, wie er bemerkte, stillschweigend verschwunden. Als die drei auf den Ausgang zusteuerten, sagte Dr. Ingram: »Ich möchte die Angelegenheit möglichst schnell abwickeln. Sobald Sie Ihre Fotos haben, werde ich die Verlegung unseres Kongresses einleiten. Man muß die Hotelleute da treffen, wo es sie am meisten schmerzt - am Geldbeutel.« Seine polternde, ehrliche Stimme entfernte sich aus der Halle. 6 »Ist die Polizei bei ihren Nachforschungen weitergekommen?« erkundigte sich die Herzogin von Croydon. Es war kurz vor elf Uhr vormittags. In der Abgeschiedenheit der Präsidentensuite saßen die Herzogin und ihr Gatte dem Hausdetektiv ängstlich gegenüber. Ogilvies fetter unförmiger Körper quoll über den Rand des Rohrstuhles, der bei jeder Bewegung protestierend knarrte. Sie befanden sich in dem geräumigen, sonnenhellen Salon der Suite hinter sorglich verschlossenen Türen. Wie am Vortage hatte die Herzogin die Zofe und den Sekretär unter einem Vorwand weggeschickt. Ogilvie dachte gründlich nach, bevor er antwortete. »Bisher wissen sie bloß, daß der Wagen nicht da ist, wo sie ihn suchen. Sie haben mit allen verfügbaren Leuten die nähere Umgebung der Stadt und die Vororte durchgekämmt, und nach dem, was ich gehört hab', sind sie noch nicht fertig damit. Aber ich schätze, morgen werden sie anfangen, sich in die Stadt hineinzuarbeiten.« In dem Verhältnis zwischen den Croydons und Ogilvie war seit gestern eine kaum wahrnehmbare Veränderung eingetreten. Zuvor waren sie Feinde gewesen. Nun waren sie Komplicen, obwohl sie einander noch nicht recht trauten und sich gewissermaßen erst zu einem Einverständnis hintasteten, dessen Konsequenzen sie selbst noch nicht übersahen. »Wenn wir nur so wenig Zeit haben, warum vertrödeln wir sie dann?« fragte die Herzogin. Die gemeinen Schweinsäuglein des Hausdetektivs verhärteten sich. »Sie bilden sich wohl ein, ich müßte jetzt gleich mit dem Wagen losgondeln? Mitten am hellichten Tag? Ihn vielleicht sogar auf der Canal Street parken?« Ganz unvermittelt schaltete sich der Herzog von Croydon zum erstenmal ein. »Die letzten Tage waren für meine Frau eine schwere Nervenprobe. Sie brauchen nicht gleich grob zu werden.« Ogilvies Miene brütender Skepsis veränderte sich nicht. Er fischte eine Zigarre aus der Rocktasche, betrachtete sie und steckte sie plötzlich wieder weg. »Ich schätze, wir sind alle ein bißchen durcheinander. Und so wird's auch bleiben, bis wir die Sache hinter uns haben.« Die Herzogin sagte ungeduldig: »Das ist unwichtig. Mich interessiert mehr, was im Moment geschieht. Weiß die Polizei schon, daß sie nach einem Jaguar suchen muß?« Der mächtige Kopf mit seinen Kinnwülsten bewegte sich langsam von einer Seite zur anderen. »Wenn sie's herausgekriegt haben, erfahren wir's schnell genug. Bei ausländischen Wagen dauert's, wie gesagt, meistens ein paar Tage, bevor sie ihn sicher festnageln können.« »Deutet nichts darauf hin..., daß sie die Affäre nicht mehr so wichtig nehmen? Es ist doch sehr oft so, daß aufregende Ereignisse an allgemeinem Interesse verlieren, wenn nach ein oder zwei Tagen nichts Neues entdeckt wird.« »Sind Sie verrückt?« Auf dem Gesicht des fetten Mannes malte sich aufrichtiges Erstaunen. »Haben Sie die Morgenzeitung nicht gelesen?« »Doch«, sagte die Herzogin. »Bei meiner Frage war vermutlich der Wunsch der Vater des Gedankens.« »Nichts hat sich geändert«, erklärte Ogilvie. »Außer, daß die Polizei vielleicht noch schärfer hinterher ist. Von der Lösung des Falls hängt eine Menge für sie ab, und die Polizisten wissen, wenn sie's nicht schaffen, gibt's Saures, auch für die oben an der Spitze. Der Bürgermeister hat so was angedeutet. Folglich ist jetzt auch die Politik mit im Spiel.« »Dann dürfte das Fortschaffen des Wagens jetzt noch schwieriger sein als je zuvor?« »Ich will Ihnen sagen, wie's ist, Herzogin. Jeder kleine Schupo weiß, falls er den Wagen schnappt, nach dem sie fahnden - Ihren Wagen -, dann kann er sich 'ne Viertelstunde später einen neuen Streifen an den Ärmel nähen. Folglich passen sie auf wie die Luchse. Schwierig ist gar kein Ausdruck.« Ein Schweigen trat ein, das nur von Ogilvies schnaufenden Atemzügen unterbrochen wurde. Es lag auf der Hand, welches die nächste Frage sein würde, aber sie zu stellen kostete anscheinend Überwindung, denn die Antwort konnte sowohl Rettung als auch Hoffnungslosigkeit bedeuten. Endlich sagte die Herzogin von Croydon: »Wann beabsichtigen Sie aufzubrechen? Wann werden Sie den Wagen nach dem Norden schaffen?« »Heute nacht«, erwiderte Ogilvie. »Deswegen komme ich.« Der Herzog stieß erleichtert und unüberhörbar die Luft aus. »Wie wollen Sie es anstellen, unbeobachtet aus der Stadt zu kommen?« fragte die Herzogin. »Ich kann für nichts garantieren. Aber ich hab' mir so einiges zurechtgelegt.« »Ja?« »Am besten fahr' ich gegen ein Uhr los, schätz' ich.« »Ein Uhr morgens?« Ogilvie nickte. »Ist nicht viel los um die Zeit. Wenig Verkehr, aber nicht zu wenig.« »Sie könnten aber trotzdem gesehen werden?« »Das Risiko besteht immer. Müssen uns eben darauf verlassen, daß wir Glück haben.« »Wenn Sie aus der Stadt sind - wie weit wollen Sie dann noch fahren?« »Gegen sechs wird's hell. Schätze, um die Zeit werd' ich in Mississippi sein. Höchstwahrscheinlich in der Nähe von Macon.« »Das ist nicht weit«, protestierte die Herzogin. »Nur auf dem halben Weg durch Mississippi. Noch nicht einmal ein Viertel der Strecke nach Chikago.« Der fette Mann rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Soll ich vielleicht Vollgas geben? Ein paar Rekorde brechen? Und am Ende riskieren, daß eine Verkehrsstreife hinter mir herjagt?« »Nein, natürlich nicht. Mir liegt nur daran, daß der Wagen möglichst schnell weit weggebracht wird. Was werden Sie tagsüber machen?« »Irgendwo in Deckung gehen. Es gibt genug geeignete Stellen in Mississippi.« »Und dann?« »Sowie's dunkel ist, brause ich ab. In nördlicher Richtung durch Alabama, Tennessse, Kentucky, Indiana.« »Wann ist es sicher? Wirklich sicher?« »Indiana, schätz ich.« »Und den Freitag über bleiben Sie in Indiana?« »Ich denke schon.« »So daß Sie am Samstag in Chikago sind?« »Samstag morgen.« »Schön«, sagte die Herzogin. »Mein Mann und ich fliegen am Freitagabend nach Chikago. Wir steigen im Drake-Hotel ab und warten dort, bis wir von Ihnen hören.« Der Herzog wich Ogilvies Blick aus und betrachtete seine Hände. »Sie werden von mir hören«, antwortete der Hausdetektiv bestimmt. »Brauchen Sie sonst noch etwas?« »Ja, eine Vollmacht für die Garage. Für alle Fälle. Damit ich Ihren Wagen nehmen kann.« »Ich schreibe sie gleich aus.« Die Herzogin ging quer durch den Raum zu einem Sekretär. Sie schrieb hastig eine Zeile auf einen Bogen Hotelbriefpapier und kehrte einen Moment später mit dem zusammengefalteten Blatt zurück. »Das müßte eigentlich genügen.« Ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen, verstaute Ogilvie das Papier in einer Innentasche. Sein Blick klebte am Gesicht der Herzogin. Nach einem verlegenen Schweigen fragte sie ratlos: »Das war es doch, was sie wollten, oder nicht?« Der Herzog von Croydon erhob sich und schritt steifbeinig davon. Den beiden anderen den Rücken zukehrend, sagte er mürrisch: »Er will das Geld haben.« Ogilvies feistes Gesicht verzog sich zu einem süßlichen Grinsen. »Stimmt haargenau, Herzogin. Zehntausend jetzt, wie wir abgemacht hatten. Den Rest von fünfzehntausend am Samstag in Chikago.« Bestürzt hob die Herzogin ihre beringten Hände an die Schläfen. »Ich weiß nicht, wie..., das hatte ich ganz vergessen. Es war soviel anderes zu bedenken.« »Macht nichts. Ich hätte Sie dran erinnert.« »Wir müssen es auf heute nachmittag verschieben. Unsere Bank wird das arrangieren... « »Bar, in kleinen Scheinen«, sagte der fette Mann. »Nicht höher als Zwanziger, und keine neuen Scheine.« Sie sah in forschend an. »Warum?« »Ist auf diese Art nicht nachweisbar.« »Trauen Sie uns nicht?« Er schüttelte den Kopf. »In einer Sache wie der soll man niemandem trauen. Wäre nicht klug.« »Und welchen Grund hätten wir dann, Ihnen zu trauen?« »Fünfzehntausend stehen noch aus..., das ist ein verdammt guter Grund.« Die absurde Fistelstimme bekam einen Unterton von Ungeduld. »Und denken Sie daran - auch die will ich in bar, und Banken sind am Samstag nicht geöffnet.« »Angenommen, wir bezahlen Sie in Chikago nicht«, sagte die Herzogin. Das Grinsen, auch jede Andeutung davon, war verschwunden. »Ich bin wirklich froh, daß Sie das aufs Tapet gebracht haben. Damit wir uns richtig verstehen.« »Ich glaube, ich verstehe es ohnehin, aber sagen Sie es mir trotzdem.« »Was in Chikago passieren wird, Herzogin, ist folgendes. Ich werde den Wagen irgendwo verstecken, aber Sie werden nicht wissen, wo. Dann komme ich ins Hotel und kassiere, und sowie ich das Geld habe, geb' ich Ihnen die Schlüssel und sag' Ihnen, wo der Wagen steht.« »Sie haben meine Frage nicht beantwortet.« »Darauf komme ich gerade.« Die Schweinsäuglein funkelten. »Geht irgendwas schief -, zum Beispiel, wenn Sie mir sagen, Sie hätten das Geld nicht, weil die Banken am Samstag geschlossen sind und Sie das verschwitzt haben, dann alarmiere ich die Polizei - genau dort in Chikago.« »Dann würden Sie aber für sich selbst auch eine ganze Menge zu erklären haben. Beispielsweise, warum Sie den Wagen nach dem Norden geschafft haben.« »Da ist weiter nichts dabei. Ich würde bloß sagen, Sie hätten mir ein paar hundert Dollar dafür bezahlt, damit ich den Wagen raufbringe. Sie und der Herzog hier wollten fliegen. Und erst, als ich in Chikago ankam und mir den Wagen näher besah, war' mir ein Licht aufgegangen. Sie sehen....« Er zuckte die Schultern. »Wir haben nicht die Absicht«, versicherte die Herzogin von Croydon, »unseren Teil der Abmachungen nicht einzuhalten. Aber genau wie Sie wollte ich sichergehen, daß wir einander verstehen.« Ogilvie nickte. »Ich schätze, das ist okay.« »Kommen Sie um fünf wieder her«, sagte die Herzogin. »Dann liegt das Geld bereit.« Als Ogilvie gegangen war, verließ der Herzog seine selbst auferlegte Isolierung am anderen Ende des Raumes. Auf einem Büfett stand ein seit dem Abend zuvor wieder aufgefülltes Tablett mit Gläsern und Flaschen. Er schenkte sich einen steifen Scotch ein, fügte einen Schuß Soda zu und kippte den Drink hastig hinunter. »Du fängst heute wieder früh an, wie ich sehe«, sagte die Herzogin eisig. »Es ist ein Reinigungsmittel.« Er goß sich einen zweiten Scotch ein, trank ihn diesmal jedoch langsamer aus. »Wenn ich mit diesem Menschen in demselben Raum bin, komme ich mir immer schmutzig vor.« »Er ist offenbar nicht so empfindlich«, bemerkte seine Frau. »Andernfalls könnte er gegen die Anwesenheit eines betrunkenen Kindesmörders einiges einzuwenden haben.« Das Gesicht des Herzogs war kreidebleich. Seine Hände zitterten, als er das Glas abstellte. »Das war ein Tiefschlag, altes Mädchen.« Sie fügte hinzu: »Der außerdem noch davonlief.« »Bei Gott - damit kommst du nicht durch!« rief er wütend. Er ballte die Hände, und eine Sekunde lang sah es so aus, als würde er zuschlagen. »Du warst es, die unbedingt weiterfahren und nachher nicht umkehren wollte. Du ganz allein! Ich hätte angehalten, wenn du nicht gewesen wärst! Du sagtest, es wäre sinnlos; man könnte das Unheil nicht ungeschehen machen. Noch gestern wollte ich mich der Polizei stellen. Du warst dagegen! Und jetzt haben wir ihn, diesen... diesen räudigen Hund, der uns auch noch den letzten Rest von Selbstachtung rauben wird...« Die Stimme erstarb. »Darf ich annehmen, daß du mit deinem hysterischen Ausbruch fertig bist?« erkundigte sich die Herzogin. Als er nicht antwortete, fuhr sie fort: »Und darf ich dich daran erinnern, daß es mich bemerkenswert wenig Überredungskraft kostete, dich zu meiner Meinung zu bekehren? Wäre es dir mit deinen Wünschen oder Absichten ernst gewesen, dann hättest du dich um mich nicht im geringsten zu kümmern brauchen. Was deine Angst vor der Räude betrifft, so bezweifle ich, daß du dich angesteckt hast, da du dich vorsorglich ferngehalten und die Verhandlungen mit diesem Mann mir überlassen hast.« Der Herzog seufzte. »Ich hätte mich gar nicht erst auf einen Streit einlassen sollen. Entschuldigung.« »Falls ein Streit zur Klärung deiner Gedanken notwendig ist«, sagte sie gleichgültig, »habe ich nichts dagegen.« Ihr Mann hatte wieder nach seinem Glas gegriffen und drehte es müßig in der Hand. »Es ist komisch, aber für eine Weile hatte ich das Gefühl, als hätte uns all dies, so schlimm es auch war, einander näher gebracht.« Die Worte waren so offensichtlich ein Appell, daß die Herzogin zögerte. Denn die Unterredung mit Ogilvie hatte auch sie gedemütigt und erschöpft. Sie sehnte sich, im tiefsten Inneren, nach einer kurzen Waffenruhe. Aber es war seltsam, eine Geste der Versöhnung überstieg ihre Kraft. Statt dessen entgegnete sie: »Sollte das wirklich der Fall sein, dann habe ich es nicht bemerkt.« Und sie fügte noch strenger hinzu: »Im übrigen haben wir jetzt schwerlich Zeit für Sentimentalitäten.« »Richtig!« Als wäre die Antwort seiner Frau ein Signal, kippte der Herzog seinen Drink und schenkte sich noch einen ein. Sie sagte beißend: »Ich wäre dir zu Dank verpflichtet, wenn du wenigstens einigermaßen bei Besinnung bliebst. Vermutlich werde ich mit der Bank verhandeln müssen, aber es wäre ja möglich, daß sie deine Unterschrift brauchen.« 7 Warren Trent sah sich zwei Aufgaben gegenüber, die er sich selbst auferlegt hatte und die beide nicht nach seinem Geschmack waren. Als erstes wollte er Tom Earlshore mit Curtis O'Keefes Anschuldigungen vom Abend zuvor konfrontieren. »Er betrügt Sie nach Strich und Faden«, hatte O'Keefe von dem ältlichen Barmann behauptet. Und: >Nach allem, was ich gehört habe, geht es schon sehr lange so.« Wie versprochen, hatte O'Keefe seine Anklage dokumentarisch belegt. Kurz nach zehn Uhr morgens hatte ein junger Mann, der sich als Sean Hall von der O'Keefe-Hotel-Corporation vorstellte, Warren Trent einen Bericht gegeben -mit detaillierten Beobachtungen, Daten und Zeitangaben. Der junge Mann, der geradewegs in Warren Trents Suite in der fünfzehnten Etage gekommen war, wirkte verlegen. Der Hotelbesitzer dankte ihm und machte sich daran, den siebenseitigen Bericht zu lesen. Er begann in grimmiger Laune, und sein Groll vertiefte sich, je weiter er kam. In dem Gutachten kam nicht nur Tom Earlshores Name vor, sondern auch der anderer Angestellter, die er für vertrauenswürdig gehalten hatte. Es wurde Warren Trent schmerzlich klar, daß er gerade von den Männern und Frauen betrogen wurde, auf die er sich am meisten verlassen hatte, einschließlich jener, wie Tom Earlshore, die er als persönliche Freunde betrachtet hatte. Es war auch offenkundig, daß die Korruption im Hotel noch viel weiter verbreitet sein mußte, als aus dem Bericht hervorging. Nachdem er die maschinegeschriebenen Blätter sorgsam zusammengefaltet hatte, verstaute er sie in einer Innentasche seines Jacketts. Wenn er sich nicht zusammennahm, würde er in Wut geraten, das wußte er, und alle, die sein Vertrauen mißbraucht hatten, entlarven und züchtigen. Darin mochte sogar eine melancholische Befriedigung liegen. Aber übermäßiger Zorn war ein Gefühl, das ihm neuerdings jegliche Kraft raubte. Er beschloß, sich nur Tom Earlshore vorzunehmen und sonst niemanden. Immerhin hatte der Bericht eine nützliche Wirkung, dachte Warren Trent. Er hatte ihn von einer Verpflichtung befreit. Bis zum gestrigen Abend war seine Einstellung zum St. Gregory zu einem guten Teil von der Loyalität bestimmt, die er seines Erachtens dem Hotelpersonal schuldete. Nun fielen durch die Treulosigkeit, die man ihm gegenüber gezeigt hatte, all diese Bedenken weg. Damit eröffnete sich ihm eine Möglichkeit, die Kontrolle über das Hotel zu behalten, eine Möglichkeit, die er bisher nie ernsthaft in Erwägung gezogen hatte. Auch jetzt noch erregte sie seinen Abscheu, weshalb er beschloß, sich zuerst der weniger unangenehmen Pflicht zu entledigen und Tom Earlshore aufzusuchen. Die Pontalba-Bar befand sich im Erdgeschoß des Hotels und war von der Halle aus zugänglich durch eine ledergepolsterte, mit Bronze beschlagene Schwingtür. Innen führten drei teppichbelegte Stufen in einen Raum hinab, der die Form eines L hatte und mit Tischen und bequemen Sitznischen ausgestattet war. Ungleich den meisten anderen Cocktail-Bars war die Pontalba hell erleuchtet. Infolgedessen konnten die Kunden sich gegenseitig ebensogut beobachten wie die Bar selbst, die sich am Querbalken des L entlangzog. Vor der Bar stand ein halbes Dutzend gepolsterter Hocker für einsame Trinker, die, wenn sie wollten, auf ihren Sitzen herumschwenken konnten, um einen Blick in die Runde zu werfen. Es war fünfundzwanzig Minuten vor zwölf Uhr mittags, als Warren Trent von der Halle aus hereinkam. Die Bar war fast leer bis auf ein Pärchen in einer der Nischen und zwei Männer mit Kongreßplaketten am Rockaufschlag, die sich an einem Tisch unweit der Tür leise miteinander unterhielten. Der übliche Ansturm zur Lunchzeit würde in etwa einer Viertelstunde beginnen, und dann war es mit der Gelegenheit für ein ruhiges Gespräch vorbei. Aber zehn Minuten müßten eigentlich für das, was er vorhatte, genügen, dachte der Hotelbesitzer. Ein Kellner eilte herbei, aber Warren Trent winkte ab. Tom Earlshore stand, mit dem Rücken zum Raum, hinter der Bar und war in irgendein Revolverblatt vertieft, das er auf der Registrierkasse ausgebreitet hatte. Warren Trent ging steifbeinig hinüber und setzte sich auf einen Barhocker. Nun konnte er sehen, daß der ältliche Barmann eine Wettzeitung studierte. »Haben Sie mein Geld auf die Art verpulvert?« fragte er. Earlshore fuhr mit bestürzter Miene herum. Gleich darauf malte sich auf seinem Gesicht mildes Erstaunen und dann augenfällige Freude, als er seinen Besucher erkannte. »Herrje, Mr. Trent, Sie haben mir einen schönen Schreck eingejagt.« Tom Earlshore faltete die Wettzeitung flink zusammen und stopfte sie in seine hintere Hosentasche. Sein gefurchtes ledernes Gesicht unter dem gewölbten Kahlkopf mit dem weißen Haarkranz eines Santa Claus verzog sich zu einem Lächeln. Warren Trent wunderte sich, warum er nie zuvor gemerkt hatte, daß es ein schmieriges Lächeln war. »Sie haben sich aber lange nicht mehr hier bei uns blicken lassen, Mr. Trent. Viel zu lange.« »Mag sein. Sie beklagen sich doch nicht, oder?« Tom Earlshore zögerte. »Nun... nein.« »Man sollte meinen, daß Sie hier so unbeaufsichtigt sind, hat Ihnen eine Menge günstiger Gelegenheiten verschafft.« Der Schatten eines Zweifels huschte über das Gesicht des Barkeepers. Dann lachte er, wie um sich selbst zu beruhigen. »Sie müssen immer Ihre kleinen Scherze machen, Mr. Trent. Oh, wo Sie schon hier sind... ich hab' da was, das ich Ihnen zeigen möchte. Wollte schon längst in Ihrem Büro vorbeischauen, bin aber nie dazu gekommen.« Er öffnete eine Schublade unterhalb der Theke und fischte einen Briefumschlag heraus, dem er ein Farbfoto entnahm. »Das hier ist Derek - mein dritter Enkel. Gesunder kleiner Bengel - genau wie seine Mutter, die Ihnen so viel verdankt. Ethel - das ist meine Tochter, wie Sie vielleicht noch wissen - erkundigt sich oft nach Ihnen; schickt Ihnen jedesmal ihre besten Wünsche, genau wie alle bei mir zu Haus.« Er legte das Foto auf die Bar. Warren Trent nahm es und gab es bedächtig zurück, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen. »Stimmt irgendwas nicht, Mr. Trent?« fragte Tom Earlshore beklommen und fügte, als er keine Antwort bekam, hinzu: »Kann ich Ihnen etwas mixen?« Zuerst wollte Trent ablehnen, besann sich dann jedoch anders. »Einen Ramos Gin Fizz.« »Yessir! Sofort, Sir!« Tom Earlshore griff rasch nach den Zutaten. Es war von jeher ein Vergnügen, ihm bei der Arbeit zuzusehen. Früher, wenn Warren Trent in seiner Suite Gäste bewirtete, ließ er Tom manchmal heraufkommen, um die Getränke zuzubereiten, und zwar hauptsächlich deshalb, weil seine Technik beim Mixen ein Schauspiel war, das der Qualität seiner Drinks in nichts nachstand. Er hatte knappe, rationelle Handbewegungen und die Geschicklichkeit eines Jongleurs. Auch jetzt demonstrierte er seine Kunstfertigkeit und servierte den Drink mit einer schwungvollen Geste. Der Hotelbesitzer nippte an dem Glas und nickte. Earlshore fragte: »Ist er recht so?« »Ja«, sagte Warren Trent. »Er ist so gut wie alles, was Sie bisher gemixt haben.« Er sah Earlshore gerade an. »Ich bin froh darüber, weil es der letzte Drink ist, den Sie jemals in meinem Hotel mixen werden.« Die Unruhe hatte sich in Besorgnis verwandelt. Earlshore fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. »Das ist doch nicht Ihr Ernst, Mr. Trent. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.« Die Bemerkung ignorierend, stieß der Hotelbesitzer sein Glas weg. »Warum haben Sie das getan, Tom? Warum mußten es gerade Sie sein?« »Ich schwöre bei Gott, daß ich keine Ahnung habe -« »Belügen Sie mich nicht, Tom. Sie haben mich lange genug belogen.« »Aber ich sage Ihnen, Mr. Trent -« »Hören Sie auf mit dem Theater!« Der scharfe Befehl durchschnitt die Stille wie ein Peitschenknall. Das friedliche Stimmengemurmel in der Bar verstummte. Der erschrockene Ausdruck in den hin und her huschenden Augen des Barmannes verriet Warren Trent, daß sich hinter ihm Köpfe der Bar zuwandten. Er war sich seines ständig wachsenden Zorns bewußt, den er eigentlich hatte beherrschen wollen. Earlshore schluckte. »Bitte, Mr. Trent. Ich arbeite seit dreißig Jahren hier. Noch nie haben Sie so zu mir gesprochen.« Seine Stimme war kaum vernehmbar. Aus der Innentasche, wo er ihn vorher verstaut hatte, zog Warren Trent den Bericht der O'Keefe-Corporation. Er blätterte zwei Seiten um, kniff die dritte ein und verdeckte einen Abschnitt mit der Hand. »Lesen Sie!« Tom Earlshore tappte nach seiner Brille und setzte sie auf. Seine Hände zitterten. Er las einige Zeilen und hielt inne. Er blickte auf. Da war kein Leugnen mehr. Nur die instinktive Furcht eines in die Enge getriebenen Tieres. »Sie können mir nichts nachweisen.« Warren Trent schlug mit der Hand auf die Bar. Gleichgültig dagegen, ob man ihn hörte oder nicht, ließ er seiner Wut freien Lauf. »Wenn ich will, kann ich es. Geben Sie sich keinen falschen Hoffnungen hin. Sie haben betrogen und gestohlen und wie alle Betrüger und Diebe eine Fährte hinterlassen.« Der Barkeeper schwitzte vor Angst. Ihm war, als sei seine Welt, die er für sicher gehalten hatte, plötzlich mittendurch geborsten. Länger, als er za denken vermochte, hatte er seinen Arbeitgeber übervorteilt, und so hatte sich schließlich die Überzeugung in ihm gefestigt, daß er unverwundbar sei. Nie, nicht in seinen schlimmsten Träumen, hatte er geglaubt, daß der Tag der Abrechnung kommen würde. Nun fragte er sich furchterfüllt, ob der Hotelbesitzer ahnte, wie unverschämt er ausgeplündert worden war. Mit dem Zeigefinger tippte Warren Trent auf das Dokument, das zwischen ihnen lag. »Diese Leute spürten die Korruption auf, weil sie nicht den Fehler machten - meinen Fehler -, Ihnen zu vertrauen und Sie für einen Freund zu halten.« Vorübergehend brachte ihn seine Gemütsbewegung zum Schweigen. Dann fuhr er fort: »Aber falls ich nach Beweisen grabe, werde ich sie finden. Das, was hier im Bericht angeführt wird, ist nicht alles, nicht wahr?« Tom nickte niedergeschlagen. »Nun, Sie brauchen keine Angst zu haben; ich werde Sie nicht anzeigen. Wenn ich's täte, hätte ich das Gefühl, ich zerstörte einen Teil meiner selbst.« Erleichterung flackerte über das Gesicht des ältlichen Barmanns; er versuchte die Regung rasch zu verbergen. »Ich schwöre Ihnen, wenn Sie mir noch eine Chance geben, werden Sie sich nie wieder über mich zu beklagen brauchen.« »Sie meinen, nun, da man Sie nach jahrelangen Gaunereien ertappt hat, wollen Sie liebenswürdigerweise mit dem Stehlen Schluß machen.« »Es ist schwer für mich, Mr. Trent, in meinem Alter eine Stellung zu finden. Ich habe eine Familie -« »Ja, Tom, das weiß ich«, sagte Warren Trent ruhig. Earlshore hatte den Anstand, zu erröten. Er sagte unbeholfen: »Das Geld, das ich hier verdiente - der Job selbst brachte mir nie genug ein. Andauernd kamen neue Rechnungen; Sachen für die Kinder -« »Und die Buchmacher, Tom, die wollen wir nicht vergessen. Die Buchmacher waren ständig hinter Ihnen her, stimmt's? Die wollten in erster Linie bezahlt werden.« Es war eine bloße Vermutung, aber Earlshores Schweigen verriet, daß Trent ins Schwarze getroffen hatte. Warren Trent sagte schroff: »Genug der Worte. Und jetzt verschwinden Sie gefälligst, und ässen Sie sich nie wieder im Hotel blicken.« Immer mehr Gäste strömten durch den Eingang von der Halle in die Pontalba-Bar. Das Stimmengewirr hatte zugenommen und wurde lauter. Ein junger Gehilfe war hinter der Bar aufgetaucht und bereitete Drinks zu, die von den Kellnern abgeholt wurden. Er vermied es geflissentlich, zu Trent und zu seinem ehemaligen Vorgesetzten hinüberzusehen. Tom Earlshore blinzelte. Ungläubig protestierte er: »Aber der Lunchbetrieb -« »Geht Sie nichts mehr an! Sie sind fristlos entlassen.« In dem Maße, in dem ihm das Unvermeidliche klar wurde, wandelte sich auch der Gesichtsausdruck des Ex-Barmanns. Seine ehrerbietige Miene machte einem verkniffenen Grinsen Platz, als er erklärte: »Okay, ich gehe. Aber Sie, mein großmächtiger Mr. Trent, werden mir ziemlich bald folgen, weil man Sie nämlich auch rausschmeißen wird. Das weiß hier doch jeder.« »Was weiß hier jeder?« Earlshores Augen glühten. »Die Leute hier wissen, daß Sie ein unnützer, ruinierter alter Trottel sind, der von der Leitung eines Hotels genausowenig versteht wie ein Wickelkind. Das ist auch der Grund, warum Sie das Haus hier nicht halten können, und wenn man Sie raussetzt, werde ich einer von vielen sein, der sich darüber halb totlacht.« Er zögerte, schwer atmend und bestürzt über seine Verwegenheit. Aber der Drang, sich zu rächen, war stärker. »Länger, als ich denken kann, haben Sie sich angestellt, als wären wir alle hier Ihr Eigentum. Na schön, vielleicht haben Sie wirklich ein paar Cents mehr gezahlt als andere und den Wohltäter gespielt - wie bei mir -, als wären Sie Christus und Moses in einer Person. Aber uns konnten Sie damit nicht zum Narren halten. Sie zahlten höhere Löhne, um die Gewerkschaften rauszuhalten, und wohltätig waren Sie, damit Sie sich als großer Mann fühlen konnten, und so kamen die Leute schnell genug dahinter, daß Sie dabei mehr an sich dachten als an sie. Deshalb haben sie hinter Ihrem Rücken über Sie gelacht und in die eigene Tasche gewirtschaftet so wie ich. Glauben Sie mir, es hat sich 'ne Menge getan - mehr als Sie jemals herauskriegen werden.« Earlshore verstummte, und sein Gesicht spiegelte die Befürchtung wider, daß er zu weit gegangen war. Hinter ihnen füllte sich die Bar schnell. Zwei der benachbarten Barhocker waren bereits besetzt. Im ständig zunehmenden Lärm trommelte Warren Trent nachdenklich mit den Fingern auf die lederbezogene Theke. Seltsamerweise war seine Wut verraucht. An ihre Stelle war eine stählerne Entschlossenheit getreten - den Schritt, den er vorher in Erwägung gezogen hatte, nun nicht länger hinauszuzögern. Er hob seine Augen zu dem Mann, den er seit dreißig Jahren zu kennen glaubte, aber in Wirklichkeit niemals gekannt hatte. »Tom, Sie werden es nie verstehen, aber mit Ihren letzten Worten haben Sie mir einen großen Gefallen erwiesen. Und jetzt verschwinden Sie - bevor ich es mir anders überlege und Sie doch noch ins Gefängnis schicke.« Tom Earlshore wandte sich ab und ging stumm hinaus. Als Warren Trent auf dem Weg zum Ausgang nach der Carondelet Street die Halle passierte, übersah er kühl die Blicke von Angestellten, denen er begegnete. Ihm war nicht nach Scherzreden zumute, nachdem er an diesem Morgen gelernt hatte, daß Verrat ein Lächeln zur Schau trug und sich hinter Herzlichkeit Verachtung verbergen konnte. Die Eröffnung, daß man ihn wegen seiner Versuche, die Angestellten gut zu behandeln, auslachte, hatte ihn tief getroffen - um so mehr, als sie der Wahrheit zu entsprechen schien. Nun, dachte er, wartet nur ein oder zwei Tage. Wir werden sehen, wer dann lacht. Als er draußen auf der betriebsamen, sonnenbeschienenen Straße anlangte, sah ihn ein uniformierter Türsteher und trat ehrerbietig auf ihn zu. »Besorgen Sie mir ein Taxi«, befahl Warren Trent. Er hatte vorgehabt, ein oder zwei Blocks zu Fuß zu gehen, aber ein stechender Schmerz in der Hüfte, als er die Hotelstufen hinunterstieg, brachte ihn davon ab. Der Türsteher blies in seine Trillerpfeife, und ein Taxi scherte aus dem vorbeiflutenden Verkehrsstrom aus und bremste am Randstein. Warren Trent kletterte schwerfällig auf den Rücksitz, während der Mann die Tür offenhielt und respektvoll an die Mütze tippte, bevor er sie zuschlug. Der Respekt war auch nur eine leere Geste, vermutete Warren Trent. Er wußte, daß er von nun an viele Dinge, die er bisher für bare Münze genommen hatte, mit Mißtrauen betrachten würde. Das Taxi fuhr an, und als er den forschenden Blick des Fahrers im Rückspiegel gewahrte, sagte er: »Fahren Sie mich nur ein paar hundert Meter weiter. Ich möchte telefonieren.« »Es gibt einen Haufen Telefone im Hotel, Boß«, sagte der Mann. »Das ist meine Sache. Bringen Sie mich zu einem Münzfernsprecher.« Der Mann brauchte nicht zu wissen, daß der Anruf, den er vorhatte, zu geheim war, als daß er die Benutzung einer Hotelleitung riskieren konnte. Der Fahrer zuckte mit den Schultern. Nach zwei Blocks schwenkte er nach Süden in die Canal Street ein, seinen Fahrgast wieder prüfend im Rückspiegel musternd. »Es ist ein schöner Tag. Unten am Hafen gibt's mehrere Telefonzellen.« Warren Trent nickte, froh über den kurzen Aufschub. Der Verkehr wurde dünner, als sie die Tchoupitoulas Street kreuzten. Eine Minute später stoppte der Wagen auf dem Parkplatz vor dem Gebäude der Hafenverwaltung. Einige Meter weiter befand sich eine Telefonzelle. Er gab dem Fahrer einen Dollar und wies das Kleingeld zurück. Dann, im Begriff auf die Zelle zuzusteuern, überlegte er es sich anders und ging quer über die Eads Plaza zum Fluß hinunter. Die Mittagshitze prallte auf ihn herab und sickerte von der betonierten Promenade tröstlich durch seine Schuhsohlen. Die Sonne, Freundin alter Knochen, dachte er. Am jenseitigen Ufer des fast einen Kilometer breiten Mississippi flimmerte Algiers in der Hitze. Vom Fluß stiegen heute üble Gerüche auf, obwohl das nichts Ungewöhnliches war. Gestank, Trägheit und Schlick gehörten zu den Launen des Vaters der Gewässer. Er gleicht dem Leben, dachte Warren Trent; man ist stets von Treibsand und Schlamm umgeben. Ein Frachter glitt vorbei in Richtung auf den Golf, mit der Sirene einen einfahrenden Schleppzug anheulend. Der Schleppzug änderte den Kurs; der Frachter dampfte weiter, ohne sein Tempo zu verringern. Bald würde das Schiff die Einsamkeit des Flusses gegen die noch größere Einsamkeit des Ozeans vertauschen. Er fragte sich, ob die Menschen an Bord sich dessen bewußt waren oder sich darum kümmerten. Vielleicht nicht. Oder vielleicht hatten sie, wie er selbst, mit der Zeit begriffen, daß es keinen Ort auf der Welt gibt, wo der Mensch nicht einsam ist. Er ging zur Telefonzelle zurück und machte die Tür sorglich hinter sich zu. »Ein Ferngespräch«, erklärte er der Vermittlung. »Nach Washington, D. C.« Es dauerte mehrere Minuten, und es gab einige Rückfragen, bevor er mit der Person verbunden wurde, die er verlangt hatte. Schließlich kam die rauhe, barsche Stimme eines der mächtigsten - und, wie manche behaupteten, auch korruptesten - Gewerkschaftsführers der Staaten durch die Leitung. »Also los, reden Sie.« »Guten Morgen«, sagte Warren Trent. »Ich hatte gehofft, daß Sie nicht beim Lunch wären.« »Sie haben drei Minuten«, sagte die Stimme kurz. »Fünfzehn Sekunden haben Sie bereits vergeudet.« Warren Trent sagte hastig: »Vor einiger Zeit, bei einem Zusammentreffen, machten Sie mir ein vorläufiges Angebot. Vielleicht erinnern Sie sich nicht mehr -« »Ich erinnere mich stets. Manche Leute wünschen, es wäre anders.« »Bei dieser Gelegenheit war ich ein bißchen kurz angebunden, was ich bedaure.« »Das war eine halbe Minute. Ich habe hier eine Stoppuhr.« »Ich bin bereit, mit Ihnen ein Abkommen zu treffen.« »Die Abkommen treffe ich. Andere akzeptieren sie.« »Falls Ihre Zeit wirklich so kostbar ist«, schoß Warren Trent zurück, »dann wollen wir sie nicht mit Haarspaltereien vertrödeln. Seit Jahren versuchen Sie im Hotelgeschäft Fuß zu fassen. Außerdem möchten Sie die Position Ihrer Gewerkschaft in New Orleans verstärken. Ich biete Ihnen eine Chance, die Ihnen beides ermöglicht.« »Wie hoch ist der Preis?« »Zwei Millionen Dollar - in einer sicheren ersten Hypothek. Dafür bekommen Sie einen gewerkschaftlich gebundenen Betrieb und setzen den Vertrag selbst auf. Das ist nur recht und billig, da Sie Ihr eigenes Geld hineinstecken würden.« »Tjah«, sagte die Stimme versonnen. »Also, werden Sie jetzt die verdammte Stoppuhr abstellen?« erkundigte sich Warren Trent. Ein Kichern schallte durch die Leitung. »Ich hab' gar keine. Es überrascht mich aber immer wieder, wie der Gedanke die Leute anspornt. Wann brauchen Sie das Geld?« »Das Geld am Freitag. Eine Entscheidung vor morgen mittag.« »Bin Ihre letzte Rettung, eh? Nachdem alle anderen Sie abgewiesen haben?« Eine Lüge hätte wenig Sinn gehabt. Er antwortete kurz: »Ja.« »Hatten Sie Verluste?« »Nicht so starke, daß man die Tendenz nicht ändern könnte. Die O'Keefe-Leute beurteilen die Chancen positiv. Sie haben mir ein Kaufangebot gemacht.« »Wäre vielleicht ganz klug, es anzunehmen.« »Falls ich mich dazu entschließe, ist es mit Ihrer Chance vorbei.« Ein Schweigen trat ein, das Warren Trent nicht störte. Er konnte spüren, wie der Mann am anderen Ende der Leitung nachdachte, Berechnungen anstellte, und bezweifelte nicht im mindesten, daß sein Vorschlag ernsthaft erwogen wurde. Seit einem Jahrzehnt versuchte die International Brotherhood of Journeymen die Hotelindustrie zu infiltrieren. Im Gegensatz zu den meisten anderen Kampagnen der Journeymen war diese bisher kläglich gescheitert. In diesem einzigen Punkt gab es eine Solidarität zwischen Hotelunternehmern, die die Journeymen fürchteten, und den anständigeren Gewerkschaften, die sie verachteten. Für die Journeymen konnte der Vertrag mit dem St. Gregory - einem bis jetzt nicht organisierten Hotel - ein Riß im festgefügten Damm des allgemeinen Widerstandes sein. Was das Geld anbelangte, so war eine Investition von zwei Millionen Dollar - sofern sich die Journeymen dazu entschlossen - nur ein kleiner Happen für den Gewerkschaftssäckel. Sie hatten im Laufe der Jahre für ihren erfolglosen Kampf um Hotelmitgliedschaft viel mehr ausgegeben. Innerhalb der Hotelindustrie - Warren Trent machte sich da nichts vor - würde man ihn als Verräter brandmarken, wenn die Vereinbarung, die er vorgeschlagen hatte, zustande kam. Und seine eigenen Angestellten würden ihn in Grund und Boden verdammen, zumindest jene, die genügend informiert waren, um zu begreifen, daß man sie verraten hatte. Nach Lage der Dinge waren es die Angestellten, die am meisten dabei verloren. Falls ein Vertrag mit der Gewerkschaft unterzeichnet wurde, würde es vermutlich, wie immer unter solchen Umständen, gewissermaßen als anerkennende Geste, zu einer Lohnerhöhung kommen. Aber die Erhöhung war ohnehin fällig - tatsächlich sogar überfällig -, und er selbst hätte sie auch gewährt, wenn es ihm gelungen wäre, die Finanzierung des Hotels auf irgendeinem anderen Wege zu arrangieren. Der gegenwärtig bestehende Pensionsplan für die Angestellten würde zugunsten des Pensionsfonds der Gewerkschaft aufgegeben werden, aber davon würde lediglich die Kasse der Journeymen profitieren. Eine besonders einschneidende Veränderung aber war, daß die Gewerkschaftsbeiträge -wahrscheinlich sechs bis zehn Dollar monatlich - obligatorisch würden. Damit war nicht nur die geringfügige Lohnerhöhung illusorisch, sondern der Nettolohn der Angestellten würde sich sogar verringern. Nun, dachte Warren Trent, die Schmähungen seiner Kollegen in der Hotelindustrie würde er ertragen müssen. Was das übrige anbelangte, so erstickte er seine Gewissensbisse mit der Erinnerung an Tom Earlshore und seinesgleichen. Die barsche Stimme am Telefon riß ihn aus seinen Gedanken. »Ich schicke zwei von meinen Finanzexperten los. Heute nachmittag fliegen sie runter. Die Nacht über nehmen sie Ihre Bücher auseinander. Ich meine, wirklich auseinander; glauben Sie also nicht, Sie könnten mit irgend etwas hinter dem Berge halten.« Die unmißverständliche Drohung war ein Wink, daß nur sehr couragierte oder tollkühne Leute jemals wagten, mit der Journeymen's Union Scherze zu treiben. Der Hotelbesitzer sagte gereizt: »Ich habe nichts zu verbergen. Sie können alle vorhandenen Unterlagen einsehen.« »Wenn meine Leute mir morgen früh berichten, daß alles okay ist, unterzeichnen Sie mit uns einen dreijährigen Vertrag.« Es war eine Feststellung, keine Frage. »Gut. Natürlich muß dann noch eine Abstimmung unter den Angestellten stattfinden, aber ich bin sicher, daß ich mich für ein günstiges Ergebnis verbürgen kann.« Beim Gedanken, ob er das wirklich konnte, empfand Warren Trent ein leichtes Unbehagen. Ein Bündnis mit den Journeymen würde auf Opposition stoßen, soviel war sicher. Aber ein großer Teil der Angestellten würde sich nach seiner persönlichen Empfehlung richten, falls er sie energisch genug äußerte. Der springende Punkt war nur: Würden sie die erforderliche Majorität liefern? »Eine Abstimmung findet nicht statt«, sagte der Vorsitzende der Journeymen. »Aber das Gesetz -« »Versuchen Sie nicht, mir etwas über Gewerkschaftsrecht beizubringen!« schnarrte es ärgerlich aus dem Telefon. »Ich weiß besser darin Bescheid, als Sie jemals wissen werden.« Nach einer kurzen Pause kam die knurrige Erklärung: »Es handelt sich um ein freiwilliges Anerkennungsübereinkommen. Im Gesetz steht nichts davon, daß darüber abgestimmt werden muß. Folglich wird es keine Abstimmung geben.« Warren Trent räumte ein, daß es genau auf die Art gemacht werden könne. Die Prozedur wäre unmoralisch, aber zweifellos legal. Seine eigene Unterschrift auf einem Gewerkschaftsvertrag würde unter diesen Umständen für alle Hotelangestellten bindend sein, ob es ihnen nun paßte oder nicht. Warum nicht, dachte er grimmig; es würde die Sache wesentlich vereinfachen, und das Endergebnis wäre dasselbe. Er fragte: »Wie wollen Sie es mit der Hypothek machen?« Das war ein kitzliger Punkt. In der Vergangenheit hatten Untersuchungskommissionen des Senats die Journeymen scharf kritisiert, weil sie hohe Summen in Unternehmen investierten, mit denen sie Gewerkschaftsverträge abgeschlossen hatten. »Sie stellen einen Schuldschein aus, zahlbar an den Journeymen's Pensionsfonds, über zwei Millionen Dollar zu acht Prozent. Der Schuldschein ist gesichert durch eine erste Hypothek auf das Hotel. Die Hypothek wird von der Southern Conference of Journeymen für den Pensionsfonds treuhänderisch verwaltet.« Das Arrangement war von diabolischer Cleverness. Es verletzte zwar den Geist sämtlicher Gesetze, die sich mit der Verwendung von Gewerkschaftsfonds befaßten, hielt sich jedoch formell innerhalb der gesetzlichen Grenzen. »Der Schuldschein ist in drei Jahren fällig und verwirkt, falls Sie zweimal hintereinander die Zinsen nicht zahlen.« »Mit allem übrigen bin ich einverstanden«, murrte Warren Trent, »aber ich möchte fünf Jahre haben.« »Sie bekommen drei.« Es waren harte Bedingungen, aber eine Frist von drei Jahren würde ihm die Möglichkeit geben, das Hotel wieder wettbewerbsfähig zu machen. »Also gut«, sagte er widerwillig. Es klickte in der Leitung, als der Teilnehmer am anderen Ende auflegte. Trotz eines neuerlichen Anfalls seiner Ischiasschmerzen lächelte Warren Trent, als er die Telefonzelle verließ. 8 Nach der ärgerlichen Szene in der Halle, die in der Abreise von Dr. Nicholas gipfelte, fragte sich Peter McDermott beklommen, was als nächstes kommen würde. Bei näherer Überlegung entschied er, daß durch eine übereilte Intervention bei den Funktionären des Kongresses Amerikanischer Zahnärzte nichts zu gewinnen war. Falls Dr. Ingram auf seiner Drohung beharrte, die gesamte Tagung aus dem Hotel zu ziehen, so ließ sich das ohnehin nicht vor morgen früh bewerkstelligen. Folglich war es sowohl ungefährlich als auch klug, ein oder zwei Stunden, bis zum Nachmittag, zu warten, damit die Gemüter sich abkühlten. Dann würde er Dr. Ingram und notfalls auch andere Kongreßteilnehmer aufsuchen. Was die Anwesenheit des Zeitungsmannes während des unglückseligen Zwischenfalls betraf, so war es offenbar zu spät, den angerichteten Schaden auszumerzen. Um des Hotels willen hoffte Peter, daß der verantwortliche Redakteur der Affäre keine große Bedeutung beimessen möge. In sein Büro im Zwischengeschoß zurückkehrend, beschäftigte er sich für den Rest des Vormittags mit Routineangelegenheiten. Er widerstand der Versuchung, Christine aufzusuchen, da sein Instinkt ihm sagte, daß auch hier eine gewisse Zurückhaltung am Platze war. Aber er begriff, daß er irgendwann und ziemlich bald wegen seiner monumentalen Eselei von vorhin Abbitte leisten mußte. Er beschloß, kurz vor zwölf bei Christine vorbeizuschauen, aber sein Vorsatz wurde zunichte gemacht durch einen Anruf des stellvertretenden Managers, der Peter mitteilte, daß ein Gast namens Stanley Kilbrick aus Marshalltown, Iowa, in seinem Zimmer ausgeraubt worden sei. Obwohl gerade erst gemeldet, war der Diebstahl anscheinend im Laufe der Nacht verübt worden. Zahlreiche Wertgegenstände und Bargeld wurden angeblich vermißt, und laut dem stellvertretenden Manager war der Gast völlig aus dem Häuschen. Ein Hoteldetektiv befand sich bereits am Tatort. Peter gab eine Nachricht an den Chefdetektiv durch. Er hatte keine Ahnung, ob sich Ogilvie im Hotel befand, da die Dienststunden des fetten Mannes für alle anderen außer ihm selbst ein undurchdringliches Geheimnis waren. Kurz danach jedoch informierte man ihn, daß Ogilvie sich in die Ermittlungen eingeschaltet hatte und so bald wie möglich Bericht erstatten würde. Zwanzig Minuten später tauchte er in Peter McDermotts Büro auf. Der Chefdetektiv deponierte seine Körpermassen sorglich in dem tiefen Sessel auf der anderen Seite des Schreibtischs. Seine instinktive Abneigung mühsam unterdrückend, fragte Peter: »Was für einen Eindruck haben Sie von der Sache?« »Der Bursche, der bestohlen wurde, ist ein Trottel. Er wurde eingeseift. Das hier sind die vermißten Gegenstände.« Ogilvie legte eine handgeschriebene Liste auf Peters Schreibtisch. »Eine Kopie hab' ich für mich behalten.« »Danke. Ich reiche sie bei unserer Versicherung ein. Wie steht's mit dem Zimmer - irgendwelche Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen?« Der Detektiv schüttelte den Kopf. »Ganz sicher ein Schlüsseljob. Paßt alles zusammen. Kilbrick gibt zu, daß er gestern nacht im Viertel gesumpft hat. Schätze, er hätte seine Mutter mitnehmen sollen. Behauptet, er hat seinen Schlüssel verloren. Ist von seiner Geschichte nicht abzubringen. Ich halt's aber für wahrscheinlicher, daß er von einem Animiermädchen reingelegt worden ist.« »Begreift er denn nicht, daß die Chance, die gestohlenen Sachen zurückzubekommen, für uns größer ist, wenn er mit der Wahrheit herausrückt?« »Ich hab' ihm das gesagt, es hat aber nichts genützt. Erstens kommt er sich im Moment reichlich blöde vor, und zweitens hat er sich bereits ausgerechnet, daß die Hotelversicherung ihm den Verlust ersetzt. Vielleicht sogar noch ein bißchen mehr; er behauptet, in seiner Brieftasche wären vierhundert Dollar gewesen.« »Nehmen Sie ihm das ab?« »Nein.« Na, dachte Peter, der Gast würde sich wundern. Die Hotelversicherung deckte den Verlust von Gegenständen im Wert bis zu hundert Dollar, aber nicht von Bargeld. »Was halten Sie von dem Diebstahl? Glauben Sie, daß es sich um einen einmaligen Job handelt?« »Nein«, sagte Ogilvie. »Ich glaube, wir haben's mit einem professionellen Hoteldieb zu tun, und er arbeitet im Haus.« »Wie kommen Sie darauf?« »Weil heute morgen noch was passiert ist - Beschwerde von der Nummer 641. Schätze, es ist noch nicht bis zu Ihnen gedrungen.« »Falls ja, dann kann ich mich wenigstens nicht daran erinnern«, sagte Peter. »Ziemlich zeitig - soweit ich feststellen konnte, im Morgengrauen - ließ sich irgendein Bursche mit einem Schlüssel in die 641 ein. Der Mann im Zimmer erwachte. Der andere tat, als wäre er betrunken, und sagte, er hätte es mit der 614 verwechselt. Daraufhin schlief der Mann im Zimmer wieder ein, aber heute früh fing er an sich zu wundern, wieso der Schlüssel von der 614 in die 641 paßte. Und dann meldete er die Sache.« »Der Empfang könnte einen falschen Schlüssel ausgegeben haben.« »Könnte, hat aber nicht. Ich hab's nachgeprüft. Der Mann von der Nachtschicht schwört, daß keiner der beiden Schlüssel ausgegeben wurde. Und in der 614 wohnt ein Ehepaar; es ging gestern nacht zeitig schlafen und blieb im Bett.« »Haben wir eine Beschreibung des Mannes, der in die 641 eingedrungen ist?« »Ja, aber sie taugt nichts. Bloß um sicherzugehen, brachte ich die zwei Männer - aus der 614 und 641 - zusammen. Der von der 614 war's nicht, das steht fest. Hab' auch die Schlüssel ausprobiert; keiner von beiden paßt ins andere Schloß.« Peter sagte nachdenklich: »Es sieht ganz danach aus, als hätten Sie recht mit dem professionellen Dieb. In diesem Fall sollten wir einen Feldzugsplan ausarbeiten.« »Einiges hab' ich schon in die Wege geleitet. Ich hab' den Angestellten am Empfang gesagt, in den nächsten paar Tagen sollen sie nach dem Namen fragen, bevor sie die Schlüssel aushändigen. Wenn ihnen irgendwas faul vorkommt, sollen sie den Schlüssel rausgeben und sich den Vogel, der ihn verlangt hat, genau ansehen und dann sofort meine Leute alarmieren. Die Zimmermädchen und die Boys wissen, daß sie die Augen offenhalten sollen, und meine Männer machen Überstunden und patrouillieren nachts durch die Korridore.« »Das klingt gut.« Peter nickte billigend. »Haben Sie daran gedacht, selbst für ein oder zwei Tage ins Hotel zu ziehen? Ich lasse Ihnen ein Zimmer reservieren, wenn Sie wollen.« Peter schien es, als huschte ein Anflug von Besorgnis über das Gesicht des fetten Mannes. Dann schüttelte Ogilvie den Kopf. »Ist nicht nötig.« »Aber Sie sind doch zur Hand?« »Sicher, ich bleib' in der Nähe.« Bei allem Nachdruck fehlte es seinen Worten seltsamerweise an Überzeugungskraft. Als sei er sich des Mankos bewußt, fügte Ogilvie hinzu: »Auch wenn ich nicht immer gleich zur Stelle bin - meine Leute wissen, was sie zu tun haben.« Noch immer nicht ganz befriedigt, fragte Peter: »Was für Abmachungen haben Sie mit der Polizei getroffen?« »Sie schicken zwei Beamte in Zivil rüber. Ich werd' mit ihnen reden, und ich schätze, sie werden ein paar Auskünfte einholen, um festzustellen, wer in der Stadt sein könnte. Wenn es ein Bursche mit einschlägigen Vorstrafen ist, haben wir vielleicht Glück und schnappen ihn.« »In der Zwischenzeit wird unser Freund - wer immer er auch ist - nicht still auf seinem Hosenboden sitzenbleiben.« »Bestimmt nicht. Und wenn er so schlau ist, wie ich denke, hat er sich ausgerechnet, daß wir hinter ihm her sind. Deshalb wird er höchstwahrscheinlich schnell arbeiten und dann verduften.« »Was ein Grund mehr ist, warum Sie stets greifbar sein müssen«, meinte Peter. Ogilvie protestierte: »Ich glaube, ich hab' an alles gedacht.« »Das glaube ich auch. Tatsächlich wüßte ich nicht, was man noch mehr in der Sache tun könnte. Ich befürchte nur, daß, falls Sie nicht hier sind, ein anderer nicht so gründlich und rasch zu Werke geht.« Was immer man auch am Chefdetektiv auszusetzen hatte, dachte Peter, er verstand sich auf sein Geschäft, wenn es ihm in den Kram paßte, sich damit zu befassen. Aber es war zum Auswachsen, daß ihre Beziehungen ihn zwangen, um Dinge zu bitten, die praktisch auf der Hand lagen. »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, sagte Ogilvie. Aber Peter spürte instinktiv, daß der fette Mann selbst aus irgendwelchen Gründen beunruhigt war, als er sich aus dem Sessel hievte und schwerfällig hinausstapfte. Ein oder zwei Sekunden später folgte ihm Peter, nachdem er im Vorzimmer die Anweisung gegeben hatte, die Versicherung über den Diebstahl zu informieren und ihr die von Ogilvie aufgestellte Liste der entwendeten Gegenstände zuzuschicken. Peter lief das kurze Stück bis zu Christines Büro und war enttäuscht, als er sie dort nicht antraf. Er beschloß, gleich nach dem Lunch noch einmal vorbeizuschauen. Er ging in die Halle hinunter und schlenderte in das Hauptrestaurant. Am regen Lunchbetrieb merkte man, daß das Hotel derzeit gut besetzt war. Er nickte Max, dem Oberkellner, der auf ihn zueilte, freundlich zu. »Guten Tag, Mr. McDermott. Einen Einzeltisch?« »Nein, ich werde mich zur Strafkolonie gesellen.« Peter nutzte sein Vorrecht als stellvertretender Direktor, im Speisesaal für sich allein zu sitzen, selten aus. Meist zog er die Gesellschaft seines Mitarbeiterstabs an dem für sie reservierten großen runden Tisch unweit der Küchentür vor. Der Rechnungsprüfer des St. Gregory, Royall Edwards, und Sam Jakubiec, der untersetzte glatzköpfige Kreditmanager, waren bereits beim Lunch, als Peter an den Tisch trat. Doc Vickery, der Chefingenieur, der einige Minuten vorher gekommen war, studierte die Speisekarte. Peter setzte sich auf den Stuhl, den Max bereithielt, und fragte: »Was können Sie empfehlen?« »Versuchen Sie die Kressesuppe«, riet Jakubiec. »Sie ist wie bei Muttern; sogar noch besser.« Royall Edwards fügte mit seiner korrekten Buchhalterstimme hinzu: »Die heutige Spezialität ist Brathähnchen. Wir haben es bestellt.« Als der Oberkellner verschwand, tauchte geschwind ein anderer junger Kellner neben ihnen auf. Trotz gegenteiliger Instruktionen wurde der Tisch der leitenden Angestellten, die sogenannte Strafkolonie, im ganzen Speisesaal am besten bedient. Wie Peter und andere herausgefunden hatten, war es dem Personal schwer begreiflich zu machen, daß die zahlenden Gäste des Hotels wichtiger waren als die leitenden Angestellten. Der Chefingenieur klappte die Speisekarte zu und spähte über seine dicke Brille hinweg, die wie gewöhnlich auf seine Nasenspitze gerutscht war. »Bringen Sie mir das gleiche, Söhnchen.« »Mir auch.« Peter gab die Speisekarte ungeöffnet zurück. Der Kellner zögerte. »Ich weiß nicht, ob ich das Brathähnchen empfehlen kann, Sir. Vielleicht nehmen Sie lieber etwas anderes.« »Na, das hätten Sie uns auch eher sagen können«, meinte Jakubiec. »Ich kann die Bestellung leicht umändern, Mr.Jakubiec. Ihre auch, Mr. Edwards.« »Stimmt etwas nicht mit den Hähnchen?« fragte Peter. »Vielleicht hätt' ich's nicht sagen sollen.« Der Kellner trat unschlüssig von einem Fuß auf den anderen. »Tatsache ist, die Leute beschweren sich darüber. Es scheint ihnen nicht zu schmecken.« »In dem Fall möchte ich wissen, warum«, sagte Peter. »Lassen Sie also meine Bestellung wie sie ist.« Ein wenig widerstrebend pflichteten die anderen bei. Als der Kellner davongeflitzt war, fragte Jakubiec: »Ist an dem Gerücht, das ich gehört hab', was Wahres - daß unser Zahnärztekongreß vielleicht auszieht?« »Sie haben richtig gehört, Sam. Heute nachmittag werde ich erfahren, ob es nur ein Gerücht bleibt.« Peter löffelte seine Suppe und beschrieb dann den Zwischenfall in der Halle. Die Mienen der anderen wurden ernst. Royall Edwards bemerkte: »Nach meiner Meinung kommt ein Unglück selten allein. In Anbetracht unserer jüngsten finanziellen Verluste, über die Sie alle im Bilde sind, könnte sich das zu einer neuen Pleite auswachsen.« »Falls es dazu kommt«, erklärte der Chefingenieur, »wird man vermutlich das Budget für die technische Abteilung kürzen.« »Oder ganz streichen«, entgegnete der Rechnungsprüfer. Doc Vickery grunzte, durchaus nicht belustigt. »Vielleicht werden wir alle gestrichen«, sagte Sam Jakubiec, »wenn O'Keefe den Laden übernimmt.« Er sah Peter forschend an, aber Edwards nickte warnend, als der Kellner wieder auftauchte. Die Gruppe schwieg, während der junge Mann das Hähnchen servierte, und für eine Weile war nur Stimmengemurmel im Speisesaal, das gedämpfte Scheppern von Geschirr, das Hin- und Herflitzen der Ober durch die Küchentür zu hören. Sobald sie wieder allein waren, fragte Jakubiec angelegentlich: »Also, was gibt's Neues?« Peter schüttelte den Kopf. »Ich weiß gar nichts, Sam. Außer, daß die Suppe verdammt gut ist.« »Wie Ihnen vielleicht noch erinnerlich ist, haben wir sie Ihnen empfohlen«, sagte Edwards, »und ich möchte Ihnen jetzt noch einen wohlfundierten Rat geben - springen Sie ab, bevor es zu spät ist.« Er hatte in seiner Portion Brathuhn herumgestochert und legte nun Messer und Gabel nieder. »Ich schlage vor, daß wir uns ein andermal den Wink unseres Kellners mehr zu Herzen nehmen.« »Ist es wirklich so mies?« fragte Peter. »Ziemlich mies, falls Sie nicht gerade eine Vorliebe für ranziges Fett haben.« Jakubiec pickte zögernd eine Kostprobe von seinem Teller, während die anderen gespannt zusahen. Schließlich erklärte er: »Man kann's auch so ausdrücken: Wenn ich für das Essen zahlen müßte, würde ich mich weigern.« Sich halb von seinem Stuhl erhebend, entdeckte Peter den Oberkellner auf der anderen Seite vom Speisesaal und winkte ihn herüber. »Max, hat Chef Hebrand heute Dienst?« »Nein, Mr. McDermott. Ich hab' gehört, er ist krank. Souschef Lemieux vertritt ihn.« Der Oberkellner fügte besorgt hinzu: »Falls es wegen der Brathähnchen ist, so haben wir bereits Abhilfe getroffen. Sie werden nicht mehr serviert, und bei den Gästen, die sich beschwert haben, wurde das gesamte Menü ersetzt.« Sein Blick schweifte rund um den Tisch. »Das gleiche werden wir auch hier tun.« »Im Augenblick interessiert mich mehr, wieso das passieren konnte«, sagte Peter. »Würden Sie Chef Lemieux bitte fragen, ob er einen Moment Zeit für mich hat?« Da er die Küchentür unmittelbar vor sich hatte, war Peter stark versucht, einfach hineinzustürmen und sich an Ort und Stelle zu erkundigen, warum die Lunchspezialität ungenießbar war. Aber ein solches Vorgehen wäre unklug gewesen. Beim Umgang mit ihren Küchenchefs richtete sich die Hotelleitung nach einem strengen traditionellen Protokoll, das dem eines königlichen Hofs gleichkam. In der Küche war der Chef de Cuisine - oder in seiner Abwesenheit der Souschef -unbestrittener König. Es war undenkbar, daß ein Hoteldirektor die Küche unaufgefordert betrat. Chefs konnten entlassen werden, und wurden es auch manchmal. Aber bis das geschah, war ihr Königreich tabu. Einen Chef aus der Küche zu bitten - in diesem Fall an einen Tisch im Speisesaal -, entsprach dem Protokoll. Tatsächlich grenzte es an einen Befehl, da Peter McDermott, in Warren Trents Abwesenheit, die Leitung des Hotels innehatte. Es wäre für Peter auch noch zulässig gewesen, an der Küchentür zu warten, bis man ihn hereinbat. Aber angesichts dieser offenkundigen Krise in der Küche wußte Peter, daß seine Methode die richtige war. »Wenn Sie mich fragen«, bemerkte Sam Jakubiec, »ist der alte Chef Hebrand längst pensionsreif.« Royall Edwards fragte: »Falls er sich zur Ruhe setzt, würde man den Unterschied überhaupt merken?« Das war eine Anspielung, wie sie alle wußten, auf die zahlreichen dienstfreien Tage des Chefs de Cuisine, in denen er sich mit Krankheit entschuldigte. Heute war anscheinend wieder so ein Tag. »Das Ende kommt für uns alle schnell genug«, knurrte der Chefingenieur. »Es ist nur natürlich, daß man's hinausschieben möchte.« Es war kein Geheimnis, daß die schonungslose Härte des Rechnungsprüfers dem von Natur gutmütigen Doc Vickery zuweilen auf die Nerven ging. »Ich kenne unseren neuen Souschef noch nicht«, sagte Jakubiec. »Vermutlich hat er seine Nase noch nicht aus der Küche gesteckt.« Royall Edwards blickte auf seinen kaum berührten Teller. »Dann muß seine Nase ein erstaunlich unempfindliches Organ sein.« Im gleichen Moment schwang die Küchentür auf. Ein Pikkolo, der gerade hindurchgehen wollte, trat ehrerbietig zurück, als Max, der Oberkellner, zum Vorschein kam. Ihm folgte in einigen Schritten Abstand eine hochgewachsene, schlanke Gestalt in gestärktem weißem Kittel, mit hoher weißer Mütze und darunter einer Miene tiefsten seelischen Elends. »Gentlemen«, verkündete Peter, »falls Sie einander noch nicht kennen, dies ist Chef Andre Lemieux.« »Messieurs!« Der junge Franzose blieb stehen und hob die Hände in einer hilflosen Geste. »Daß mir das mußte passieren... ich bin verzweifelt.« Seine Stimme klang erstickt. Peter McDermott war dem neuen Souschef seit dessen Ankunft vor sechs Wochen mehrmals begegnet. Bei jedem Zusammentreffen schloß er den Neuankömmling mehr ins Herz. Andre Lemieux' Einstellung erfolgte nach dem überstürzten Abzug seines Vorgängers. Der frühere Souschef hatte, nach monatelangen Enttäuschungen und innerlichem Schäumen, seiner Wut über seinen Vorgesetzten, den alternden M. Hebrand, Luft gemacht. Normalerweise wäre die Szene im Sande verlaufen, da Gefühlsausbrüche bei den Chefs und Köchen -wie in jeder großen Küche - sehr häufig vorkamen. Der Zusammenstoß fiel jedoch insofern aus dem Rahmen des Üblichen, als der ehemalige Souschef eine Terrine mit Suppe nach dem Chef de Cuisine schleuderte. Glücklicherweise handelte es sich bei der Suppe um Vichys-Soße, sonst wären die Folgen noch ernster gewesen. Es war ein denkwürdiges Schauspiel, als der Chef de Cuisine, vor Nässe triefend, seinen Assistenten zum Personalausgang eskortierte und dort - mit einer für sein Alter erstaunlichen Energie - auf die Straße warf. Eine Woche später wurde Andre Lemieux eingestellt. Seine Qualifikationen waren hervorragend. Er hatte in Paris gelernt, in London - bei Prunier's und im Savoy - und danach kurz in Le Pavillon in New York gearbeitet, bevor er den ranghöheren Posten in New Orleans erreichte. Aber Peter vermutete, daß der junge Souschef bereits in den wenigen Wochen seit seiner Ankunft die gleichen Enttäuschungen erlebt hatte, die seinen Vorgänger zum Wahnsinn getrieben hatten. Die Ursache war M. Hebrands unüberwindlicher Widerstand gegen alle Neuerungen in der Küche, obwohl er häufig abwesend war und sich dann von seinem Souschef vertreten ließ. Die Situation erinnerte Peter lebhaft an sein Verhältnis zu Warren Trent und erregte sein Mitgefühl. Peter wies auf einen freien Stuhl am Tisch der leitenden Angestellten. »Wollen Sie sich nicht zu uns setzen?« »Danke, Monsieur.« Der junge Franzose nahm gravitätisch Platz. Gleich darauf erschien der Kellner, der, ohne neue Instruktionen einzuholen, alle vier Lunchbestellungen durch Veal Scallopini ersetzt hatte. Er nahm die zwei anstößigen Portionen Brathuhn weg, die ein dienstfertiger Pikkolo hastig in die Küche verbannte. Die vier Männer machten sich über ihr Essen her, während der Souschef lediglich einen schwarzen Kaffee trank. »So lass' ich's mir gefallen«, sagte Sam Jakubiec anerkennend. »Haben Sie entdeckt, was die Panne verursachte?« fragte Peter. Der Souschef warf einen unglücklichen Blick in Richtung Küche. »Die Pannen, sie 'aben viele Ursach'. Diesmal lag es am schlechten Geschmack des Bratfetts. Aber ich bin zu tadeln, weil ich geglaubt, daß Fett ausgewechselt worden ist. Und ich, Andre Lemieux, ich ließ zu, daß solch ein Essen wurde serviert.« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Man kann seine Augen nicht überall haben«, sagte der Chefingenieur. »Wir Abteilungsleiter wissen das.« Royall Edwards verlieh einem Gedanken Ausdruck, der Peter auch schon gekommen war. »Leider werden wir nie erfahren, wie viele Gäste sich nicht beschwerten, dafür aber nicht wiederkommen werden.« Andre Lemieux nickte düster. Er setzte die Kaffeetasse ab. »Messieurs, Sie werden mich entschuldigen. Monsieur McDermott, wenn Sie fertig gegessen 'aben, wir können vielleicht miteinander reden, ja?« Fünfzehn Minuten später betrat Peter die Küche durch die Tür des Speisesaals. Andre Lemieux eilte ihm entgegen. »Es ist nett von Ihnen, zu kommen, Monsieur.« Peter schüttelte den Kopf. »Ich mag Küchen.« Ein Blick in die Runde zeigte ihm, daß die erhöhte Aktivität während der Lunchzeit allmählich nachließ. Einige Bestellungen gingen noch hinaus, vorbei an den zwei weiblichen Kontrolleuren mittleren Alters, die wie pedantische mißtrauische Schulmeisterinnen hinter Registrierkassen thronten. Aber weit mehr benutztes Geschirr kam aus dem Speisesaal herein, wo Pikkolos und Kellner die Tische abräumten, während die Schar der Gäste sich lichtete. In der Spülküche im Hintergrund, die mit ihren verchromten Schaltertischen und Abfallbehältern wie die Kehrseite der Cafeteria aussah, arbeiteten sechs in Gummischürzen gehüllte Küchenhelfer und vermochten der Geschirrflut aus den verschiedenen Hotelrestaurants und dem Kongreßsaal kaum Herr zu werden. Peter bemerkte, daß ein Gehilfe die unberührten Butterportionen abfing und in einen großen Chrombehälter streifte. Später würde die Butter zum Kochen verwendet werden. »Ich wollte mit Ihnen sprechen allein, Monsieur. In Gegenwart anderer kann man viele Dinge schlecht sagen, verstehen Sie.« »Ein Punkt ist mir noch nicht klar«, sagte Peter nachdenklich. »Sie hatten angeordnet, daß das Bratfett ausgewechselt würde, aber die Anordnung wurde nicht befolgt. Ist das richtig?« »Ja.« »Was ist nun eigentlich geschehen?« Der junge Chef machte ein bekümmertes Gesicht. »Diesen Morgen, ich gebe den Befehl. Meine Nase sagt mir, das Fett ist nicht gut. Aber M. Hebrand ohne mich zu informieren -widerruft den Befehl. Dann M. Hebrand ging nach 'ause, und ich blieb zurück mit dem schlechten Fett.« Peter mußte unwillkürlich lächeln. »Was war der Grund für den Gegenbefehl?« »Fett ist teuer - sehr teuer; da 'at M. Hebrand recht. In letzter Zeit wir 'aben es oft ausgewechselt. Zu oft.« »Haben Sie versucht, die Ursache herauszufinden?« Andre Lemieux spreizte verzweifelt die Hände. »Ich 'abe vorgeschlagen, jeden Tag, einen chemischen Test - für freie Fettsäure. Es könnte sogar 'ier in einem Laboratorium gemacht werden. Dann würden wir suchen nach dem Grund, warum das Fett schlecht wird. M. Hebrand ist nicht einverstanden - damit und mit anderen Dingen.« »Sie glauben also, daß hier vieles verkehrt ist?« »Sehr vieles«, erwiderte Andre Lemieux kurz und beinahe mürrisch, und einen Moment lang hatte es den Anschein, als sei das Gespräch zu Ende. Dann, als wäre ein Damm gebrochen, sprudelte er hervor: »Monsieur McDermott, ich sage Ihnen, 'ier ist sehr viel verkehrt. Das ist keine Küche, um mit Stolz darin zu arbeiten. Es ist ein - wie nennen Sie das - ein Durcheinander -schlechtes Essen, alte Methoden, die schlecht sind, neue Methoden, die auch schlecht sind, und viel Verschwendung. Ich bin ein guter Küchenchef; man wird Ihnen das bestätigen. Aber ein guter Chef muß glücklich sein bei dem, was er tut, oder er ist nicht mehr gut. Ja, Monsieur, ich würde vieles ändern, sehr vieles, und es wäre besser für das Hotel, für M. Hebrand, für andere. Aber man verbietet mir - wie einem bebe - irgend etwas zu ändern.« »Vielleicht wird es hier bald große Veränderungen geben«, sagte Peter. »Sehr bald sogar.« Andre Lemieux warf sich hochmütig in die Brust. »Sollten Sie damit auf Monsieur O'Keefe anspielen, so werde ich sein regime nicht miterleben. Ich 'abe nicht die Absicht, Koch in einer Schnellgaststätte zu werden.« Peter fragte neugierig: »Falls das St. Gregory unabhängig bleibt, was für Veränderungen haben Sie dann im Sinn?« Sie hatten fast die gesamte Länge der Küche abgeschritten -ein langgestrecktes Viereck, das die ganze Breite des Hotels einnahm. An jeder Seite des Vierecks führten, wie Ausläufer aus einem Kontrollzentrum, Türen zu den verschiedenen Hotelrestaurants, zu den Personal- und Speiseaufzügen und Anrichteräumen. Einer doppelten Reihe von Suppenkesseln ausweichend, die wie riesige Schmelztiegel brodelten, näherten sie sich dem verglasten Büro, wo sich, theoretisch, die beiden obersten Küchenchefs - der Chef de Cuisine und der Souschef -die Verantwortung teilten. Unweit davon bemerkte Peter den großen Tiefbrater, die Ursache der heutigen Panne. Ein Küchenhelfer ließ gerade das gesamte Fett ablaufen; in Anbetracht der Quantität war leicht zu verstehen, warum ein zu häufiges Auswechseln kostspielig sein mußte. Sie machten halt, während Andre Lemieux über Peters Frage nachdachte. »Welche Veränderungen ich würde vornehmen, Monsieur? An erster Stelle kommen die Speisen. Für manche ist das Aussehen eines Gerichts, die fa9ade, wichtiger als der Geschmack. In diesem Hotel vergeuden wir viel Geld für das decor. Überall sieht man die Petersilie, aber in den Saucen ist sie zuwenig. Die Kresse liegt auf dem Teller, aber in der Suppe ist nicht genug davon. Und die bunten Gelatinearrangements!« Der junge Lemieux hob verzweifelt beide Arme. »Und was die Weine angeht, Monsieur! Dieu merci, der Wein, er schlägt nicht in mein Fach.« »Ja«, sagte Peter. Er war mit den unzulänglichen Weinvorräten des St. Gregory auch nicht zufrieden. »Mit einem Wort, Monsieur, all die Schrecken einer minderwertigen table d'höte. Solch kolossale Mißachtung für das Essen, solch ein Geldaufwand nur für den schönen Schein -man könnte weinen, Monsieur. Weinen!« Er hielt inne, zuckte mit den Schultern und fuhr fort: »Bei größerer Sparsamkeit wir könnten 'aben eine cuisine, die für den Gaumen ein Genuß ist. Jetzt ist sie eintönig und ganz alltäglich.« Peter fragte sich, ob Andre Lemieux in bezug auf das St. Gregory realistisch genug dachte. Als hätte er den Zweifel gespürt, fügte der Souschef hinzu: »Natürlich 'at ein Hotel seine speziellen Probleme. Dies 'ier ist kein 'aus für Feinschmecker, kann es auch gar nicht sein. Wir müssen rasch sehr viele Mahlzeiten kochen und sie Leuten servieren, die zu sehr in amerikanischer Eile sind. Aber innerhalb dieser Grenzen kann man doch eine Art von exellence erreichen, eine excellence, die einen befriedigt. Aber M. Hebrand sagt mir, meine Ideen sind zu kostspielig. Das stimmt nicht, wie ich bewiesen 'abe.« »Wie haben Sie es bewiesen?« »Kommen Sie, bitte.« Der junge Franzose ging voran ins Büo. Das war ein kleiner vollgepackter Glaskasten mit zwei Schreibtischen, mit Karteischränken und Regalen, die sich an drei Wänden entlangzogen. Andre Lemieux begab sich an den kleineren Schreibtisch. Einer Schublade entnahm er einen großen gelben Umschlag, aus dem er einen Hefter zog. Er reichte ihn Peter. »Sie fragen, was für Änderungen, 'ier steht alles drin.« Peter McDermott schlug gespannt den Hefter auf. Er war viele Seiten stark, und jedes Blatt war mit zierlichen präzisen Buchstaben bedeckt. Mehrere größere gefaltete Bogen waren mit der Hand gezeichnete, sorgsam beschriftete Tabellen. Peter erkannte, daß es sich um einen Hauptverpflegungsplan für das gesamte Hotel handelte. Auf den nachfolgenden Seiten fand er Kostenvoranschläge, Speisekarten, einen Plan zur Qualitätskontrolle und einen Entwurf für die Reorganisierung des Personals. Selbst beim flüchtigen Durchblättern war er vom Konzept und vom Verständnis des Verfassers fürs Detail tief beeindruckt. Er blickte auf. Lemieux sah ihn erwartungsvoll an. »Ich würde mir das gern genauer ansehen, wenn ich darf.« »Nehmen Sie es mit. Es eilt nicht.« Der junge Souschef lächelte verkniffen. »Man 'at mir gesagt, keines meiner Pferde wird das Rennen machen.« »Was mich dabei am meisten überrascht, ist, daß Sie in so kurzer Zeit einen so tiefen Einblick gewonnen haben.« Andre Lemieux zuckte mit den Schultern. »Man braucht nicht lange, um zu erkennen, was 'ier nicht stimmt.« »Vielleicht könnten wir die gleiche Methode beim Tiefbrater anwenden.« In den Augen des anderen schimmerte es humorvoll auf. »Touche. Es ist wahr - ich 'abe soviel gesehen, aber nicht das 'eiße Fett unter meiner Nase.« »Nein«, wandte Peter ein. »Nach dem, was Sie mir erzählten, haben Sie das schlechte Fett entdeckt, nur wurde es, entgegen Ihrem Befehl, nicht ausgewechselt.« »Aber ich 'ätte den Grund 'erausfinden müssen, warum es schlecht wurde. Es gibt immer einen Grund. Wenn wir ihn nicht bald finden, werden wir bald noch größeren Ärger 'aben.« »Wieso?« »'eute 'aben wir den Brater glücklicherweise nur wenig benutzt. Morgen, Monsieur, müssen wir sechshundert Portionen für den Lunch der Kongreßteilnehmer braten.« Peter stieß einen leisen Pfiff aus. »Ja richtig.« Sie hatten das Büro verlassen uid standen nun vor dem Tiefbrater, der gerade von den letzten Überresten des ranzigen Fetts gesäubert wurde. »Morgen ist das Fett natürlich frisch. Wann haben Sie es zum letztenmal erneuert?« »Gestern.« »Erst?« Andre Lemieux nickte. »M. Hebrand macht keinen Scherz, als er sich über die 'ohen Kosten beklagte. Die Sache ist ein mystere für uns.« »Ich versuche gerade, mir ein paar Tatsachen aus der Nahrungsmittelchemie ins Gedächtnis zurückzurufen«, sagte Peter langsam. »Der Rauchpunkt von frischem gutem Fett liegt bei -« »Zweihundert Grad. Es sollte niemals stärker erhitzt werden, oder es bricht.« »Und wenn das Fett an Qualität verliert, sinkt sein Rauchpunkt allmählich.« »Ja, sehr langsam - wenn sonst alles in Ordnung ist.« »Hier braten Sie bei...?« »'undertachtzig Grad; die beste Temperatur - für Küchen und für 'ausfrauen.« »Solange also der Rauchpunkt bei hundertachtzig Grad bleibt, erfüllt das Fett seinen Zweck. Darunter aber nicht mehr.« »Das ist wahr, Monsieur. Und das Fett gibt den Speisen einen schlechten Beigeschmack. Sie schmecken ranzig wie 'eute.« Ehemals auswendig gelernte, inzwischen eingerostete Fakten regten sich in Peters Gedächtnis. In Cornell hatte es für die Studenten der Hotelfachschule einen Kursus für Nahrungsmittelchemie gegeben. Er erinnerte sich dunkel an eine Vorlesung... an einem trüben Nachmittag in Statler Hall mit weiß bereiften Fensterscheiben. Er war aus der schneidenden winterlichen Kälte gekommen. Drinnen war es warm, und ein Professor las über »Fette und Katalysatoren.« »Es gibt gewisse Substanzen«, sagte Peter versonnen, »die, wenn sie mit Fett in Berührung kommen, als Katalysatoren wirken und es sehr schnell zersetzen.« »Ja, Monsieur.« Andre Lemieux zählte sie an den Fingern ab. »Dazu gehören Feuchtigkeit, Salz, Messing- oder Kupferverbindungen in einem Brater, zu viel 'itze, das Öl von der Olive. All das 'abe ich nachgeprüft, und es ist nicht der Grund.« Plötzlich fiel Peter etwas ein. Es verband sich mit Beobachtungen, die er eben, sich selbst nicht bewußt, bei der Säuberung des Tiefbraters gemacht hatte. »Aus welchem Metall bestehen die Bratroste?« »Aus Chrom«, war die verdutzte Antwort. Beide wußten, daß Chrom dem Fett nicht schadete. »Ich frage mich, wie stark der Überzug ist. Und, falls er nicht gut ist, was darunter ist, und ob er abgenutzt ist?« Lemieux zögerte; seine Augen weiteten sich. Dann holte er stillschweigend einen der Körbe herunter und wischte ihn sorgfältig mit einem Tuch ab. Sie traten unter eine Lampe und prüften die Oberfläche des Metalls. Der Chromüberzug war durch langen und ständigen Gebrauch zerkratzt. An einzelnen Stellen war er völlig abgeschabt, und darunter schimmerte es gelblich. »Es ist Messing!« Der junge Franzose schlug sich mit der Hand an die Stim. »Das ist zweifellos der Grund, warum das Fett ranzig wird. Ich war ein Riesentrottel.« »Sie brauchen sich wirklich keine Vorwürfe zu machen. Irgendwann, lange vor Ihrer Zeit, wollte jemand sparen und kaufte billige Bratroste. Leider kamen sie uns schließlich ziemlich teuer zu stehen.« »Aber ich hätte von selbst dahinterkommen müssen, Monsieur!« Andre Lemieux schien den Tränen nahe. »Statt dessen kommen Sie in die Küche - aus Ihrer paperasserie - und sagen mir, was 'ier verkehrt ist. Alle werden mich auslachen.« »Das wird nur geschehen, wenn Sie selbst darüber reden«, sagte Peter. »Von mir erfährt keiner etwas.« Andre Lemieux sagte langsam: »Man 'at mir erzählt, daß Sie ein guter Mann sind und intelligent. Nun weiß ich selbst, daß das wahr ist.« Peter tippte auf den Hefter in seiner Hand. »Ich werde Ihren Bericht lesen und Ihnen sagen, was ich davon halte.« »Danke, Monsieur. Und ich werde neue Bratkörbe anfordern. Aus rostfreiem Stahl, 'eute abend sind sie 'ier und wenn ich jemandem den Kopf einschlagen muß.« Peter lächelte. »Monsieur, da ist noch etwas - nur so ein Gedanke.« »Ja?« Der junge Souschef zögerte. »Sie werden mich für - wie nennen Sie das - für anmaßend 'alten. Aber Sie und ich, Monsieur McDermott - wenn wir freie 'and 'ätten -, wir könnten aus dem St. Gregory ein Hotel fabuleux machen.« Obwohl er laut herauslachte, mußte Peter McDermott auf dem ganzen Weg in sein Büro über Lemieux' Bemerkung nachdenken. 9 Eine Sekunde, nachdem sie an die Tür von Zimmer 1410 geklopft hatte, fragte sich Christine, warum sie hergekommen war. Ihr gestriger Besuch war nach den Ereignissen in der Nacht zuvor und Albert Wells' Kampf mit dem Tode nur natürlich gewesen. Aber nun befand er sich in guter Pflege und war, nach seiner Wiederherstellung, in seine Rolle als normaler Gast unter anderthalbtausend anderen Gästen zurückgeglitten. Daher, so sagte sich Christine, bestand eigentlich kein Anlaß für einen zweiten persönlichen Besuch. Aber sie fühlte sich irgendwie zu dem kleinen ältlichen Mann hingezogen. War es vielleicht seiner väterlichen Güte wegen, und weil sie an ihm Charakterzüge ihres eigenen Vaters wahrnahm, mit dessen Verlust sie sich nie ganz abgefunden hatte, selbst nach fünf langen Jahren nicht. Aber nein! Die Beziehung zu ihrem Vater war geprägt durch ihr Vertrauen in seinen Schutz. Bei Albert Wells war es umgekehrt; sie empfand ihn als ihren Schützling, so wie sie ihn gestern gegen die Folgen zu verteidigen suchte, die seine Entscheidung für private Pflege haben mußte. Oder vielleicht, dachte Christine, war sie einfach einsam und wollte ihre Enttäuschung darüber abreagieren, daß sie Peter heute abend nicht sehen würde, wie es ursprünglich geplant war. Und was das anlangte - war es wirklich nur Enttäuschung gewesen oder ein stärkeres Gefühl, als sie entdeckte, daß er statt dessen mit Marsha Preyscott dinieren würde? Wenn sie sich nichts vormachen wollte, mußte Christine sich eingestehen, daß sie heute morgen sehr erbost gewesen war. Immerhin hoffte sie, ihren Ärger gut verborgen zu haben, obwohl sie sich einige bissige Bemerkungen nicht hatte verkneifen können. Es wäre ein großer Fehler gewesen, ihr Anrecht auf Peter zu zeigen oder die kleine katzenhafte Miss Marsha im Glauben zu bestärken, sie habe einen weiblichen Sieg errungen, auch wenn sie ihn tatsächlich errungen haben sollte. Auf ihr Klopfen hin hatte sich nichts gerührt. Da sie wußte, daß die Pflegerin eigentlich im Dienst sein müßte, klopfte Christine noch einmal lauter. Diesmal hörte sie, wie ein Stuhl zurückgeschoben wurde und tappende Schritte. Die Tür öffnete sich. Albert Wells war voll bekleidet, sah gut aus und hatte Farbe im Gesicht. Seine Miene erhellte sich, als er Christine erblickte. »Ich hatte gehofft, daß Sie kommen würden, Miss. Andernfalls hätte ich Sie aufgesucht.« Sie sagte erstaunt: »Aber ich dachte...« Der kleine vogelähnliche Mann schmunzelte. »Sie dachten, man würde mich am Bett festnageln; na, sie haben's sich anders überlegt. Ich fühle mich so wohl, daß ich Ihren Hoteldoktor veranlaßt habe, nach dem Spezialisten zu schicken - dem aus Illinois, Dr. Uxbridge. Das ist ein vernünftiger Bursche; er sagte, wenn Leute sich besser fühlen, dann geht es ihnen meistens auch besser. Folglich haben wir die Pflegerin nach Haus gejagt, und ich bin wieder mein eigener Herr.« Er strahlte. »Kommen Sie herein, Miss.« Christines erste Reaktion war Erleichterung darüber, daß nun die erheblichen Kosten der privaten Pflege wegfielen. Sie vermutete, daß derselbe Gedanke Albert Wells' Entschluß mit beeinflußt hatte. Als sie ihm ins Zimmer folgte, fragte er: »Haben Sie schon mal geklopft?« Sie bejahte. »Dachte mir, ich hätte was gehört. Aber ich war zu sehr in das da vertieft.« Er zeigte auf einen Tisch unweit des Fensters. Auf ihm lag ein großflächiges und kniffliges Zusammensetzspiel, das zu zwei Dritteln vollendet war. »Oder vielleicht glaubte ich auch, es sei Bailey«, fügte er hinzu. »Wer ist Bailey?« fragte Christine neugierig. Der alte Mann zwinkerte ihr zu. »Wenn Sie ein Weilchen bleiben, lernen Sie ihn kennen - entweder ihn oder Barnum.« Verständnislos schüttelte sie den Kopf. Sie ging zum Fenster hinüber und beugte sich über das Puzzlespiel. Aus den bereits eingesetzten Teilchen ließ sich auf dem ersten Blick erkennen, daß es sich um eine Ansicht von New Orleans handelte - die Stadt bei Anbruch der Dunkelheit, aus der Vogelschau gesehen, vom schimmernden Band des Stromes durchflossen. Sie sagte: »Früher, als Kind, hab' ich mich auch damit beschäftigt. Mein Vater half mir dabei.« »In den Augen mancher Leute ist das vielleicht nicht der passende Zeitvertreib für einen erwachsenen Mann«, meinte Albert Wells. »Ich mache mich meistens daran, wenn ich über irgendwas nachdenken möchte. Manchmal entdecke ich das Schlüsselteilchen und die Antwort auf mein Problem zur gleichen Zeit.« »Das Schlüsselteilchen? Davon hab' ich noch nie gehört.« »Es ist bloß so ein Einfall von mir, Miss. Ich schätze, es gibt immer einen Schlüssel - für dieses Spiel hier und für alle möglichen anderen Probleme. Manchmal bildet man sich ein, man hat ihn gefunden, aber das ist ein Irrtum. Wenn man ihn gefunden hat, sieht man plötzlich alles viel klarer, und alle Teile drumherum greifen ineinander.« Es klopfte kräftig an der äußeren Tür. Albert Wells flüsterte: »Aha, Bailey!« Als sich die Tür öffnete, nahm Christine überrascht einen uniformierten Hoteldiener wahr. Über seine Schulter hatte er eine Kollektion von Anzügen an Kleiderbügeln; vor sich her trug er einen gebügelten blauen Sergeanzug, der, seinem altmodischen Schnitt nach zu schließen, Albert Wells gehörte. Mit geübter Schnelligkeit hängte der Hausdiener den Anzug in einen Schrank und kehrte zur Tür zurück, wo der kleine Mann auf ihn wartete. Mit der linken Hand hielt der Diener die Anzüge über seiner Schulter fest; die rechte schnellte, mit geöffnetem Handteller, automatisch nach vorn. »Sie haben Ihr Trinkgeld bereits bekommen«, sagte Albert Wells mit einem stillvergnügten Ausdruck in den Augen. »Als der Anzug heute morgen geholt wurde.« »Aber nicht von mir, Sir.« Der Hoteldiener schüttelte energisch den Kopf. »Nein, von Ihrem Freund. Das kommt aufs gleiche raus.« Der Mann sagte stur: »Davon weiß ich nichts.« »Meinen Sie damit, daß er Ihnen Ihren Anteil nicht gibt?« Die ausgestreckte Hand senkte sich. »Ich verstehe nicht.« »Ach, hören Sie auf damit!« Albert Wells grinste breit. »Sie sind Bailey. Das Trinkgeld hab' ich Barnum gegeben.« Der Blick des Dieners flackerte unruhig zu Christine hinüber. Als er sie erkannte, glitt ein Anflug von Besorgnis über sein Gesicht. Dann grinste er schafsmäßig. »Ja, Sir.« Er ging hinaus und schloß die Tür hinter sich. »Was, um alles in der Welt, hatte das zu bedeuten?« »Kennen Sie den Barnum-und-Bailey-Trick denn nicht?« Christine schüttelte den Kopf. »Die Sache ist ganz einfach, Miss. Hoteldiener arbeiten paarweise. Einer holt den Anzug ab, der andere bringt ihn zurück. Auf diese Art kassieren sie meistens zweimal. Danach legen sie die Trinkgelder zusammen und verteilen sie gleichmäßig unter sich.« »Das leuchtet mir ein«, sagte Christine. »Aber ich wäre nie von selbst drauf gekommen.« »So geht's auch den meisten anderen, und deshalb zahlen sie für ein und dieselbe Dienstleistung doppelt.« Albert Wells rieb sich versonnen seine schnabelförmige Nase. »Für mich ist's eine Art Spiel; es reizt mich, immer wieder festzustellen, in wie vielen Hotels der Trick angewandt wird.« Sie lachte. »Und wie fanden Sie es heraus?« »Ein Hoteldiener erzählte es mir, als er merkte, daß ich ihm hinter die Schliche gekommen war. Er erzählte mir auch noch was anderes. Sie wissen wohl, daß man in Hotels mit Selbstwähldienst von manchen Apparaten aus die Zimmer direkt anrufen kann. Folglich ruft Barnum oder Bailey - welcher von den beiden gerade an der Reihe ist - die Nummer an, für die er eine Lieferung hat. Meldet sich niemand, wartet er und ruft später noch mal an. Ist der Gast da, hängt er auf, ohne was zu sagen. Ein paar Minuten später liefert er den Anzug ab und kassiert ein zweites Trinkgeld.« »Sie geben nicht gern Trinkgelder, Mr. Wells?« »Ach, das ist es gar nicht mal so sehr, Miss. Trinkgelder sind wie der Tod - man kommt nicht um sie herum. Welchen Zweck hätte es also, sich deswegen aufzuregen? Übrigens hab' ich Barnum heut morgen ein großzügiges Trinkgeld gegeben -gewissermaßen als Vorauszahlung für den Spaß, den ich mir eben mit Bailey gemacht hab'. Ich lass' mich bloß nicht gern für dumm verkaufen.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Ihnen das oft passiert.« Christine begann einzusehen, daß Albert Wells durchaus nicht so wehrlos war, wie sie ursprünglich vermutet hatte. Sie fand ihn jedoch noch genauso liebenswert wie immer. »Das kann schon sein«, meinte er. »Aber ich will Ihnen eins sagen, Miss. Hier in dem Hotel gibt's mehr von diesem Hokuspokus als in den meisten anderen.« »Wie kommen Sie darauf?« »Weil ich meine Augen offenhalte und mit den Leuten rede. Sie erzählen mir eine Menge Dinge, die sie Ihnen vielleicht nicht erzählen würden.« »Was für Dinge?« »Nun, die meisten bilden sich ein, sie können sich so ziemlich alles erlauben. Schuld daran ist, schätz' ich, daß es bei Ihnen mit der Geschäftsführung nicht klappt. Sie könnte gut sein, ist es aber nicht, und darum steckt Ihr Mr. Trent auch im Moment in der Klemme.« »Es ist direkt unheimlich«, sagte Christine. »Peter McDermott hat mir genau dasselbe gesagt - und fast in den gleichen Worten.« Ihre Augen erforschten das Gesicht des kleinen Mannes. Trotz seines Mangels an Welterfahrenheit besaß er offenbar einen ursprünglichen Instinkt für die Wirklichkeit. Albert Wells nickte anerkennend. »Also, das ist ein kluger junger Mann. Wir hatten gestern ein Gespräch.« »Peter war hier?« fragte sie überrascht. »Ganz recht.« »Das wußte ich nicht.« Aber es sah ihm ähnlich, dachte sie, eine Angelegenheit weiterzuverfolgen, an der er persönlich beteiligt war. Ihr war schon vorher seine Fähigkeit aufgefallen, im großen Maßstab zu denken, ohne dabei jedoch die Details zu vernachlässigen. »Werden Sie ihn heiraten, Miss?« Die abrupte Frage brachte sie aus der Fassung. »Wie kommen Sie bloß auf die Idee?« protestierte sie, spürte jedoch zu ihrer Bestürzung, daß sie errötete. Der kleine Mann schmunzelte. Zuweilen hatte er das Gebaren eines mutwilligen Gnoms, dachte Christine. »Ich hab' mir so meinen Reim gemacht - aus der Art, wie Sie eben seinen Namen ausgesprochen haben. Außerdem hab' ich mir gedacht, daß Sie sich oft über den Weg laufen müssen, wo Sie doch beide hier arbeiten; und wenn der junge Mann so viel Verstand hat, wie ich glaube, dann wird er rasch begreifen, daß er nicht weiter zu suchen braucht.« »Mr. Wells, Sie sind abscheulich! Sie lesen in den Gedanken der Leute und bringen Sie in gräßliche Verlegenheit.« Aber ihr warmes Lächeln widerlegte den Vorwurf. »Und bitte, nennen Sie mich nicht mehr >Miss<. Ich heiße Christine.« »Das ist ein bedeutsamer Name für mich«, sagte er still. »Meine Frau hieß auch so.« »Hieß?« Er nickte. »Sie ist tot, Christine. Es ist so lange her, daß mir die Zeiten, die wir miteinander verlebten, manchmal wie ein Traum vorkommen; die guten und die schlechten, denn wir hatten eine Menge von beiden. Aber dann und wann kommt's mir wieder so vor, als wäre es erst gestern gewesen, und dann bin ich des vielen Alleinseins müde. Wir hatten keine Kinder.« Er hielt inne, mit einem grübelnden Ausdruck in den Augen. »Man weiß nie, wie viel man mit jemandem gemeinsam hat, bis die Gemeinsamkeit endet. Sie und Ihr junger Mann sollten jede Minute festhalten. Verschwenden Sie keine Zeit; man kriegt sie nicht zurück.« Sie lachte. »Aber ich sag' Ihnen doch, er ist nicht mein junger Mann. Wenigstens jetzt noch nicht.« »Wenn Sie die Dinge richtig hinbiegen, wird er's sein.« »Vielleicht.« Ihr Blick senkte sich auf das halbfertige Zusammensetzspiel. Sie sagte langsam: »Ich möchte wissen, ob es - wie Sie sagen - einen Schlüssel zu allem gibt und ob man, wenn man ihn findet, wirklich klarsieht oder bloß glaubt und hofft.« Und plötzlich hatte sie, fast ohne es zu merken, begonnen, dem kleinen Mann ihr Herz auszuschütten, ihm von der Tragödie in Wisconsin zu erzählen, ihrer Einsamkeit, dem Aufbruch nach New Orleans, den nachfolgenden Jahren, in denen sie sich mit ihrem Schicksal abfand, und von der neuen Aussicht auf ein erfülltes, fruchtbares Leben. Sie vertraute ihm auch ihre Enttäuschung darüber an, daß ihre Verabredung für den Abend in die Brüche gegangen war. Am Ende nickte Albert Wells weise. »Meistens kommt alles von allein ins Lot. Aber manchmal muß man ein bißchen nachhelfen.« »Irgendwelche Vorschläge?« fragte sie leichthin. Er schüttelte den Kopf. »Als Frau kennen Sie sich da viel besser aus als ich. Ich möchte bloß eins sagen: Nach allem, was heute passiert ist, würde es mich nicht wundern, wenn der junge Mann Sie für morgen abend einlädt.« Christine lächelte. »Das wäre möglich.« »Dann verabreden Sie sich rasch mit jemand anderem. Er wird Sie mehr schätzen, wenn Sie ihn einen Tag lang zappeln lassen.« »Da müßte ich mir irgendeine Ausrede ausdenken.« »Das brauchen Sie nicht. Ich wollte Sie sowieso fragen, Miss... verzeihen Sie, Christine, ob Sie Lust haben, mit mir zusammen zu essen. Es soll eine Art Dankeschön sein für neulich. Falls Sie die Gesellschaft eines alten Mannes ertragen können, springe ich gern als Ersatzmann ein.« »Ich freue mich schrecklich über die Einladung, Mr. Wells«, antwortete Christine, »und ich verspreche Ihnen, daß Sie für mich durchaus kein x-beliebiger Ersatzmann sind.« »Fein!« Der kleine Mann strahlte. »Ich schätze, wir bleiben wohl am besten hier im Hotel. Ich hab' dem Doktor versprochen, in den nächsten paar Tagen nicht ins Freie zu gehen.« Christine zögerte kurz. Sie fragte sich, ob Albert Wells wußte, wie hoch die Abendpreise im Hauptrestaurant des St. Gregory waren. Nachdem er die Pflegerin heimgeschickt hatte, wünschte sie nicht, ihm neue Ausgaben aufzubürden. Dann fiel ihr plötzlich ein Weg ein, auf dem sich das vermeiden ließ. Heiter versicherte sie ihm: »Das mit dem Hotel ist eine gute Idee. Aber es ist schließlich eine besondere Gelegenheit, und da müssen Sie mir schon viel Zeit lassen, daß ich nach Haus gehen und mich wirklich schön machen kann. Sagen wir acht Uhr -morgen abend.« In der vierzehnten Etage, nachdem sie sich von Albert Wells verabschiedet hatte, merkte Christine, daß Fahrstuhl Nummer vier außer Betrieb war. An den Schiebetüren und in der Kabine wurden Reparaturen vorgenommen. Sie fuhr in einem anderen Lift in den ersten Stock hinunter. 10 Dr. Ingram, der Präsident des Zahnärztekongresses, funkelte den Besucher in seiner Suite im siebten Stockwerk grimmig an. »McDermott, falls Sie in der Absicht hierhergekommen sind, Öl auf die Wogen zu gießen, dann kann ich nur sagen, Sie verschwenden Ihre Zeit. Ist das der Grund für Ihr Kommen?« »Ich fürchte ja«, erwiderte Peter. »Na, Sie lügen wenigstens nicht«, gab der ältere Mann widerwillig zu. »Warum sollte ich auch? Ich bin ein Angestellter des Hotels, Dr. Ingram. Solange ich hier arbeite, bin ich verpflichtet, mein Bestes zu tun.« »Haben Sie auch für Dr. Nicholas Ihr Bestes getan?« »Nein, Sir. Zufällig glaube ich, daß wir gar nichts Schlimmeres hätten tun können. Die Tatsache, daß ich nicht befugt bin, eine feststehende Anordnung zu ändern, macht es nicht besser.« Der Präsident des Zahnärztekongresses schnaubte. »Wäre es Ihnen wirklich ernst, so hätten Sie auch den Schneid, hier zu kündigen und sich woanders eine Stellung zu suchen. In einem Hause, wo das Gehalt vielleicht niedriger, aber das Gefühl für Anstand besser entwickelt ist.« Peter errötete und unterdrückte eine scharfe Erwiderung. Er sagte sich mahnend, daß er Dr. Ingram am Vormittag seiner aufrechten Haltung wegen bewundert und daß sich seitdem nichts geändert hatte. »Nun?« Dr. Ingram musterte Peter mit wachsamem unnachgiebigem Blick. »Angenommen, ich würde kündigen, so würde mein Nachfolger vielleicht mit dem Zustand der Dinge völlig zufrieden sein. Das zumindest trifft auf mich nicht zu. Ich habe vor, alles zu tun, was in meiner Macht steht, um die Vorurteile und Verbote zu beseitigen.« »Verbote! Vorurteile! Fauler Zauber!« Des Doktors rosiges Gesicht wurde noch röter. »Diese Argumente hab' ich schon zu meiner Zeit gehört! Sie machen mich krank! Verdammte Ausreden, die der menschlichen Rasse nicht würdig sind!« Beide Männer schwiegen. »Na schön.« Dr. Ingram senkte die Stimme; sein erster Ärger war verraucht. »Sie sind wenigstens nicht so fanatisch wie die anderen, McDermott. Sie haben Ihre eigenen Probleme, und mein Gezeter bringt uns auch nicht weiter. Aber begreifen Sie denn nicht, Mann, daß meist gerade die verdammte Superklugheit von Leuten wie Sie und ich mit an der Behandlung schuld ist, die Jim Nicholas heute zuteil wurde.« »Doch, Doktor, ich sehe das ein. Aber ich glaube, die ganze Sache ist nicht ganz so einfach, wie Sie sie machen.« »Das weiß ich selbst«, knurrte der ältere Mann. »Sie haben gehört, was ich Nicholas sagte. Ich sagte, falls man sich nicht bei ihm entschuldigt und ihm ein Zimmer gibt, würde ich den gesamten Kongreß aus dem Hotel verlegen.« Peter sagte vorsichtig: »Ist eine solche Tagung - mit ihren medizinischen Diskussionen, Vorträgen und dergleichen - nicht für sehr viele Menschen von Nutzen?« »Natürlich.« »Wem würde es dann also helfen? Ich meine, falls Sie das Ganze abblasen, wer würde davon profitieren? Dr. Nicholas doch gewiß nicht...« Er verstummte, weil er die wieder zunehmende Feindseligkeit des anderen spürte. »Versuchen Sie nicht, mich einzuwickeln, McDermott«, fauchte Dr. Ingram. »Und trauen Sie mir wenigstens genügend Intelligenz zu, um selbst auf diese Schlußfolgerung zu kommen.« »Tut mir leid.« »Es gibt immer Gründe, um etwas nicht zu tun; und sehr oft sind es ausgezeichnete Gründe. Deshalb sind so wenige Menschen bereit, für Ihre Überzeugung einzutreten, oder für das, was sie als ihre Überzeugung ausgeben. In zwei Stunden, wenn sie hören, was ich vorhabe, werden mir einige meiner wohlmeinenden Kollegen mit den gleichen Argumenten kommen.« Der alte Mann verschnaufte und faßte Peter fest ins Auge. »Jetzt möchte ich Sie was fragen. Heute morgen gaben Sie zu, daß Sie sich schämten, weil Sie Jim Nicholas abweisen mußten. Falls Sie an meiner Stelle wären, hier und jetzt, was würden Sie tun?« »Doktor, das ist ein hypothetischer -« »Geschenkt! Ich habe Ihnen eine einfache, direkte Frage gestellt.« Peter überlegte. Soweit es das Hotel betraf, würde eine aufrichtige Antwort vermutlich kaum etwas am Endergebnis ändern. Er sagte: »Ich glaube, ich würde mich genauso verhalten wie Sie - ausziehen.« »Nanu!« Der Präsident des Zahnärztekongresses trat einen Schritt zurück und betrachtete ihn abschätzend. »Unter all dem beruflichen Firnis verbirgt sich ein ehrlicher Mann.« »Der vielleicht ziemlich bald auf der Straße liegt.« »Halten Sie an Ihrem schwarzen Anzug fest, Sohn! Damit können Sie einen Job als Gehilfe des Leichenbestatters kriegen.« Dr. Ingram kicherte zum erstenmal. »Trotz allem mag ich Sie, McDermott. Brauchen Sie vielleicht zufällig eine Zahnbehandlung?« Peter schüttelte den Kopf. »Falls es Ihnen nichts ausmacht, würde ich lieber möglichst bald über Ihre Pläne informiert werden.« Sobald der Auszug der Zahnärzte feststand, würde es eine Menge zu tun geben. Für das Hotel war es ein katastrophaler Verlust, wie Royall Edwards beim Lunch betont hatte. Aber wenigstens konnte man einige Vorbereitungen für morgen und übermorgen auf der Stelle abstoppen.« Dr. Ingram sagte lebhaft: »Sie waren ehrlich mit mir; also will ich's mit Ihnen auch sein. Ich habe für fünf Uhr nachmittag eine Sondersitzung einberufen. Bis dahin werden die meisten Mitglieder des Vorstands eingetroffen sein.« »Wir werden zweifellos in Verbindung bleiben.« Der Präsident des Zahnärztekongresses nickte grimmig wie zu Beginn der Unterredung. »Lassen Sie sich von der kurzen Waffenruhe nicht täuschen, McDermott. Nichts hat sich seit heute morgen geändert. Ich will euch noch immer da treffen, wo es am meisten weh tut.« Überraschenderweise nahm Warren Trent die Neuigkeit, daß der Kongreß amerikanischer Zahnärzte die Tagung absagen und das Hotel unter Protest verlassen wollte, beinahe gleichgültig zur Kenntnis. Peter McDermott hatte sich unverzüglich in den Verwaltungstrakt im Zwischengeschoß zurückbegeben. Christine hatte ihm - seiner Meinung nach ein wenig kühl -mitgeteilt, daß der Hotelbesitzer in seinem Büro sei. Warren Trent wirkte, im Gegensatz zu früheren Gesprächen, viel entspannter. Er saß behaglich hinter seinem schwarzen Schreibtisch mit der Marmorplatte im komfortablen Direktionsbüro und zeigte nicht die mindeste Spur von Gereiztheit wie am Tage zuvor. Während er sich Peters Bericht anhörte, zuckte gelegentlich ein leichtes Lächeln um seine Lippen, das aber allem Anschein nach mit den unmittelbar bevorstehenden Ereignissen nichts zu tun hatte. Für Peter sah es so aus, als freue sich sein Arbeitgeber insgeheim an einem privaten, nur ihm bekannten Scherz. Als Peter geendet hatte, schüttelte der Hotelbesitzer entschieden den Kopf. »Sie werden nicht gehen. Sie werden sich den Mund fußlig reden, und das ist alles.« »Dr. Ingram schien es ernst zu meinen.« »Auf ihn mag das zutreffen, aber nicht auf die anderen. Sie sagen, heute nachmittag ist eine Sitzung; ich kann Ihnen sagen, was passieren wird. Man wird eine Weile debattieren; dann wird ein Komitee gebildet, um eine Resolution zu entwerfen. Später -wahrscheinlich morgen - wird das Komitee dem Vorstand Bericht erstatten. Vielleicht nimmt er den Bericht an, vielleicht ändert er ihn ab; auf jeden Fall gibt es wieder eine lange Diskussion. Noch später - sagen wir übermorgen - wird die Resolution sämtlichen Tagungsteilnehmern vorgelegt, und die müssen sich natürlich auch dazu äußern. Ich kenne sie genau -die erhabene demokratische Prozedur. Sie werden noch immer reden, wenn die Tagung vorbei ist.« »Ich vermute, Sie könnten damit recht haben«, sagte Peter. »Aber ich finde, es ist ein ziemlich ungesunder Standpunkt.« Seine Worte waren verwegen, und er machte sich auf eine explosive Antwort gefaßt. Sie erfolgte nicht. Statt dessen knurrte Warren Trent: »Ich denke praktisch, das ist alles. Die Leute gackern über sogenannte Prinzipien, bis ihnen die Zunge aus dem Mund hängt. Aber sie gehen Unannehmlichkeiten aus dem Wege, soweit es möglich ist.« Peter sagte hartnäckig: »Trotzdem wäre es vielleicht einfacher, wenn wir unsere Politik änderten. Ich kann nicht glauben, daß Dr. Nicholas, falls wir ihn aufgenommen hätten, das Hotel unterminiert hätte.« »Er vielleicht nicht. Aber das Gesindel, das ihm folgen würde. Dann säßen wir in der Tinte.« »Ich hatte gedacht, wir säßen ohnehin drin.« Peter war sich klar darüber, daß er sich am Rande eines Abgrunds bewegte. Er fragte sich, wie weit er gehen könnte und warum - gerade heute - sein Arbeitgeber bei so guter Laune war. Warren Trents aristokratische Züge verzerrten sich ironisch. »Wir mögen eine Zeitlang in Schwierigkeiten gewesen sein. Aber in ein oder zwei Tagen ist es damit vorbei.« Er fügte unvermittelt hinzu: »Ist Curtis O'Keefe noch im Hotel?« »Soviel ich weiß, ja. Ich hätte es gehört, wenn er abgereist wäre.« »Gut!« Wieder das verstohlene Lächeln. »Ich habe eine Information, die Sie interessieren dürfte. Morgen werde ich O'Keefe und seinem gesamten Hotelkonzern sagen, sie könnten von mir aus in den See Pontchartrain springen.« 11 Von seinem günstigen Ausguck am Stehpult des Chefportiers beobachtete Herbie Chandler verstohlen, wie die vier jungen Männer die Halle des St. Gregory betraten. Es war einige Minuten vor vier. Er erkannte Lyle Dumaire und Stanley Dixon wieder; Dixon machte ein finsteres Gesicht, als er an der Spitze der Gruppe zum Lift hinübermarschierte. Wenige Sekunden später waren sie aus seinem Blickfeld verschwunden. Gestern, am Telefon, hatte Dixon Herbie versichert, daß er den Anteil des Chefportiers an den nächtlichen Ereignissen für sich behalten würde. Aber Dixon war nur einer von vieren, sagte sich Herbie beklommen. Wie die anderen - und vielleicht auch Dixon - auf ein strenges Verhör reagieren würden, das stand auf einem anderen Blatt. Der Chefportier versank in dumpfes Brüten; in den letzten vierundzwanzig Stunden war seine Besorgnis ständig gewachsen. Im Zwischengeschoß, wo die vier Jugendlichen aus dem Lift stiegen, übernahm Stanley Dixon wieder die Führung. Vor einer paneelierten Tür mit der schwach erleuchteten Aufschrift »Verwaltungsbüros« machten sie halt, und Dixon wiederholte seine frühere Warnung: »Denkt dran! - Überlaßt das Reden mir.« Flora Yates wies sie in Peter McDermotts Büro. Kühl aufblickend, forderte er sie mit einer Handbewegung auf, sich zu setzen, und fragte: »Wer von Ihnen ist Dixon?« »Ich.« »Dumaire?« Weniger selbstsicher nickte Lyle Dumaire. »Die Namen der zwei anderen habe ich nicht.« »So ein Pech«, sagte Dixon. »Hätten wir's vorher gewußt, dann hätten wir alle Visitenkarten mitgebracht.« Der dritte Jugendliche warf ein: »Ich heiße Gladwin. Das ist Joe Waloski.« Dixon sah ihn erbost an. »Sie alle sind zweifellos darüber im Bilde«, stellte Peter fest, »daß Miss Marsha Preyscott mich über die Vorgänge in der Montagnacht informiert hat. Wenn Sie wollen, bin ich bereit, mir auch Ihre Version anzuhören.« Dixon ergriff hastig das Wort, bevor einer der anderen sich einmischen konnte. »Die Verabredung war Ihre Idee, nicht unsere. Wir haben Ihnen nichts zu sagen. Falls Sie uns was zu sagen haben, dann schießen Sie los.« Peters Gesichtsmuskeln spannten sich. Er unterdrückte mühsam seine Gereiztheit. »Schön. Dann schlage ich vor, daß wir uns zuerst mit einer weniger wichtigen Angelegenheit befassen.« Er blätterte in Papieren und wandte sich an Dixon. »Suite 1126-7 war auf Ihren Namen eingetragen. Als Sie das Weite suchten, vergaßen Sie, sich ordnungsgemäß abzumelden, so daß ich das für Sie erledigen mußte. Ich habe hier eine unbezahlte Rechnung über fünfundsiebzig Dollar und einige Cent und weiterhin eine Rechnung über einhundertzehn Dollar für den in der Suite angerichteten Schaden.« Der junge Mann, der sich als Gladwin vorgestellt hatte, pfiff leise. »Wir bezahlen die fünfundsiebzig Dollar«, sagte Dixon, »mehr nicht.« »Falls Sie die Schadenersatzforderung anfechten wollen, steht Ihnen das frei«, erklärte Peter. »Aber ich möchte Ihnen gleich sagen, daß die Sache für uns damit nicht erledigt ist. Notfalls strengen wir eine Klage an...« »Hör zu, Stan...« Das war der vierte Jugendliche, Joe Waloski. Dixon bedeutete ihm, zu schweigen. Lyle Dumaire neben ihm rutschte unruhig auf seinem Stuhl nach vorn. »Stan«, sagte er leise, »was auch passiert, auf jeden Fall können sie eine Menge Stunk machen. Wenn's sein muß, übernimmt jeder von uns ein Viertel.« Er sah Peter an. »Falls wir nicht imstande sind, die hundertzehn Dollar auf einmal zu zahlen, können wir das dann ratenweise abtragen?« »Gewiß.« Es bestand kein Grund, fand Peter, den vier Jungen nicht das im Hotel übliche Entgegenkommen zu erweisen. »Einer von Ihnen oder Sie alle können unseren Kreditmanager aufsuchen und die Sache mit ihm regeln.« Er warf einen Blick in die Runde. »Sind Sie damit einverstanden?« Das Quartett nickte. »Gut. Bleibt noch der Fall der versuchten Vergewaltigung -vier sogenannte Männer gegen ein Mädchen.« Peter gab sich keine Mühe, seine Verachtung zu verbergen. Waloski und Gladwin erröteten. Lyle Dumaire wich Peters Blick betreten aus. Nur Dixon behielt seine Selbstsicherheit. »Das ist Ihre Version. Könnte sein, daß unsere anders klingt.« »Ich sagte schon, daß ich bereit bin, mir Ihre Version anzuhören.« »Blech!« »Dann bleibt mir nichts anders übrig, als die Darstellung Miss Preyscotts zu akzeptieren.« Dixon grinste anzüglich. »Wären Sie nicht gern dabei gewesen, Bester? Oder vielleicht haben Sie sich danach schadlos gehalten.« »Beherrsch dich, Stan«, murmelte Waloski. Peter umklammerte krampfhaft die Armlehnen seines Sessels. Er kämpfte gegen den Impuls an, um den Schreibtisch herumzustürmen und dem Jungen vor ihm ins höhnisch grinsende Gesicht zu schlagen. Aber er wußte, daß er Dixon damit einen Vorteil verschaffen würde, auf den dieser kaltblütig hinarbeitete. Er durfte sich nicht zu einem Wutausbruch verleiten lassen. »Ich nehme an«, sagte er eisig, »sie sind sich klar darüber, daß Strafanklage gegen Sie erhoben werden kann.« »Falls jemand die Absicht gehabt hätte«, konterte Dixon, »wäre das schon längst geschehen. Verschonen Sie uns also mit dem Quatsch.« »Wären Sie bereit, diese Äußerung vor Mr. Mark Preyscott zu wiederholen? Wenn er aus Rom zurück ist, nachdem er erfahren hat, was seiner Tochter zugestoßen ist?« Lyle Dumaire blickte rasch und erschrocken auf. Zum ersten Male flackerten Dixons Augen unruhig. »Wird er's erfahren?« erkundigte sich Gladwin ängstlich. »Halt die Klappe!« befahl Dixon. »Das ist ein Trick. Fall bloß nicht drauf rein!« Aber seine Stimme klang weniger zuversichtlich als zuvor. »Sie können selbst entscheiden, ob es ein Trick ist oder nicht.« Peter zog eine Schreibtischschublade auf und nahm eine Mappe heraus, die er aufschlug. »Ich habe hier einen von mir verfaßten und unterzeichneten Bericht über das, was Miss Preyscott mir erzählte, und das was ich selbst Montag nacht bei der Ankunft in der Suite 1126-7 beobachtete. Die Unterschrift von Miss Preyscott fehlt noch, kann jedoch jederzeit eingeholt werden, zusammen mit weiteren Details, die ihr wichtig erscheinen. Ferner habe ich hier noch eine schriftliche Erklärung von Aloysius Royce, dem Hotelangestellten, der von Ihnen angefallen wurde; er bestätigt meinen Bericht und schildert, was unmittelbar nach seinem Eintreffen passierte.« Der Gedanke, sich von Royce eine schriftliche Erklärung geben zu lassen, war Peter am vergangenen Abend gekommen. Auf ein telefonisches Ansuchen hin hatte sie der junge Neger diesen Morgen zeitig abgeliefert. Das sauber getippte Dokument war klar und sorgfältig abgefaßt und spiegelte Royces juristische Schulung wider. Dennoch hatte Aloysius Royce seine Warnung wiederholt. »Ich kann Ihnen nur nochmals sagen, kein Gericht in Louisiana läßt in einem Fall von Vergewaltigung unter Weißen das Zeugnis eines Niggerjungen gelten.« Obwohl verärgert über seine Widerborstigkeit, erwiderte ihm Peter: »Ich bin sicher, daß die Sache nie vor Gericht kommt, aber ich brauche die Munition.« Auch Sam Jakubiec hatte sich als hilfreich erwiesen. Auf Peters Bitte hin hatte er unter der Hand Auskünfte über Stanley Dixon und Lyle Dumaire eingezogen. Er berichtete: »Dumaires Vater ist, wie Sie wissen, der Bankpräsident; Dixons Vater ist Autohändler - gutes Geschäft, großes Haus. Beide Jungen genießen anscheinend viel Freiheit - väterliche Nachsicht, schätz' ich - und verfügen über ziemlich hohe, aber nicht unbegrenzte Geldbeträge. Nach allem, was ich höre, würde keiner der beiden Väter es tragisch nehmen, wenn ihre Söhne mit ein oder zwei Mädchen ins Bett gehen; höchstwahrscheinlich würden sie sagen: >Hab's genauso gemacht, als ich jung war.< Aber versuchte Vergewaltigung ist etwas anderes, namentlich, wenn's um die kleine Preyscott geht. Mark Preyscott ist ein einflußreicher Mann. Er und die beiden anderen bewegen sich in den gleichen Kreisen, obwohl Preyscott gesellschaftlich vermutlich höher rangiert. Falls Mark Preyscott sich Dixon und Dumaire senior vorknöpft und ihre Söhne beschuldigt, seine Tochter vergewaltigt zu haben, dann würde ganz bestimmt das Dach einstürzen, und das wissen die beiden Jungen.« Peter hatte sich bedankt und die Information sorgfältig aufbewahrt. »All der Papierkram ist lange nicht soviel wert, wie Sie uns glauben machen wollen«, sagte Dixon. »Sie kamen erst danach; folglich beruht Ihr Bericht auf Hörensagen.« »Das mag stimmen«, sagte Peter. »Ich bin kein Anwalt. Ich würde meinem Bericht jedoch nicht jeden Wert absprechen. Außerdem, ob Sie nun gewinnen oder verlieren, wenn das Gericht mit Ihnen fertig ist, werden Sie nicht gerade süß riechen, und ich könnte mir vorstellen, daß Ihre Familien Ihnen ganz schön zusetzen werden.« Der Blick, den Dixon und Dumaire wechselten, verriet ihm, daß sein letzter Hieb gesessen hatte. »Um Gottes willen! Mit dem Gericht wollen wir nichts zu tun haben«, sagte Gladwin beschwörend zu den anderen. Lyle Dumaire fragte mürrisch: »Was werden Sie machen?« »Vorausgesetzt, Sie arbeiten mit mir zusammen, werde ich gegen Sie nichts mehr unternehmen. Sollten Sie allerdings weiterhin Schwierigkeiten machen, werde ich noch heute Mr. Preyscott in Rom telegrafieren und diese Papiere seinen hiesigen Anwälten übergeben.« »Was verstehen Sie unter »zusammenarbeiten?« erkundigte sich Dixon übellaunig. »Daß Sie hier und jetzt einen vollständigen Bericht niederschreiben, über das, was sich Montag nacht abspielte. Fügen Sie auch hinzu, was am frühen Abend geschah, ob jemand vom Hotelpersonal daran beteiligt war, und wer.« »Den Teufel werden wir tun!« rief Dixon. »Sie können uns...« Gladwin unterbrach ihn ungeduldig. »Hör auf damit, Stan!« Er fragte Peter: »Angenommen, wir schreiben die Erklärung. Was werden Sie mit ihr machen?« »So gern ich einen anderen Gebrauch von ihr machen würde, verspreche ich Ihnen, daß ich sie niemandem zeigen werde außer einigen wenigen unmittelbar betroffenen Personen hier im Hotel.« »Wie sollen wir wissen, daß wir Ihnen trauen können?« »Sie wissen es nicht. Sie werden es darauf ankommen lassen müssen.« Schweigen senkte sich auf den Raum herab; die einzigen Laute waren das Knarren eines Stuhls und das gedämpfte Klappern einer Schreibmaschine im Vorzimmer. Waloski sagte abrupt: »Ich riskier's. Geben Sie mir was zum Schreiben.« »Mir auch.« Das war Gladwin. Lyle Dumaire pflichtete mit einem kläglichen Nicken bei. Dixon runzelte grollend die Stirn und zuckte dann mit den Schultern. »Meinetwegen. Wenn alle so versessen aufs Schreiben sind! Ich möchte eine Feder mit breiter Spitze«, sagte er zu Peter. »Sie paßt zu meinem Stil.« Eine halbe Stunde später las Peter McDermott noch einmal und gründlicher die vier Berichte durch, die er, bevor die Jungen abzogen, nur hastig überflogen hatte. Die vier Versionen von den Ereignissen der Montagnacht stimmten in allen wesentlichen Fakten überein. Sie schlossen frühere Informationslücken und lieferten, laut Peters Anweisung, spezielle Hinweise auf das Hotelpersonal. Herbie Chandler, der Chefportier, war sicher und unfehlbar festgenagelt. 12 Die ursprünglich nur vage Idee hatte in Keycase Milnes Kopf Gestalt angenommen. Sein Instinkt sagte ihm, daß seine Begegnung mit der Herzogin von Croydon in der Halle mehr als ein Zufall war. Es war ein Omen, wie er es sich deutlicher nicht wünschen konnte, und zeigte ihm den Pfad, an dessen Ende die funkelnden Juwelen der Herzogin lagen. Zugegeben, der berühmte Croydon-Schmuck befand sich wohl kaum ganz in New Orleans. Bekanntermaßen hatte die Herzogin auf ihren Reisen nur einen Teil ihres legendären Schatzes bei sich. Dennoch würde die Beute höchstwahrscheinlich beträchtlich sein, und wenn auch einige Stücke sicher im Hoteltresor ruhten, so konnte man doch bestimmt damit rechnen, daß andere griffbereit lagen. Der Schlüssel zum Problem lag, wie immer, in einem Schlüssel zur Suite der Croydons. Keycase Milne machte sich systematisch daran, ihn zu erlangen. Er fuhr mehrmals im Lift, aber jedesmal in einem anderen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Als er sich endlich mit einem Fahrstuhlführer allein in der Kabine befand, stellte er die scheinbar beiläufige Frage: »Stimmt es, daß der Herzog und die Herzogin von Croydon hier im Hotel wohnen?« »Ja, Sir.« »Das Hotel hat vermutlich spezielle Räumlichkeiten für solche Gäste.« Keycase lächelte freundlich. »Die sind was anderes gewöhnt als unsereins.« »Nun, Sir, der Herzog und die Herzogin haben die Präsidentensuite.« »Oh, wirklich? In welcher Etage?« »In der neunten.« Im Geist hakte Keycase »Punkt eins« ab und stieg in seiner eigenen Etage, der achten, aus. Punkt zwei war, die genaue Zimmernummer festzustellen. Das erwies sich als einfach. Eine Treppe höher und ein kurzes Stück den Korridor entlang! Ledergepolsterte Doppeltüren mit goldenen Lilien kennzeichneten die Präsidentensuite. Keycase merkte sich die Nummer: 973-7. Wieder ging es hinunter in die Halle, diesmal, um scheinbar ziellos am Empfangstisch vorbeizuschlendern. Ein schneller scharfer Späherblick zeigte, daß die Nummer 973-7, wie die gewöhnlichen Zimmer, ein konventionelles Postfach hatte. In dem Fach lag ein Schlüssel. Es wäre ein Fehler gewesen, den Schlüssel sofort zu verlangen. Keycase setzte sich, hielt die Augen offen und wartete. Die Vorsichtsmaßnahme erwies sich als klug. Nach einigen Minuten der Beobachtung wurde ihm klar, daß das Hotel alarmiert worden war. Im Vergleich zu der Unbekümmertheit, mit der die Schlüssel sonst ausgegeben wurden, ließen die Angestellten am Empfang heute Vorsicht walten. Gäste wurden, bevor sie ihre Schlüssel bekamen, nach dem Namen gefragt, und ihre Angaben an Hand einer Liste kontrolliert. Zweifellos war sein Coup vom frühen Morgen gemeldet und infolgedessen der Schutz verstärkt worden. Ein kalter Angstschauer mahnte ihn an eine andere voraussehbare Konsequenz: auch die Polizei war vermutlich inzwischen alarmiert und würde Keycase Milne innerhalb weniger Stunden unter seinem richtigen Namen suchen. Falls man der Morgenzeitung glauben konnte, beanspruchte zwar der Unfall mit der Fahrerflucht noch immer einen Großteil ihrer Aufmerksamkeit. Aber irgend jemand im Polizeipräsidium würde trotzdem Zeit finden, den FBI per Fernschreiber zu benachrichtigen. Beim Gedanken an den entsetzlichen Preis, den er für die nächste Verurteilung würde zahlen müssen, war Keycase wieder versucht, auf Nummer Sicher zu gehen, auszuziehen und sich davonzumachen. Er war eine Beute der Unentschlossenheit. Dann, alle Zweifel energisch beiseite schiebend, tröstete er sich mit der Erinnerung an das günstige Omen von heute morgen. Nach einiger Zeit trug sein Warten Früchte. Einer der Angestellten, ein junger Mann mit lichtem, gewelltem Haar, wirkte unsicher und gelegentlich nervös. Keycase schloß daraus, daß er neu auf seinem Posten war. Die Anwesenheit des jungen Mannes bot ihm eine Möglichkeit, die zu verwerten jedoch ein gewagtes und beschwerliches Unterfangen war. Andererseits war die günstige Gelegenheit vielleicht auch ein Omen. Er beschloß sie auszunützen und sich dabei einer Technik zu bedienen, die er schon früher angewandt hatte. Die Vorbereitungen würden wenigstens eine Stunde erfordern. Da es jetzt am späten Nachmittag war, mußten sie vollendet sein, bevor der junge Mann seinen Dienst hinter sich hatte. Keycase eilte aus dem Hotel. Sein Ziel war das Kaufhaus Maison Blanche auf der Canal Street. Mit seinem Geld sparsam umgehend, kaufte Keycase billige, aber umfangreiche Gegenstände - zumeist Spielsachen - und wartete geduldig, während jeder einzelne in die charakteristische Maison-Blanche-Schachtel verpackt wurde. Endlich verließ er mit einem Arm voll Paketen, die er kaum zu tragen vermochte, den Laden. Er machte zusätzlich in einem Blumengeschäft halt, wo er seine Einkäufe mit einer großen, blütenbedeckten Azalee krönte, und kehrte dann ins Hotel zurück. Am Eingang von der Carondelet Street lief ein uniformierter Türsteher hastig herbei, um ihm die Tür weit aufzuhalten. Der Mann lächelte Keycase zu, der hinter seiner Last von Päckchen und der blühenden Topfpflanze kaum zu sehen war. Drinnen im Hotel trödelte Keycase, dem Anschein nach eine Reihe von Schaukästen betrachtend, in Wirklichkeit jedoch zwei Dinge abwartend. Das eine war eine Ansammlung vor dem Empfang, das zweite das Wiederauftauchen des jungen Mannes, den er vorher beobachtet hatte. Beides ereignete sich fast sofort. Angespannt und herzklopfend steuerte Keycase auf den Empfang zu. Er war der dritte in der Reihe, die sich vor dem jungen Mann gebildet hatte. Gleich danach stand nur noch eine Frau mittleren Alters vor Keycase, die ihren Schlüssel bekam, nachdem sie ihren Namen genannt hatte. Im Begriff sich abzuwenden, fielen ihr noch einige Fragen ein. Der junge Mann zögerte mit den Antworten. Keycase sah mit Ungeduld, daß sich die Gruppe von Menschen vor dem Empfangstisch lichtete. Einer der anderen Angestellten war bereits frei und blickte herüber. Keycase mied sein Auge und schickte ein Stoßgebet gen Himmel, daß die Beratung vor ihm enden möge. Schließlich zog die Frau ab. Der junge Empfangsangestellte wandte sich Keycase zu und lächelte dann - wie der Türsteher -unwillkürlich über den von der Azalee gekrönten unhandlichen Stoß von Paketen. In beißendem Ton benutzte Keycase eine vorher einstudierte Wendung. »Es ist bestimmt sehr komisch. Aber wenn's nicht zu viel Mühe macht, würde ich gern den Schlüssel von 973 haben.« Der junge Mann lief rot an, sein Lächeln erstarb. »Gewiß, Sir.« Verwirrt schwang er herum und griff nach dem Schlüssel. Beim Erwähne n der Zimmernummer hatte Keycase beobachtet, daß einer der anderen Receptionisten einen Blick zu ihnen herüber warf. Es war ein kritischer Moment. Die Nummer der Präsidentensuite mußte gut bekannt sein, und das Eingreifen eines erfahrenen Angestellten konnte Entlarvung bedeuten. Keycase schwitzte. »Ihr Name, Sir?« Keycase fauchte: »Was ist das - ein Verhör?« Zugleich damit ließ er wohlweislich zwei Päckchen fallen. Eines blieb auf dem Empfangstisch liegen, das andere plumpste hinter dem Tisch zu Boden. In äußerster Verlegenheit hob der junge Angestellte beide auf. Sein älterer Kollege wandte sich mit einem nachsichtigen Lächeln ab. »Entschuldigen Sie bitte, Sir.« »Schon gut.« Keycase nahm die zwei Päckchen in Empfang, rückte die anderen zurecht und streckte die Hand nach dem Schlüssel aus. Den Bruchteil einer Sekunde lang zögerte der junge Mann. Dann gewann das Bild, das Keycase hervorzurufen gehofft hatte, die Oberhand: das Bild eines erschöpften, enttäuschten Käufers, der seiner grotesken Last kaum Herr wurde; der Inbegriff der Respektabilität, wie die vertraute Maison-Blanche-Verpackung bezeugte; ein bereits erboster Gast, den man nicht weiter reizen durfte... Ehrerbietig händigte der Empfangsangestellte den Schlüssel von 973 aus. Während Keycase gemächlich zu den Fahrstühlen hinüberschlenderte, nahm der Betrieb vor dem Empfang wieder zu. Ein flüchtiger Blick über die Schulter zeigte ihm, daß die Angestellten stark beschäftigt waren. Gut! Die Wahrscheinlichkeit, daß man den Vorfall besprach und womöglich Verdacht schöpfte, verringerte sich damit. Dennoch mußte er den Schlüssel möglichst schnell zurückbringen. Seine Abwesenheit konnte zu Fragen und Argwohn Anlaß geben, und das war besonders gefährlich, da das Hotel bereits alarmiert war. Zum Fahrstuhlführer sagte er: »Neun« - eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, daß jemand gehört hatte, wie er den Schlüssel für ein Zimmer in der neunten Etage verlangte. Nach dem Aussteigen trödelte er, indem er Pakete zurechtschob, bis die Türen hinter ihm zugeglitten waren, und steuerte dann schleunigst die Personaltreppe an. Sein Zimmer befand sich nur ein Stockwerk tiefer. Auf einem Treppenabsatz, auf halbem Wege, stand eine Abfalltonne. Er stopfte die Azalee, die ihren Zweck erfüllt hatte, hinein. Einige Sekunden später war er in seinem Zimmer, der Nummer 830. Die Päckchen verstaute er hastig in einem Wandschrank. Morgen würde er sie in das Kaufhaus zurückbringen und sich das Geld rückerstatten lassen. Die Kosten waren zwar unbedeutend im Vergleich zu der Beute, die er zu erringen hoffte, aber bei der Abreise wären die Pakete eine hinderliche Last, und sie einfach im Hotel zurückzulassen, war zu riskant. Mit schnellen Handgriffen öffnete er den Reißverschluß eines Koffers und nahm einen kleinen lederbezogenen Kasten heraus. Er enthielt eine Anzahl weißer Karten, einige scharf gespitzte Bleistifte, Greifzirkel und ein Mikrometer. Keycase holte eine Karte heraus, legte den Schlüssel der Präsidentensuite darauf und zeichnete seinen Umriß sorgfältig nach. Dann maß er mit dem Mikrometer und den Greifzirkeln die Dicke des Schlüssels und die Ausdehnung der horizontalen Vertiefungen und vertikalen Einschnitte und notierte die Ergebnisse auf den Rand der Karte. In das Metall war eine aus Ziffern und Buchstaben zusammengesetzte Fabrikationschiffre eingestanzt. Er kopierte sie; die Chiffre konnte bei der Auswahl des Formlings von Nutzen sein. Schließlich, den Schlüssel gegen das Licht haltend, zeichnete er aus der freien Hand das Endstück des Schafts. Er besaß nun eine fachmännisch detaillierte Beschreibung, der ein geschickter Schlosser sicher folgen konnte. Keycase sann häufig belustigt darüber nach, daß seine Prozedur mit dem Wachsabdrucktrick, der bei Kriminalroman-Autoren so beliebt war, kaum etwas gemein hatte, dafür aber wesentlich wirksamer war. Nachdem er den lederbezogenen Kasten weggeschlossen und die Karte zu sich gesteckt hatte, begab er sich wieder hinunter in die Halle. Genau wie vorher wartete er, bis der Empfang alle Hände voll zu tun hatte. Dann schlenderte er gleichmütig hinüber und legte den Schlüssel von 973 unbemerkt auf den Empfangstisch. Wieder paßte er auf. Als der Betrieb abflaute, entdeckte ein Receptionist den Schlüssel. Teilnahmslos ergriff er ihn, warf einen Blick auf die Nummer und deponierte ihn in seinem Fach. Keycase wurde es warm uns Herz ob seiner Meisterleistung. Durch eine Kombination von Erfindungsgabe und Geschicklichkeit hatte er die Vorsichtsmaßregeln des Hotels überspielt und sein erstes Ziel erreicht. 13 Peter McDermott entnahm seinem Kleiderschrank eine dunkelblaue Schiarapelli-Krawatte und knüpfte sie gedankenvoll. Er befand sich in seinem kleinen, in der Stadtmitte gelegenen Appartement, unweit vom Hotel, das er vor einer Stunde verlassen hatte. In zwanzig Minuten wurde er bei Marsha Preyscotts Dinnergesellschaft erwartet. Er fragte sich, wer die anderen Gäste wohl sein mochten. Vermutlich würden außer Marshas Freunden, die - hoffentlich - ein anderes Kaliber hatten als das Dixon-Dumaire-Quartett, auch einige ältere Leute eingeladen sein, um seine Anwesenheit zu begründen. Nun, da der Zeitpunkt immer näher rückte, ertappte er sich dabei, daß er die Verpflichtung verwünschte. Viel lieber wäre er frei gewesen, um sich mit Christine zu treffen. Es verlangte ihn danach, Christine vor dem Weggehen anzurufen, aber er fand, daß es taktvoller wäre, damit bis zum kommenden Morgen zu warten. Er hatte an diesem Abend das beunruhigende Gefühl, zwischen Vergangenheit und Zukunft in der Luft zu hängen. So vieles, was ihn nahe anging, war dunkel, weil die Entscheidung aufgeschoben werden mußte, bis das endgültige Ergebnis vorlag. Da war das Problem des St. Gregory. Würde Curtis O'Keefe die Kontrolle übernehmen? Wenn ja, dann erschienen andere Affären im Vergleich dazu unbedeutend - sogar der Zahnärztekongreß, dessen Vorstand noch immer darüber beriet, ob sie das St. Gregory im Protestmarsch verlassen sollten oder nicht. Vor einer Stunde war die von Dr. Ingram, dem hitzigen Präsidenten, einberufene Sondersitzung noch im Gang gewesen, und nach Ansicht des Oberkellners, dessen Untergebene im Sitzungssaal für den Nachschub an Eis und Mixgetränken sorgten, sah es so aus, als würde sie sich noch ziemlich lange hinziehen. Obwohl Peter sich bei seinen Erkundigungen auf die Frage beschränkte, ob irgendwelche Anzeichen auf den Abbruch der Debatte hindeuteten, informierte ihn der Oberkellner, daß die Auseinandersetzung allem Anschein nach ziemlich stürmisch sei. Vor Verlassen des Hotels beauftragte Peter den stellvertretenden Manager, ihn sofort anzurufen, wenn irgendein Beschluß der Zahnärzte bekannt würde. Bisher hatte er nichts gehört. Er fragte sich nun, ob Dr. Ingrams freimütiger Standpunkt die Oberhand gewinne oder ob Warren Trents zynische Voraussage, daß nichts geschehen würde, sich bewahrheiten würde. Die gleiche Unsicherheit hatte Peter veranlaßt, alle Vergeltungsmaßnahmen gegen Herbie Chandler bis zum nächsten Morgen zu verschieben. Er wußte, daß er den anrüchigen Chefportier eigentlich auf der Stelle hinauswerfen müßte, was der Säuberung des Hotels von einem unreinen Geist gleichkam. Natürlich würde man Chandler nicht kündigen, weil er einen Callgirl-Ring geleitet hatte - denn wenn Chandler nicht gewesen wäre, hätte jemand anderer ihn organisiert -, sondern weil seine Habgier ihn verleitet hatte, sich über die Vernunft hinwegzusetzten. Nach Chandlers Verschwinden konnte man gegen eine ganze Reihe anderer Übergriffe vorgehen. Allerdings blieb die Frage offen, ob Warren Trent solch einer summarischen Aktion beistimmen würde. Aber im Gedanken an das angehäufte Beweismaterial und Warren Trents Sorge um den guten Ruf des Hotels neigte Peter zu der Überzeugung, daß Trent nichts dagegen haben dürfte. In jedem Fall, sagte sich Peter, mußte er sich vergewissern, daß die schriftliche Erklärung der Gruppe Dixon-Dumaire sicher verwahrt und nur innerhalb des Hotels benutzt wurde. Auch seine Drohung, Mark Preyscott über den Vergewaltigungsversuch an seiner Tochter zu informieren, war nur Bluff gewesen. Er hatte Marshas Bitte - Mein Vater ist in Rom. Er darf es niemals erfahren - nicht vergessen. Der Gedanke an Marsha mahnte ihn zur Eile. Einige Minuten später verließ er das Appartement und winkte ein vorbeifahrendes Taxi heran. »Ist das hier das Haus?« fragte Peter. »Freilich.« Der Taxifahrer musterte seinen Fahrgast prüfend. »Es sei denn, Sie haben die Adresse nicht richtig mitgekriegt.« »Nein, ich habe mich nicht geirrt.« Peter starrte zu der großen Villa mit der weißen Fassade hinüber. Schon die Fassade allein war atemberaubend. Hinter einer Taxushecke und hochragenden Magnolienbäumen erhoben sich anmutig geriffelte Säulen von einer Terrasse bis zu einer von einem Geländer umgebenen Galerie und weiter hinauf bis zu einem gewaltigen, nach antikem Vorbild gestalteten Giebel. Zu beiden Seiten des Haupttrakts schlossen sich Gebäudeflügel an, bei denen sich die Bauelemente im kleinen wiederholten. Die gesamte Fassade war vorzüglich instand gehalten mit gepflegtem Holzwerk und frischem Anstrich. Um das Haus hing der süße Duft von Olivenblüten in der Abendluft. Nachdem er den Taxifahrer bezahlt hatte, ging Peter auf ein schmiedeeisernes Tor zu, das sich lautlos öffnete. Ein mit alten rötlichen Ziegeln gepflasterter Pfad schlängelte sich zwischen Rasenflächen und Bäumen dahin. Obwohl es gerade erst dämmerte, waren die zwei hohen Laternen neben dem Pfad kurz vor dem Haus bereits angezündet. Er hatte die Stufe der Terrasse erreicht, als ein Riegel kräftig klickte und die Flügel der Haustür sich weit öffneten. Auf der Schwelle stand Marsha. Sie wartete, bis er oben angelangt war, und ging ihm dann entgegen. Sie war in Weiß - ein knappes, eng anliegendes Kleid, zu dem ihr rabenschwarzes Haar einen beinahe bestürzenden Kontrast bildete. Mehr denn je war er sich ihres aufreizenden kindlichfraulichen Wesens bewußt. Marsha sagte fröhlich: »Willkommen!« »Danke.« Er machte eine umfassende Handbewegung. »Im Moment bin ich noch ein bißchen überwältigt.« »So geht's allen.« Sie hängte sich bei ihm ein. »Wir wollen die offizielle Besichtigungstour machen, bevor es zu dunkel wird.« Sie stiegen die Terrassenstufen hinunter und schritten quer über den Rasen, der sich unter den Füßen wie ein weiches Polster anfühlte. Marsha hielt sich dicht an seiner Seite. Durch den Rockärmel hindurch konnte er ihr warmes festes Fleisch spüren. Mit den Fingerspitzen berührte sie leicht sein Handgelenk. Außer dem Duft der Olivenblüten lag nun noch ein anderer zarter Wohlgeruch in der Luft. »Hier!« Marsha schwenkte unvermittelt herum. »Von hier aus sehen Sie alles am besten. Von hier aus werden immer Fotos gemacht.« Von dieser Seite des Risens aus war der Anblick sogar noch eindrucksvoller. »Ein vergnügungssüchtiger französischer Adliger hat das Haus gebaut«, sagte Marsha. »Um 1840 herum. Er hatte eine Vorliebe für klassizistische Architektur und glücklich lachende Sklaven und wollte außerdem seine Mätresse in Reichweite haben; daher der Extraflügel. Den anderen Flügel ließ mein Vater anbauen. Bei ihm soll immer alles ausgewogen sein -Menschen, Konten und Häuser.« »Ist das der neue Fremdenführerstil - Philosophie plus Tatsachen?« »Oh, ich bin randvoll mit beidem. Sie wünschen Tatsachen? -Schauen Sie sich das Dach an.« Beider Augen schweiften nach oben. »Wie Sie sehen, ragte es über die obere Galerie hinaus. Das ist typisch für den Klassizismus von Louisiana - die meisten alten Häuser hier sind so gebaut, und das ist auch ganz einleuchtend, weil sie auf die Art Schatten und Luft hatten. Die Galerie war der Lieblingsaufenthalt der Hausbewohner, der Mittelpunkt des Familienlebens, wo man sich die Zeit mit Plaudern und allen möglichen Beschäftigungen vertrieb.« Er zitierte: »Haushalt und Familie, Teilhabe am guten Leben in einer Form, die zugleich vollkommen und selbstgenügsam ist.« »Wer hat das gesagt?« »Aristoteles.« Marsha nickte. »Er hätte das mit den Galerien verstanden.« Sie hielt inne und überlegte. »Mein Vater hat eine Menge restaurieren lassen. Das Haus ist jetzt besser, aber nicht der Gebrauch, den wir von ihm machen.« »Sie müssen dies alles sehr lieben.« »Ich hasse es«, sagte Marsha. »Ich habe das Haus gehaßt, solange ich denken kann.« Er blickte sie forschend an. »Oh, ich würde es nicht hassen, wenn ich bloß zur Besichtigung hier wäre - als Besucher unter vielen, die fünfzig Cent bezahlen, damit man sie herumführt, wie wir's zur Frühlingsfiesta immer machen. Dann würde ich's bewundern, weil ich alte Dinge liebe. Aber es ist gräßlich immer darin zu wohnen, zumal allein und nach Einbruch der Dunkelheit.« »Es wird dunkel«, sagte er mahnend. »Ich weiß. Aber Sie sind da, und das ist was anderes.« Gemächlich schlenderten sie über den Rasen aufs Haus zu. Zum erstenmal fiel ihm auf, wie still es war. »Werden Ihre anderen Gäste Sie nicht vermissen?« Sie streifte ihn mit einem mutwilligen Blick. »Welche anderen Gäste?« »Sagten Sie nicht... « »Ich sagte, ich würde eine Dinnerparty geben, und das tu ich auch. Für Sie. Falls Sie sich wegen einer Anstandsdame Sorgen machen, so ist ja immer noch Anna da.« Sie betraten das Haus. Es war schattig und kühl mit hohen Räumen. Im Hintergrund stand ein kleines ältliches Frauchen in schwarzer Seide und nickte ihnen lächelnd zu. »Ich hab' Anna von Ihnen erzählt«, sagte Marsha, »und sie war ganz einverstanden. Mein Vater vertraut ihr unbedingt; folglich ist alles in Ordnung. Dann haben wir auch noch Ben.« Ein farbiger Diener folgte ihnen auf weichen Sohlen in ein kleines Studio, dessen Wände mit Büchern bedeckt waren. Von einer Anrichte brachte er ein Tablett mit einer Karaffe und Sherrygläsern herüber. Marsha schüttelte den Kopf. Peter akzeptierte einen Sherry und nippte nachdenklich daran. Marsha setzte sich auf ein Sofa und forderte ihn auf, neben ihr Platz zu nehmen. »Sie sind oft allein,« fragte er. »Mein Vater kommt zwischen seinen Reisen immer nach Haus. Nur werden die Reisen ständig länger und die Zeit dazwischen immer kürzer. Ich würde viel lieber in einem häßlichen modernen Bungalow wohnen, solange da ein bißchen Leben ist.« »Es sollte mich wundern, ob Sie das wirklich lieber hätten.« »Doch bestimmt«, sagte Marsha entschieden. »Falls ich mit jemandem zusammen wäre, den ich gern habe. Oder vielleicht ein Hotel - das würde mir genauso gut gefallen. Bekommen Hotelmanager nicht ein Appartement ganz für sich allein - im obersten Stockwerk des Hotels, direkt unterm Dach?« Erschrocken sah er auf und ertappte sie bei einem Lächeln. Einen Moment später meldete der Diener leise, es sei angerichtet. In einem angrenzenden Raum war ein kleiner runder Tisch für zwei gedeckt. Gläser, Tafelsilber und die paneelierten Wände schimmerten im Kerzenlicht. Über einem Kaminaufsatz aus schwarzem Marmor hing ein grimmig dreinblickender Patriarch, und Peter konnte sich des Gefühls nicht erwehren, als werde er einer kritischen Musterung unterzogen. »Lassen Sie sich von Urgroßvater nicht die Laune verderben«, sagte Marsha, nachdem sie sich gesetzt hatten. »Seine grimmige Miene gilt mir. Sehen Sie, er schrieb mal in sein Tagebuch, daß er eine Dynastie gründen wolle, und ich bin seine letzte verzweifelte Hoffnung.« Beim Essen plauderten sie ungezwungen, während der Diener unaufdringlich servierte. Das Dinner war exquisit - der Hauptgang ein hervorragend gewürztes Jambalaya, gefolgt von einer ebenso delikaten Creme Brulee. Peter, dem die Einladung gewisse Befürchtungen eingejagt hatte, entdeckte, daß er sich wirklich wohl fühlte. Mit jeder verstreichenden Minute wirkte Marsha munterer und charmanter, und er selbst wurde in ihrer Gegenwart immer aufgeschlossener. Darin lag letzten Endes nichts Erstaunliches, fand er, da der Altersunterschied zwischen ihnen keineswegs groß war. Und im sanften Schimmer des Kerzenlichtes, das den alten Raum um sie herum in Schatten tauchte, fiel ihm wieder auf, wie wunderschön sie war. Er fragte sich, ob der französische Adlige, der das große Haus gebaut hatte, und seine Mätresse früher hier auch so intim miteinander gespeist hatten. Entsprang der Gedanke einem Zauber, den die Umgebung und der Anlaß auf ihn ausübten? Nach dem Essen sagte Marsha: »Wir wollen den Kaffee auf der Galerie trinken.« Als er ihren Stuhl zurückzog, sprang sie rasch auf und nahm, wie schon vorhin, impulsiv seinen Arm. Belustigt ließ er sich in die Halle hinaus- und eine breite geschwungene Treppe hinaufführen. Oben mündete ein breiter Korridor, dessen mit Fresken bemalte Wände matt erleuchtet waren, in die offene Galerie, die sie von dem nun im Dunkeln daliegenden Garten aus betrachtet hatten. Mokkatassen und ein silbernes Kaffeeservice standen auf einem Korbtisch. Eine Gaslaterne verbreitete flackerndes Licht. Sie nahmen mit ihren Kaffeetassen auf einer Hollywoodschaukel Platz, die träge hin- und herschwang, als sie sich setzten. Die Nachtluft wir angenehm kühl und von einer kaum spürbaren Brise bewegt. Aus dem Garten tönte das tiefe Summen von Insekten herauf; und von der zwei Blocks entfernten St. Charles Avenue drang gedämpfter Verkehrslärm herüber. Peter wurde sich plötzlich bewußt, daß Marsha neben ihm sehr still geworden war. »Sie sind ja auf einmal so wortkarg«, sagte er vorwurfsvoll. »Ich weiß. Ich überlege, wie ich Ihnen etwas sagen soll.« »Warum kommen Sie nicht offen mit der Sprache heraus? Das ist meistens das beste.« »Na schön.« Ihre Stimme klang atemlos. »Ich hab' festgestellt, daß ich Sie heiraten möchte.« Für eine Zeitspanne, die ihm endlos vorkam, die aber vermutlich nur einige Sekunden dauerte, blieb Peter reglos sitzen; auch die Schaukel bewegte sich nicht mehr. Dann stellte er mit bedachtsamer Sorgfalt seine Kaffeetasse ab. Marsha lachte nervös. »Falls Sie davonlaufen möchten, die Treppe ist da drüben.« »Nein«, antwortete er. »Wenn ich das täte, würde ich nie erfahren, warum Sie das eben gesagt haben.« »Ich bin mir nicht ganz sicher.« Sie sah in die Nacht hinaus, das Gesicht halb abgewandt. Er spürte, daß sie zitterte. Was immer er auch als nächstes zu diesem impulsiven Mädchen sagte, so kam es vor allem darauf an, daß er den richtigen Ton fand, daß er sanft und taktvoll zu ihr sprach. Dabei schnürte sich ihm vor lauter Nervosität die Kehle zusammen. Widersinnigerweise erinnerte er sich in diesem Moment einer Bemerkung, die Christine heute morgen geäußert hatte: Die kleine Miss Preyscott ist einem Kind so ähnlich wie eine Katze einem Tiger. Aber einem Mann macht es vermutlich Spaß, aufgefressen zu werden. Diese Bemerkung war natürlich unfair, sogar hart. Aber es stimmte, daß Marsha weder ein Kind war noch wie ein Kind behandelt werden durfte. »Marsha, Sie kennen mich doch kaum und ich Sie auch nicht.« »Glauben Sie an Instinkt?« »Bis zu einem gewissen Grad, ja.« »Ich fühlte mich instinktiv zu Ihnen hingezogen. Vom ersten Augenblick an.« Zuerst hatte ihre Stimme geschwankt; nun wurde sie fester. »Mein Instinkt hat meistens recht.« »Auch bei Stanley Dixon und Lyle Dumaire?« fragte er milde. »Da hatte ich den richtigen Instinkt, aber ich hab mich nicht daran gekehrt, das ist alles. Diesmal bin ich ihm gefolgt.« »Es kann trotzdem eine Täuschung sein.« »Gegen Irrtümer ist man nie gefeit, auch wenn man sehr lange wartet.« Marsha wandte sich ihm zu und sah ihn gerade an. Als sie ihm forschend in die Augen blickte, spürte er an ihr eine Willensstärke, die ihm bisher nicht aufgefallen war. »Mein Vater und meine Mutter kannten einander fünfzehn Jahre lang, bevor sie heirateten. Meine Mutter hat mir mal erzählt, alle ihre Freunde hätten ihnen eine perfekte Ehe prophezeit. Wie sich dann herausstellte, hätte sie gar nicht schlechter sein können. Ich weiß Bescheid; ich hab's miterlebt.« Er schwieg, weil er nicht wußte, was er sagen sollte. »Ich habe einiges dabei gelernt. Und noch etwas anderes hat mir zu denken gegeben. Sie haben Anna heute abend gesehen?« »Ja.« »Mit siebzehn wurde sie gezwungen, einen Mann zu heiraten, dem sie vorher nur ein einziges Mal begegnet war. Es war eine Abmachung zwischen den beiden Familien; damals gab es so etwas noch.« »Erzählen Sie weiter.« »Am Tag vor der Hochzeit weinte Anna die ganze Nacht hindurch. Aber sie wurde trotzdem verheiratet, und ihre Ehe dauerte sechsundvierzig Jahre. Ihr Mann starb letztes Jahr; sie wohnten hier bei uns. Er war der netteste, süßeste Mann, den man sich denken kann. Und wenn es jemals ein glückliches Ehepaar gab, dann waren's die beiden.« Er zögerte, weil es ihm widerstrebte, einen allzu leichten Gewinn einzuheimsen, wandte dann aber doch ein: »Sie widerlegen sich selbst. Anna folgte ihrem Instinkt nicht. Hätte sie's getan, dann hätte sie nicht geheiratet.« »Ich weiß. Ich will damit bloß sagen, daß es überhaupt keine garantiert sichere Methode gibt. Instinkt kann ein ebenso guter Wegweiser sein wie sonst was.« Sie verstummte und fügte nach einer Weile hinzu: »Ich weiß genau, mit der Zeit könnte ich Sie dazu bringen, mich zu lieben.« Es war grotesk, aber plötzlich überkam ihn ein Gefühl der Erregung. Der Gedanke war natürlich absurd; der überspannte Einfall eines romantischen, phantasievollen Mädchens. Er, der früher selbst das Opfer seiner romantischen Vorstellungen geworden war, mußte es von Rechts wegen wissen. Aber wußte er es denn wirklich? Hatte jede Situation ihren Vorgänger? War Marshas Antrag tatsächlich so phantastisch? Er war plötzlich und gegen jede Vernunft überzeugt davon, daß alles, was sie gesagt hatte, durchaus zutreffen konnte. Er fragte sich, was der abwesende Mark Preyscott von dem Einfall seiner Tochter halten würde. »Falls Sie an meinen Vater denken...« »Woher wissen Sie das?« fragte er entgeistert. »Weil ich Sie allmählich ganz gut kenne.« Er atmete tief ein und hatte dabei das Empfinden, daß die Luft sehr dünn war. »Was ist mit Ihrem Vater?« »Zuerst wird er vermutlich beunruhigt sein und sofort nach Hause fliegen. Das macht aber nichts.« Marsha lächelte. »Vernünftigen Argumenten ist er immer zugänglich, und ich weiß, ich könnte ihn überzeugen. Außerdem würde er Sie mögen. Ich kenne die Sorte Leute, die er am meisten bewundert, und Sie gehören dazu.« »Na«, Peter schwankte zwischen Belustigung und Ernst, »das ist wenigstens ein Trost.« »Da ist noch etwas. Mir wäre es egal, aber meinem Vater nicht. Sehen Sie, ich weiß - und mein Vater würde es auch merken -, daß Sie eines Tages ein ganz großer Hotelmann sein werden, vielleicht sogar mit einem eigenen Hotel. Nicht, daß ich so wild darauf bin. Ich möchte Sie, sonst nichts.« Sie hielt atemlos inne. »Marsha«, sagte Peter sanft, »ich weiß... ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll.« In der nun folgenden Pause konnte er spüren, wie Marshas Selbstvertrauen nachließ. Es war, als hätte sie ihre Zuversicht aus einer Kraftreserve gespeist, aber nun hatte sich die Reserve erschöft und damit auch ihr Mut. Mit dünner schüchterner Stimme sagte sie: »Sie halten mich für albern. Sagen Sie's lieber gleich, dann haben wir's hinter uns.« »Ich denke nichts dergleichen«, versicherte er. »Wenn alle Menschen so ernsthaft und aufrichtig wären wie Sie...« »Soll das heißen, daß Sie mir nicht böse sind?« »Im Gegenteil, ich bin gerührt und überwältigt.« »Dann sagen Sie nichts mehr!« Marsha sprang auf und streckte ihm beide Hände hin. Er nahm sie, und sie standen einander mit verschlungenen Fingern gegenüber. Marsha hatte offenbar die Fähigkeit, Zweifel abzuschütteln, auch wenn sie ihrer Sache nicht ganz sicher war. »Gehen Sie einfach weg, und denken Sie darüber nach!« beschwor sie ihn. »Denken Sie mit aller Macht! Besonders an mich.« »Es wird mir schwerfallen, nicht an Sie zu denken«, erwiderte er, und es war ihm ernst damit. Sie hob ihm ihr Gesicht zu einem Kuß entgegen, und er beugte sich über sie. Seine Absicht war, nur leicht ihre Wange zu streifen, aber sie preßte ihre Lippen auf seine, und als sie einander berührten, schlang sie beide Arme fest um seinen Hals. In seinem Kopf läutete irgendwo ganz schwach eine Alarmglocke. Ihr Körper schmiegte sich an ihn; der enge Kontakt wirkte elektrisierend; er berauschte ihn und raubte ihm den Atem. Ihr Parfüm stieg ihm in die Nase. Es war unmöglich, Marsha in diesem Moment für etwas anderes als eine Frau zu halten. Er spürte, wie sein Körper erwachte, seine Sinne verschwammen. Die Alarmglocke war verstummt. Aus weiter Ferne hörte er die Worte: Die kleine Miss Preyscott... es würde einem Mann Spaß machen... aufgefressen zu werden. Energisch machte er sich los und ergriff sacht Marshas Hände. »Ich muß gehen.« Marsha begleitete ihn bis auf die Terrasse. Er strich ihr zärtlich über das Haar. Sie flüsterte: »Peter, Liebling.« Er stieg die Stufen zum Garten hinunter, ohne recht zu wissen, daß sie da waren. 14 Um halb elf Uhr nachts benutzte Ogilvie, der Hausdetektiv, einen der fürs Personal bestimmten Kellertunnel, um vom Hauptgebäude des St. Gregory aus in die angrenzende Hotelgarage zu gehen. Er hatte den Tunnel statt des bequemeren Durchgangs im Erdgeschoß aus demselben Grund gewählt, aus dem er sich gerade für diesen Zeitpunkt entschieden hatte - um so wenig wie möglich aufzufallen. Um halb elf hatten Gäste, die den Abend auswärts verbringen wollten, ihren Wagen bereits abgeholt, und für ihre Rückkehr war es noch zu früh. Außerdem war um diese Stunde nicht mit Neuzugängen zu rechnen, wenigstens nicht mit solchen, die im eigenen Wagen kamen. Ogilvies ursprünglicher Plan, mit dem Jaguar des Herzogs und der Herzogin von Croydon um ein Uhr - in über drei Stunden also - nach dem Norden aufzubrechen, hatte sich nicht geändert. Vor der Abfahrt jedoch hatte der fette Mann noch etwas Wichtiges zu erledigen, und dabei konnte er keine Zuschauer brauchen. Die für seine Arbeit notwendigen Materialien trug er in einem Papierbeutel in der Hand. Hier handelte es sich um eine Unterlassungssünde der Herzogin, die sie trotz all ihrer Sorgfalt nicht bedacht hatte. Ogilvie war das Versäumnis von Anfang an aufgefallen; er zog es jedoch vor, seine Meinung für sich zu behalten. Bei dem doppelten Unglück in der Montagnacht war ein Scheinwerfer des Jaguars in die Brüche gegangen. Durch den Verlust des Blechrings, der sich nun im Besitz der Polizei befand, hatte sich dazu noch das elektrische Kabel gelockert. Sollte der Wagen, wie beabsichtigt, bei Dunkelheit gefahren werden, mußte man den Schweinwerfer und das Kabel wenigstens notdürftig zusammenflicken. Es war jedoch viel zu gefährlich, den Wagen in eine Autowerkstatt zu bringen, und es kam ebensowenig in Betracht, den hoteleigenen Mechaniker mit der Ausbesserung zu betrauen. Gestern hatte Ogilvie, auch zu einem Zeitpunkt, in dem sich in der Garage nichts tat, den Jaguar auf seinem versteckten Platz hinter dem Pfeiler inspiziert und entschieden, daß er die provisorische Reparatur selbst durchführen konnte, wenn es ihm gelang, sich die passenden Ersatzteile zu verschaffen. Er erwog den Gedanken, einen neuen Scheinwerfer beim einzigen Jaguarhändler in New Orleans zu kaufen, und verwarf ihn, weil es zu riskant war. Obwohl die Polizei - soweit Ogilvie wußte - noch immer nicht über das Fabrikat des Wagens, den sie suchte, im Bilde war, würde sie in ein oder zwei Tagen, sowie die Glassplitter identifiziert waren, auf dem laufenden sein. Falls er jetzt einen Scheinwerfer für einen Jaguar kaufte und die Polizei Ermittlungen anstellte, würde man sich im Laden höchstwahrscheinlich an ihn erinnern und der Sache nachgehen. Folglich hatte er sich mit einem nordamerikanischen Standardmodell aus einem Selbstbedienungsladen für Autozubehör begnügt. Seinem Aussehen nach konnte es brauchbar sein. Nun wollte er es ausprobieren. Der Kauf der Lampe war eine zusätzliche Belastung gewesen an einem Tag, der dem Hausdetektiv ohnehin ein Übermaß an Arbeit gebracht hatte und ein Gefühl von Befriedigung und zugleich ein bohrendes Unbehagen in ihm zurückließ. Außerdem war er erschöpft, ein schlechter Beginn für die lange Fahrt nach dem Norden, die ihm bevorstand. Er tröstete sich mit dem Gedanken an die fünfundzwanzigtausend Dollar, wovon er zehntausend, wie verabredet, heute nachmittag bei der Herzogin von Croydon abgeholt hatte. Es war eine verkrampfte, kalte Begegnung gewesen, die Herzogin wortkarg und förmlich, Ogilvie, den das nicht anfocht, hatte die gebündelten Geldscheine gierig in eine Aktentasche gestopft. Neben ihnen der Herzog, betrunken hin- und herschwankend, mit blutunterlaufenen Augen und von dem, was geschah, kaum etwas wahrnehmend. Die Erinnerung an das Geld erfüllte den fetten Mann mit angenehmer Wärme. Es war gut versteckt; vorsichtshalber hatte er nur zweihundert Dollar bei sich, für den Fall, daß bei der Fahrt irgend etwas schiefging. Sein Unbehagen hatte zwei Gründe. Einmal war er sich der Folgen bewußt, die es für ihn haben mußte, falls es ihm nicht gelang, den Jaguar unangefochten aus New Orleans und danach durch Louisiana, Mississippi, Tennessee und Kentucky zu schleusen. Zweitens war da der nachdrückliche Ton, mit dem Peter McDermott Ogilvie auf die Notwendigkeit hingewiesen hatte, in der Nähe des Hotels zu bleiben. Der Diebstahl gestern nacht (mit der Wahrscheinlichkeit, daß ein professioneller Dieb im St. Gregory sein Wesen trieb) hätte sich gar nicht zu einem ungelegeneren Zeitpunkt ereignen können. Ogilvie hatte getan, was in seinen Kräften stand. Er hatte die Polizei benachrichtigt, und Detektive hatten den beraubten Gast verhört. Das Hotelpersonal, Ogilvies Untergebene mit eingeschlossen, war alarmiert, und Ogilvies Stellvertreter war mit Verhaltungsmaßregeln für alle nur denkbaren Eventualitäten ausgestattet worden. Nichtsdestoweniger war sich Ogilvie klar darüber, daß er eigentlich bei der Hand sein sollte, um die Operation persönlich zu leiten. Sobald seine Abwesenheit McDermott zu Ohren kam, was morgen früh der Fall sein würde, war ein Donnerwetter unvermeidlich. Aber schließlich würde das Donnerwetter ergebnislos in der Luft verpuffen, weil McDermott und seinesgleichen kamen und gingen, während Ogilvie aus Gründen, die nur ihm und Warren Trent bekannt waren, auf seinem Posten blieb. Immerhin würde es eine Nebenwirkung haben, die der Hausdetektiv um jeden Preis vermeiden wollte; es würde die Aufmerksamkeit auf sein Tun und Treiben in den nächsten paar Tagen lenken. Nur in einem Punkt hatte sich der Diebstahl als nützlich erwiesen. Er hatte Ogilvie einen zwingenden Grund zu einem weiteren Besuch im Polizeipräsidium geliefert, wo er sich beiläufig nach den Fortschritten in der Fahrerfluchtaffäre erkundigt hatte. Dabei erfuhr er, daß der Fall noch immer erstrangig bearbeitet wurde und die gesamte Polizei in Erwartung einer günstigen Chance in Alarmbereitschaft stand. Im »States-Item« von heute nachmittag hatte die Polizei erneut an die Öffentlichkeit appelliert, jeden Wagen mit beschädigtem Kotflügel oder Scheinwerfer zu melden. Die Information hatte ihr Gutes, aber sie verringerte auch die Chance, den Jaguar unentdeckt aus der Stadt zu bringen. Ogilvie schwitzte ein bißchen, wenn er daran dachte. Er hatte das Ende des Tunnels erreicht und befand sich im Kellergeschoß der Garage. In der spärlich erleuchteten Halle war es still. Ogilvie überlegte, ob er sich direkt zum Wagen der Croydons in einem der oberen Stockwerke begeben oder das Garagenbüro aufsuchen sollte, wo der Kontrolleur der Nachtschicht saß. Er entschied, daß es klüger war, zuerst im Büro vorbeizuschauen. Mühsam und schnaufend kletterte er eine schmale Eisentreppe hinauf. Der Kontrolleur, ein ältlicher, diensteifriger Mann namens Kulgmer, war allein in seiner hellerleuchteten Zelle unweit der Ein- und Ausfahrtrampe. Er legte ein Groschenblatt beiseite, als der Hausdetektiv eintrat. »Ich wollte Ihnen bloß Bescheid geben«, sagte Ogilvie. »Ich hol' nachher den Wagen des Herzogs von Croydon raus. Er steht in Box 371. Ist eine reine Gefälligkeit von mir.« Kulgmer runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das erlauben kann, Mr. O. Nicht ohne eine ordnungsgemäße Vollmacht.« Ogilvie zeigte das Briefchen vor, das die Herzogin am Morgen, auf seine Bitte hin, geschrieben hatte. »Schätze, das dürfte Ihnen als Vollmacht genügen.« Der Nachtkontrolleur las den Text aufmerksam durch und drehte das Blatt dann um. »Scheint okay zu sein.« Der Hausdetektiv streckte seine plumpe mollige Hand aus, um den Zettel an sich zu nehmen. Kulgmer schüttelte den Kopf. »Das muß ich behalten. Um mich abzusichern.« Der fette Mann zuckte mit den Schultern. Es wäre ihm lieber gewesen, er hätte das Briefchen zurückbekommen, aber er wollte sich nicht auf einen Streit einlassen und einen Vorfall aufbauschen, der andernfalls vielleicht rasch vergessen wurde. Er zeigte auf den Papierbeutel. »Bring bloß das Zeug hoch. In zwei Stunden oder so hol' ich den Wagen raus.« »Wie Sie wollen, Mr. Ogilvie.« Der Kontrolleur nickte und vertiefte sich wieder in seine Zeitung. Einige Minuten später warf Ogilvie einen scheinbar gleichgültigen Blick in die Runde, bevor er sich der Box 371 näherte. In dem niedrigen, betonierten, etwa zu fünfzig Prozent mit Wagen belegten Garagengeschoß war es still und wie ausgestorben. Die Wagenjockeys, die Nachtdienst hatten, befanden sich zweifellos in ihren Umkleideräumen im Erdgeschoß und benutzten die vorübergehende Flaute, um ein Nickerchen zu machen oder Karten zu spielen. Dennoch war es angebracht, schnell zu arbeiten. In der anderen Ecke, im Schutz des Jaguars und des Pfeilers, leerte Ogilvie den Beutel und breitete den Inhalt - Scheinwerfer, Schraubenzieher, Zangen, ein Stück Kabel und schwarzes Isolierband - auf dem Boden aus. Seine Finger bewegten sich bei all ihrer Plumpheit erstaunlich flink und gewandt. Nachdem er Hindschuhe übergezogen hatte, um seine Hände zu schützen, entfernte er die Überreste des zertrümmerten Scheinwerfers. Im Nu hatte er festgestellt, daß zwar die Ersatzlampe zum Jaguar passen würde, nicht aber das Verbindungskabel. Damit hatte er gerechnet. Mit raschen Handgriffen, Zange, Draht und Isolierband benutzend, verfertigte er eine primitive, jedoch brauchbare Verbindung. Dann befestigte er die Lampe mit Draht und stopfte einen Pappendeckel, den er vorsorglich eingesteckt hatte, in die Lücke, die der fehlende Blechring hinterlassen hatte. Die Pappe sicherte er mit Isolierband, das er mehrmals herumwickelte und hinten festmachte. Das Ganze war natürlich nur Stückwerk, das im Tageslicht leicht entdeckt wurde, bei Nacht jedoch seinen Zweck erfüllte. Die Reparatur hatte nahezu eine Viertelstunde gedauert. Er öffnete die rechte Wagentür und schaltete das Licht ein. Beide Scheinwerfer funktionierten. Er stieß ein erleichtertes Grunzen aus. Im gleichen Moment ertönte von unten das scharfe Stakkato einer Hupe und das Dröhnen eines anfahrenden Wagens Ogilvie erstarrte. Der durch die Betonwände und niedrigen Decken verstärkte Motorenlärm kam näher, und dann strichen plötzlich Scheinwerfer vorbei und schwenkten um die Biegung der Rampe ein Stockwerk höher. Reifen quietschten, der Motor verstummte, eine Wagentür wurde zugeknallt. Ogilvie entspannte sich. Der Wagenjockey würde im Personenaufzug wieder hinunterfahren. Als er sich entfernende Schritte hörte, verstaute er das Werkzeug sowie einige größere Glassplitter von der ursprünglichen Lampe im Beutel und stellte ihn beiseite, um ihn später mitzunehmen. Auf dem Weg nach oben hatte er einen Stock tiefer einen Abstellraum bemerkt. Er ging auf der Rampe hinunter. Seine Hoffnung hatte nicht getrogen. Er entdeckte darin Putzutensilien und suchte sich einen Besen, Kehrichtschaufel und einen Eimer heraus. Den Eimer füllte er halbvoll mit warmem Wasser und warf ein Scheuertuch hinein. Die Ohren spitzend, wartete er zwei weitere Wagen ab und hastete einen Stock höher zurück zum Jaguar. Mit Besen und Schaufel säuberte er sorgsam den Boden der Wagenbox. Es durften keine Glaspartikelchen zurückbleiben, die die Polizei identifizieren und mit den am Unfallort eingesammelten Scherben vergleichen konnte. Die Zeit wurde knapp. Immer mehr Wagen trafen in der Garage ein und wurden geparkt. Zweimal während des Kehrens hatte er sich geduckt und die Luft angehalten, als ein Wagen nur wenige Meter vom Jaguar entfernt in eine Box einschwenkte. Zum Glück hatte der Wagenjockey sich nicht die Mühe gemacht, sich umzuschauen, aber es war eine Mahnung für Ogilvie, zum Ende zu kommen. Falls ein Jockey ihn sah und herüberkam, bedeutete das Neugier und lästige Fragen, die sich unten wiederholen würden. Die Erklärung, die Ogilvie dem Nachtkontrolleur für seinen Besuch in der Garage gegeben hatte, würde wenig überzeugend erscheinen. Und nicht nur das, die einzige Chance für eine unentdeckte Fahrt nach dem Norden hing davon ab, daß er eine möglichst schwache Spur hinter sich zurückließ. Nun blieb nur noch eins zu tun. Mit dem warmen Wasser und dem Tuch wischte er behutsam die beschädigten Teile des Kotflügels und die Motorhaube des Jaguars ab. Als er das Tuch auswrang, wurde das vorher klare Wasser braun. Er inspizierte sein Werk und war mit dem Ergebnis zufrieden. Was immer auch geschehen mochte, es waren keine getrockneten Blutspritzer mehr auf dem Wagen. Zehn Minuten später, vor Anstrengung schwitzend, war er wieder im Hauptgebäude des Hotels. Er begab sich direkt in sein Büro, wo er eine Stunde lang zu schlafen gedachte, bevor er nach Chikago aufbrach. Er blickte auf die Uhr. Es war Viertel nach elf. 15 »Ich könnte besser helfen«, bemerkte Royall Edwards anzüglich, »wenn mir jemand sagen würde, worum es eigentlich geht.« Der Rechnungsprüfer des St. Gregory wandte sich an die zwei Männer, die ihm in der Buchhaltung gegenübersaßen. Zwischen ihnen, auf dem langen Tisch, lagen aufgeschlagene Hauptbücher und Ordner, und das gesamte Büro, das um diese Zeit sonst in Dunkel gehüllt war, erstrahlte in grellem Licht. Edwards selbst hatte vor einer Stunde die Lampen angeknipst, als er die beiden Besucher aus Warren Trents Suite in der fünfzehnten Etage direkt hierher gebracht hatte. Die Anweisungen des Hotelbesitzers waren deutlich gewesen. »Diese beiden Herren werden unsere Bücher prüfen. Wahrscheinlich werden sie bis morgen früh durcharbeiten. Es wäre mir lieb, wenn Sie bei Ihnen blieben. Zeigen Sie ihnen alles, was sie einsehen möchten. Halten Sie mit keiner Information zurück.« Royall Edwards fand, daß sein Arbeitgeber bei dieser Gelegenheit heiterer wirkte als seit langem. Aber die Heiterkeit besänftigte den Rechnungsprüfer keineswegs, der sich darüber ärgerte, daß man ihn von zu Haus und von seiner Briefmarkensammlung weg ins Hotel zitiert hatte, und den es noch mehr reizte, daß man ihn in dieser Sache nicht ins Vertrauen zog. Außerdem empörte es ihn, daß er die ganze Nacht hindurch arbeiten sollte. Natürlich wußte der Rechnungsprüfer, daß die Hypothek am Freitag fällig war und was die Anwesenheit Curtis O'Keefes im Hotel bedeutete. Diese neue Heimsuchung hing offenbar irgendwie damit zusammen. Ein möglicher Hinweis waren die Gepäckanhänger an den Reisetaschen der beiden Besucher, aus denen hervorging, daß sie von Washington, D. C, herübergeflogen waren. Doch sagte hm sein Instinkt, daß die beiden Wirtschaftsprüfer - denn das waren sie zweifellos - mit der Regierung nichts zu tun hatten. Nun, irgendwann würde er vermutlich alles erfahren. Indessen war es verdrießlich, daß man ihn wie einen untergeordneten Schreiber behandelte. Seine Bemerkung, daß er mehr helfen könnte, wenn er besser informiert wäre, war unbeantwortet geblieben, und er wiederholte sie. Der ältere der beiden Besucher, ein untersetzter Mann mittleren Alters mit einem unbeweglichen Gesicht, griff nach der neben ihm stehenden Kaffeetasse und trank sie aus. »Ein's sag' ich immer, Mr. Edwards, es geht nichts über eine gute Tasse Kaffee. Also, die meisten Hotels verstehen nichts davon. Das St. Gregory ist da eine rühmliche Ausnahme. Und ich schätze, mit einem Hotel, das so guten Kaffee serviert, kann nicht viel faul sein. Was meinst du, Frank?« »Ich meine, wenn wir bis morgen früh fertig werden wollen, müssen wir uns ranhalten«, erwiderte der zweite Mann mürrisch, ohne von einer Rohbilanz aufzublicken, die er gerade aufmerksam durchsah. Der erste machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Da sehen Sie selbst, wie's ist, Mr. Edwards. Ich schätze, Frank hat recht; er hat meistens recht. So gern ich Ihnen auch alles erklären würde, es ist wohl besser, wir machen uns an die Arbeit.« »Wie es Ihnen beliebt«, sagte Royall Edwards steif, im Bewußtsein, daß er zurückgewiesen worden war. »Danke, Mr. Edwards. Jetzt würde ich gern mal Ihr Inventarsystem besehen - Einkauf, Kontrollkartei, derzeitige Lagerbestände, Ihre letzte Lieferungskontrolle und alles übrige. Hören Sie, der Kaffee war wirklich gut. Könnten wir noch mehr davon haben?« Der Rechnungsprüfer sagte: »Ich bestelle noch welchen.« Trübselig sah er auf seiner Uhr, daß es bereits kurz vor Mitternacht war. Allem Anschein nach würden sie noch stundenlang hier sitzen. DONNERSTAG 1 Wenn er für die Arbeit eines neuen Tages frisch sein wollte, dachte Peter McDermott, dann war es wohl besser, nach Haus zu gehen und noch ein bißchen zu schlafen. Es war eine halbe Stunde nach Mitternacht. Er hatte einen zweistündigen Fußmarsch hinter sich und fühlte sich erquickt und angenehm müde. Ein tüchtiges Stück zu laufen war von jeher sein Allheilmittel, namentlich, wenn er Sorgen hatte oder ein ungelöstes Problem ihm zu schaffen machte. Nachdem er sich von Marsha verabschiedet hatte, war er direkt in sein Appartement in der Innenstadt zurückgekehrt. Aber die engen Räume bedrückten ihn, und er war zu ruhelos, um zu schlafen; deshalb hatte er die Wohnung wieder verlassen und war zum Fluß hinuntergegangen. Er war die Poydras und Julia Street entlanggeschlendert, wo am Pier Schiffe vertäut lagen, erleuchtet und schweigend die einen, betriebsam und abfahrbereit die anderen. Dann hatte er an der Canal Street die Fähre genommen, war am jenseitigen Ufer des Mississippi ausgestiegen und an den einsamen Anlegeplätzen vorbeigestreift und hatte über den dunklen Strom hinweg die Lichter der Stadt betrachtet. Schließlich war er umgekehrt, durch das Vieux Carre gebummelt und saß nun, einen cafe au lait vor sich, auf dem alten Französischen Markt. Zum erstenmal seit mehreren Stunden hatte er vor einigen Minuten wieder an die schwebenden Hotelaffären gedacht und im St. Gregory angerufen. Auf seine Frage, ob es beim Kongreß amerikanischer Zahnärzte etwas Neues gebe, hatte ihm der stellvertretende Nachtmanager erklärt, ja, der Oberkellner des Kongreßsaales habe kurz vor Mitternacht eine Nachricht hinterlassen. Danach habe der Vorstand des Zahnärzteverbands trotz sechsstündiger Beratung keinen endgültigen Beschluß gefaßt. Doch sei für halb zehn kommenden Vormittag im Dauphine-Salon eine Sondersitzung sämtlicher Tagungsteilnehmer einberufen worden. Man rechne mit ungefähr dreihundert Personen. Die Sitzung fände unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt; zu diesem Zweck treffe man umfangreiche Sicherungsmaßnahmen, und man habe auch das Hotel gebeten, dafür zu sorgen, daß die Diskussion nicht gestört würde. Peter gab Anweisung, alle Wünsche des Vorstandes, wenn irgend möglich, zu erfüllen, und schlug sich dann die Affäre bis zum nächsten Morgen aus dem Kopf. Abgesehen von dieser kurzen Unterredung, hatte er sich in Gedanken fast nur mit Marsha und den Geschehnissen des Abends beschäftigt. Fragen summten in seinem Kopf wie ein aufgeregter Bienenschwarm. Wie konnte er sich anständig aus der Zwickmühle befreien, ohne taktlos zu erscheinen oder Marshas Gefühle zu verletzen? Eines war jedenfalls klar: er konnte ihren Antrag unmöglich annehmen. Aber es wäre albern und herzlos gewesen, eine so ehrliche Erklärung mit einem lässigen Schulterzucken abzutun. Nicht umsonst hatte er zu ihr gesagt: Wenn alle Menschen so ehrlich wären wie Sie... Dann war da noch etwas - und warum sollte er sich scheuen, es zuzugeben, falls es ihm mit der Aufrichtigkeit ernst war? Marsha hatte ihn heute nacht nicht als junges Mädchen gereizt, sondern als Frau. Wenn er die Augen schloß, stand ihr Bild noch immer deutlich vor ihm wie starker Wein. Aber von diesem starken Wein hatte er schon früher gekostet und von dem Rausch war nichts geblieben als ein bitterer Nachgeschmack. Damals hatte er sich geschworen, diese Versuchung künftig zu meiden. Machte eine solche Erfahrung einen Mann kritischer und klüger bei der Wahl einer Frau? Er bezweifelte es. Und dennoch war er ein Mann, atmete, fühlte. Keine selbstauferlegte Absonderung konnte oder sollte ewig dauern. Fragte sich nur, wann und wie sollte er sie beenden? Was nun? Würde er Marsha wiedersehen? Falls er ihre Beziehung nicht auf der Stelle und unwiderruflich abbrach, war ein Wiedersehen vermutlich unvermeidlich. Unter welchen Bedingungen sollte er die Bekanntschaft fortsetzen? Und wie verhielt es sich mit dem Altersunterschied zwischen ihnen? Marsha war neunzehn. Er war zweiunddreißig. Die Kluft schien groß zu sein, aber war sie es wirklich? Wären sie beide zehn Jahre älter, würde bestimmt kein Mensch eine Liebesaffäre - oder eine Heirat - für ungewöhnlich halten. Außerdem bezweifelte er stark, daß Marsha zu einem Jungen ihres eigenen Alters ein enges Verhältnis finden würde. Die Fragen nahmen kein Ende. Aber die Entscheidung darüber, ob und unter welchen Umständen er Marsha wiedersehen würde, stand noch aus. Im übrigen geisterte durch all seine Überlegungen stets der Gedanke an Christine. Er und Christine schienen sich innerhalb der letzten Tage nähergekommen zu sein als je zuvor. Selbst im Haus der Preyscotts hatte er sich ihrer erinnert, und sogar jetzt sehnte er sich nach ihrem Anblick und ihrer Stimme. Es war seltsam, daß er, der noch vor einer Woche absolut ungebunden war, nun zwischen zwei Frauen hin- und hergerissen wurde! Peter grinste kläglich, als er den Kaffee bezahlte und sich erhob, um heimzugehen. Das St. Gregory lag mehr oder weniger auf seinem Weg, und instinktiv schlug er die Richtung ein. Als er das Hotel erreichte, war es kurz nach ein Uhr. In der Halle war noch Betrieb. Draußen auf der St. Charles Avenue hingegen war bis auf ein einzelnes Taxi und ein oder zwei Passanten kaum noch Leben. Er überquerte die Straße und ging, um den Weg abzukürzen, an der Rückseite des Hotels entlang. Hier war es noch stiller. Er war im Begriff, die Einfahrt zur Hotelgarage zu überqueren, als Motorengeräusch und das Aufleuchten von Scheinwerfern auf der Innenrampe ihn zum Stehenbleiben veranlaßten. Gleich darauf kam ein niedriger langgestreckter Wagen in Sicht. Er fuhr schnell und bremste scharf und mit quietschenden Reifen am Ende der Ausfahrt. Als der Wagen stoppte, befand er sich direkt im Lichtkreis einer Straßenlaterne. Peter stellte fest, daß es sich um einen Jaguar handelte und daß der eine Kotflügel aussah, als hätte er eine Delle; auch mit dem Scheinwerfer war offenbar irgend etwas nicht in Ordnung. Er hoffte, daß der Schaden nicht durch Unachtsamkeit in der Hotelgarage verursacht worden war. Andernfalls würde er bald genug davon hören. Automatisch blickte er zum Fahrer hinüber. Er war verdutzt, als er Ogilvie erkannte. Auch der Chefdetektiv machte ein erstauntes Gesicht, als er Peters Blick begegnete. Dann schwenkte der Wagen abrupt in die Straße ein und brauste davon. Peter wunderte sich, wohin Ogilvie fahren mochte; und warum in einem Jaguar statt in seinem alten zerschrammten Chevrolet? Dann sagte er sich, daß es ihn nichts anging, was die Angestellten außerhalb des Hotels trieben, und ging weiter und nach Haus. Eine halbe Stunde später schlief er fest. 2 Im Gegensatz zu Peter McDermott erfreute sich Keycase Milne keiner ungestörten Nachtruhe. Die Schnelligkeit und Gewandtheit, mit der er sich genaue Einzelheiten über den Schlüssel der Präsidentensuite beschafft hatte, war, was die Anfertigung des Duplikats anging, nicht vom gleichen Erfolg gekrönt. Die Beziehungen, die Keycase bei der Ankunft in New Orleans angeknüpft hatte, waren nicht so brauchbar, wie er erwartet hatte. Schließlich hatte sich ein Schlosser in einem Slumviertel unweit des Irish Channel - ein vertrauenswürdiger Mann, wie Keycase versichert worden war -bereit erklärt, den Auftrag zu übernehmen, obwohl es ihn verdroß, daß er nach einer Zeichnung arbeiten mußte und nicht einfach einen vorhandenen Schlüssel kopieren konnte. Aber der neue Schlüssel würde nicht vor Donnerstag mittag fertig sein, und der geforderte Preis war exorbitant. Keycase hatte sich sowohl mit dem Preis als auch mit der Wartezeit abgefunden, in der Erkenntnis, daß es keine Alternative gab. Aber das Warten war besonders mißlich, weil er wußte, daß sich mit jeder Stunde das Risiko, aufgespürt und verhaftet zu werden, erhöhte. Heute nacht vor dem Zubettgehen hatte er mit sich gerungen, ob er am frühen Morgen einen neuen Raubzug durchs Hotel machen sollte. In seiner Kollektion befanden sich noch zwei unbenutzte Zimmerschlüssel - 449, der zweite Schlüssel, den er am Dienstag auf dem Flughafen erwischt hatte, und 803, den er statt seines eigenen Schlüssels 830 beim Empfang verlangt und erhalten hatte. Aber er stand von seinem Vorhaben ab, mit der Ausrede, daß es klüger sei, zu warten und sich auf das größere Projekt mit der Herzogin von Croydon zu konzentrieren. Doch Keycase war sich klar darüber, sogar während er den Entschluß faßte, daß ihn hauptsächlich Angst dazu veranlaßte. In der Nacht, als er keinen Schlaf fand, wurde die Angst immer stärker, so daß er schließlich gar nicht mehr versuchte, sich selbst etwas vorzumachen. Aber am nächsten Morgen, das nahm er sich fest vor, würde er die Furcht irgendwie abschütteln und wieder sein beherztes Selbst werden. Endlich fiel er in unruhigen Schlummer, in dem er träumte, daß eine mächtige Eisentür, die Licht und Luft aussperrte, sich allmählich vor ihm schloß. Er wollte weglaufen, solange sie einen Spalt breit offenblieb, war jedoch nicht imstande, sich von der Stelle zu rühren. Als die Tür zu war, weinte er, weil er wußte, daß sie sich nie wieder öffnen würde. Er erwachte schlotternd im Dunkeln. Sein Gesicht war naß von Tränen. 3 Einige siebzig Meilen nördlich von New Orleans grübelte Ogilvie noch immer über seine Begegnung mit Peter McDermott nach. Der erste Schock hatte ihm förmlich einen Stoß versetzt. Über eine Stunde lang hatte er verkrampft hinter dem Steuer gesessen und den Jaguar zuerst durch die Stadt, dann über den Pontchartrain Causeway und schließlich auf der Interstate 59 nach Norden gesteuert, ohne daß er sich der zurückgelegten Strecke immer bewußt war. Seine Augen wanderten andauernd zum Rückspiegel. Er beobachtete jedes Paar Scheinwerfer, das hinter ihm auftauchte, in der Erwartung, sie würden ihn mit Sirenengeheul verfolgen und rasch überholen. Hinter jeder Kurve vermutete er eine Straßensperre der Polizei. Ganz zuerst hatte er sich Peter McDermotts Anwesenheit damit erklärt, daß McDermott Augenzeuge von Ogilvies belastender Abfahrt sein wollte. Wieso McDermott von seinem Plan Wind bekommen hatte, war Ogilvie schleierhaft. Aber allem Anschein nach war er im Bilde, und der Hausdetektiv war, wie ein grüner Anfänger, in die Falle getappt. Erst viel später, als die Landschaft im einsamen Halbdunkel des frühen Morgens an ihm vorbeifegte, begann er sich zu fragen, ob das Zusammentreffen nicht vielleicht doch nur ein Zufall gewesen war! Falls McDermotts Aufkreuzen vor der Garage einen Zweck gehabt hätte, wäre der Jaguar bestimmt schon längst verfolgt und angehalten worden. Daß nichts dergleichen geschehen war, legte den Gedanken an einen Zufall nahe, machte ihn fast zur Gewißheit. Angesichts dieser Überlegung hoben sich Ogilvies Lebensgeister. Er weidete sich an der Vorstellung der fünfundzwanzigtausend Dollar, die am Ende der Fahrt sein Eigentum sein würden. Er ging mit sich zu Rate, ob es nicht klüger wäre, einfach weiterzufahren, da bisher alles so gut verlaufen war. In etwas über einer Stunde würde es Tag sein. Ursprünglich hatte er vorgehabt, bei Morgengrauen von der Straße abzuschwenken und irgendwo die Dunkelheit abzuwarten. Aber ein müßig verbrachter Tag hatte auch seine Gefahren. Er war erst halbwegs durch Mississippi, noch immer verhältnismäßig nahe bei New Orleans. Wenn er die Fahrt fortsetzte, ging er natürlich das Risiko ein, entdeckt zu werden; aber er fragte sich, wie groß das Risiko eigentlich war. Dagegen sprach seine Abspannung, die ihm noch vom Tage vorher anhing. Er war bereits jetzt erschöpft und sehnte sich nach Schlaf. In diesem Moment geschah es. Hinter ihm tauchte, wie durch Zauberkraft, ein rotes Blinklicht auf. Eine Sirene gellte gebieterisch. Es war genau das Ereignis, auf das er sich in den letzten paar Stunden gefaßt gemacht hatte. Als es nicht eintrat, hatte er sich seine Befürchtungen aus dem Kopf geschlagen. Nun war der Schock doppelt groß. Instinktiv trat er das Gaspedal ganz durch. Wie ein prächtig angetriebener Pfeil schnellte der Jaguar vorwärts. Die Tachometernadel schlug kräftig aus... auf 70, 80, 85 Meilen. Bei neunzig mußte Ogilvie mit dem Tempo heruntergehen, weil eine Kurve kam. Das rote Blinklicht fuhr dicht auf. Die Sirene, die zeitweilig verstummt war, gellte wieder. Dann scherte das rote Licht nach links aus, als der Fahrer zum Überholen ansetzte. Ogilvie wußte, daß es sinnlos war. Selbst wenn er jetzt seinen Verfolger abhängte, konnte er anderen, die weiter vorn auf ihn lauerten, nicht ausweichen. Resigniert nahm er den Fuß vom Gas. Als das andere Fahrzeug an ihm vorbeisauste, erhaschte er flüchtig das Bild einer langgestreckten hellfarbigen Karosserie, einen matten Lichtschein im Innern und eine Gestalt, die sich über eine andere beugte. Dann war die Ambulanz verschwunden, und das rote Licht verlor sich in der Ferne. Der Zwischenfall hatte ihn erschüttert und von seiner körperlichen Erschöpfung überzeugt. Er entschied, daß er, ungeachtet des Risikos, bei der ersten Gelegenheit von der Straße abbiegen und sich für den Tag einen Schlupfwinkel suchen mußte. Er hatte Macon, eine kleine Gemeinde in Mississippi, bereits hinter sich. Am Himmel zeigten sich die ersten hellen Streifen; der Morgen dämmerte. Er stoppte, um eine Landkarte zu Rate zu ziehen, und schwenkte kurz danach von der Autostraße ab in einen Komplex von Nebenstraßen. Bald wurde die Straße schlechter und ging schließlich in einen ausgefahrenen Feldweg über. Es wurde nun sehr schnell hell. Ogilvie kletterte aus dem Wagen und nahm die Umgebung in Augenschein. Die Landschaft war spärlich bewaldet und öde; menschliche Behausungen waren nicht zu sehen. Die nächste Hauptverkehrsstraße war über eine Meile entfernt. Unmittelbar vor ihm erhob sich eine Gruppe von Bäumen. Ogilvie stellte zu Fuß Erkundungen an und entdeckte, daß der Feldweg zwischen Bäumen endete. Der fette Mann grunzte zufrieden. Er kehrte zum Jaguar zurück und fuhr behutsam vorwärts, bis der Wagen unter dem Blattwerk verborgen war. Er machte mehrere Stichproben, bis er sich vergewissert hatte, daß man den Wagen nur aus allernächster Nähe hinter dem Laub zu sehen vermochte. Dann kletterte er auf den Rücksitz und schlief. 4 Als er kurz vor acht Uhr erwachte, wunderte sich Warren Trent, warum ihm so froh zumute war. Nach einigen Minuten fiel ihm der Grund wieder ein: Heute morgen würde er den Handel mit der Journeymen's Union, den er gestern eingeleitet hatte, zum Abschluß bringen. Indem er Druck von außen, düsteren Voraussagen und den mannigfaltigsten Hindernissen Trotz bot, hatte er das St. Gregory - kurz vor Ablauf der Gnadenfrist - davor bewahrt, vom O'Keefe-Hotelkonzern verschlungen zu werden. Es war ein persönlicher Triumph. Den Gedanken, daß das seltsame Bündnis zwischen ihm und der Gewerkschaft später sogar noch größere Probleme aufwerfen könnte, schob er beiseite. Darüber würde er sich den Kopf zerbrechen, wenn es soweit war; jetzt kam es vor allem darauf an, sich die unmittelbar bevorstehende Gefahr vom Hals zu schaffen. Er stand auf und betrachtete die Stadt von einem Fenster seiner im obersten Stockwerk gelegenen Suite. Draußen zog wieder ein prachtvoller Tag herauf; die bereits ziemlich hochstehende Sonne strahlte von einem nahezu wolkenlosen Himmel herab. Beim Duschen und danach, als er sich von Aloysius Royce rasieren ließ, summte er leise vor sich hin. Die offenkundige gute Laune seines Arbeitgebers war immerhin so ungewöhnlich, daß Royce erstaunt die Brauen hochzog, aber Warren Trent -der so kurz nach dem Aufstehen nicht in Plauderstimmung war - brachte keine Erklärung vor. Sobald er angekleidet war, rief er vom Wohnzimmer aus sofort Royall Edwards an. Der Rechnungsprüfer, den eine Telefonistin in seinen eigenen vier Wänden ausfindig machte, ließ durchblicken, daß er die ganze Nacht gearbeitet und daß ihn der Anrufer seines Arbeitgebers mitten in einem wohlverdienten Frühstück gestört habe. Den grollenden Unterton ignorierend, suchte Warren Trent herauszubekommen, wie die Reaktion der zwei Wirtschaftsprüfer während der Nacht gewesen wäre. Laut Edwards Bericht hatten die Besucher, obwohl sie über die gegenwärtige finanzielle Krise des Hotels unterrichtet waren, sonst nichts Außergewöhnliches zutage gefördert und schienen von Edwards Auskünften auf ihre Fragen befriedigt zu sein. Beruhigt überließ Warren Trent den Rechnungsprüfer seinem Frühstück. Vielleicht wurde in eben diesem Moment, dachte er, ein Bericht, der seine eigene Darstellung vom Stand der Dinge erhärtete, telefonisch nach Washington durchgegeben. Vermutlich würde er sehr bald von seinem Verhandlungspartner hören. Unmittelbar darauf läutete das Telefon. Royce war im Begriff, das Frühstück zu servieren, das vor einigen Minuten auf einem Servierwagen gebracht worden war. Warren Trent bedeutete ihm, damit noch zu warten. Die Stimme einer Telefonistin teilte ihm mit, daß es sich um ein Ferngespräch handelte. Als er seinen Namen genannt hatte, bat ihn eine zweite Telefonistin, sich einen Moment lang zu gedulden. Endlich meldete sich der Präsident der Journeymen's Union. »Trent?« »Ja. Guten Morgen!« »Ich hab' Sie gestern davor gewarnt, mir was vorzumachen. Trotzdem waren Sie blöd genug, es zu versuchen. Dazu kann ich Ihnen nur eins sagen: Leute, die mich für dumm verkaufen wollen, wünschen danach immer, sie wären nicht geboren worden. Sie haben diesmal Glück, weil der Schwindel platzte, bevor das Geschäft abgeschlossen war. Aber ich warne Sie: verschonen Sie mich künftig mit Ihren gottverdammten Tricks!« Die unerwartete Attacke, die barsche, schneidende Stimme raubten Warren Trent vorübergehend die Sprache. Sobald er sich gefaßt hatte, protestierte er: »Um Himmels willen, ich habe nicht die mindeste Ahnung, wovon Sie überhaupt reden!« »Keine Ahnung, daß es in Ihrem gottverdammten Hotel einen Rassenkrawall gegeben hat? Und daß die Geschichte in sämtlichen New Yorker Zeitungen breitgetreten wird?« Es dauerte mehrere Sekunden, bevor Warren Trent die verärgerte Tirade mit Peter McDermotts gestrigem Bericht in Verbindung brachte. »Gestern morgen kam es zu einem unbedeutenden Zwischenfall. Von einem Rassenkrawall oder dergleichen kann überhaupt keine Rede sein. Zu dem Zeitpunkt, an dem wir miteinander sprachen, war ich noch nicht darüber im Bilde. Aber auch wenn ich es gewesen wäre, hätte ich die Sache für zu unwichtig gehalten, um sie zu erwähnen. Was die New Yorker Blätter anbelangt, so habe ich sie nicht gesehen.« »Meine Mitglieder werden sie sehen. Und falls sie die hiesigen Zeitungen nicht zu Gesicht kriegen, dann lesen sie's in anderen, die die Geschichte heute abend bringen. Sie und jeder miese bestechliche Kongreßmann, der die farbigen Stimmen braucht, werden Zeter und Mordio schreien, wenn ich Geld in ein Hotel stecke, das Nigger wegschickt.« »Dann geht es Ihnen also nicht um das Prinzip. Es ist Ihnen gleich, was wir tun, solange es nicht auffällt.« »Um was es mir geht, ist meine Privatangelegenheit. Und es ist auch meine Sache, wo ich Gewerkschaftsgelder investiere.« »Unsere Transaktion könnte geheimgehalten werden.« »Falls Sie das glauben, sind Sie ein noch größerer Narr, als ich dachte.« Es stimmt, sagte sich Warren Trent verdrossen, früher oder später würde die Nachricht von dem Bündnis unweigerlich durchsickern. Er versuchte es auf eine andere Tour. »Der Zwischenfall gestern war nichts Außergewöhnliches. Dergleichen ist in Hotels der Südstaaten schon öfter passiert; und es wird immer wieder passieren. Ein oder zwei Tage danach richtet sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf etwas anderes.« »Mag sein. Würde jedoch Ihr Hotel - ab morgen - von den Journeymen finanziert, dann würde die Öffentlichkeit ihre Aufmerksamkeit verdammt schnell zurückschalten. Und auf die Art Reklame kann ich verzichten.« »Ich möchte in der Sache gern klarsehen. Wollen Sie damit sagen, daß unsere gestrige Vereinbarung trotz der Inspektion Ihrer Buchprüfer nicht mehr gültig ist?« Die Stimme aus Washington erwiderte: »Mit Ihren Büchern hat das Ganze nichts zu tun. Der Bericht meiner Leute war positiv. Ich blase das Geschäft wegen der anderen Sache ab.« So wurde ihm durch einen Zwischenfall, den er gestern als eine Lappalie abgetan hatte, der Nektar des Sieges vom Mund weggerissen, dachte Warren Trent erbittert. Im Bewußtsein, daß alles, was er nun noch äußern mochte, an der Tatsache selbst nichts mehr ändern würde, bemerkte er beißend: »Früher waren Sie bei der Verwendung von Gewerkschaftsgeldem nicht immer so heikel.« Am anderen Ende war es still. Dann sagte der Präsident der Journeymen leise: »Das wird Ihnen noch mal leid tun.« Langsam legte Warren Trent den Hörer auf. Auf einem Tisch in der Nähe hatte Aloysius Royce die per Luftpost zugeschickten New Yorker Zeitungen ausgebreitet. Er zeigte auf die »Herald Tribune«. »Es steht hauptsächlich hier drin. In der >Times< kann ich nichts darüber finden.« »In Washington haben sie spätere Ausgaben.« Warren Trent überflog die Schlagzeile der »Herald Tribune« und betrachtete flüchtig das dazugehörige Foto. Es zeigte die gestrige Szene in der Halle des St. Gregory mit Dr. Nicholas und Dr. Ingram als Hauptfiguren. Vermutlich würde er später auch den Bericht lesen müssen. Im Moment konnte er sich nicht dazu überwinden. »Soll ich jetzt das Frühstück servieren?« Warren Trent schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Hunger.« Seine Augen hoben sich und begegneten dem festen Blick des jungen Negers. »Sie denken jetzt wahrscheinlich, ich habe nur bekommen, was ich verdiente.« Royce überlegte. »So etwas Ähnliches, schätze ich. Vor allem aber würde ich sagen, daß Sie die 2feit, in der wir leben, nicht akzeptieren.« »Vielleicht, aber das braucht Sie nicht mehr zu bekümmern. Meine Meinung dürfte hier im Hotel von morgen ab kaum noch ins Gewicht fallen.« »Das tut mir leid.« »Mit anderen Worten, O'Keefe übernimmt das Ganze.« Der alte Mann trat an ein Fenster und blickte hinaus. Nach kurzem Schweigen sagte er abrupt: »Ich nehme an, Sie kennen die Bedingungen, die man mir geboten hat - beispielsweise, daß ich hier wohnen bleiben kann.« »Ja.« »Da es nun einmal so sein soll, werde ich mich wohl, wenn Sie im nächsten Monat Ihr Staatsexamen machen, auch weiterhin mit Ihrer Gesellschaft abfinden müssen. Statt Sie hinauszusetzen, wie ich es eigentlich sollte.« Aloysius Royce zögerte. Normalerweise hätte er mit einer flinken gesalzenen Antwort pariert. Aber er wußte, was er eben gehört hatte, war die flehentliche Bitte eines besiegten alten Mannes, ihn nicht allein zu lassen. Die Entscheidung fiel Royce schwer; dennoch durfte er sie nicht viel länger aufschieben. Seit fast zwölf Jahren hatte Warren Trent ihn nahezu wie einen Sohn behandelt. Falls er bliebe, würden sich seine Pflichten auf die eines Gefährten und Vertrauten beschränken, ohne daß seine berufliche Arbeit dadurch beeinträchtigt würde. Sein Leben würde keineswegs unerfreulich sein. Und doch gab es andere, dazu im Widerspruch stehende Forderungen, die seinen Entschluß, zu gehen oder zu bleiben, beeinflußten. »Darüber habe ich mir noch kaum Gedanken gemacht«, log er. »Vielleicht sollte ich mich endlich mal damit befassen.« Warren Trent dachte: Alle Dinge, große oder kleine, änderten sich, die meisten ganz plötzlich. Er bezweifelte nicht im mindesten, daß Aloysius Royce ihn demnächst verlassen würde, genauso wie ihm schließlich die Kontrolle über das St. Gregory entglitten war. Sein Gefühl des Alleinseins und nun noch des Ausgeschlossenwerdens vom Hauptstrom der Ereignisse war vermutlich typisch für Menschen, die zu lange gelebt hatten. »Sie können gehen, Aloysius«, sagte er. »Ich möchte für eine Weile allein sein.« In einigen Minuten würde er Curtis O'Keefe anrufen und kapitulieren. 5 Die Zeitschrift »Time«, deren Herausgeber eine vielversprechende Story erkannten, wenn sie sie in ihren Morgenzeitungen lasen, hatte sich schleunigst auf den Bürgerrechtsskandal im St. Gregory gestürzt. Ihr Korrespondent in New Orleans - ein Redakteur des »States-Item« - wurde alarmiert und angewiesen, alles, was er über den lokalen Hintergrund in Erfahrung bringen konnte, zusammenzutragen. Der Chef des »Time«-Büro in Houston war bereits in der vergangenen Nacht, kurz nachdem eine Frühausgabe der »Herald Tribune« die Geschichte in New York gebracht hatte, telefonisch benachrichtigt worden und mit der ersten Maschine nach New Orleans geflogen. Nun hockten die beiden Männer mit Herbie Chandler, dem Chefportie r, in einem Kabuff im Erdgeschoß. Es lief unter der Bezeichnung »Presseraum« und war spärlich möbliert mit einem Schreibtisch, Telefon und Garderobenständer. Der Mann aus Houston saß, seinem Rang entsprechend, auf dem einzigen Stuhl. Chandler, der die Großzügigkeit der »Time« gegenüber allen, die ihr den Weg ebneten, kannte, berichtete von einem Erkundungsgang, von dem er gerade zurückgekehrt war. »Hab' mich nach der Sitzung der Zahnärzte umgehorcht. Sie verrammeln den Saal wie bei einer Belagerung. Dem Oberkellner haben sie gesagt, niemand darf rein außer Mitgliedern, nicht mal die Frauen, und an den Türen kontrollieren ihre eigenen Leute die Namen. Bevor die Sitzung anfängt, müssen alle Hotelangestellten rausgehen, und dann werden die Türen von innen versperrt.« Der Bürochef nickte - ein eifriger junger Mann mit Bürstenhaarschnitt namens Quaratone, der bereits Dr. Ingram, den Präsidenten des Zahnärztekongresses interviewt hatte. Der Bericht des Chefportiers bestätigte, was er gehört hatte. »Sicher, wir haben eine Sondersitzung für sämtliche Tagungsteilnehmer anberaumt«, hatte Dr. Ingram gesagt. »Unser Vorstand hat sich gestern nacht dazu entschlossen, aber die Öffentlichkeit ist nicht zugelassen. Wenn es nach mir ginge, Sohn, könnte jeder zuhören, das können Sie mir glauben. Aber einige meiner Kollegen sehen die Sache anders. Ihrer Meinung nach reden die Leute nur dann frei von der Leber weg, wenn sie wissen, daß die Presse nicht dabei ist. Folglich werden Sie das Ende der Sitzung abwarten müssen.« Quaratone, der nichts dergleichen im Sinn hatte, bedankte sich höflich bei Dr. Ingram. Mit Herbie Chandler als Verbündetem hatte er ursprünglich vorgehabt, sich einer alten Kriegslist zu bedienen und in der geborgten Uniform eines Boys an der Sitzung teilzunehmen. Chandlers Bericht zwang ihn, seinen Plan zu ändern. »Ist der Raum, in dem die Sitzung stattfindet, ein großer Tagungssaal?« erkundigte sich Quaratone. Chandler nickte. »Der Dauphine-Salon, Sir. Dreihundert Sitzplätze. So viele werden ungefähr erwartet.« Der Mann von der »Time« überlegte. Eine Beratung, an der dreihundert Personen teilnahmen, pflegte nur so lange geheim zu sein, wie sie dauerte. Wenn er sich also gleich nach dem Öffnen der Türen unter die herausströmenden Delegierten mischte und als einer der ihren posierte, würde er erfahren, was geschehen war. Dabei entgingen ihm jedoch jene kleinen menschlichen interessanten Einzelheiten, von denen sich die »Time« und ihre Leser nährten. »Hat der Salon einen Balkon?« »Ja, einen kleinen, aber daran haben die auch gedacht. Ich hab' mich erkundigt. Zwei Tagungsmitglieder werden oben sitzen. Außerdem werden die Mikrophone der Lautsprecheranlage ausgeschaltet.« »Teufel!« sagte der lokale Zeitungsmann. »Wovor fürchtet sich die Sippschaft - vor Saboteuren?« Quaratone dachte laut: »Ein paar von ihnen wollen den Mund aufmachen, möchten aber nicht, daß es publik wird. Angehörige freier Berufe sind im allgemeinen nicht scharf darauf, Farbe zu bekennen - jedenfalls nicht in Rassefragen. Die hier sind sowieso schon in der Klemme, indem sie praktisch die Wahl zulassen zwischen einer drastischen Aktion wie dem angedrohten Massenauszug und einer schönen Geste, die lediglich dazu dient, den Schein zu wahren. Insofern, würde ich sagen, ist die Situation einzigartig.« Und auch viel interessanter, als ich zuerst glaubte, setzte er in Gedanken hinzu. Er war fester denn je entschlossen, sich irgendwie Zugang zu der Debatte zu verschaffen. Unvermittelt sagte er zu Herbie Chandler: »Ich brauche einen Plan von der betreffenden Etage und der Etage darüber. Keinen Grundriß, verstehen Sie, sondern eine technische Zeichnung mit den Wänden, Leitungsrohren, Zwischendecken und allem anderen. Und ich brauch' ihn schnell, denn wenn wir was erreichen wollen, haben wir bloß noch eine knappe Stunde.« »Ich weiß wirklich nicht, ob wir so was haben, Sir. Auf jeden Fall...« Der Chefportier verstummte und beobachtete Quaratone, der in einem Bündel von Zwanzig-Dollar-Noten blätterte. Der Mann von der »Time« händigte Chandler fünf von den Scheinen aus. »Knöpfen Sie sich einen Monteur, einen Techniker oder sonst jemanden vor. Stecken Sie ihm das hier zu. Für Sie sorg' ich später. Kommen Sie in einer halben Stunde wieder her - oder eher, wenn's möglich ist.« »Yessir!« Chandlers Wieselgesicht verzog sich zu einem unterwürfigen Lächeln. Dann gab Quaratone dem Reporter aus New Orleans seine Instruktionen. »Sie kümmern sich weiter um den lokalen Aspekt, ja? Stellungnahme des Magistrats, führender Bürger; sprechen Sie auch mit jemandem von der N.A.A.C.P. Sie wissen schon, was ich meine.« »Könnte es im Schlaf schreiben.« »Lieber nicht. Sorgen Sie auch für ein paar menschlich interessante Züge. Wäre vielleicht keine schlechte Idee, wenn Sie den Bürgermeister im Waschraum abfangen könnten. Er wäscht sich die Hände, während er Ihnen seine Erklärung gibt. Symbolisch. Ein guter Aufhänger.« »Okay. Werd' mich auf dem Lokus verstecken.« Der Reporter zog vergnügt ab, im Bewußtsein, daß auch er großzügig bezahlt werden würde. Quaratone selbst wartete in der Cafeteria des St. Gregory. Er bestellte sich einen eisgekühlten Tee und nippte zerstreut daran, in Gedanken mit der Story beschäftigt, die sich allmählich herauskristallisierte. Sie war kein ausgesprochener Knüller, aber wenn er sie mit einigen neuen Gesichtspunkten ausstaffieren konnte, dann war sie vielleicht ihre anderthalb Spalten in der nächsten Nummer wert. Was ihn freuen würde, weil in den letzten Wochen ein Dutzend oder mehr seiner sorgsam zurechtgetrimmten Storys von New York entweder abgelehnt oder beim Umbruch der Zeitschrift von wichtigeren Themen verdrängt worden waren. Das war nichts Ungewöhnliches, und »Time-Life«-Mitarbeiter hatten es gelernt, in einem Vakuum zu schreiben und sich mit ihren enttäuschten Erwartungen abzufinden. Aber Quaratone sah sich gern gedruckt, und wo es sich lohnte, wollte er gern beachtet werden. Er kehrte in den winzigen Presseraum zurück. Wenige Minuten danach tauchte Herbie Chandler auf, mit einem jungen Mann im Schlepptau. Er hatte scharfgeschnittene Züge, trug Overalls, und der Chefportier stellte ihn als Ches Ellis, einen Hotelmonteur, vor. Der Neuankömmling schüttelte Quaratone schüchtern die Hand, zeigte auf eine Rolle von Plänen unter seinem Arm und sagte ungelenk: »Die muß ich aber zurück haben.« »Ich möchte nur etwas nachsehen. Es dauert nicht lange.« Quaratone half Ellis beim Aufrollen der Pläne und hielt die Ecken fest. »Also, wo ist der Dauphine-Salon?« »Genau hier.« Chandler warf ein: »Ich erzählte ihm von der Sitzung, Sir, und daß Sie von irgendwo alles mithören wollen.« »Was ist in den Wänden und Decken?« erkundigte sich der Mann von der »Time« bei Ellis. »Die Wände sind massiv. Zwischen der Decke und dem Fußboden darüber ist ein Hohlraum, aber falls Sie vorhaben, dort reinzukriechen, sind Sie schief gewickelt. Sie würden durch den Verputz brechen.« »Schade«, sagte Quaratone, der das in der Tat erwogen hatte. Sein Finger tippte auf eine andere Stelle. »Was sind das für Linien?« »Abzugsrohre für die Heißluft aus der Küche. Wenn Sie denen in die Nähe kommen, werden Sie gebraten.« »Und das?« Ellis beugte sich vor, betrachtete die Zeichnung und zog einen zweiten Plan zu Rate. »Kaltluftleitungen - laufen in der Decke des Dauphine-Salons entlang.« »Hat der Raum Luftklappen?« »Drei. Eine in der Mitte und zwei am Ende. Sie können die Markierung sehen.« »Welchen Durchmesser hat das Rohr?« Der Monteur dachte nach. »Ich schätze - ungefähr neunzig Zentimeter.« »Okay«, erklärte Quaratone energisch. »Zeigen Sie mir das Rohr. Ich möchte hineinkriechen, damit ich hören und sehen kann, was sich im Saal abspielt.« Die Vorbereitungen erforderten erstaunlich wenig Zeit. Ellis, der zunächst nicht recht spurte, wurde von Chandler dazu gebracht, einen zweiten Overall und eine Werkzeugtasche zu besorgen. Der Mann von der »Time« zog sich um und griff sich das Werkzeug. Dann bugsierte Ellis ihn nervös, aber unangefochten zu einem Nebenraum der Etagenküche. Der Chefportier verschwand diskret von der Bildfläche. Quaratone hatte keine Ahnung, wieviel von den hundert Dollar Chandler an Ellis weitergereicht hatte - vermutlich nicht alles -, aber offenbar war es genug. Sie durchquerten die Küche, ohne aufzufallen - allem Anschein nach zwei Monteure, die ihrer Arbeit nachgingen. Im Nebenraum hatte Ellis ein hoch an der Wand angebrachtes Eisengitter vorsorglich im voraus entfernt. Eine hohe Stehleiter stand vor der Öffnung, die das Gitter verschlossen hatte. Schweigend stieg Quaratone die Leiter hinauf und schob sich in das Loch. Er stellte fest, daß das Rohr gerade dick genug war, um auf den Ellenbogen vorwärts zu robben. Bis auf einen spärlichen Lichtschimmer von der Küche her umgab ihn tiefes Dunkel. Er spürte einen kalten Lufthauch im Gesicht; der Luftdruck erhöhte sich, als sein Körper das Rohr mehr ausfüllte. Hinter ihm flüsterte Ellis: »Zählen Sie die Luftklappen! Die vierte, fünfte und sechste gehörten zum Dauphine-Salon. Und seien Sie möglichst leise, Sir, sonst hört man Sie. In einer halben Stunde komme ich zurück, und falls Sie da noch nicht fertig sind, eine halbe Stunde danach.« Quaratone versuchte den Kopf zu drehen, aber es gelang ihm nicht. Ihm ging auf, daß der Rückweg schwieriger sein würde als der Hinweg. Die Eisenwandung malträtierte seine Knie und Ellenbogen. Außerdem hatte sie peinvoll scharfe Unebenheiten. Quaratone zuckte zusammen, als das spitze Ende einer Schraube seine Overalls zerriß und ihm das Bein aufkratzte. Nach hinten greifend, machte er sich los und kroch vorsichtig weiter. Die Luftklappen waren leicht zu erkennen, weil Licht von unten hindurchsickerte. Er robbte sich über drei hinweg, in der Hoffnung, daß Gitter und Rohr sicher verankert waren. Als er sich der vierten näherte, konnte er Stimmen hören. Die Sitzung hatte anscheinend begonnen. Zu Quaratones Entzücken waren die Stimmen deutlich vernehmbar, und mit ein wenig Halsverrenken konnte er einen Teil des Raumes unter ihm überblicken. Die Sicht, dachte er, würde von der nächsten Klappe aus vielleicht sogar noch besser sein. Es war in der Tat so. Nun konnte er mehr als die Hälfte der dichtgedrängten Versammlung sehen, einschließlich einer erhöhten Plattform, auf der Dr. Ingram, der Präsident des Zahnärztekongresses, stand und sprach. Der Mann von der »Time« förderte ein Notizbuch und einen Kugelschreiber zutage, letzterer mit einer kleinen Glühbirne am Ende. »... fordere ich Sie auf«, erklärte Dr. Ingram, »so entschlossen wie möglich dagegen vorzugehen.« Er hielt inne und fuhr dann fort: »Angehörige freier Berufe wie wir, die von Natur neutral sind, haben im Kampf um die Menschenrechte viel zu lange abseits gestanden. Unter uns machen wir - in den meisten Fällen wenigstens - keinen Unterschied, und bisher haben wir das als ausreichend betrachtet. Im allgemeinen haben wir Ereignisse und Zwangsmaßnahmen außerhalb unserer Reihen ignoriert. Wir haben unsere Haltung damit begründet, daß wir schwer arbeitende Mediziner sind und wenig Zeit für andere Dinge haben. Nun, vielleicht stimmt das, auch wenn es bequem ist. Aber jetzt und hier stecken wir - ob es uns nun paßt oder nicht -bis zu unseren Weisheitszähnen in der Sache drin.« Der kleine Doktor verstummte; seine Augen durchforschten die Gesichter seiner Zuhörer. »Sie sind bereits über den unverzeihlichen Affront im Bilde, der unserem hervorragenden Kollegen Dr. Nicholas in diesem Hotel begegnet ist - ein Affront, der den verfassungsmäßig festgelegten Bürgerrechten offen hohnspricht. Als Vergeltungsmaßnahme habe ich, als Ihr Präsident, zu einem drastischen Schritt geraten. Wir wollten unsere Tagung abblasen und en masse aus diesem Hotel ausziehen.« Aus verschiedenen Teilen des Raumes kam ein überraschtes Ächzen. »Die meisten von Ihnen kennen diesen Vorschlag schon«, sagte Dr. Ingram. »Für andere, die heute morgen erst eintrafen, ist er neu. Ich möchte beiden Gruppen sagen, daß der Schritt, den ich vorgeschlagen habe, Unbequemlichkeit, Enttäuschung - für mich nicht weniger als für Sie - und berufliche wie öffentliche Verluste mit sich bringt. Aber bei manchen Anlässen, zumal wenn es um Gewissensfragen geht, ist man zu überzeugenden Aktionen genötigt. Meiner Meinung nach haben wir es hier mit solch einem Anlaß zu tun. Außerdem ist es das einzige Mittel, um die Stärke unserer Gefühle zu demonstrieren und unmißverständlich zu beweisen, daß der Zahnärzteverband in Sachen der Menschenrechte nicht mit sich spaßen läßt.« Im Auditorium wurde der Ruf »Hört, hört!« laut, aber auch ablehnendes Gemurmel. In einer der mittleren Sitzreihen hievte sich eine stämmige Gestalt hoch. Quaratone, der sich auf seinem Beobachtungsposten vorbeugte, hatte den Eindruck eines lächelnden Gesichts mit Kinnwülsten, dicken Lippen und dicker Brille. Der stämmige Mann verkündete: »Ich bin aus Kansas City.« Er erntete gutmütigen Beifall, für den er sich mit einem Schwenken seiner molligen Hand bedankte. »Ich habe nur eine Frage an den Doktor. Ist er bereit, meinem kleinen Frauchen, das sich, wie viele andere Frauen, schätz ich, auf diese Reise gefreut hat, zu erklären, warum wir, gerade erst angekommen, kehrtmachen und wieder nach Haus fahren müssen?« Eine empörte Stimme protestierte: »Das ist nicht der springende Punkt!« Sie wurde von ironischen Zurufen und Gelächter übertönt. »Yessir«, sagte der stämmige Mann, »ich möchte ihn dabei sehen, wie er's meiner Frau erklärt.« Er setzte sich mit selbstgefälliger Miene. Dr. Ingram sprang mit entrüstetem, hochrotem Gesicht auf. »Meine Herren, das ist eine dringende, ernste Angelegenheit. Wir haben die Entscheidung bereits um vierundzwanzig Stunden hinausgezögert, was meiner Meinung nach wenigstens einen halben Tag zu lang ist.« Der Applaus war kurz und vereinzelt. Mehrere Stimmen redeten auf einmal. Der Vorsitzende, neben Dr. Ingram, klopfte mit dem Hammer. Danach sprachen einige andere Delegierte, die zwar die Ausweisung von Dr. Nicholas beklagten, die Frage der Vergeltung jedoch unbeantwortet ließen. Schließlich richtete sich die allgemeine Aufmerksamkeit wie in stillschweigender Übereinstimmung auf einen schlanken adretten Mann, von dem eine unauffällige Autorität ausging. Quaratone bekam den Namen, den der Vorsitzende ankündigte, nicht mit, fing jedoch auf: »... zweiter Vizepräsident und...« Der neue Redner begann mit einer trockenen, scharfen Stimme: »Auf mein Drängen hin und mit Unterstützung einiger meiner Kollegen im Vorstand wurde beschlossen, diese Sitzung unter Ausschluß der Öffentlichkeit abzuhalten. Folglich können wir offen sprechen, ohne befürchten zu müssen, daß unsere Ansichten außerhalb dieses Raumes publik gemacht und womöglich entstellt wiedergegeben werden. Der Beschluß, das möchte ich hinzufügen, wurde von unserem hochgeschätzten Präsidenten Dr. Ingram heftig bekämpft.« Von der Plattform herunter knurrte Dr. Ingram: »Haben Sie Angst vor Verwicklungen?« Die Frage ignorierend, fuhr der adrette Mann fort: »Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, daß ich die Rassendiskriminierung für verwerflich halte. Einige meiner besten...« - er zögerte - »... meiner beliebtesten Mitarbeiter gehören einer anderen Konfession und Rasse an. Ferner bedaure ich ebenso wie Dr. Ingram den gestrigen Zwischenfall. Tatsächlich stimmen wir nur in einem Punkt nicht überein. Dr. Ingram zieht - um gleich ihm in Metaphern zu sprechen - eine Extraktion vor. Ich bin dafür, den Zwischenfall weniger drastisch wie eine zwar unangenehme, aber lokalisierte Infektion zu behandeln.« Leises Lachen ging durch die Reihen, das der Sprecher mit einem Lächeln beantwortete. »Ich kann nicht glauben, daß es unserem abwesenden Kollegen Dr. Nicholas auch nur im mindesten nützt, wenn wir die Tagung abbrechen. Für uns jedoch wäre es ein großer Verlust. Im übrigen - da wir hier unter uns sind, sage ich das ganz offen - kann ich nicht finden, daß das Problem der Rassenbeziehungen uns als Organisation überhaupt etwas angeht.« »Natürlich geht es uns an! Geht es denn nicht jeden an?« protestierte eine einzelne Stimme aus dem Hintergrund. Aber sonst herrschte aufmerksames Schweigen. Der Redner schüttelte den Kopf. »Welchen Standpunkt wir auch immer einnehmen oder verwerfen, wir tun es als Individuen. Natürlich müssen wir notfalls unsere eigenen Leute unterstützen, und ich werde gleich auf gewisse Schritte im Fall von Dr. Nicholas zu sprechen kommen. Ansonsten pflichte ich Dr. Ingram bei, daß wir schwer arbeitende Mediziner sind und wenig Zeit für andere Dinge haben.« Dr. Ingram sprang auf. »Das habe ich nicht gesagt! Ich wies darauf hin, daß diese Haltung früher gang und gäbe war. Aber ich bin mit ihr durchaus nicht einverstanden.« »Nichtsdestoweniger fiel die Bemerkung«, entgegnete der adrette Mann mit einem Schulterzucken. »Aber nicht in diesem Sinn. Ich dulde nicht, daß man meine Worte verdreht!« Die Augen des kleinen Doktors funkelten ärgerlich. »Mr. Chairman, wir verwenden hier leichtfertig Ausdrücke, wie >unselig<, >bedauerlich<. Aber sehen Sie denn nicht ein, daß wir damit der Sache nicht gerecht werden, daß es sich um eine Frage des Anstandes und menschlicher Rechte handelt? Wenn Sie gestern hier gewesen wären und die Demütigung eines Kollegen und Freundes und guten Mannes mit angesehen -« Es wurde »Zur Ordnung! Zur Ordnung!« gerufen, und als der Vorsitzende seinen Hammer betätigte, ließ sich Dr. Ingram widerstrebend auf seinen Stuhl sinken. »Darf ich fortfahren?« fragte der adrette Mann höflich. Der Vorsitzende nickte. »Danke. Meine Herren, ich will mich kurz fassen. Erstens schlage ich vor, daß wir künftig unsere Kongresse an Orten abhalten, wo Dr. Nicholas und andere seiner Rasse ohne Fragen und Bedenken akzeptiert werden. Solche Orte sind in großer Zahl vorhanden, und ich bin sicher, uns übrigen werden sie durchaus annehmbar erscheinen. Zweitens schlage ich vor, daß wir eine Resolution verabschieden, in der wir die Haltung des Hotels und die Ausweisung von Dr. Nicholas streng verurteilen. Danach sollten wir unseren Kongreß, wie geplant, fortsetzen.« Dr. Ingram schüttelte ungläubig den Kopf. Der Redner blickte auf ein Blatt Papier in seiner Hand. »In Verbindung mit mehreren anderen Mitgliedern unseres Vorstandes habe ich eine Resolution aufgesetzt... « Quaratone auf seinem Ausguck hörte nicht mehr zu. Die Resolution selbst war unwichtig. Ihr Inhalt war vorauszusagen; notfalls konnte er sich später den Text verschaffen. Statt dessen beobachtete er die Gesichter der Delegierten. Es waren Durchschnittgsgesichter von leidlich gebildeten Männern. Sie spiegelten Erleichterung wider. Erleichterung darüber, dachte Quaratone, daß ihnen eine so unangenehme, ungewohnte Aktion, wie Dr. Ingram sie vorgeschlagen hatte, erspart blieb. Das formelle, im besten demokratischen Stil verabreichte Wortgeplätscher wies ihnen einen willkommenen Ausweg. Das Gewissen war beruhigt, die Bequemlichkeit gewährleistet. Es gab auch einen milden Protest - von seiten eines Diskussionsredners, der Dr. Ingram unterstützte -, aber er war kurzlebig. Die Versammlung machte sich bereits daran, weitschweifig den Wortlaut der Resolution zu diskutieren. Der Mann von der »Time« fröstelte - eine Mahnung, daß er, abgesehen von anderen Unannehmlichkeiten, seit beinahe einer Stunde in einer Kaltluftleitung hockte. Aber die Mühe hatte sich gelohnt. Er hatte einen Originalbericht, den die Stilisten in New York zu einer zündenden Story umschreiben konnten. Er hatte außerdem so eine Ahnung, daß sein Manuskript diese Woche nicht unter den Tisch fallen würde. 6 Peter McDermott hörte von dem Beschluß der Zahnärzte, ihren Kongreß fortzusetzen, beinahe sofort, nachdem die Geheimsitzung beendet war. Wegen der offenkundigen Bedeutung der Sitzung für das Hotel hatte er vor dem DauphineSalon einen Angestellten postiert, mit der Weisung, ihm unverzüglich Bescheid zu geben. Vor ein oder zwei Minuten hatte der Angestellte angerufen und berichtet, den Gesprächen der herauskommenden Delegierten nach zu schließen, sei der Antrag, die Tagung abzubrechen, offenbar abgelehnt worden. Um des Hotels willen mußte er sich wohl darüber freuen, dachte Peter. Statt dessen fühlte er sich deprimiert. Er fragte sich, wie Dr. Ingram zumute sein mochte, dessen überzeugende Begründung und Freimütigkeit man zurückgewiesen hatte. Warren Trents zynische Einschätzung der Situation war also doch richtig gewesen, sagte sich Peter nüchtern. Er mußte wohl den Hotelbesitzer informieren. Als Peter die Direktionsleitung der Verwaltungssuite betrat, blickte Christine von ihrem Schreibtisch auf. Ihr warmes Lächeln erinnerte ihn daran, wie sehr er sich am Abend zuvor danach gesehnt hatte, mit ihr zu sprechen. Sie fragte: »War die Einladung nett?« Als er zögerte, zog sie belustigt die Brauen hoch. »Du hast sie doch nicht etwa schon wieder vergessen?« Er schüttelte den Kopf. »Doch, sie war sehr nett. Aber du hast mir gefehlt - und ich hab' noch immer ein schlechtes Gewissen, weil ich die Verabredung durcheinandergebracht habe.« »Inzwischen sind wir vierundzwanzig Stunden älter. Denk nicht mehr daran.« »Falls du frei bist, könnten wir es vielleicht heute abend nachholen.« »Es schneit Einladungen!« sagte Christine. »Heute abend esse ich mit Mr. Wells.« »Dann ist er also wieder auf dem Posten?« »Noch nicht so weit, daß er ausgehen kann. Deshalb essen wir im Hotel. Komm doch nachher zu uns, falls du länger arbeitest.« »Wenn ich's schaffe, gern.« Er zeigte auf die geschlossenen Doppeltüren vom Büro des Hotelbesitzers. »Ist W. T. da?« »Ja, du kannst hineingehen. Aber ich hoffe, es ist nichts Unangenehmes. Er macht heute morgen einen niedergedrückten Eindruck.« »Ich habe eine Neuigkeit, die ihn vielleicht aufheitert. Die Zahnärzte haben eben gegen den Abbruch der Tagung gestimmt.« Er fügte ernst hinzu: »Du hast vermutlich die New Yorker Zeitungen gesehen?« »Ja, und ich möchte sagen, wir haben bekommen, was wir verdienen.« Er nickte zustimmend. »Die lokalen Zeitungen habe ich auch gelesen«, sagte Christine. »In der gräßlichen Unfallsache gibt's nichts Neues. Ich muß dauernd daran denken.« »Ich auch«, sagte er verständnisvoll. Wieder sah er deutlich die Szene von vor drei Nächten vor sich - das abgesperrte lichtüberflutete Stück Straße, das die Polizei beharrlich nach Spuren absuchte. Er fragte sich, ob die Nachforschungen nach dem schuldigen Wagen und Fahrer Erfolg haben würden. Vielleicht waren beide längst in Sicherheit und nicht mehr zu überführen, obwohl er das nicht hoffte. Das eine Verbrechen erinnerte ihn an ein anderes. Er durfte nicht vergessen, Ogilvie zu fragen, ob sich über Nacht in der Hoteldiebstahlaffäre etwas Neues ergeben hatte. Nun, wo er daran dachte, wunderte er sich, daß sich der Hausdetektiv nicht schon längst bei ihm gemeldet hatte. Mit einem letzten Lächeln für Christine klopfte er an die Tür von Warren Trents Büro und ging hinein. Die Neuigkeit, die Peter brachte, schien wenig Eindruck zu machen. Der Hotelbesitzer nickte zerstreut, als widerstrebe es ihm, aus irgendwelchen heimlichen Träumen, denen er nachhing, in die Wirklichkeit umzuschalten. Er schien im Begriff zu sprechen - über ein anderes Thema, das spürte Peter - und überlegte es sich dann plötzlich anders. Nach einer Unterredung, wie man sie sich unbefriedigter nicht denken konnte, ging Peter wieder. Albert Wells hatte recht gehabt mit seiner Voraussage, daß Peter McDermott sie für den Abend einladen würde. Christine bedauerte fast, daß sie sich - absichtlich - etwas anderes vorgenommen hatte. Dabei fiel ihr der Kunstgriff ein, den sie sich gestern ausgedacht hatte, damit der Abend für Albert Wells nicht zu kostspielig würde. Sie rief Max, den Oberkellner vom Hauptrestaurant, an. »Max«, sagte Christine, »Ihre Dinnerpreise sind haarsträubend.« »Ich mache sie nicht, Miss Francis. Manchmal wünsche ich mir, ich dürfte sie machen.« »War in der letzten Zeit nicht viel los?« »Also, an manchen Abenden komme ich mir vor wie Livingstone, der auf Stanley wartet«, sagte der Oberkellner. »Wissen Sie, Miss Francis, die Leute werden immer schlauer. Sie sind dahintergekommen, daß Hotels wie unsere eine zentrale Küche haben und daß sie, egal in welchen unserer Restaurants sie essen, dieselben Gerichte, von denselben Köchen auf dieselbe Art zubereitet, vorgesetzt kriegen. Folglich sagen sie sich, warum nicht da essen, wo es billiger ist, auch wenn die Bedienung nicht so extrafein ausfällt.« »Ich habe einen Freund«, sagte Christine, »der gern gut bedient wird - einen älteren Herrn namens Wells. Wir werden heute zum Dinner kommen. Sorgen Sie bitte dafür, daß die Rechnung erträglich ist, aber nicht so sehr, daß es ihm auffällt. Mit der Differenz können Sie mein Konto belasten.« Der Oberkellner schmunzelte vernehmlich. »Hören Sie! So ein Mädchen wie Sie würde ich selbst gern kennenlernen.« Sie erwiderte: »Bei Ihnen würde ich das nicht machen, Max. Jeder weiß, daß Sie einer von den zwei reichsten Leuten im Hotel sind.« »Und wer soll der andere sein?« »Herbie Chandler, oder nicht?« »Sie tun mir keinen Gefallen, wenn Sie meinen und seinen Namen in einem Atemzug nennen.« »Aber Sie kümmern sich um Mr. Wells?« »Miss Francis, wenn wir ihm die Rechnung präsentieren, wird er glauben, er hätte in einem Automatenrestaurant gegessen.« Lachend legte sie auf, überzeugt davon, daß Max das Problem taktvoll und vernünftig lösen würde. Ungläubig, vor Wut schäumend, las Peter McDermott das Memorandum von Ogilvie zum zweitenmal durch. Er hatte es auf seinem Schreibtisch gefunden, als er von seinem kurzen Gespräch mit Warren Trent zurückkehrte. Mit Datum und Zeitstempel von gestern nacht versehen, war es vermutlich in Ogilvies Büro zurückgelassen worden, um mit der internen Post eingesammelt zu werden. Es lag auch auf der Hand, daß Zeitpunkt und Zustellmethode geplant waren, so daß es ihm unmöglich war - wenigstens im Moment -, irgend etwas in bezug auf den Inhalt zu unternehmen. Der Text lautete: »Mr. P. McDermott Betrifft: Urlaub Der Unterzeichnete teilt höflichst mit, daß ich kurzfristig vier Tage Urlaub nehme. Von den sieben Tagen, die fällig sind, aus dringenden persönlichen Gründen. Mein Stellvertreter, W. Finnegan, weiß in Sachen Diebstahl, Abwehrmaßnahmen etc. etc. Bescheid. Wird sich auch um alle anderen Angelegenheiten kümmern. Unterzeichneter wird sich am kommenden Montag zum Dienst zurückmelden. Hochachtungsvoll T. I. Ogilvie Chefdetektiv« Peter erinnerte sich empört daran, daß Ogilvie vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden die Anwesenheit eines professionellen Hoteldiebs für höchstwahrscheinlich gehalten hatte. Seinen Vorschlag, für ein paar Tage in das St. Gregory zu ziehen, hatte der fette Mann zurückgewiesen. Sogar zu diesem Zeitpunkt mußte Ogilvie bereits gewußt haben, daß er wenige Stunden später in Urlaub gehen würde, hatte jedoch seine Absicht mit keiner Silbe erwähnt. Warum? Offenbar, weil ihm klar war, daß Peter heftig protestieren würde, und er eine Auseinandersetzung und eine mögliche Verzögerung vermeiden wollte. In dem Memorandum hieß es »aus dringenden persönlichen Gründen«. Wenigstens das traf vermutlich zu, sagte sich Peter. Denn sogar Ogilvie würde, trotz seiner vielgerühmten Beziehungen zu Warren Trent, begreifen, daß sein unangekündigtes Verschwinden zu diesem Zeitpunkt bei seiner Rückkehr einen Sturm heraufbeschwören würde. Aber um was für persönliche Gründe mochte es sich handeln? Anscheinend um nichts Rechtschaffenes, das man offen zur Sprache bringen konnte. Sonst hätte Ogilvie sich anders verhalten. Im St. Gregory ließ man Angestellten, die echte private Sorgen hatten, Mitgefühl und Hilfe zuteil werden. So war es von jeher gewesen. Folglich handelte es sich um etwas, das Ogilvie nicht offenbaren konnte. Selbst das ging ihn so lange nichts an, dachte Peter, als es den reibungslosen Ablauf des Hotelbetriebes nicht störte. Da dies aber der Fall war, war seine Neugier berechtigt. Er würde versuchen herauszufinden, wohin der Hausdetektiv gegangen war und warum. Er rief Flora mit einem Summzeichen herein und hielt das Memorandum hoch. Sie machte ein bekümmertes Gesicht. »Ich hab' es gelesen und dachte mir gleich, daß Sie wütend sein würden.« »Versuchen Sie doch, wenn irgend möglich, herauszubekommen, wo er steckt«, sagte Peter. »Rufen Sie bei ihm zu Haus an und auch sonst in allen seinen Schlupfwinkeln, die wir kennen. Stellen Sie fest, ob er heute von jemandem gesehen wurde oder erwartet wird. Hinterlassen Sie Nachricht. Falls Sie Ogilvie aufstöbern, möchte ich selbst mit ihm sprechen.« Flora schrieb auf ihrem Notizblock mit. »Noch eins - rufen Sie die Garage an. Heute nacht kam ich zufällig am Hotel vorbei. Unser Freund fuhr gegen ein Uhr heraus - in einem Jaguar. Vielleicht hat er jemand gesagt, wohin er fährt.« Als Flora verschwunden war, schickte er nach Ogilvies Stellvertreter Finnegan, einem sehnigen, bedächtigen Neuengländer, der jedesmal gründlich überlegte, bevor er Peters ungeduldige Fragen beantwortete. Nein, er hatte keine Ahnung, wo Mr. Ogilvie hingefahren war. Erst spät gestern nacht hatte ihm sein Vorgesetzter mitgeteilt, daß er, Finnegan, in den nächsten paar Tagen den Befehl übernehmen müßte. Ja, seine Leute wären in der Nacht durch die Korridore patrouilliert, hätten jedoch nichts Verdächtiges bemerkt. Auch sei heute morgen kein neuer Diebstahl gemeldet worden. Nein, von der Polizei habe er nichts mehr gehört. Ja, Finnegan würde persönlich bei der Polizei rückfragen, wenn er, Mr. McDermott das wünschte. Selbstverständlich würde er Mr. McDermott sofort informieren, falls Ogilvie von sich hören ließ. Peter schickte Finnegan fort. Im Augenblick konnte er nichts weiter tun, obwohl seine Wut auf Ogilvie noch keineswegs verraucht war. Einige Minuten danach sagte Flora durch die Sprechanlage: »Miss Marsha Preyscott ist auf Leitung zwei.« »Sagen Sie ihr, ich hätte zu tun und würde sie später anrufen.« Peter nahm sich zusammen. »Schon gut, ich spreche mit ihr.« Er griff nach dem Telefonhörer. Marshas Stimme sagte munter: »Ich hab' alles gehört.« »Tut mir leid«, antwortete er und beschloß erbost, Flora daran zu erinnern, daß sie das Telefon abschalten mußte, solange die Sprechanlage offen war. »Es ist ein lausiger Morgen im Gegensatz zu dem sehr schönen Abend gestern.« »Ich wette, sich so geschickt aus der Klemme ziehen ist das erste, was Hotelmanager lernen.« »Für manche mag das zutreffen, für mich nicht.« Sie zögerte spürbar. Dann sagte sie: »War an dem Abend -alles schön?« »Ja, alles.« »Fein! Dann will ich auch mein Versprechen einlösen.« »Mein Eindruck war, daß Sie das schon getan haben?« »Nein, ich hatte Ihnen ein bißchen Lokalgeschichte versprochen. Wir könnten heute nachmittag damit anfangen.« Er war im Begriff, nein zu sagen; einzuwenden, daß er das Hotel unmöglich verlassen könne, merkte dann aber, daß er gern mitgehen würde. Warum auch nicht? Er nahm die zwei freien Tage in der Woche, die ihm zustanden, selten wahr und hatte letzthin sehr viele Überstunden gemacht. Es würde nicht schwer sein, sich für kurze Zeit loszueisen. »Gern«, sagte er. »Mal sehen, wie viele Jahrhunderte wir zwischen zwei und vier Uhr durchnehmen können.« 7 Zweimal während des zwanzigminütigen Gebets in seiner Suite vor dem Frühstück ertappte sich Curtis O'Keefe dabei, daß seine Gedanken wanderten. Es war ein vertrautes Symptom für innere Rastlosigkeit, deretwegen er Gott um Verzeihung bat, ohne sich jedoch lange bei diesem Punkt aufzuhalten, denn Rastlosigkeit lag in seiner Natur und war daher mutmaßlich gottgewollt. Es war jedoch eine Erleichterung, daß dies sein letzter Tag in New Orleans war. Am Abend würde er nach New York fliegen und morgen nach Italien. Sein dortiges Ziel war, für ihn selbst und Dodo, das Neapel-O'Keefe-Hotel. Abgesehen von dem Szenenwechsel gewährte ihm der Gedanke Befriedigung, wieder einmal in einem seiner eigenen Häuser zu sein. Curtis O'Keefe hatte den Vorwurf seiner Kritiker nie verstanden, daß man, wenn man um die ganze Welt reiste und dabei nur in O'Keefe-Hotels abstieg, aus den Vereinigten Staaten nicht herauskam. Obwohl er gern ins Ausland reiste, hatte er auch gern vertraute Dinge um sich - amerikanisches Dekor mit ganz wenig Zugeständnissen an das Lokalkolorit; amerikanische Installationsanlagen; amerikanisches Essen und zumeist auch amerikanische Gäste. All das fand man in den O'Keefe-Hotels. Daß er in einer Woche mit derselben Ungeduld seine Abreise aus Italien betreiben würde wie jetzt aus New Orleans, hatte weiter nichts zu sagen. Sein Imperium war groß - das Tadsch Mahal O'Keefe, das O'Keefe Lissabon, das Adelaide O'Keefe, das O'Keefe Kopenhagen und andere - und der Besuch des großen Bosses würde, auch wenn das heutzutage bei dem gut funktionierenden Betrieb nicht mehr nötig war, das Geschäft beleben, so wie es einer Kathedrale Auftrieb gab, wenn ein Papst kurz in ihr verweilte. Später würde er natürlich nach New Orleans zurückkehren, in ein oder zwei Monaten wahrscheinlich, sobald das St. Gregory -bis dahin das O'Keefe St. Gregory - gründlich überholt und dem Schema eines O'Keefe-Hotels angepaßt worden war. Sein Eintreffen zu den Eröffnungsfeierlichkeiten würde ein Triumph sein mit viel Trara, einem Empfang durch die Stadt und Teilnahme von Presse, Rundfunk und Fernsehen. Wie gewöhnlich bei solchen Gelegenheiten würde er ein Gefolge von prominenten Persönlichkeiten mitbringen, einige Stars aus Hollywood mit eingeschlossen, die gegen eine Vergnügungsreise auf anderer Leute Kosten nichts einzuwenden hatten. Je länger er sich in Gedanken damit beschäftigte, desto heftiger wünschte er, es möchte bald soweit sein. Er war auch etwas enttäuscht darüber, daß er bisher nichts von Warren Trent gehört hatte. Es war jetzt Donnerstag vormittag. Die Bedenkzeit, auf die sie sich geeinigt hatten, lief in neunzig Minuten ab. Offenbar beabsichtigte der Besitzer des St. Gregory aus irgendwelchen Gründen bis zum letztmöglichen Moment zu warten, bevor er O'Keefes Bedingungen offiziell akzeptierte. O'Keefe streifte ruhelos durch die Suite. Vor einer halben Stunde war Dodo zu einem Einkaufsbummel aufgebrochen, für den er sie mit mehreren hundert Dollar in großen Scheinen ausgerüstet hatte. Er hatte ihr geraten, sich auch mit einigen leichten Sachen einzudecken, da es in Neapel sogar noch heißer war als in New Orleans und für Einkäufe in New York keine Zeit sein würde. Sie hatte sich überschwenglich bedankt, wie immer, aber nicht mit der glühenden Begeisterung wie gestern bei ihrer Hafenrundfahrt, die nur sechs Dollar gekostet hatte. Frauen sind komische Geschöpfe, dachte er. Er blieb am Fenster stehen und sah hinaus, als am anderen Ende des Salons das Telefon läutete. Er erreichte es mit wenigen Schritten. »Ja?« Statt der Stimme von Warren Trent, die er zu hören erwartete, kündigte ihm eine Telefonistin ein Ferngespräch an. Hank Lemnitzer war am Apparat. »Sind Sie das, Mr. O'Keefe?« »Ja«. Unsinnigerweise wünschte Curtis O'Keefe, sein Repräsentant von der Westküste sollte nicht innerhalb von vierundzwanzig Stunden zweimal anrufen. »Hab' eine Neuigkeit für Sie.« »Und die wäre?« »Dodo hat einen Job.« »Ich meine, ich hätte gestern deutlich genug darauf hingewiesen, daß ich für Miss Lash etwas Besonderes haben möchte.« »Spezieller geht's nicht, Mr. O'Keefe. Es ist was ganz Besonderes - eine echte Chance. Dodo ist ein Glückspilz.« »Erzählen Sie mir mehr.« »Walt Curzon schießt ein Remake von >You Can't Take It With You<. Erinnern Sie sich? Wir haben uns damals daran beteiligt.« »Ja, ich erinnere mich.« »Gestern kriegte ich raus, daß Walt ein Mädchen für die alte Ann-Miller-Rolle braucht. Es ist eine gute Nebenrolle. Paßt für Dodo wie ein strammer Büstenhalter.« Wieder einmal sagte sich O'Keefe verdrießlich, daß Lemnitzer bei der Wahl seiner Worte taktvoller sein könnte. »Vermutlich müssen vorher Probeaufnahmen gemacht werden.« »Sicher.« »Woher wissen wir dann, ob Curzon ihr die Rolle gibt?« »Wollen Sie mich foppen? Unterschätzen Sie Ihren Einfluß nicht, Mr. O'Keefe. Dodo hat die Rolle schon. Außerdem hab' ich Sandra Straugham angeheuert, damit sie mit ihr arbeitet. Kennen Sie Sandra?« »Ja.« O'Keefe war über Sandra Straugham durchaus im Bild. Sie galt als eine der besten Schauspiellehrerinnen in Hollywood und besaß außer anderen Vorzügen den bemerkenswerten Ruf, unbekannte Mädchen mit einflußreichen Geldgebern zu akzeptieren und Kassenschlager aus ihnen zu machen. »Ich freue mich wirklich für Dodo«, sagte Lemnitzer. »Sie ist ein Mädchen, das ich immer gern gehabt habe. Der einzige Haken ist, wir müssen schnell zupacken.« »Wie schnell?« »Sie brauchen sie praktisch sofort, Mr. O'Keefe. Zum Glück hab' ich alles übrige schon arrangiert.« »Alles übrige?« »Jenny LaMarsh.« Hank Lemnitzers Stimme klang verblüfft. »Oder hatten Sie's vergessen?« »Nein«. O'Keefe hatte die witzige und schöne Brünette aus Vassar, die ihn vor ein oder zwei Monaten so stark beeindruckt hatte, gewiß nicht vergessen. Nur hatte er sie seit seinem gestrigen Gespräch mit Lemnitzer vorläufig aus seinem Gedächtnis verbannt. »Es ist alles gedeichselt, Mr. O'Keefe. Jenny fliegt heute abend nach New York; morgen wird sie dort mit Ihnen zusammentreffen. Wir lassen Dodos Reservierung für Neapel auf Jenny umschreiben, dann kann Dodo von New Orleans direkt hierher fliegen. Glatte Sache, eh?« In der Tat so glatt, daß O'Keefe keinen Fehler in dem Plan finden konnte. Er fragte sich, warum er gern einen gefunden hätte. »Sie sind ganz sicher, daß Miss Lash die Rolle bekommt?« »Mr. O'Keefe, ich schwöre es beim Grab meiner Mutter.« »Ihre Mutter lebt noch.« »Dann eben meiner Großmutter.« Eine Pause trat ein, und dann sagte Lemnitzer, als sei ihm plötzlich eine Erleuchtung gekommen: »Falls es Ihnen unangenehm ist, mit Dodo darüber zu sprechen, warum überlassen Sie's dann nicht mir? Sie gehen zwei Stunden weg. Ich rufe sie an, bringe alles ins reine. Auf diese Art ersparen Sie sich jedes Theater und den Abschied.« »Danke, aber ich bin durchaus imstande, die Sache persönlich zu regeln.« »Ganz wie Sie wollen, Mr. O'Keefe. Ich wollte nur helfen.« »Miss Lash wird Ihnen ihre Ankunftszeit in Los Angeles telegrafieren. Sie holen sie vom Flugzeug ab?« »Aber sicher. Ich bin mächtig froh, Dodo wiederzusehen. Also, Mr. O'Keefe, ich wünsche Ihnen eine schöne Zeit in Neapel. Ich beneide Sie um Jenny.« O'Keefe legte auf, ohne sich zu bedanken. Dodo kehrte atemlos zurück, mit Paketen beladen und gefolgt von einem grinsenden Boy, der genauso bepackt war. »Ich muß gleich wieder runter, Curtie. Unten ist noch mehr.« »Du hättest es dir schicken lassen können«, sagte O'Keefe mürrisch. »Oh, so ist's aufregender! Wie Weihnachten!« Sie erzählte dem Boy: »Wir fahren nach Neapel. Das liegt in Italien.« O'Keefe gab dem Boy einen Dollar und wartete, bis er verschwunden war. Sobald sie sich von ihrer Last befreit hatte, warf Dodo O'Keefe impulsiv beide Anne um den Hals. Sie küßte ihn auf beide Wangen. »Hast du mich vermißt? Herrje, Curtie, ich bin so glücklich!« Er löste ihre Arme sanft von seinem Hals. »Setzen wir uns. Es gibt ein paar Änderungen in unserem Plan. Außerdem habe ich gute Neuigkeiten.« »Wir reisen früher ab?« Der Hotelmagnat schüttelte den Kopf. »Es betrifft dich mehr als mich. Tatsache ist, meine Liebe, du bekommst eine Rolle in einem Film. Ich habe mich lange darum bemüht und bekam heute morgen Bescheid - alles ist schon vereinbart.« Dodos unschuldige blaue Augen hingen an seinem Gesicht. »Man hat mir versichert, daß es eine sehr gute Rolle ist; darauf hatte ich vorher bestanden. Falls alles gut geht, und davon bin ich überzeugt, kann es für dich der Beginn zu etwas ganz Großem sein.« Curtis O'Keefe verstummte, weil er sich bewußt war, daß seine Worte hohl klangen. »Ich schätze, das bedeutet..., daß ich weggehen muß.« »So ist es, mein Liebes - leider.« »Bald?« »Morgen früh, fürchte ich. Du fliegst direkt nach Los Angeles. Hank Lemnitzer holt dich dort ab.« Dodo nickte langsam. Sie hob geistesabwesend die Hand und strich sich eine aschblonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Es war eine schlichte Geste, erregte jedoch wie alle ihre Bewegungen die Sinne. Wider jeder Vernunft empfand O'Keefe beim Gedanken an Hank Lemnitzer Eifersucht. Lemnitzer, der bisher nahezu alle Liaisons seines Arbeitgebers eingefädelt hatte, hätte nie gewagt, sich vorher bei einer erwählten Favoritin schadlos zu halten. Aber danach... danach war das wieder etwas anderes. Resolut schob er den Gedanken beiseite. »Du kannst mir glauben, mein Liebes, die Trennung von dir ist ein schwerer Schlag für mich. Aber wir müssen an deine Zukunft denken.« »Curtie, das ist okay.« Dodos Augen waren noch immer auf ihn gerichtet. Trotz ihres unschuldigen Ausdrucks hatte er das absurde Gefühl, daß sie die Wahrheit durchschaut hatte. »Das ist okay. Mach dir meinetwegen keine Sorgen.« »Ich hatte gehofft, daß du dich über die Filmrolle mehr freuen würdest.« »Aber das tu ich doch, Curtie! Herrje, ich bin doch schrecklich froh! Ich finde es einfach fabelhaft, daß du dir immer so nette Dinge ausdenkst.« Ihre Worte befeuerten seine Zuversicht. »Es ist wirklich eine phantastische Chance für dich. Ich bin sicher, daß du Erfolg hast, und natürlich werde ich deine Karriere aufmerksam verfolgen.« Er beschloß, seine Gedanken auf Jenny LaMarsh zu konzentrieren. »Ich schätze...«, ihre Stimme stockte beinahe unmerklich, »ich schätze, du reist schon heute abend ab. Vor mir.« In Sekundenschnelle seine Pläne ändernd, erwiderte er: »Nein, ich mache die Reservierung rückgängig und fliege statt dessen morgen früh. Heute abend feiern wir.« Als Dodo dankbar aufblickte, läutete das Telefon. Erleichtert über die Ablenkung, stand er auf und griff nach dem Hörer. »Mr. O'Keefe?« fragte eine angenehme weibliche Stimme. »Ja.« »Hier ist Christine Francis - Mr. Warren Trents Privatsekretärin. Mr. Trent läßt fragen, ob es Ihnen paßt, wenn er Sie jetzt aufsucht.« O'Keefe sah auf seine Uhr. Es war einige Minuten vor zwölf. »Ja«, antwortete er. »Er kann kommen. Sagen Sie ihm, daß ich ihn erwarte.« Den Hörer auflegend, lächelte er Dodo zu. »Anscheinend haben wir beide Grund zum Feiern - meine Liebe -, du eine glänzende Zukunft und ich ein neues Hotel.« 8 Ungefähr eine Stunde früher saß Warren Trent vor sich hin brütend hinter den verschlossenen Türen seines Büros. Schon ein paarmal im Laufe des Vormittags hatte er die Hand nach dem Telefon ausgestreckt, um Curtis O'Keefe anzurufen und seine Kapitulation offiziell zu besiegeln. Für sein Zögern gab es eigentlich keinen Grund mehr. Die Journeymen's Union war seine letzte Hoffnung gewesen. Die schroffe Absage des Gewerkschaftsvorsitzenden hatte Trents Widerstand gegen den alles verschlingenden Koloß O'Keefe zermalmt. Dennoch hatte er die Hand jedesmal wieder zurückgezogen. Er war wie ein Gefangener, dachte er, an dem zu einer bestimmten Stunde das Todesurteil vollstreckt wird, der aber die Wahl hat, vorher Selbstmord zu begehen. Er akzeptierte das Unvermeidliche. Er würde auf seinen Besitz verzichten, weil ihm nichts anderes übrigblieb. Dennoch klammerte er sich instinktiv an jede verstreichende Minute, bis die Gnadenfrist abgelaufen war und eine Entscheidung sich erübrigte. Als er sich fast zur Kapitualiton durchgerungen hatte, war Peter McDermott dazwischengekommen. McDermott hatte ihn über den Beschluß des Kongresses amerikanischer Zahnärzte informiert, die Tagung fortzusetzen, eine Tatsache, die Warren Trent nicht überraschte, da er sie einen Tag früher vorausgesagt hatte. Aber nun erschien ihm die ganze Affäre entrückt und belanglos. Er war froh, als McDermott ging. Hinterher gab er sich für eine Weile Träumen von vergangenen Triumphen hin und der Befriedigung, die sie ihm gewährt hatten. Früher einmal - und es war gar nicht so lange her - war sein Haus ein Treffpunkt der Großen und beinahe Großen gewesen - Präsidenten, gekrönte Häupter, Adel, strahlende Frauen, distinguierte Männer, die Nabobs der Macht und des Reichtums, berühmt und berüchtigt - aber einen Zug hatten alle gemeinsam: Sie verlangten Aufmerksamkeit, und sie wurde ihnen zuteil. Diese Elite zog andere nach sich, bis das St. Gregory zugleich ein Mekka und eine Goldgrube war. Wenn Erinnerungen alles waren, was man noch besaß - oder zu besitzen schien -, mußte man sie auskosten. Warren Trent hoffte, daß er in der einen Stunde oder so, die ihm noch blieb, nicht gestört werden würde. Die Hoffnung erwies sich als trügerisch. Christine Francis kam leise herein. »Mr. Emile Dumaire möchte Sie sprechen. Ich hätte Sie nicht gestört, aber er besteht darauf, daß es dringend ist.« Warren Trent grunzte. Die Aasgeier versammeln sich, dachte er. Aber bei näheren Überlegungen war der Vergleich wohl nicht ganz fair. Die Industrie- und Handelsbank, deren Präsident Emile Dumaire war, hatte eine Menge Geld im St.-Gregory-Hotel investiert. Sie war es auch, die ihm vor Monaten eine Kreditverlängerung und eine neue größere Anleihe verweigert hatte. Nun, Dumaire und seine Geschäftskollegen brauchten sich keine Sorgen mehr zu machen. Durch den nahe bevorstehenden Verkauf würden sie ihr Geld zurückbekommen. Warren Trent meinte, daß er ihnen diese Versicherung eigentlich geben müsse. Er griff nach dem Telefonhörer. »Nein«, sagte Christine. >Mr. Dumaire ist hier. Er wartet draußen.« Überrascht ließ Warren Trent die Hand sinken. Es war höchst ungewöhnlich für Emile Dumaire, die festen Mauern seiner Bank zu verlassen und jemandem seine persönliche Aufwartung zu machen. Einen Moment später führte Christine den Besucher herein und schloß die Tür hinter ihm. Emile Dumaire, untersetzt, behäbig, mit einem gelockerten Haarkranz, blickte auf eine ungebrochene Linie kreolischer Abstammung zurück. Dennoch war er der leibhaftige »Mr. Pickwick«. Auch seine pompöse Geschäftigkeit paßte dazu. »Ich möchte mich für mein unangemeldetes Eindringen entschuldigen, Warren. Aber die Natur meines Geschäfts ließ mir keine Zeit für Förmlichkeiten.« Sie schüttelten einander flüchtig die Hand. Der Hotelbesitzer wies auf einen Stuhl. »Was für ein Geschäft?« »Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich die Dinge in der richtigen Reihenfolge abwickeln. Als erstes gestatten Sie mir, Ihnen mein Bedauern darüber auszusprechen, daß wir auf Ihren Darlehensantrag nicht eingehen konnten. Leider waren die Summe und die Bedingungen unvereinbar mit unseren Mitteln und unserer Geschäftspolitik.« Warren Trent nickte unverbindlich. Er mochte den Bankier nicht besonders, obwohl er nie den Fehler gemacht hatte, ihn zu unterschätzen. Hinter der affektierten Wichtigtuerei, von der manche sich einlullen und täuschen ließen, verbarg sich ein fähiger durchdringender Verstand. »Ich hoffe jedoch, daß mein heutiger Besuch gewisse trübe Aspekte früherer Begegnungen wettmacht.« »Das ist höchst unwahrscheinlich«, entgegnete Warren Trent. »Wir werden sehen.« Aus einer dünnen Aktenmappe zog der Bankier mehrere Blätter linierten Papiers, die mit Bleistiftnotizen bedeckt waren. »Wenn ich recht unterrichtet bin, haben Sie ein Angebot der O'Keefe Corporation erhalten.« »Das dürfte mittlerweile ein öffentliches Geheimnis sein.« Der Bankier lächelte. »Über die Bedingungen wollen Sie mich nicht informieren?« »Warum sollte ich?« »Weil ich hier bin, um Ihnen ein Gegenangebot zu machen«, sagte Emile Dumaire bedächtig. »Wenn das der Fall ist, habe ich noch weniger Grund, frei heraus zu sprechen. Eins kann ich Ihnen ja sagen: Ich habe mit den O'Keefe-Leuten vereinbart, daß sie heute mittag um zwölf meine endgültige Antwort bekommen.« »Ganz recht. Das entspricht meinen Informationen und veranlaßte mich, Sie so plötzlich zu überfallen. Übrigens bitte ich Sie, zu verzeihen, daß ich nicht früher gekommen bin. Ich mußte mir erst die erforderlichen Informationen und Anweisungen beschaffen.« Die Neuigkeit von einem Angebot so kurz vor Torschluß -zumal aus dieser Quelle - ließ Warren Trent kalt. Er nahm an, daß eine Gruppe lokaler Geldleute, deren Sprecher Dumaire war, sich zusammengetan hatte, um jetzt billig einzukaufen und später mit Gewinn weiterzuverkaufen. Was immer für Bedingungen sie bieten mochten, mit O'Keefes Bedingungen würden sie sich kaum messen können. Auch Warren Trents eigene Lage würde sich dadurch sicher nicht verbessern. Der Bankier konsultierte seine Notizen. »Soviel ich weiß, hat Ihnen die O' Keefe Corporation einen Kaufpreis von vier Millionen geboten. Davon entfallen zwei Millionen auf die Hypothek; eine Million wird bar ausgezahlt und eine Million in neuaufgelegten O'Keefe-Aktien. Außerdem geht das Gerücht, daß man Ihnen einen Besitzanspruch auf Lebensdauer für Ihre Wohnung hier im Hotel zugesagt hat.« Warren Trent wurde rot vor Zorn. Er schlug mit der Faust auf die Schreibtischplatte. »Gottverdammt noch mal, Emile! Spielen Sie nicht Katz und Maus mit mir!« »Wenn ich diesen Anschein erweckt habe, tut mir das leid.« »Um Himmels willen! Wenn Sie die Einzelheiten kennen, warum fragen Sie dann danach?« »Offen gestanden erhoffte ich mir davon die Bestätigung, die Sie mir eben gegeben haben. Übrigens ist das Angebot, das ich Ihnen machen kann, etwas besser.« Warren Trent begriff, daß er auf einen uralten simplen Trick hereingefallen war. Aber es empörte ihn, daß Dumaire sich nicht entblödet hatte, gerade ihm damit zu kommen. Es war auch ersichtlich, daß Curtis O'Keefe in seinen eigenen Reihen einen Verräter hatte, möglicherweise jemand in O'Keefes Hauptquartier, der in interne Geheimnisse eingeweiht war. In gewisser Beziehung lag eine poetische Gerechtigkeit darin, daß Curtis O'Keefe, der sich bei seinen Geschäften der Spionage bediente, nun selbst bespitzelt wurde. »Inwiefern sind die Bedingungen besser? Und von wem geht das Angebot aus?« »Um die zweite Frage zuerst zu beantworten - im Moment bin ich noch nicht befugt, darüber zu sprechen.« »Ich verhandle nur mit Leuten, die ich sehen kann, nicht mit Geistern«, schnaubte Warren Trent. »Ich bin kein Geist«, sagte Dumaire. »Außerdem bürgt die Bank dafür, daß das Angebot bona fide ist und daß der Interessent, den die Bank vertritt, über tadellose Empfehlungen verfügt.« Noch immer verärgert über die Kriegslist, deren Opfer er vor einigen Minuten geworden war, sagte der Hotelbesitzer kurz: »Kommen wir zur Sache.« »Ganz recht.« Der Bankier blätterte in seinen Aufzeichnungen. »Der Preis, den meine Auftraggeber zu zahlen bereit sind, ist im wesentlichen identisch mit dem der O'Keefe Corporation.« »Kein Wunder, da Sie die Zahlen der O'Keefe-Leute kannten.« »Ansonsten jedoch gibt es einige bedeutsame Unterschiede.« Zum erstenmal seit Beginn der Unterredung verspürte Warren Trent einen Anflug von Neugier auf das, was ihm der Bankier zu sagen hatte. Warren Trent umklammerte die Armlehne seines Sessels. Er warf einen Blick auf die Wanduhr zu seiner Rechten. Es war Viertel vor zwölf. »Erstens, meine Auftraggeber wünschen nicht, daß Sie Ihre persönlichen und finanziellen Bindungen zum Hotel völlig lösen. Zweitens beabsichtigen sie - soweit es kommerziell ist -, die Unabhängigkeit und den derzeitigen Charakter des Hotels zu erhalten.« »Sie bestehen jedoch auf dem Erwerb der Stammaktienmehrheit - unter den Umständen eine durchaus berechtigte Forderung -, um sich eine wirksame Kontrolle zu sichern. Sie wären dann nur noch der größte Kleinaktionär. Außerdem müßten Sie von Ihrem Posten als Präsident und Direktor zurücktreten. Dürfte ich Sie um ein Glas Wasser bitten?« Warren Trent goß ein Glas aus der Thermosflasche auf seinem Schreibtisch ein. »Wie stellen Sie sich das vor? Soll ich mich vielleicht als Pikkolo betätigen oder als Türsteher?« »Kaum.« Emile Dumaire trank einen Schluck und betrachtete dann das Glas. »Ich habe es von jeher bemerkenswert gefunden, daß unser schmutziger Mississippi uns so schmackhaftes Wasser liefert.« »Machen Sie weiter!« Der Bankier lächelte. »Meine Auftraggeber beabsichtigen, Sie sofort nach Ihrem Rücktritt zum Vorsitzenden des Aufsichtsrats zu ernennen, und zwar zunächst für zwei Jahre.« »Als bloßer Strohmann, nehme ich an!« »Vielleicht. Aber ich finde, es gibt schlimmere Dinge. Oder ziehen Sie es vor der Strohmann eines Mr. Curtis O'Keefe zu sein?« Der Hotelbesitzer schwieg. »Außerdem soll ich Ihnen mitteilen, daß meine Auftraggeber Ihnen, in bezug auf Ihre Unterbringung hier im Hotel, das gleiche Entgegenkommen beweisen würden wie die O'Keefe Corporation. Was die Übertragung der Aktien und die Neufinanzierung betrifft, so möchte ich auf diese beiden Fragen etwas ausführlicher eingehen.« Während der Bankier weitersprach und immer wieder seine Notizen zu Rate zog, wurde Warren Trent von einem Gefühl der Ermattung und Unwirklichkeit erfaßt. Er erinnerte sich eines Vorfalls, der sich vor langer Zeit ereignet hatte. Einmal, als kleiner Junge, hatte er einen ländlichen Jahrmarkt besucht, in der geballten Hand ein paar Spargroschen, mit denen er Karussell fahren wollte. Er entschied sich schließlich für den Cake walk, eine Form der Belustigung, die inzwischen vermutlich längst in Vergessenheit geraten war. Soweit er sich erinnerte, handelte es sich um eine aus zahllosen Brettern zusammengesetzte Plattform, die einem windgepeitschten See glich - sie rollte ihre Opfer hinauf, hinunter, vor und zurück, so daß man für zehn Cent die Chance erkaufte, ebensooft hinzufallen, bevor man das andere Ende erreichte. Vorher hatte er es aufregend gefunden, aber schon auf der Hälfte des Weges hatte er sich nur noch gewünscht, möglichst bald wieder unten zu sein. Die letzten Wochen hatten auch etwas von einem Cake walk gehabt. Anfangs war er zuversichtlich gewesen, dann hatte der Boden unter ihm plötzlich nachgegeben. Er fand Halt und faßte Hoffnung, nur um plötzlich wieder ins Leere zu tappen. Die Journeymen's Union schien am Schluß noch einmal Standfestigkeit zu verbürgen, aber auch diese Stütze brach zusammen. Nun hatte sich der Cake walk ganz überraschend beruhigt, und er wünschte sich nichts sehnlicher als auszusteigen. Er wußte, daß er später anders darüber denken, daß sein persönliches Interesse am Hotel wie immer zurückkehren würde. Aber im Augenblick empfand er nur eine ungeheure Erleichterung darüber, daß die Last der Verantwortung auf andere Schultern überging. Und zugleich mit der Erleichterung meldete sich Neugier. Wer von den führenden Geschäftsleuten der Stadt stand hinter Emile Dumaire? Wer war bereit, das finanzielle Risiko auf sich zu nehmen und dem St. Gregory seinen traditionellen Status als unabhängiges Haus zu belassen? Suchte der Warenhausboß seinen ohnehin weit ausgedehnten Einflußbereich zu vergrößern? Warren Trent fiel ein, daß er von jemandem gehört hatte, Mark Preyscott wäre in Rom. Das würde die indirekte Annäherungsmethode erklären. Nun, wer immer auch dahinter stecken mochte, er würde es vermutlich bald genug erfahren. Die Aktientransaktion, die der Bankier erörterte, war fair. Im Vergleich zu O'Keefes Angebot war die Abfindung in bar niedriger, dafür behielt er jedoch einen Anspruch am Hotel. Curtis O'Keefes Bedingungen hätten ihn gezwungen, sich völlig von den Angelegenheiten des St. Gregory loszureißen. Was die Ernennung zum Aufsichtsratsvorsitzenden betraf, so würde er sich, auch wenn es sich nur um ein Ehrenamt ohne jede Machtbefugnis handeln mochte, doch wenigstens als privilegierter Zuschauer im Mittelpunkt der Ereignisse befinden. Außerdem durfte man das damit verbundene Prestige nicht gering einschätzen. »Das also wäre das Angebot«, schloß Emile Dumaire. »Für seine Vertrauenswürdigkeit bürgt, wie gesagt, die Bank. Im übrigen könnte ich Ihnen schon heute nachmittag eine diesbezügliche notariell beglaubigte Erklärung übergeben.« »Auch den Vertrag, falls ich einwillige?« Der Bankier schürzte nachdenklich die Lippen. »Ich sehe keinen Grund, warum wir den Vertrag nicht so bald wie möglich anfertigen sollten, zumal ihm auch das Fälligwerden der Hypothek eine gewisse Dringlichkeit verleiht. Ich würde sagen, Vertragsunterzeichnung morgen um diese Zeit.« »Zweifellos würde ich dann auch den Namen des Käufers erfahren.« »Das wäre für die Transaktion unbedingt erforderlich«, räumte Emile Dumaire ein.« »Wenn ich ihn morgen ohnehin erfahre, warum nicht gleich?« Der Bankier schüttelte den Kopf. »Ich muß mich an meine Instruktionen halten.« Ganz kurz flackerte Warren Trents alte Gereiztheit wieder auf. Er war versucht, seine Zustimmung von der Bekanntgabe des Vertragspartners abhängig zu machen. Dann sagte ihm seine Vernunft: was verschlug's, solange die zugesicherten Bedingungen eingehalten wurden? Außerdem erforderte ein Disput einen Kraftaufwand, dem er sich nicht gewachsen fühlte. Er seufzte und sagte einfach: »Ich akzeptiere.« 9 Ungläubig, ingrimmig starrte Curtis O'Keefe Warren Trent an. »Sie haben die Dreistigkeit, hierherzukommen und mir zu sagen, Sie hätten an jemand anderen verkauft!« Sie standen im Salon von O'Keefes Suite. Unmittelbar nach Emile Dumaires Weggang hatte Christine Francis eine Verabredung getroffen, derzufolge Warren Trent nun hier war. Dodo hielt sich mit bestürzter Miene dicht hinter O'Keefe. »Nennen Sie es meinetwegen Dreistigkeit«, erwiderte Warren Trent. »In meinen Augen ist es eine Information, die ich Ihnen schuldig war. Es wird Sie vielleicht auch interessieren, daß ich nicht ganz verkauft, sondern einen beträchtlichen Anteil am Hotel zurückbehalten habe.« »Den werden Sie auch verlieren!« O'Keefes Gesicht lief vor Wut rot an. Schon seit vielen Jahren war ihm nichts mehr verweigert worden, das er kaufen wollte. Selbst jetzt konnte er in seiner Enttäuschung und Verbitterung nicht glauben, daß die Absage ernst gemeint war. »Bei Gott! Ich richte Sie zugrunde, das schwöre ich!« Dodo streckte die Hand aus und legte sie beschwichtigend auf O'Keefes Arm. »Curtie!« Er riß sich los. »Halt die Klappe!« An seinen Schläfen pulste eine Vene. Seine Hände waren geballt. »Du bist erregt, Curtie, du solltest nicht...« »Verdammt noch mal! Halt dich hier raus!« Sie sah Warren Trent flehend an. Ihr Blick bewirkte, daß er seinem eigenen Unmut, der sich gerade entladen wollte, Zügel anlegte. »Tun Sie, was Ihnen beliebt«, sagte er zu O'Keefe. »Ich möchte Sie nur daran erinnern, daß Sie kein göttliches Kaufrecht haben. Außerdem sind Sie aus eigenem Antrieb hergekommen und nicht auf Einladung von mir.« »Diesen Tag werden Sie bereuen! Sie und die anderen, wer immer es sein mag. Ich werde bauen! Ich werde dies Hotel ruinieren! Alle meine künftigen Pläne werden darauf abzielen, dies Haus kaputtzumachen und Sie mit ihm!« »Falls wir beide so lange leben.« Warren Trent, der seine Selbstbeherrschung bisher bewahrt hatte, spürte, daß er immer ruhiger wurde, je mehr O'Keefe die Haltung verlor. »Aber wir werden es wohl kaum noch erleben, denn das, was Sie vorhaben, braucht natürlich Zeit. Im übrigen erweisen sich die neuen Leute vielleicht als gefährliche Konkurrenz, so daß am Ende Sie draufzahlen.« Es war nur eine Vermutung, aber er hoffte, daß sie sich als wahr herausstellen würde. »Hinaus!« raste O'Keefe. »Das Hotel gehört noch immer mir. Solange Sie mein Gast sind, genießen Sie in Ihren eigenen Räumen gewisse Vorrechte. Ich rate Ihnen jedoch, sie nicht zu mißbrauchen.« Mit einer leichten höflichen Verbeugung vor Dodo ging er hinaus. »Curtie«, sagte Dodo. O'Keefe schien sie nicht zu hören. Er atmete schwer. »Curtie, ist dir nicht wohl?« »Blöde Frage! Mir geht's blendend!« Er stürmte durch den Salon und wieder zurück. »Es ist bloß ein Hotel, Curtie. Du hast so viele andere.« »Ich will aber gerade das haben!« »Denk an den alten Mann - er hat bloß das eine...« »Natürlich! Du verteidigst ihn! Dumm und treulos! Wie die ganze Bande!« Seine Stimme klang schrill und hysterisch. Dodo hatte Angst. Sie hatte ihn noch nie so außer sich gesehen. »Bitte, Curtie!« »Ich bin von Idioten umgeben! Idioten! Du bist auch einer! Deshalb schicke ich dich weg. Einen Ersatz für dich habe ich schon.« Er bereute die Worte, sowie sie heraus waren. Sie versetzten sogar ihm einen Schock und erstickten seine Wut gänzlich. Nach einem kurzen, betroffenen Schweigen murmelte er: »Entschuldige, ich hätte das nicht sagen dürfen.« Dodos Augen waren feucht. Sie strich sich mit derselben Bewegung wie am Morgen das Haar zurück. »Das wußte ich, Curtie. Du hättest es mir nicht zu sagen brauchen.« Sie ging in die angrenzende Suite und machte die Tür hinter sich zu. 10 Ein unerwarteter Glückstreffer hatte Keycase Milne neuen Auftrieb gegeben. Am Morgen hatte Keycase seine strategischen Einkäufe ins Warenhaus Maison Blanche zurückgebracht. Die Rückzahlung ging prompt und glatt vonstatten. Dies befreite ihn nicht nur von einer hinderlichen Last, sondern vertrieb ihm auch die Zeit. Dennoch blieben ihm noch immer mehrere Stunden des Wartens, bis er den Schlüssel, den er am Vortag in Auftrag gegeben hatte, bei dem Schlosser am Irish Channel abholen konnte. Er war im Begriff, das Warenhaus zu verlassen, als er seine Chance erspähte. An einem Ladentisch im Erdgeschoß ließ eine gutgekleidete Kundin, als sie in ihrer Handtasche nach der Kreditkarte kramte, ein Schlüsselbund fallen. Weder sie noch sonst jemand, außer Keycase, schien den Verlust zu bemerken. Keycase blieb in der Nähe und besah sich Krawatten, bis die Frau weiterging. Er strich am Tisch entlang, und dann, als habe er die Schlüssel eben erst erspäht, stoppte er, um sie aufzuheben. Auf den ersten Blick stellte er fest, daß an dem Ring außer Wagenschlüsseln auch mehrere andere hingen, die ganz danach aussahen, als paßten sie in Haustürschlösser. Aber seine erfahrenen Augen entdeckten noch etwas Bedeutsameres - einen Anhänger in Form eines winzigen Nummernschildes. Diese Anhänger wurden Autobesitzern von Kriegsversehrten zugeschickt; damit verbunden war ein Dienst für die Rücksendung verlorengegangener Schlüssel. Auf dem Anhänger stand eine Zulassungsnummer von Louisiana. Den Schlüsselbund deutlich sichtbar vor sich hertragend, lief Keycase hinter der Frau her, die dem Ausgang zustrebte. Jeder zufällige Beobachter mußte daraus entnehmen, daß Keycase nichts anderes im Sinn hatte, als der rechtmäßigen Eigentümerin die Schlüssel zurückzugeben. Aber im Gedränge der Passanten auf der Canal Street ließ er sie unauffällig in seiner Tasche verschwinden. Die Frau war noch immer in Sicht. Keycase folgte ihr in vorsichtiger Entfernung. Nach zwei Blocks überquerte sie die Canal Street und betrat einen Kosmetiksalon. Von draußen sah Keycase, wie sie mit einer Empfangsdame sprach; letztere schlug in einem Terminkalender nach, woraufhin die Frau Platz nahm und sich zum Warten anschickte. Frohlockend eilte Keycase in die nächste Telefonzelle. Mit Hilfe eines Ortsgesprächs stellte er fest, daß er die Information, auf die er aus war, in Baton Rouge, der Hauptstadt des Staates, erhalten würde. Keycase leistete sich ein Ferngespräch und verlangte die Kraftfahrzeugzulassungsstelle. Die Telefonistin, die sich dort meldete, wußte auf Anhieb, mit welchem Nebenanschluß sie ihn verbinden mußte. Keycase holte den Schlüsselbund hervor und las die Zulassungsnummer laut von dem winzigen Anhänger ab. Ein gelangweilter Angestellter informierte ihn, daß der Wagen auf einen gewissen F. R. Drummond eingetragen war, mit einer Adresse im Lakeview-Distrikt von New Orleans. In Louisiana wie auch in anderen Staaten von Nordamerika sind Name und Adresse eines Kraftfahrzeugbesitzers eine öffentliche Angelegenheit und meist schon durch einen Telefonanruf zu bekommen. Keycase hatte von dieser Möglichkeit bereits des öfteren zu seinem Vorteil Gebrauch gemacht. Bevor er die Telefonzelle verließ, wählte er noch rasch die Nummer von F. R. Drummond. Wie er gehofft hatte, meldete sich niemand. Größte Eile war geboten. Keycase schätzte, daß er eine Stunde Spielraum hatte. Er winkte einem Taxi, das ihn zu seinem geparkten Wagen beförderte. Von dort aus fuhr er mit Hilfe eines Stadtplans zum Lakeview-Distrikt und machte ohne Schwierigkeiten die angegebene Adresse ausfindig. Aus einem halben Block Entfernung nahm er das Haus in Augenschein. Es war eine gepflegte zweistöckige Villa mit einer Doppelgarage und einem großen Garten. Die Einfahrt war von einer Zypresse geschützt und somit von den Nachbarhäusern her nicht einzusehen. Keycase parkte seinen Wagen kühn unter dem Baum und schritt zur Haustür. Sie ließ sich mit dem ersten Schlüssel, den er ausprobierte, leicht öffnen. Im Inneren war es still. Er rief laut: »Jemand zu Haus?« Für den Fall, daß sich jemand meldete, hatte er die Entschuldigung parat, daß die Tür offengestanden und daß er sich in der Adresse geirrt habe. Aber es kam keine Antwort. Er sah sich rasch in den unteren Zimmern um und ging dann die Treppe hinauf. Oben waren vier Schlafzimmer. In einem Wandschrank fand er zwei Pelzmäntel. Er nahm sie heraus und legte sie aufs Bett. In einem anderen Wandschrank entdeckte er mehrere Koffer. Er wählte den größten und stopfte die Mäntel hinein. In der Schublade eines Toilettentisches kam eine Schmuckschatulle zutage. Er leerte den Inhalt in den Koffer, fügte eine Kamera, einen Feldstecher, ein tragbares Radio hinzu, schloß den Koffer und trug ihn hinunter. Unten stopfte er noch eine Silberschale und ein silbernes Tablett hinein. Ein Tonbandgerät, das er erst im letzten Moment bemerkte, trug er in der einen Hand und den Koffer in der anderen, als er zum Wagen zurückkehrte. Insgesamt hatte er sich knapp zehn Minuten in dem Haus aufgehalten. Er verstaute seine Beute im Kofferraum und fuhr los. Etwas über eine Stunde später hatte er sie in seiner Motelkabine am Chef Menteur Highway versteckt, seinen Wagen am alten Platz in der Innenstadt abgestellt und schlenderte in bester Laune zum St.-Gregory-Hotel zurück. Auf dem Wege leistete er sich den Scherz, die Aufforderung auf dem Anhänger zu befolgen und die Schlüssel in einen Briefkasten zu werfen. Der Schlüsseldienst würde zweifellos sein Versprechen halten und sie dem Eigentümer zusenden. Die unerwartete Beute würde ihm seiner Schätzung nach tausend Dollar netto einbringen. In der Cafeteria des St. Gregory stärkte er sich mit einem Kaffee und einem Sandwich und lief dann zu Fuß zu dem Schlosser am Irish Channel. Der Nachschlüssel zur Präsidentensuite war fertig, und obwohl man ihm einen Wucherpreis dafür abverlangte, zahlte er fröhlichen Herzens. Die Sonne strahlte von einem wolkenlosen Himmel auf ihn hernieder. Das und der erfolgreiche morgendliche Raubzug waren ohne Frage günstige Vorzeichen für die Aufgabe, die vor ihm lag. Keycase entdeckte, daß er nicht nur sein altes Selbstvertrauen wiedergefunden hatte, sondern auch von einem Gefühl der Unbesiegbarkeit beseelt war. 11 In der ganzen Stadt läuteten die Glocken von New Orleans in lässigem Durcheinander die Mittagsstunde ein. Ihr polyphones Geläut drang durch das der Klimaanlage wegen verschlossene und versiegelte Fenster der Präsidentensuite in der neunten Etage. Der Herzog von Croydon, der sich schwankend einen Whisky-Soda eingoß, den vierten seit dem Morgen, hörte die Glocken und sah ungläubig auf seine Uhr. »Erst zwölf?« murmelte er kopfschüttelnd. »... Längste Tag..., den ich je erlebt habe.« »Schließlich wird auch er zu Ende gehen.« Die Antwort der Herzogin, die auf einem Sofa saß und sich erfolglos auf W. H. Audens Gedichte zu konzentrieren versuchte, klang weniger streng als sonst. Das Warten seit der vergangenen Nacht, die Vorstellung, daß Ogilvie und der Unfallwagen sich irgendwo auf der Strecke nach dem Norden befanden - aber wo? -, hatte auch sie zermürbt. Seit ihrer letzten Unterredung mit dem Hausdetektiv waren neunzehn Stunden verstrichen, und sie hatten seitdem nichts Neues gehört. »Herrgott noch mal! - konnte der Bursche nicht telefonieren?« Der Herzog begann wieder, wie schon den ganzen Vormittag über, aufgeregt durch den Salon zu marschieren. »Wir hatten doch abgemacht, daß er nichts dergleichen tun sollte«, sagte die Herzogin milde. »Auf die Art ist es viel sicherer. Außerdem, wenn der Wagen tagsüber versteckt ist, wird er selbst wohl auch in Deckung bleiben.« Der Herzog von Croydon vertiefte sich in eine ausgebreitete Straßenkarte, die er bereits auswendig kannte. Mit dem Finger zog er einen Kreis um das Gebiet von Macon, Mississippi. Er sagte mehr zu sich selbst: »Es ist noch so nahe, so infernalisch nahe. Und den ganzen heutigen Tag... nur warten... nichts als warten!« Sich aufrichtend, murmelte er: »Der Bursche könnte entdeckt werden.« »Offenbar ist er bisher durchgeschlüpft, oder wir hätten auf die eine oder andere Art etwas gehört.« Neben der Herzogin lag die Nachmittagsausgabe des »States-Item«; sie hatte sie sich von ihrem Sekretär in der Halle holen lassen. Sie hatten stündlich die Rundfunknachrichten gehört. Das Radio war auch jetzt eingeschaltet, aber der Sprecher schilderte die Verheerungen, die ein sommerlicher Sturm in Massachusetts angerichtet hatte, und davor war eine Verlautbarung des Weißen Hauses zur Vietnam-Frage verlesen worden. Zeitung und Rundfunk hatten die Fahrerfluchtaffäre erwähnt, aber lediglich darauf hingewiesen, daß die Ermittlungen andauerten, bisher jedoch keine neuen Ergebnisse gezeitigt hätten. »Gestern nacht konnte er nur einige Stunden fahren«, fügte die Herzogin hinzu, wie um sich selbst zu ermutigen. »Heute nacht ist es anders. Wenn er gleich nach Anbruch der Dunkelheit startet, müßte er morgen in Sicherheit sein.« »Sicherheit!« Der Herzog griff mürrisch nach seinem Drink. »Ist wohl das vernünftigste, nur daran zu denken. Nicht an das, was geschehen ist... die Frau... das Kind. Ich nehme an, du hast die Fotos gesehen.« »All das haben wir schon besprochen. Es ist sinnlos, wieder davon anzufangen.« Er schien sie nicht gehört zu haben. »Beerdigung ist heute nachmittag... könnte wenigstens hingehen.« »Du kannst nicht hingehen, das weißt du ganz genau.« Ein drückendes Schweigen breitete sich in dem eleganten Salon aus. Es wurde vom Läuten des Telefons unterbrochen. Die Croydons starrten einander an; keiner von beiden machte Anstalten, an den Apparat zu gehen. Die Muskeln im Gesicht des Herzogs zuckten krampfartig. Noch einmal läutete es und dann nicht mehr. Durch die dazwischenliegenden Türen vernahmen sie undeutlich die Stimme des Sekretärs, der an einem Nebenanschluß sprach. Gleich darauf klopfte es, und der Sekretär kam verlegen herein. Er blickte zum Herzog hinüber. »Es ist eine von den Lokalzeitungen, Euer Gnaden. Sie sagen, sie hätten eine Blitzmeldung bekommen, die Sie betrifft.« Mühsam fand die Herzogin ihre Haltung wieder. »Ich übernehme das Gespräch. Legen Sie drüben auf.« Sie griff nach dem Telefonhörer. Nur ein guter Beobachter hätte bemerkt, daß ihre Hände zitterten. Sie wartete, bis ein Klicken anzeigte, daß am Nebenanschluß aufgelegt worden war, und sagte dann: »Hier ist die Herzogin von Croydon.« »Madame«, erwiderte eine forsche männliche Stimme, »hier ist die Lokalredaktion des >States-Item<. Wir bekamen von Associated Press eine Blitzmeldung, und soeben traf noch ein...« Die Stimme verstummte. »Verzeihen Sie...« Dann hörte sie ihren Gesprächspartner gereizt sagen: »Wo, zum Kuckuck, ist das... He, Andy, gib mir den Wisch da rüber.« Papier raschelte, und die Stimme ließ sich wieder vernehmen: »Tut mir leid, Madame. Ich werde Ihnen die Meldung vorlesen. >London (AP) - Wie aus hiesigen parlamentarischen Kreisen verlautet, dürfte der Herzog von Croydon als nächster britischer Botschafter in Washington einziehen. Der Beschluß der Regierung wurde günstig aufgenommen. Die offizielle Bekanntgabe wird demnächst erwartet.< Es ist noch mehr, Madame, aber damit will ich Sie verschonen. Wir rufen an, um zu fragen, ob Ihr Gatte eine Erklärung dazu abgeben möchte, und dann würden wir auch gern einen Fotografen ins Hotel schicken.« Einen Moment lang schloß die Herzogin die Augen, sich ihrer Erleichterung überlassend, die sie wie ein schmerzstillendes Mittel einlullte. »Sind Sie noch da, Madame?« fragte die Stimme am Telefon. »Ja.« Sie riß sich ärgerlich zusammen. »Was die Erklärung anbelangt, würden wir -« Die Herzogin unterbrach ihn. »Mein Mann wird erst dann eine Erklärung abgeben, wenn die Ernennung offiziell bestätigt worden ist.« »In dem Fall -« »Aus dem gleichen Grund wird er auch den Fotografen nicht empfangen.« Die Stimme klang enttäuscht. »Natürlich bringen wir in der nächsten Nummer alles, was wir darüber haben.« »Das steht Ihnen frei.« »Und bis zur offiziellen Bekanntgabe würden wir gern mit Ihnen in Verbindung bleiben.« »Wenn es soweit ist, wird es meinem Mann ein Vergnügen sein, sich der Presse zu stellen.« »Dann dürfen wir also wieder anrufen?« »Gewiß.« Nachdem sie aufgelegt hatte, saß die Herzogin von Croydon gerade aufgerichtet und reglos da. Ein leichtes Lächeln spielte um ihre Lippen. »Es ist passiert. Geoffrey hat Erfolg gehabt.« Ihr Mann starrte sie ungläubig an. »Washington?« Sie wiederholte die Meldung von AP. »Man ließ die Nachricht wahrscheinlich absichtlich durchsickern, um die Reaktion zu testen. Sie war günstig.« »Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß dein Bruder -« »Sein Einfluß war von Nutzen. Aber es gab zweifellos noch andere Gründe. Der Zeitpunkt. Man brauchte einen Mann mit deiner Erfahrung. Die Politik fordert es. Vergiß auch nicht, daß die Möglichkeit in der Luft lag. Vermutlich wäre es früher oder später ohnehin dazu gekommen.« »Nun, wo es soweit ist, frage ich mich...« Er hielt unschlüssig inne. »Fragst du dich was?« »Ob ich durchhalten kann.« »Du kannst und du wirst. Gemeinsam schaffen wir es.« Er bewegte zweifelnd den Kopf. »Es gab eine Zeit... « »Denk nicht an früher, denk an die Gegenwart.« Ihre Stimme klang scharf und gebieterisch. »In einigen Stunden mußt du die Presse empfangen. Andere Pflichten kommen auf dich zu. Es ist unbedingt erforderlich, daß du deine fünf Sinne zusammenhältst.« »Werde mein Bestes tun...« Er nickte feierlich und hob sein Glas. »Nein!« Die Herzogin erhob sich. Sie nahm ihrem Mann das Glas aus der Hand und ging ins Bad. Er hörte, wie sie den Inhalt ins Waschbecken schüttete. Als sie zurückkam, verkündete sie: »Damit ist Schluß. Verstanden? Endgültig Schluß.« Zuerst wollte er protestieren, gab aber dann nach. »Gut... ich sehe ein... es geht nicht anders...« »Möchtest du, daß ich die Flaschen wegschließe, die angebrochene hier ausgieße...?« Er schüttelte den Kopf. »Ich schaffe es schon.« Mit sichtlicher Anstrengung nahm er seine Gedanken zusammen. Wie am Vortage ging eine plötzlich chamäleonhafte Veränderung mit ihm vor, die seinen Zügen Kraft und seiner Stimme Festigkeit verlieh. »Es ist eine sehr gute Neuigkeit.« »Ja«, sagte die Herzogin. »Sie kann ein neuer Anfang für uns sein.« Ihr Mann machte einen Schritt auf sie zu und überlegte es sich dann anders. Es war ihr Ernst, aber er wußte, an ihre persönlichen Beziehungen hatte sie dabei nicht gedacht. Die Herzogin hielt sich mit müßigen Spekulationen auf. »Wir müssen unsere Pläne in bezug auf Chikago ändern. Von jetzt an werden all unsere Schritte genau beobachtet. Falls wir zusammen abreisen, berichten die Zeitungen hier und in Chikago darüber. Es würde Neugier erregen, wenn wir unseren Wagen in Reparatur geben.« »Einer von uns muß nach Chikago fahren.« »Ich fahre allein«, sagte die Herzogin entschieden. »Ich kann mein Äußeres etwas verändern, eine Brille tragen. Wenn ich es richtig anstelle, schlüpfe ich unerkannt durch.« Sie blickte zu einer schmalen Aktenmappe neben dem Sekretär hinüber. »Ich nehme den Rest des Geldes mit und veranlasse alles, was sonst nötig ist.« »Du nimmst also an..., daß der Mann unangefochten bis Chikago gelangt. Noch hat er's nicht geschafft.« Ihre Augen weiteten sich, als erinnere sie sich eines vergessenen Alptraums. »O Gott! Jetzt..., wo sich alles andere so gut anläßt..., muß er's schaffen! Er muß!« 12 Kurz nach dem Lunch gelang es Peter McDermott, in sein Appartement zu entwischen, wo er sich seines formellen dunklen Anzugs, den er im Hotel meistens trug, entledigte und statt dessen eine Leinenhose und eine leichte Jacke anzog. Er kehrte für einen Moment ins Büro zurück, um Briefe zu unterschreiben, die er auf dem Weg nach draußen auf Floras Schreibtisch legte. »Am Spätnachmittag bin ich wieder hier«, sagte er und fügte nachträglich hinzu: »Haben Sie irgend etwas über Ogilvie ausfindig gemacht?« Seine Sekretärin schüttelte den Kopf. »Nichts Definitives. Sie sagten mir, ich solle mich erkundigen, ob er mit jemandem über seine Reise gesprochen hätte. Also, er hat's nicht getan.« Peter grunzte. »Ich habe eigentlich auch nicht damit gerechnet.« »Da ist nur eins...«, Flora zögerte. »Vermutlich ist es unwichtig, aber es kam mir komisch vor.« »Was?« »Der Wagen, den Mr. Ogilvie fuhr... Sie sagten, es wäre ein Jaguar gewesen, stimmt's?« »Ja.« »Er gehört dem Herzog und der Herzogin von Croydon.« »Sind Sie sicher, daß das kein Irrtum ist?« »Das hab' ich mich auch gefragt und deshalb die Garage gebeten, es nachzuprüfen. Man sagte mir, ich sollte mich bei einem Mann namens Kulgmer erkundigen. Er ist der Nachtkontrolleur.« »Ich weiß. Ich kenne ihn.« »Er hatte gestern nacht Dienst, und ich rief bei ihm zu Hause an. Er sagte, Ogilvie hätte eine schriftliche Vollmacht der Herzogin von Croydon gehabt, den Wagen zu nehmen.« Peter zuckte mit den Schultern. »Dann ist vermutlich alles in Ordnung.« Dennoch war es seltsam, daß Ogilvie den Wagen der Croydons benutzte; und noch seltsamer war die Vorstellung, daß zwischen dem Herzog und der Herzogin und dem ungehobelten Hausdetektiv irgendeine Verbindung bestand. Flora hatte sich offenbar auch darüber gewundert. »Ist der Wagen wieder da?« fragte er. »Nein. Ich hab' mich gefragt, ob ich mich bei der Herzogin erkundigen sollte. Aber dann hielt ich es für besser, zuerst mit ihnen darüber zu sprechen.« »Ich bin froh, daß Sie gewartet haben.« Es war vermutlich nichts dabei, die Croydons nach Ogilvies Reiseziel zu fragen. Da er ihren Wagen genommen hatte, war anzunehmen, daß sie es kannten. Dennoch zögerte er. Nach seinem Zusammenstoß mit der Herzogin am Montagabend war Peter nicht scharf darauf, eine neue Verstimmung zu riskieren, schon deshalb, weil man ihm seine Nachforschungen als unberufene Einmischung ankreiden konnte. Außerdem war das Eingeständnis peinlich, daß die Hotelleitung keine Ahnung hatte, wo sich der Hausdetektiv aufhielt. »Unternehmen Sie zunächst nichts«, sagte er zu Flora. Peter dachte daran, daß noch ein anderes unerledigtes Problem seiner harrte - Herbie Chandler. Heute morgen hatte er Warren Trent die von Dixon, Dumaire und den zwei anderen niedergeschriebenen Erklärungen zeigen wollen, aus denen klar hervorging, daß der Chefportier an den Vorfällen, die zu dem Vergewaltigungsversuch führten, beteiligt gewesen war. Aber die offenkundige Zerstreutheit des Hotelbesitzers brachte ihn davon ab. Nun mußte sich Peter selbst mit der Angelegenheit befassen. »Stellen Sie fest, ob Herbie Chandler heute abend Dienst hat«, instruierte er Flora. »Wenn er da ist, sagen Sie ihm, daß ich ihn um sechs Uhr sprechen möchte. Anderenfalls erwarte ich ihn morgen früh.« Peter verließ den Verwaltungstrakt und ging in die Halle hinunter. Einige Minuten später trat er aus dem Dämmerlicht des Hotels in den strahlenden Sonnenschein des frühen Nachmittags hinaus. »Hier bin ich, Peter!« Marsha winkte ihm vom Führersitz eines weißen Kabrioletts aus zu; der Wagen stand eingeklemmt in einer Reihe wartender Taxis. Ein diensteifriger Türsteher lief herzu und hielt Peter die Wagentür auf. Als Peter auf den Sitz neben Marsha glitt, grinste ein Trio von Taxifahrern, und einer stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Hallo«, sagte Marsha. »Wenn Sie nicht gekommen wären, hätte ich einen anderen Fahrgast aufgabeln müssen.« In dem leichten Sommerkleid war sie ein erfreulicher Anblick, aber er spürte hinter der heiteren Begrüßung die Befangenheit, vielleicht, weil sie an ihr Zusammensein von gestern abend dachte. Impulsiv nahm er ihre Hand und drückte sie. »Das mag ich«, sagte sie, »obwohl ich meinem Vater versprochen habe, beim Fahren beide Hände zu benutzen.« Mit Hilfe der Taxifahrer, die ihr Platz machten, scherte sie aus der Reihe aus und fädelte sich in den Verkehrsstrom auf der St. Charles Street ein. Es hatte den Anschein, dachte Peter, als sie an der Canal Street auf grünes Licht warteten, als werde er andauernd von hübschen Frauen durch New Orleans kutschiert. War es wirklich erst drei Tage her, daß er mit Christine in ihrem Volkswagen zu ihrem Appartement hinausgefahren war? In derselben Nacht war er Marsha zum erstenmal begegnet. Es kam ihm länger vor als drei Tage vielleicht weil Marsha ihm inzwischen einen Heiratsantrag gemacht hatte. Er fragte sich, ob sie die Dinge am Morgen nicht in einem vernünftigeren Licht gesehen hatte, war jedoch nach wie vor entschlossen, nichts zu sagen, sofern sie das Thema nicht selbst anschnitt. Dennoch war es aufregend, so dicht neben ihr zu sitzen und sich die letzten Minuten vor ihrem Abschied gestern nacht ins Gedächtnis zurückzurufen - der zuerst zärtliche und dann so leidenschaftliche Kuß; der atemberaubende Moment, in dem er nicht ein Mädchen, sondern eine Frau in den Armen gehalten und das verheißungsvolle Beben ihres Körpers gespürt hatte. Nun betrachtete er sie verstohlen; ihren jugendlichen Eifer, ihre geschmeidigen Bewegungen, ihre schlanke Figur unter dem dünnen Kleid. Falls er die Hand ausstreckte... Widerstrebend unterdrückte er den Impuls. In einer bußfertigen Anwandlung sagte er sich, daß die Gegenwart von Frauen von jeher sein gesundes Urteil getrübt und ihn zu unbesonnenen Handlungen verleitet hatte. Marsha streifte ihn mit einem Blick. »Woran haben Sie eben gedacht?« »Geschichte«, schwindelte er. »Wo fangen wir an?« »Beim alten St.-Louis-Friedhof. Waren Sie schon mal dort?« Peter schüttelte den Kopf. »Für Friedhöfe habe ich mich nie übermäßig interessiert.« »In New Orleans lohnt sich das aber.« Es war nur ein kurzes Stück Fahrt zur Basin Street. Marsha parkte vorschriftsmäßig auf der Südseite, und sie gingen quer über den Boulevard auf den von einer Mauer umgebenen Friedhof zu, St. Louis Nummer eins mit seinem alten Säulentor. »Ein gut Teil der Geschichte beginnt hier«, sagte Marsha und nahm Peters Arm. »Anfang des achtzehnten Jahrhunderts, als New Orleans von den Franzosen gegründet wurde, war das ganze Gebiet ein einziger Sumpf. Das wäre es auch jetzt noch, wenn man den Fluß nicht eingedämmt hätte.« »Ich weiß, daß der Untergrund der Stadt naß ist«, meinte Peter. »Im Souterrain des Hotels pumpen wir vierundzwanzig Stunden täglich die Abwässer nach oben in die städtischen Abflußkanäle - und nicht nach unten.« »Früher stand das Grundwasser noch höher. Sogar an trockenen Stellen reichte es bis neunzig Zentimeter an die Erdoberfläche, so daß Gräber überflutet wurden, bevor man den Sarg hinunterlassen konnte. Angeblich stellten sich die Totengräber auf die Särge und drückten sie hinunter. Und manchmal bohrten sie Löcher in das Holz, damit die Särge von selber untersanken. Damals pflegten die Leute zu sagen, wenn einer nicht richtig tot ist, ertrinkt er.« »Das klingt ja wie ein Gruselfilm.« »In manchen Büchern steht, daß das Trinkwasser nach Leichen roch.« Sie verzog angewidert das Gesicht. »Auf jeden Fall kam dann später ein Gesetz, das alle Bestattungen in der Erde verbot.« Sie schlenderten zwischen den Gräberreihen dahin. Einen Friedhof wie diesen hatte Peter noch nie geshen. Marsha wies in die Runde. »Das alles hier entstand, nachdem das Gesetz verabschiedet worden war. In New Orleans nennen wir die Friedhöfe Städte der Toten.« »Der Name leuchtet mir ein.« Der Friedhof glich wirklich einer Stadt, dachte er; mit unregelmäßigen Straßen und Grüften im Stil kleiner Häuser, manche aus Backstein, andere weiß getüncht, mit schmiedeeisernen Balkonen und schmalen Gehsteigen. Die Häuser hatten mehrere Stockwerke, und das Fehlen von Fenstern war das einzige übereinstimmende Merkmal; statt der Fenster hatten sie zahllose kleine Türen. Er zeigte darauf. »Das könnten lauter Appartements sein.« »Das sind auch welche, und die meisten werden nur für kurze Zeit vermietet.« Er sah sie neugierig an. »Die Gräber sind in Abschnitte unterteilt«, erklärte Marsha. »Ein normales Familiengrab hat zwei bis sechs Abschnitte, die größeren haben mehr. Zu jedem Abschnitt gehört eine kleine Tür. Kurz vor einer Beerdigung wird eine der Türen geöffnet. Der Sarg, der bereits drin ist, wird ausgeleert, und die Überreste werden nach hinten geschoben, wo sie durch einen Spalt in eine Grube fallen. Der alte Sarg wird verbrannt, und der neue kommt an seinen Platz. Dort bleibt er ein Jahr lang, und dann geschieht das gleiche mit ihm.« »Bloß ein Jahr?« Eine Stimme hinter ihnen sagte: »Mehr braucht's nicht. Aber manchmal dauert's länger - wenn der nächste, der an der Reihe ist, sich Zeit läßt. Ameisen und Kakerlaken helfen nach.« Sie wandten sich um. Ein ältlicher, rundlicher Mann in fleckigem Drillichoverall musterte sie fröhlich. Seinen alten Strohhut lüpfend, fuhr er sich mit einem roten Seidentuch über die Glatze. »Heiß, nicht? Da drin ist's kühler.« Er patschte ungezwungen mit der Hand auf ein Grab. »Falls Sie nichts dagegen haben, bleib' ich lieber in der Hitze«, sagte Peter. Der andere kicherte. »Am Ende landen Sie auch da drin. Wie geht's, Miss Preyscott?« »Hallo, Mr. Collodi«, sagte Marsha. »Das ist Mr. McDermott.« Der Totengräber nickte freundlich. »Wollen Sie die Familie besuchen?« »Wir sind gerade auf dem Wege dahin.« »Hier entlang.« Der Mann ging voran und rief ihnen über die Schulter zu: »Wir haben das Grab neulich erst saubergemacht. Sieht wieder prima aus.« Als sie durch die schmalen Friedhofsgassen wanderten, erhaschte Peter dann und wann lange zurückliegende Daten und altehrwürdige Namen. Ihr Führer zeigte auf einen schwelenden Holzstoß auf einem offenen Platz. »Wir verbrennen gerade ein bißchen was.« Inmitten des Rauchs konnte Peter die Überreste eines Sarges erkennen. Sie blieben vor einem sechsfach unterteilten Grab stehen, eine Nachbildung des traditionellen Hauses der Pflanzeraristokratie. Es war weiß getüncht und besser erhalten als die meisten anderen in seiner Umgebung. Auf verwitterten Marmortafeln waren viele Namen verzeichnet, vor allem aber Preyscotts. »Wir sind eine alte Familie«, sagte Marsha. »Mittlerweile muß unten in der Erde ein ziemliches Gedränge sein.« Die Sonne malte lustige Kringel auf das Grab. »Hübsch, nicht?« Der Totengräber trat bewundernd zurück und wies dann auf eine Tür ziemlich weit oben. »Die ist als nächste dran, Miss Preyscott. Da kommt Ihr Daddy rein.« Er berührte eine andere in der zweiten Reihe. »Und die ist für Sie. Glaub' aber nicht, daß ich das noch erlebe.« Er verstummte und fügte nachdenklich hinzu: »Es ist schneller mit uns vorbei, als wir möchten. Drum soll man auch keine Zeit vertun; nein, Sir!« Er wischte sich wieder den Kopf ab und schlenderte gemächlich davon. Trotz der Hitze fröstelte Peter. Die Vorstellung, daß für ein so junges Geschöpf wie Marsha der letzte Ruheplatz schon vorgemerkt war, beunruhigte ihn. »Es ist nicht so morbid, wie es scheint.« Marshas Blick lag auf seinem Gesicht, und wieder einmal wunderte er sich über ihre Fertigkeit, in seinen Gedanken zu lesen. »Wir lernen eben von Kind an, daß all dies ein Teil von uns selbst ist.« Er nickte. Dennoch hatte er genug von diesem Ort des Todes. Sie befanden sich auf dem Weg nach draußen, unweit des Ausgangs zur Basin Street, als Marsha ihn am Arm zurückhielt. Eine Wagenschlange stoppte unmittelbar vor dem Tor. Türen öffneten sich, Leute stiegen aus und versammelten sich auf dem Gehsteig. Ihr Äußeres verriet, daß sie im Begriff waren, sich zu einer Beerdigungsprozession zusammenzuschließen. Marsha flüsterte: »Peter, wir müssen warten.« Sie traten einige Schritte zurück. Nun teilte sich die Gruppe auf dem Gehsteig und machte dem Leichenzug Platz. Ein fahler Mann mit dem salbungsvollen Gebaren eines Leichenbestatters kam zuerst. Ihm folgte ein Geistlicher. Hinter dem Geistlichen schritten langsam sechs Sargträger, einen schweren Sarg auf den Schultern. Vier andere folgten mit einem kleinen weißen Sarg, auf dem ein einzelner Oleanderzweig lag. »O nein!« sagte Marsha. Peter nahm ihre Hand und hielt sie fest. Der Geistliche intonierte: »Mögen die Engel dich in das Paradies tragen; mögen die Märtyrer dich auf deinem Wege willkommen heißen und in die heilige Stadt Jerusalem geleiten.« Eine Gruppe von Leidtragenden folgte dem zweiten Sarg. Allein, an der Spitze, ging ein junger Mann. Er hatte einen schlechtsitzenden schwarzen Anzug an und trug seinen Hut unbeholfen Sein Blick hing an dem kleinen Sarg. Tränen liefen ihm über die Wangen. Hinter ihm schluchzte eine ältere Frau, die von einer anderen gestützt wurde. »... Möge der Chor der Engel dich begrüßen und mögest du mit Lazarus, der einst arm war, die ewige Ruhe finden...« »Das sind die zwei, die bei dem Autounfall getötet wurden, wo der Fahrer nachher flüchtete. Eine Mutter und ein kleines Mädchen. Es stand in der Zeitung«, flüsterte Marsha. Peter sah, daß sie weinte. »Ich weiß.« Peter hatte das Gefühl, dazu zu gehören, den Kummer der Trauernden zu teilen. Die Szene am Unfallort in der Montagnacht hatte ihn durch ihre grimmige Sachlichkeit beeindruckt. Nun erschien ihm das Unglück durch seine Nähe gewissermaßen vertrauter und realer. Seine Augen wurden feucht, als sich der Leichenzug weiterbewegte. Hinter der trauernden Familie kamen andere. Zu seiner Überraschung erkannte er ein Gesicht wieder. Zuerst wußte er nicht, wo er es schon gesehen hatte, dann wurde ihm klar, daß es sich um Sol Natchez handelte, den ältlichen Zimmerkellner, der nach seinem Disput mit dem Herzog und der Herzogin von Croydon vorübergehend vom Dienst suspendiert worden war. Peter hatte am Dienstagmorgen nach Natchez geschickt und ihm Warren Trents Anordnung, eine Woche lang bezahlten Urlaub zu nehmen, übermittelt. Natchez blickte nun zu Peter und Marsha herüber, schien jedoch Peter nicht zu erkennen. Die Beerdigungsprozession zog weiter und verschwand schließlich aus ihrem Blickfeld. »Jetzt können wir gehen«, sagte Marsha. Plötzlich berührte eine Hand Peters Arm. Er wandte sich um und erblickte Sol Natchez. »Ich hab' Sie gesehen, Mr. McDermott. Kannten Sie die Familie?« »Nein, wir waren zufällig hier«, antwortete Peter und stellte Marsha vor. Sie fragte: »Sie haben das Ende der Trauerfeier nicht abgewartet?« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Ich hätte es nicht ertragen.« »Dann kennen Sie die Familie also?« »Ja, sehr gut. Es ist ein großes Unglück.« Peter nickte. Er wußte nicht, was man sonst noch hätte sagen können. »Ich kam am Dienstag nicht dazu, es Ihnen zu sagen«, fing Natchez wieder an, »aber ich bin Ihnen sehr dankbar, nach allem, was Sie für mich getan haben. Ich meine, daß Sie für mich eingetreten sind.« »Schon gut, Sol. Ich glaube nicht, daß Sie schuld waren.« »Es ist komisch, wenn man's genau bedenkt.« Der alte Mann blickte von Marsha auf Peter. Er schien sich ungern von ihnen zu trennen. »Was ist komisch?« fragte Peter. »Alles. Der Unfall.« Natchez zeigte in die Richtung, in der der Leichenzug verschwunden war. »Es muß passiert sein, kurz bevor ich am Montagabend den Ärger hatte...« »Ja«, sagte Peter. Er hatte keine Lust, sich über seine eigenen späteren Erfahrungen am Unfallort auszulassen. »Was ich fragen wollte, Mr. McDermott - haben Sie wegen der Sache noch irgendwas vom Herzog und der Herzogin gehört?« »Nein, kein Wort.« Peter vermutete, daß Natchez es, ebenso wie er selbst, als Erleichterung empfand, über etwas anderes als die Beerdigung zu sprechen. Der Kellner sagte nachdenklich: »Ich hab' mir das Ganze immer wieder durch den Kopf gehen lassen. Hatte fast den Anschein, als hätten sie das ganze Theater absichtlich gemacht. Hab's damals nicht verstanden und versteh's auch jetzt noch nicht.« Peter erinnerte sich, daß Natchez am Montagabend fast die gleichen Worte gebraucht hatte. Natchez hatte von der Herzogin von Croydon gesagt: Sie hat mich am Arm gestoßen, und wenn ich's nicht besser wüßte, würde ich sagen, sie hat's absichtlich getan. Und Peter hatte später den Eindruck, als lege es die Herzogin darauf an, den Zwischenfall aufzubauschen, damit er nicht vergessen würde. Was hatte sie noch gesagt? Irgend etwas von einem ruhigen Abend in der Suite und einem Gang ums Viertel. Sie seien eben erst zurückgekommen, hatte sie gesagt. Peter fiel ein, daß er sich damals gewundert hatte, warum sie das so ausdrücklich betonte. Dann hatte der Herzog von Croydon seine Zigaretten erwähnt, die er im Wagen vergessen hätte, und die Herzogin hatte ihn angefaucht. Der Herzog hatte seine Zigaretten im Wagen liegenlassen! Falls die Croydons aber in der Suite geblieben und nur einmal um den Block spaziert waren... Natürlich konnten sie die Zigaretten auch schon vorher im Wagen vergessen haben. Aber irgendwie kam Peter das unwahrscheinlich vor. Er dachte angestrengt nach und vergaß seine Umgebung. Warum wünschten die Croydons zu verheimlichen, daß sie ihren Wagen am Montagabend benutzt hatten? Warum suchten sie den Anschein zu erwecken, als hätten sie den Abend in der Suite verbracht? War die Affäre mit der verschütteten Shrimp Creole gestellt? Wurde sie eigens deshalb inszeniert, um die Fiktion vom gemütlichen Abend zu Haus zu untermauern? Ohne die zufällige Bemerkung des Herzogs, die der Herzogin sichtlich gegen den Strich ging, hätte Peter die Geschichte als wahr akzeptiert. Weshalb die Geheimniskrämerei mit dem Wagen? Natchez hatte vor einem Moment gesagt: Es ist komisch... , der Unfall muß passiert sein, kurz bevor ich am Montagabend den Ärger hatte... Der Wagen der Croydons war ein Jaguar. Ogilvie. Er sah den Jaguar vor sich. Als er gestern nacht aus der Garage kam und kurz unter der Laterne hielt, war ihm aufgefallen, daß irgend etwas am Wagen nicht stimmte. Aber was? Es überrieselte ihn kalt; plötzlich erinnerte er sich wieder: Kotflügel und Scheinwerfer waren beschädigt. Zum erstenmal ging ihm die volle Bedeutung der polizeilichen Meldungen der letzten paar Tage auf. »Was ist los, Peter?« fragte Marsha. »Sie sind ja ganz bleich.« Sie sprach zu tauben Ohren. Peter hatte nur einen Wunsch - wegzugehen, irgendwo allein zu sein, wo er in Ruhe nachdenken konnte. Er mußte sorgfältig logisch, langsam überlegen. Vor allem aber durfte er keine übereilten Schlüsse ziehen. Wie bei einem Puzzlespiel schienen die einzelnen Teilchen ineinanderzugreifen. Dennoch mußten sie verschoben, umgestellt, neu arrangiert, vielleicht sogar als unbrauchbar beiseite gelegt werden. Der Verdacht war unmöglich. Er war zu phantastisch, um wahr zu sein. Und doch... Wie aus weiter Ferne hörte er Marshas Stimme. »Peter! Irgendwas stimmt nicht mit Ihnen! Was ist passiert?« Auch Sol Natchez sah ihn seltsam an. »Marsha«, sagte Peter, »ich kann's Ihnen jetzt nicht erklären. Aber ich muß gehen.« »Wohin?« »Zurück ins Hotel. Tut mir leid. Ich erzähl's Ihnen später.« Ihre Stimme klang enttäuscht. »Ich dachte, wir würden zusammen Tee trinken.« »Bitte, glauben Sie mir! Es ist wichtig.« »Wenn Sie wirklich gehen müssen, bring' ich Sie zurück.« »Nein.« Wenn er neben Marsha im Wagen saß, würde er reden, Erklärungen abgeben müssen. »Bitte. Ich rufe Sie nachher an.« Er lief mit Riesenschritten davon; die zwei anderen blickten ihm verdutzt nach. Draußen, auf der Basin Street, winkte er ein vorbeifahrendes Taxi heran. Er hatte Marsha gesagt, daß er ins Hotel zurück wollte, aber nun überlegte er es sich anders und gab dem Fahrer die Adresse seines Appartements. Dort war es ruhiger. Um nachzudenken. Um zu entscheiden, was er tun sollte. Am späten Nachmittag faßte Peter McDermott seine Überlegungen zusammen. Er sagte sich: Wenn man etwas zwanzig-, dreißig-, vierzigmal addiert, wenn jedesmal dieselbe Summe herauskommt, wenn das Kernproblem am Schluß das gleiche ist wie zu Anfang, dann läßt sich am Resultat nichts rütteln. Die letzten anderthalb Stunden, seit seinem Abschied von Marsha, hatte er in seinem Appartement verbracht. Er hatte seine Erregung unterdrückt und sich gezwungen, methodisch nachzudenken. Er hatte sämtliche Vorfälle von Montag abend an Revue passieren lassen. Er hatte nach einer anderen Erklärung gesucht, sowohl für die Ereignisse im einzelnen als auch in ihrer Gesamtheit. Aber außer jenem entsetzlichen Verdacht, der ihm am Nachmittag plötzlich gekommen war, fand er keine sinnvolle, überzeugende Erklärung. Nun war er mit seinen Überlegungen zu Ende und mußte einen Entschluß fassen. Er erwog, alles, was er wußte und vermutete, Warren Trent vorzulegen. Dann schlug er sich die Idee aus dem Kopf, weil er sich nicht feige vor der Verantwortung drücken wollte. Was immer auch getan werden mußte, er würde es allein tun. Er tauschte seinen hellen Anzug gegen einen dunkleren aus und nahm für das kurze Stück bis zum Hotel ein Taxi. Von der Halle aus begab er sich, die Grüße der Angestellten erwidernd, in sein Büro im Zwischengeschoß. Flora war bereits nach Hause gegangen. Auf seinem Schreibtisch lag ein Stapel von Mitteilungen, den er ignorierte. Einen Moment lang saß er still da und überdachte noch einmal, was er vorhatte. Dann hob er den Telefonhörer ab und wählte die Nummer der städtischen Polizei. 13 Das beharrliche Summen eines Moskitos, der irgendwie in das Innere des Jaguars eingedrungen war, weckte Ogilvie am Nachmittag auf. Er fand nur langsam zu sich selbst und begriff zuerst nicht recht, wo er war. Dann fielen ihm die Geschehnisse nach und nach wieder ein: Der Aufbruch aus dem Hotel, die Fahrt im Dunkel des frühen Morgens, seine unbegründete Panik beim Auftauchen der Ambulanz, sein Entschluß, die Fahrt zu unterbrechen und erst am Abend wieder aufzunehmen; und endlich der holprige Feldweg und das Wäldchen, wo er den Wagen versteckt hatte. Das Versteck war offenbar gut gewählt. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß er fast acht Stunden lang ungestört geschlafen hatte. Zugleich mit dem Bewußtsein überkam ihn auch ein tiefes Unbehagen. Im Wagen war es drückend heiß, sein Körper war steif und schmerzte von dem Eingepferchtsein auf dem engen Rücksitz. Seine Kehle war ausgetrocknet, und er hatte einen schlechten Geschmack im Mund. Er hatte Durst und fürchterlichen Hunger. Grunzend und ächzend hievte Ogilvie sich hoch und öffnete die Wagentür. Sofort umschwirrten ihn ein Dutzend Moskitos. Er wedelte sie mit der Hand weg und nahm seine Umgebung bedächtig in Augenschein, wobei er das, was er jetzt sah, mit seinem Eindruck vom frühen Morgen verglich. Da war es dämmrig und kühl gewesen; nun stand die Sonne hoch, und die Hitze war sogar im Schatten der Bäume kaum zu ertragen. Vom Rand des Wäldchens aus konnte er in der Ferne die flimmernde Autostraße sehen. Früh am Morgen hatte es kaum Verkehr gegeben; nun flitzten Personen- und Lastwagen auf ihr entlang, und der Motorenlärm drang schwach herüber. In der Nähe war es, abgesehen vom gleichförmigen Summen der Insekten, still und unbelebt. Zwischen ihm und der Straße lagen nur Wiesen, der überwachsene Pfad und das Wäldchen, unter dessen Blattwerk der Jaguar verborgen war. Ogilvie verrichtete sein Bedürfnis und öffnete dann ein Paket, das er vor der Abfahrt im Kofferraum verstaut hatte. Es enthielt eine Thermosflasche mit Kaffee, mehrere Büchsen Bier, belegte Brote, eine Salami, ein Glas Mixed Pickles und Apfelkuchen. Er aß gierig und spülte das Essen mit kräftigen Schlucken Bier und danach Kaffee hinunter. Der Kaffee war stark und aufmunternd. Während des Essens hörte er Radio. In den Nachrichten aus New Orleans wurden die polizeilichen Ermittlungen im Fahrerfluchtfall nur kurz gestreift; offenbar gab es nichts Neues zu berichten. Danach beschloß er, die Gegend zu erkunden. Einige hundert Meter weiter weg, auf einem Hügel, stieß er auf eine zweite, etwas größere Gruppe von Bäumen. Er überquerte ein offenes Feld und entdeckte jenseits des Wäldchens einen schlammigen, träge fließenden Bach mit moosbedeckter Böschung. Am Wasser niederkniend, machte er flüchtig Toilette und fühlte sich danach erfrischt. Das Gras war hier saftig grün und einladender als in seinem Schlupfwinkel; er legte sich dankbar nieder, die Anzugjacke als Kopfkissen benutzend. Sobald er es sich bequem gemacht hatte, überdachte Ogilvie noch einmal die Ereignisse der vergangenen Nacht. Er bezweifelte nun nicht mehr, daß die Begegnung mit Peter McDermott vor dem Hotel ein Zufall gewesen war und ihn folglich nicht zu beunruhigen brauchte. Es war vorauszusehen, daß McDermott auf die Nachricht von der Abwesenheit des Hausdetektivs mit einem Wutanfall reagieren würde. Aber dadurch würde er weder Ziel noch Zweck von Ogilvies Reise erfahren. Natürlich war es möglich, daß aus irgendeinem anderen Grund seit gestern nacht Alarm geschlagen worden war und daß in diesem Moment nach Ogilvie und dem Jaguar gefahndet wurde. Dem Rundfunkbericht nach zu schließen, war das jedoch unwahrscheinlich. Im großen und ganzen waren die Aussichten gut, besonders, wenn er an die zehntausend Dollar dachte, die er schon bekommen hatte, und die fünfzehntausend, die er morgen in Chikago kassieren würde. Nun mußte er nur noch auf die Dunkelheit warten. 14 Keycase Milnes hochgespannte Stimmung hielt den ganzen Nachmittag hindurch an. Sie befeuerte sein Selbstvertrauen, als er sich kurz nach fünf Uhr vorsichtig der Präsidentensuite näherte. Von der achten zur neunten Etage hatte er wieder die Personaltreppe benutzt. Der Nachschlüssel befand sich in seiner Tasche. Der Korridor vor der Präsidentensuite war menschenleer. Er blieb vor der ledergepolsterten Doppeltür stehen und lauschte angespannt, hörte jedoch keinen Laut. Er warf einen schnellen Blick in beide Richtungen, holte den Schlüssel hervor und steckte ihn ins Schloß. Um ihn gleitfähiger zu machen, hatte er ihn vorher mit Graphitpuder bestäubt. Der Schlüssel drehte sich, blieb hängen, drehte sich weiter. Keycase öffnete einen Türflügel spaltbreit. Im Inneren der Suite war es totenstill. Er zog die Tür behutsam zu und steckte den Schlüssel wieder ein. Es war nicht seine Absicht, jetzt in die Suite einzudringen. Das kam erst später - in der Nacht. Er hatte nur die Gelegenheit auskundschaften und den Schlüssel ausprobieren wollen. Später, gegen Abend, würde er sich auf die Lauer legen und seine Chance abpassen. Für den Moment kehrte er in sein Zimmer in der achten Etage zurück, stellte den Wecker und legte sich schlafen. 15 Draußen wurde es dunkel, und Peter McDermott erhob sich mit einer gemurmelten Entschuldigung, um im Büro das Licht anzuknipsen. Dann kehrte er wieder an seinen Platz zurück. Ihm gegenüber saß ein wortkarger Mann in einem grauen Flanellanzug, Captain Yolles von der Kriminalpolizei, der zu Peters Überraschung gar nicht wie ein Kriminalbeamter aussah. Er hörte sich Peters Bericht höflich an, etwa wie ein Bankdirektor, dem ein Kreditgesuch vorgelegt wird, und unterbrach die langatmige Aufzählung von Fakten und Mutmaßungen nur einmal mit der Frage, ob er telefonieren dürfe. Als Peter bejahte, benutzte er einen Anschluß am anderen Ende des Büros und sprach leise, daß Peter nichts verstand. Das Fehlen jeder sichtbaren Reaktion bewirkte, daß Peters Zweifel wieder erwachten. Zum Schluß bemerkte er: »Ich bin mir nicht sicher, ob das alles überhaupt einen Sinn hat. Tatsächlich komme ich mir allmählich ein bißchen blöd vor.« »Wenn mehr Leute das riskieren würden, Mr. McDermott, wäre unsere Arbeit leichter.« Zum erstenmal griff Captain Yolles zu Bleistift und Notizbuch. »Falls an der Sache etwas dran ist, brauchen wir natürlich eine vollständige Aussage. Vorläufig hätte ich gern noch ein paar Einzelheiten. Erstens, die Zulassungsnummer des Wagens.« Die Angaben befanden sich in einer Notiz von Flora, die ihren mündlichen Bericht bestätigte. Peter las sie laut ab, und der Kriminalbeamte notierte sie sich. »Danke. Zweitens, eine Personenbeschreibung von Ogilvie. Ich kenne ihn, aber ich möchte sie gern von Ihnen hören.« Peter lächelte. »Das ist leicht.« Als er mit der Beschreibung fertig war, läutete das Telefon. Diesmal bekam er die Antworten des Captains mit, die sich jedoch zumeist auf »Ja, Sir!« und »Ich verstehe!« beschränkten. Einmal sah der Kriminalbeamte auf und warf Peter einen abschätzenden Blick zu. Er sagte ins Telefon: »Meiner Meinung nach ist er sehr verläßlich.« Sein Gesicht verzog sich zu einem leichten Lächeln. »Und auch ziemlich beunruhigt.« Er gab die Zulassungsnummer des Wagens und Ogilvies Personenbeschreibung weiter und legte auf. »Sie haben recht«, sagte Peter, »ich bin beunruhigt. Beabsichtigen Sie, sich noch heute mit dem Herzog und der Herzogin von Croydon in Verbindung zu setzen?« »Nein. Wir wollen vorher noch ein bißchen mehr Material sammeln.« Captain Yolles betrachtete Peter versonnen. »Haben Sie die Abendzeitungen schon gesehen?« »Noch nicht.« »Es geht das Gerücht um - der >States-Item< hat es veröffentlicht -, daß der Herzog von Croydon britischer Botschafter in Washington wird.« Peter stieß einen gedämpften Pfiff aus. »Wie mein Chef mir eben sagte, wurde die Ernennung inzwischen offiziell bestätigt. Es kam gerade übers Radio.« »Würde das nicht bedeuten, daß er unter diplomatischer Immunität steht?« Der Kriminalbeamte schüttelte den Kopf. »Nicht für etwas, das bereits passiert ist. Falls es passiert ist.« »Aber eine falsche Anschuldigung...« »Wäre in jedem Fall eine böse Sache, in diesem natürlich besonders. Deshalb gehen wir auch behutsam vor, Mr. McDermott.« Peter bedachte, daß es sowohl für das Hotel als auch für ihn sehr unangenehm werden könnte, falls etwas von den Ermittlungen durchsickerte und sich die Unschuld der Croydons herausstellte. »Damit Sie sich nicht zu große Sorgen machen, will ich Ihnen das eine oder andere verraten«, sagte Captain Yolles. »Unsere Leute haben sich seit meinem Anruf einiges zurechtgelegt. Sie vermuten, daß Ihr Ogilvie den Wagen aus dem Staat zu schaffen versucht, vielleicht in irgendeine Stadt im Norden. Welche Verbindung allerdings zwischen ihm und den Croydons besteht, wissen wir nicht.« »Der Punkt ist mir auch schleierhaft«, sagte Peter. »Wahrscheinlich fuhr er gestern nacht, nachdem Sie ihn gesehen hatten, los und ging tagsüber irgendwo in Deckung. Da der Wagen beschädigt ist, wird er sich hüten, bei Tag zu fahren. Falls er heute nacht aus seinem Versteck kommt, sind wir bereit. Wir sind eben dabei, zwölf Staaten zu alarmieren.« »Dann nehmen Sie die Sache also ernst?« »Freilich.« Der Kriminalbeamte wies auf das Telefon. »Einer der Gründe für den Anruf eben war, mir mitzuteilen, daß der Bericht vom staatlichen Laboratorium über Glassplitter und einen Blendring, den unsere Leute letzten Montag am Unfallort fanden, endlich vorliegt. Es handelt sich um ein ausländisches Fabrikat, deshalb dauerte es so lange. Aber jetzt wissen wir, daß Splitter und Blendring von einem Jaguar stammen.« »Kann man das wirklich so genau feststellen?« »Wir können noch mehr, Mr. McDermott. Falls wir an den Wagen rankommen, mit dem die Frau und das Kind getötet wurden, können wir sogar beweisen, daß es gerade dieser war.« Captain Yolles stand auf, und Peter geleitete ihn ins äußere Büro. Dort fand er zu seiner Verwunderung Herbie Chandler vor, bis ihm einfiel, daß er den Chefportier selber herbestellt hatte. Nach den Ereignissen des Nachmittags war er versucht, die vermutlich höchst unerfreuliche Unterredung zu verschieben, sagte sich dann jedoch, daß mit dem Aufschub nichts gewonnen war. Er sah, daß der Kriminalbeamte und Chandler Blicke wechselten. »Gute Nacht, Captain«, sagte Peter, und es bereitete ihm ein boshaftes Vergnügen, das ängstliche Zucken auf Chandlers Wieselgesicht zu beobachten. Sobald der Kriminalbeamte gegangen war, winkte Peter den Chefportier in das innere Büro. Er schloß eine Schublade seines Schreibtisches auf, nahm die Mappe mit den schriftlichen Erklärungen der vier Jugendlichen heraus und überreichte sie Chandler. »Ich glaube, das wird Sie interessieren. Für den Fall, daß Sie auf dumme Gedanken kommen, das sind Fotokopien. Die Originale habe ich sicher verwahrt.« Chandler machte eine Duldermiene und begann zu lesen. Je weiter er kam, desto fester preßte er die Lippen aufeinander, und einmal schnappte er vernehmlich nach Luft. Gleich darauf murmelte er: »Schufte!« »Sie meinen, weil die vier Sie als Zuhälter bloßgestellt haben?« Der Chefportier errötete und legte die Blätter weg. »Was werden Sie tun?« »Am liebsten würde ich Sie auf der Stelle rausschmeißen. Weil Sie aber schon so lange hier sind, werde ich Mr. Trent informieren und ihm die Entscheidung überlassen.« Chandler fragte mit winselnder Stimme: »Können wir nicht noch ein bißchen darüber reden, Mr. Mac?« Als eine Antwort ausblieb, fing er wieder an: »Mr. Mac, in so einem Haus geht eine Menge vor... « »Falls Sie mir für die Tatsachen des Lebens die Augen öffnen wollen - ich meine Callgirls und all die anderen dunklen Nebengeschäfte -, dann bezweifle ich, ob Sie mir darüber etwas Neues sagen können. Aber ich weiß noch etwas anderes, und Sie dürften's auch wissen: gewisse Dinge kann die Hotelleitung nicht dulden - beispielsweise die Vermittlung von Frauen an Minderjährige.« »Mr. Mac, könnten Sie nicht, wenigstens die s eine Mal, Mr. Trent aus dem Spiel lassen? Könnten wir die Sache nicht vielleicht unter uns abmachen?« »Nein.« Der Blick des Chefportiers huschte unruhig durch den Raum und heftete sich dann wieder abschätzend auf Peter. »Mr. Mac, falls gewisse Leute ein Auge zudrücken würden...« Er verstummte. »Ja.« »Also manchmal kann sich das auszahlen.« Neugier veranlaßte Peter zum Schweigen. Chandler zögerte und knöpfte dann bedächtig eine Tasche seiner Uniformjacke auf. Er fischte einen zusammengefalteten Umschlag heraus, den er auf den Schreibtisch legte. »Lassen Sie mich das mal sehen«, sagte Peter. Der Chefportier schob ihm den Umschlag herüber. Er war offen und enthielt fünf Einhundert-Dollar-Noten. Peter inspizierte sie neugierig. »Sind sie echt?« »Und ob die echt sind!« Chandler grinste selbstgefällig. »Ich wollte nur wissen, wie hoch Sie mich einschätzen.« Peter warf ihm das Geld wieder zu. »Stecken Sie's ein und verschwinden Sie.« »Mr. Mac, wenn Sie finden, daß es zu wenig -« »Raus!« Peter sprach leise. Er erhob sich halb aus seinem Sessel. »Verschwinden Sie, bevor ich Ihnen Ihren dreckigen Hals umdrehe.« Als Chandler das Geld an sich nahm und hinausging, war sein Gesicht eine haßerfüllte Maske. Sobald er allein war, plumpste Peter in seinen Sitz zurück. Die Unterredungen mit dem Kriminalbeamten und mit Chandler hatten ihn ermüdet und deprimiert. Die zweite hatte ihn stärker mitgenommen, vermutlich, weil die angebotene Bestechung ein Gefühl der Unsauberkeit in ihm hinterlassen hatte. Oder nicht? Er dachte: Mach dir nichts vor. Es hatte einen Moment gegeben, als er das Geld in Händen hatte, in dem er nahe daran war, es zu nehmen. Fünfhundert Dollar waren nicht zu verachten. Peter gab sich keinen Illusionen hin über seine eigenen Einkünfte im Vergleich zu denen des Chefportiers, der zweifellos jeden Monat ein kleines Vermögen zusammenscharrte. Falls es sich um einen anderen als Chandler gehandelt hätte, wäre er der Versuchung vielleicht erlegen. Oder nicht? Er wünschte, er könnte sich dessen sicher sein. Auf jeden Fall wäre er nicht der erste Hotelmanager gewesen, der sich von Untergebenen bestechen ließ. Es lag eine gewisse Ironie des Schicksals darin, daß trotz Peters nachdrücklichem Hinweis noch gar nicht feststand, ob die Beweise gegen Herbie Chandler Warren Trent jemals vorgelegt werden würden. Falls das Hotel plötzlich den Besitzer wechselte, und das konnte jeden Moment geschehen, ginge die Affäre Warren Trent nichts mehr an. Auch Peter selbst war dann vielleicht nicht mehr da. Ein neuer Personalchef würde zweifellos die Führungszeugnisse der leitenden Angestellten examinieren und bei Peter den widerlichen alten WaldorfSkandal ausgraben. Oder war mittlerweile Gras über die Affäre gewachsen? Nun, wahrscheinlich würde die Antwort darauf nicht mehr lange auf sich warten lassen. Peter wandte sich wieder den nächstliegenden Aufgaben zu. Flora hatte ihm einen Vordruck mit den letzten Gästezahlen auf den Schreibtisch gelegt. Aus der Aufstellung ging hervor, daß sich das Haus füllte und am Abend mit Sicherheit wieder voll besetzt sein würde. Falls das St. Gregory vor einer Niederlage stand, dann ging es wenigstens mit fliegenden Fahnen unter. Anschließend sah er die Post und einen Stapel von Berichten durch und entschied, daß nichts dabei war, das nicht bis morgen Zeit hatte. Unter den Memoranden lag ein großer gelber Umschlag mit einem Hefter, den er aufschlug. Es war der Hauptverpflegungsplan, den der Souschef Andre Lemieux ihm gestern überreicht hatte. Peter hatte bereits am Vormittag darin gelesen. Nach einem Blick auf die Uhr beschloß er, seine Lektüre fortzusetzen, bevor er zu seinem abendlichen Rundgang durchs Hotel aufbrach. Er machte sich über den mit der Hand geschriebenen Text und die sorgsam gezeichneten Pläne her, die vor ihm ausgebreitet lagen. Je weiter er kam, desto mehr wuchs seine Bewunderung für den jungen Souschef. Die Darstellung war meisterhaft und verriet ein umfassendes Verständnis für die Probleme des Hotels und die Möglichkeiten seines Restaurationsbetriebs. Es erboste Peter, daß der Chef de Cuisine, M. Hebrand - laut Lemieux -sämtliche Vorschläge zurückgewiesen hatte. Gewiß, einige Schlußfolgerungen waren strittig, und Peter pflichtete nicht allen Ideen von Lemieux bei. Auf den ersten Blick kamen ihm auch die Kostenvoranschläge zum Teil recht optimistisch vor. Aber all das war unwesentlich. Wichtig war, daß ein frischer und offensichtlich fähiger Kopf über die derzeitigen Mängel in der Nahrungsmittelbewirtschaftung nachgedacht und Verbesserungsvorschläge ausgearbeitet hatte. Ebenso klar war, daß sich Andre Lemieux demnächst ein anderes Wirkungsfeld suchen würde, wenn das St. Gregory von seinen Talenten keinen besseren Gebrauch machte. Peter verstaute Plan und Tabellen wieder in dem Umschlag. Es freute ihn, daß jemand im Hotel mit soviel echter Begeisterung bei der Arbeit war wie Lemieux. Er sagte sich, daß er dem jungen Souschef seine Eindrücke gern mitteilen würde, selbst wenn er im gegenwärtigen unsicheren Stadium sonst nichts konnte. Ein Telefonanruf verschaffte ihm die Information, daß der Chef de Cuisine heute abend krankheitshalber abwesend war und von M. Lemieux vertreten wurde. Vorschriftsmäßig ließ Peter ausrichten, daß er sich auf dem Weg in die Küche befände. Andre Lemieux erwartete ihn an der Tür des Hauptspeisesaals. »Nur 'erein, Monsieur! Sie sind willkommen.« Als sie die von Lärm und Dunst erfüllte Küche betraten, rief der junge Souschef Peter ins Ohr: »Sie finden uns, wie Musiker sagen, kurz vor dem Crescendo.« Im Gegensatz zum gestrigen Nachmittag, an dem es relativ ruhig gewesen war, herrschte heute abend ein Höllenspektakel. Eine volle Schicht war im Dienst, und Köche in gestärkten weißen Kitteln mit ihren Assistenten und Gehilfen schienen wie Gänseblümchen aus der Erde zu sprießen. Um sie herum hoben schwitzende Küchenhelfer, inmitten von Dampf und Siedehitze, Servierbretter, Pfannen und Kessel, während andere unbekümmert Servierwagen vor sich her schoben; sie alle und auch die hin und her eilenden Kellner, die ihre Tabletts hoch über den Köpfen balancierten, führten umeinander einen wahren Eiertanz auf. Auf dampfbeheizten Tischen wurden die Essensportionen ausgeteilt und für die Weiterbeförderung in die Speisesäle angerichtet. Bestellungen a la carte und von Gästen, die in ihrem Zimmer dinierten, wurden von rührigen Köchen fertiggemacht, die mit ihren Händen überall zugleich zu sein schienen. Kellner lungerten herum, monierten ihre Bestellungen und wurden angebrüllt. Andere Kellner trabten mit beladenen Tabletts an den zwei gestrengen Kontrolleurinnen vorbei, die vor erhöhten Registrierkassen thronten. In der Suppenabteilung stieg Dampf aus riesigen brodelnden Kesseln. Nur ein paar Meter weiter arrangierten zwei Spezialisten mit geschickten Fingern Appetithappen und heiße Hors d'reuvres. Hinter ihnen beaufsichtigte ein besorgter Pastetenbäcker die Desserts. Gelegentlich, wenn Ofentüren aufgerissen wurden, huschte ein Widerschein der Flammen über konzentrierte Gesichter. Alles beherrschend jedoch war das ohrenbetäubende Klappern von Geschirr, der einladende Geruch von Essen und der starke Duft frisch aufgebrühten Kaffees. »Wenn wir am meisten zu tun 'aben, Monsieur, fühlen wir uns am wohlsten. Oder so sollte es jedenfalls sein.« »Ich habe Ihren Bericht gelesen.« Peter gab dem Souschef den Umschlag zurück und folgte ihm dann in das verglaste Büro, in das der Lärm nur gedämpft hineindrang. »Ihre Ideen gefallen mir. Mit einigen Punkten bin ich zwar nicht ganz einverstanden, aber es sind nicht viele.« »Ein Disput wäre gut, wenn danach die Tat folgen würde.« »Damit ist vorläufig nicht zu rechnen. Wenigstens nicht so, wie Sie es im Sinn haben.« Peter wies darauf hin, daß zunächst einmal die Zukunft des Hotels entschieden werden müßte, bevor man überhaupt an Reorganisation denken könnte. »Vielleicht müssen mein Plan und ich woanders 'in gehen. N'importe pas.« Andre Lemieux zuckte mit den Schultern und fügte dann hinzu: »Monsieur, ich wollte gerade oben nach dem Rechten sehen. Möchten Sie mich nicht begleiten?« Da Peter ohnehin vorgehabt hatte, die Kongreßsäle zu besuchen, beschloß er kurzerhand, seine Inspektionstour mit ihnen zu beginnen. »Ja, danke. Ich komme mit.« Sie fuhren in einem Personalaufzug zwei Etagen höher und gelangten in eine Küche, die der Hauptküche unten in beinahe jeder Hinsicht glich. Von hier aus konnten etwa zweitausend Mahlzeiten auf einmal für die drei Kongreßsäle des St. Gregory und das Dutzend privater Speisezimmer angerichtet werden. Das Tempo war im Augenblick genauso rasant wie unten. »Wie Sie wissen, Monsieur, 'aben wir 'eute abend zwei große Banketts. Im Großen Ballsaal und in der Bienville-'alle.« Peter nickte. »Ja, der Zahnärztekongreß und Gold Crown Cola.« Den angerichteten Platten, die die lange Küche wie am laufenden Band nach entgegengesetzten Seiten verließen, entnahm er, daß die Zahnärzte als Hauptgang gebratenen Truthahn, die Cola-Verkäufer Flunder saute hatten. Gruppen von Köchen und Gehilfen machten beides zurecht, teilten in maschinenförmigem Rhythmus Gemüse aus, deckten die gefüllten Platten zu und luden sie mit der gleichen Bewegung auf die Tabletts der Kellner. Neun Platten auf einem Tablett - so viele Tagungsmitglieder saßen an einem Tisch. Zwei Tische pro Kellner. Das Menü hatte vier Gänge, hinzu kamen noch Brötchen, Butter, Kaffee und petits fours. Peter rechnete aus, daß jeder Kellner mindestens zwölf schwer beladene Tabletts schleppen mußte; höchstwahrscheinlich sogar mehr, falls die Gäste anspruchsvoll waren, oder, wie es bei starkem Andrang zuweilen geschah, falls ihnen Extra-Tische zugeteilt wurden. Kein Wunder, daß manche Kellner am Ende des Abends erschöpft aussahen. Weniger erschöpft würde vielleicht der maitre d'hötel sein, würdig und makellos wie immer in Frack und weißer Schleife. Im Augenblick stand er wie ein Verkehrspolizist mitten in der Küche und dirigierte den Strom der Kellner in beiden Richtungen. Als er Andre Lemieux und Peter erblickte, trat er auf sie zu. »Guten Abend, Chef; Mr. McDermott.« Obwohl Peter in der Hotelrangliste höher stand als die zwei anderen, wandte sich der maitre d'hötel in der Küche korrekterweise zuerst an den diensthabenden Chef. Andre Lemieux fragte: »Wie viele Gäste erwarten wir zum Dinner, Mister Dominic?« Der maitre d'hötel zog einen Zettel zu Rate. »Die Gold-Crown-Leute haben zweihundertvierzig veranschlagt, und so viele haben wir gesetzt. Es sieht ganz danach aus, als wären so ziemlich alle da.« »Es sind Verkäufer mit festem Gehalt«, sagte Peter. »Sie können es sich nicht leisten, aus der Reihe zu tanzen. Die Zahnärzte machen, was sie wollen. Bei ihnen wird's vermutlich Nachzügler geben, und viele werden gar nicht kommen.« Der maitre d'hötel nickte zustimmend. »Wie ich höre, wird in den Zimmern schwer getrunken. Der Eiskonsum war hoch, und es werden laufend Mixgetränke nachbestellt. Wir dachten, das würde die Zahl der Dinnergäste verringern.« Das große Rätselraten bei Tagungen war jedesmal, wie viele Portionen vorbereitet werden mußten. Das war ein vertrautes Problem für die drei Männer. Die Organisatoren von Kongressen gaben dem Hotel eine Mindestgarantie, aber in der Praxis pflegte sich die Zahl um ein- oder zweihundert nach oben oder unten zu verschieben. Ein Grund dafür war, daß man nie voraussagen konnte, wie viele Delegierte sich zu kleineren geselligen Grüppchen zusammenschließen und auf die offiziellen Banketts verzichten oder umgekehrt im letzten Moment en masse anrücken würden. Die letzten Minuten vor einem Tagungsbankett waren in jeder Hotelküche unweigerlich spannungsgeladen und gewissermaßen ein Moment der Wahrheit, da alle Beteiligten wußten, daß ihre Reaktion in einer Krise beweisen würde, wie gut oder schlecht ihre Organisation war. »Wie hoch waren die ursprünglichen Schätzungen?« erkundigte sich Peter. »Bei den Zahnärzten fünfhundert. Viel fehlt nicht mehr dazu, und wir haben mit dem Servieren begonnen. Aber es scheinen immer noch welche zu kommen.« »Werden die Neuankömmlinge gezählt?« »Ich habe einen Mann draußen. Da ist er.« Seinen Kollegen ausweichend, hastete ein rotbefrackter Kellner durch die Schwingtür des Großen Ballsaals. Peter fragte Andre Lemieux: »Können wir notfalls Extra-Portionen liefern?« »Sobald ich die genauen Zahlen 'abe, Monsieur, werden wir unser möglichstes tun.« Der maitre d'hötel unterhielt sich mit dem Kellner und kehrte dann zu den beiden anderen zurück. »Sieht aus, als wären es hundertsiebzig Personen mehr. Sie strömen nur so herein! Wir sind schon dabei, mehr Tische aufzustellen.« Wie stets kam die Krise nahezu unerwartet und wie ein Sturzbach, dessen man kaum Herr werden konnte. Einhundertsiebzig Extra-Mahlzeiten, die sofort benötigt wurden, mußten die Hilfsmittel jeder Hotelküche bis zum äußersten beanspruchen. Peter wandte sich zu Andre Lemieux um, entdeckte jedoch, daß der junge Franzose nicht mehr da war. Der Souschef hatte sich, wie aus der Pistole geschossen, in die Arbeit gestürzt. Er stand bereits inmitten seines Personals und erteilte Befehle. Ein Hilfskoch wurde in die Hauptküche geschickt, um dort die sieben gebratenen Truthähne zu holen, die morgen kalt aufgeschnitten werden sollten... Ein gebrüllter Befehl für die Anrichte: Benutzt die Reserven! Beeilt euch! Schneidet alles auf, was in Sichtweite ist!... Mehr Gemüse! Stehlt welches vom zweiten Bankett, wo allem Anschein nach weniger gebraucht wird als vorgesehen!... Ein zweiter Hilfskoch raste in die Hauptküche hinunter, um so viel Gemüse zu ergattern, wie er auftreiben konnte... Und eine Nachricht zu überbringen: Schickt mehr Hilfskräfte herauf! Zwei Vorschneider, noch zwei Köche... Alarmiert den Pastetenbäcker! In ein paar Minuten werden zusätzlich einhundertsiebzig Desserts benötigt... Reißt hier ein Loch auf, um dort eins zu stopfen! Manipuliert, jongliert! Füttert die Zahnärzte! Der junge Andre Lemieux, geistesgegenwärtig, zuversichtlich, gutmütig, schmeißt den Laden. Kellner wurden bereits neu eingeteilt; einige wurden unauffällig von dem kleineren Gold-Crown-Cola-Bankett abgezogen, wo jene, die zurückblieben, doppelte Arbeit leisten mußten. Die Gäste würden nichts merken; außer vielleicht, daß ihr nächster Gang von jemand anderem serviert wurde. Andere Kellner im Großen Ballsaal würden drei Tische bedienen - mit siebenundzwanzig Personen - statt der zwei, und ein paar erfahrene alte Experten mit flinken Beinen und Fingern schafften vielleicht sogar vier. Es würde kaum Proteste geben. Die meisten waren Lohnkellner, die von den Hotels je nach Bedarf angeheuert wurden. Mehrarbeit brachte ihnen mehr Geld ein. Für drei Stunden Servieren an zwei Tischen bekamen sie vier Dollar; bei jedem Extra-Tisch erhöhte sich der Betrag um die Hälfte. Trinkgelder, die verabredungsgemäß auf die Gesamtrechnung eines Kongresses gesetzt wurden, pflegten den Verdienst der Lohnkellner zu verdoppeln. Männer mit schnellen Beinen nahmen an einem Abend sechzehn Dollar mit nach Hause; und wenn sie Glück hatten, kassierten sie beim Lunch oder Frühstück genausoviel. Peter sah, daß bereits ein Servierwagen mit drei frisch gebratenen Truthähnen aus einem Personalaufzug in die Anrichte befördert wurde. Drei Köche fielen über sie her. Der Hilfskoch, der sie gebracht hatte, verschwand, um Nachschub zu holen. Fünfzehn Portionen von jedem Truthahn. Mit der Geschicklichkeit von Chirurgen wurden sie zerlegt. Auf jede Platte dasselbe Quantum weißes Fleisch, dunkles Fleisch, Sauce. Zwanzig Platten pro Tablett. Rasch weg damit zum Ausgabeschalter. Servierwagen mit frischem Gemüse dampfen wie Schiffe einem gemeinsamen Ziel zu. Die Hilfsköche, die der Souschef mit Botengängen betraut hatte, fehlten dem Servierteam. Andre Lemieux sprang selbst ein, um die Lücke zu stopfen, und das Tempo erhöhte sich, wurde noch rasanter als vorher. Platte... Fleisch... erstes Gemüse... zweites... Sauce... weiter zum nächsten... Deckel darauf! Pro Mann eine Handreichung; Arme, Finger, Schöpflöffel bewegten sich im gleichen Rhythmus. Jede Sekunde eine Portion... schneller, noch schneller! Die Schlange der Kellner vor dem Ausgabeschalter wuchs. Auf der anderen Seite der Küche riß der Mehlspeisenkoch Kühlschränke auf, inspizierte, wählte aus, schlug die Türen wieder zu. Pastetenköche aus der Hauptküche eilten ihm zu Hilfe. Griffen auf die Nachtischreserven zurück. Nachschub aus den Kühlkammern im Souterrain war bereits unterwegs. Inmitten des hektischen Betriebs kam es plötzlich zu einer kurzen Unterbrechung. Ein Pikkolo meldete einem Kellner, der Kellner dem Oberkellner, der Oberkellner Andre Lemieux. »Chef, da ist ein Herr dabei, der sagt, daß er Truthahn nicht mag. Kann er statt dessen Roastbeaf haben?« Die schwitzenden Köche lachten schallend auf. Aber die Meldung war jedenfalls auf dem korrekten Dienstweg erfolgt. Abweichungen vom Standardmenü konnte nur der ranghöchste Chef genehmigen. Andre Lemieux sagte grinsend: »Meinetwegen, aber bedienen Sie ihn zuletzt.« Auch das war ein alter Küchenbrauch. Um die Gäste zufriedenzustellen, erfüllten die meisten Hotels Sonderwünsche und ersetzten Standardgerichte durch andere, selbst wenn sie das teurer kam. Aber der Individualist mußte - wie hier - stets warten, bis seine Tischgefährten mit dem Essen begonnen hatten, um zu verhindern, daß andere von der gleichen Idee inspiriert wurden. Nun wurde die Schlange der Kellner vor dem Ausgabeschalter kürzer. Den meisten Gästen im Großen Ballsaal - Nachzügler mit eingeschlossen - war der Hauptgang serviert worden. Pikkolos tauchten bereits mit abgeräumtem Geschirr auf. Der ärgste Trubel war vorbei. Andre Lemieux verließ seinen Platz in der Anrichte und warf dem Pastetenbäcker einen fragenden Blick zu. Der letztere, ein kleines dürres Männchen, das nicht danach aussah, als ob es jemals seine eigenen süßen Erzeugnisse probierte, krümmte Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis. »Von mir aus kann's losgehen, Chef.« Andre Lemieux kam lächelnd zu Peter zurück. »Monsieur, wir 'aben, scheint's, die Schlacht gewonnen.« »Es war ein eindrucksvoller Sieg. Gratuliere.« Der junge Franzose zuckte mit den Schultern. »Was Sie gesehen 'aben, war gut. Aber es ist nur ein Teil unserer Arbeit. Woanders zeigen wir uns nicht von einer so erfreulichen Seite. Entschuldigen Sie mich, Monsieur.« Er entfernte sich. Als Nachtisch gab es bombe aux marrons, Kirschen flambees. Er pflegte feierlich serviert zu werden, bei gedämpftem Licht, auf flammenden Platten. Die Kellner reihten sich schon in der Küche auf. Der Pastetenkoch und seine Gehilfen inspizierten noch einmal die Tabletts. Die Platten waren so angeordnet, daß die mittlere zuerst aufflammen mußte. Zwei Köche mit brennenden Wachskerzen standen bereit. Andre Lemieux schritt die Front ab. Am Eingang zum Großen Ballsaal beobachtete der Oberkellner mit erhobenem Arm das Gesicht des Souschefs. Als Andre Lemieux nickte, senkte der Oberkellner den Arm. Die Köche mit den Kerzen liefen an der Reihe der Tabletts entlang und zündeten sie an. Die Schwingtüren wurden weit aufgerissen und eingehakt. Draußen blendete ein Elektriker wie auf ein Stichwort hin das Licht ab. Die Musik des Orchesters wurde leiser und verstummte unvermittelt. Das Geplauder unter den Gästen im Saal erstarb. Plötzlich strahlte am anderen Ende ein Scheinwerfer auf und richtete sich auf die Türöffnung. Nach einer kurzen Stille ertönte ein Trompetensignal. Als es zu Ende war, stimmten Orchester und Orgel zusammen fortissimo die ersten Takte von »The Saints« an. Im Gleichschritt der Musik marschierte die Prozession der Kellner mit flammenden Tabletts in den Saal. Peter McDermott betrat der besseren Sicht wegen den Großen Ballsaal. Der Raum war von den unerwartet zahlreichen Essensgästen bis zum Bersten gefüllt. »Oh, when the Saints; Oh, when the Saints; Oh, when the Saints go marching in... « Aus der Küche kam ein Kellner nach dem anderen in adretter blauer Uniform hereinmarschiert. Für diesen feierlichen Einzug hatte man sie alle bis zum letzten Mann requiriert. In ein paar Minuten würde gut ein Drittel wieder zu seiner Arbeit im anderen Bankettsaal zurückkehren. Im Halbdunkel flammte der brennende Alkohol auf wie eine Fackel... »Oh, when the Saints; Oh, when the Saints; Oh, when the Saints go marching in...« Die Gäste brachen spontan in Applaus aus und klatschten dann im Takt der Musik in die Hände, während die Kellner in einem großen Bogen durch den Raum zogen. Das Hotel war seinen Verpflichtungen planmäßig nachgekommen. Niemand außerhalb der Küche ahnte, daß Minuten früher eine Krise ausgebrochen war und nur unter Anspannung aller Kräfte überwunden wurde... »Lord, I want to be in that number, when the Saints go marching in...« Als die Kellner ihre Tische erreichten, flammten die Lampen wieder auf inmitten von erneutem Applaus und lärmenden Beifallsrufen. Andre Lemieux hatte sich zu Peter gestellt. »Das war's für 'eute abend, Monsieur. Außer, Sie möchten gern einen Kognak trinken. In der Küche 'abe ich einen kleinen Vorrat.« »Nein, vielen Dank.« Peter lächelte. »Das war eine gute Schau. Gratuliere!« Als er sich abwandte, rief ihm der Souschef nach: »Gute Nacht, Monsieur. Und vergessen Sie nicht.« Peter blieb verdutzt stehen. »Was soll ich nicht vergessen?« »Was ich Ihnen neulich sagte. Von dem erstklassigen Hotel, Monsieur, das Sie und ich aufziehen könnten.« Halb belustigt, halb nachdenklich zwängte sich Peter an den Tischen vorbei auf den Ausgang zu. Er war nur noch ein kurzes Stück von der Tür entfernt, als ihm auffiel, daß irgend etwas nicht stimmte. Stehenbleibend und sich umblickend überlegte er, was es sein könnte. Dann ging ihm plötzlich ein Licht auf. Dr. Ingram, der hitzige kleine Präsident des Zahnärztekongresses, hätte eigentlich bei diesem Bankett den Vorsitz führen müssen. Aber der Doktor war weder auf dem Ehrenplatz an der langen Tafel noch sonstwo zu sehen. Einige Delegierte gingen umher, um Freunde zu begrüßen. Ein Mann mit einem Hörapparat blieb neben Peter stehen. »Eine Pfundsveranstaltung, heh!« »Finde ich auch. Ich hoffe, Sie waren mit dem Dinner zufrieden?« »Nicht übel.« »Übrigens suchte ich gerade Dr. Ingram«, sagte Peter. »Ich sehe ihn nirgends.« »Das glaub' ich«, war die kurze Antwort. Der Mann musterte ihn argwöhnisch. »Kommen Sie von einer Zeitung?« »Nein, ich gehöre zum Hotel. Ich hab' Dr. Ingram ein paarmal gesprochen... « »Er hat sein Amt niedergelegt. Heute nachmittag. Falls Sie meine Meinung wissen wollen, er hat sich wie ein verdammter Narr benommen.« Peter unterdrückte seine Verwunderung. »Wissen Sie zufällig, ob der Doktor noch im Hotel ist?« »Keine Ahnung.« Der Mann mit dem Hörapparat ging weiter. Im Korridor befand sich ein Hausanschluß. Die Telefonistin berichtete, daß Dr. Ingram zwar noch immer als Gast geführt würde, daß sich jedoch niemand in seinem Zimmer meldete. Peter rief den Hauptkassierer an. »Hat Dr. Ingram seine Rechnung schon bezahlt?« »Ja, Mr. McDermott, vor etwa einer Minute. Ich kann ihn von hier aus sehen. Er ist noch in der Halle.« »Schicken Sie jemanden zu ihm und bitten Sie ihn, zu warten. Ich bin auf dem Weg nach unten.« Dr. Ingram hatte zwei Koffer neben sich und den Mantel über dem Arm, als Peter unten anlangte. »Was ist jetzt wieder los, McDermott? Falls das Hotel eine Empfehlung von mir haben will, muß ich Sie enttäuschen. Außerdem darf ich meine Maschine nicht verpassen.« »Ich hörte von Ihrem Rücktritt und wollte Ihnen sagen, wie leid mir das tut.« »Na, ich schätze, sie kommen auch ohne mich aus.« Aus dem Großen Ballsaal, zwei Stockwerke über ihnen, drang Applaus und Hurrageschrei bis zu ihnen hinunter. »Es hat jedenfalls ganz den Anschein.« »Macht es Ihnen sehr viel aus?« »Nein.« Der kleine Doktor trat von einem Fuß auf den anderen, senkte den Blick und knurrte dann: »Das ist nicht wahr. Es macht mir verdammt viel aus. Dumm von mir, aber es ist nun mal so.« »Vermutlich würde es jedem so gehen«, meinte Peter. Dr. Ingram hob abrupt den Kopf. »Verstehen Sie mich recht, McDermott: Ich bin kein Bankrotteur und hab's nicht nötig, mir wie einer vorzukommen. Ich war ein Lehrer mein ganzes Leben lang und habe eine Menge vorzuweisen. Gute Leute sind aus meinen Händen hervorgegangen - Jim Nicholas, um nur einen zu nennen, und viele andere, Verfahren wurden nach mir benannt, Bücher, die ich geschrieben habe, gelten als Standardwerke. All das ist etwas Solides, was zählt. Das andere« - er wies mit dem Kopf in Richtung des Großen Ballsaals - »das ist bloß Verzierung.« »Ich wußte nicht... « »Aber so ein paar Schnörkel tun ja niemandem weh. Schließlich gefallen sie einem sogar. Ich wollte Präsident werden. Ich war froh, als man mich dazu ernannte. Es ist eine Ehrung von Leuten, deren Meinung man schätzt. Wenn ich ehrlich sein soll, McDermott - und ich weiß wahrhaftig nicht, warum ich Ihnen das erzähle -, drückt es mir das Herz ab, weil ich heute abend nicht dort oben mittun kann.« Er hielt inne und blickte hoch, als wiederum Lärm aus dem Ballsaal zu vernehmen war. »Ab und zu jedoch muß man das, was man sich wünscht, gegen das, woran man glaubt, abwägen. Einige von meinen Freunden finden, ich hätte mich wie ein Idiot benommen.« »Es ist nicht idiotisch, für ein Prinzip einzutreten.« Dr. Ingram faßte Peter fest ins Auge. »Sie haben es nicht getan, McDermott, als Sie die Chance hatten. Sie dachten in erster Linie an das Hotel, an Ihren Job.« »Das stimmt leider.« »Na, Sie sind wenigstens so anständig, es zuzugeben. Ich will Ihnen was sagen, junger Mann. Sie sind nicht der einzige. Es gab Zeiten, wo auch ich die Probe nicht bestanden habe. Aber manchmal bekommt man noch eine zweite Chance. Sollte es Ihnen so ergehen, dann ergreifen Sie sie.« Peter winkte einen Boy heran. »Ich begleite Sie zur Tür.« »Nicht nötig.« Dr. Ingram schüttelte den Kopf. »Wozu das Getue? Ich mag weder das Hotel noch Sie, McDermott.« Der Boy sah ihn fragend an. Dr. Ingram sagte: »Gehen wir.« 16 Am späten Nachmittag machte Ogilvie, unweit des Wäldchens, in dem der Jaguar verborgen war, noch ein Schläfchen. Er erwachte, als es dämmerte und die Sonne, ein orangeroter Ball, allmählich im Westen hinter einer Hügelkette versank. Die Hitze des Tages war einer angenehmen abendlichen Kühle gewichen. Ogilvie beeilte sich, denn er mußte bald aufbrechen. Zuerst schaltete er das Autoradio ein. In der Fahrerfluchtaffäre gab es anscheinend nichts Neues. Befriedigt schaltete er das Radio aus. Er kehrte zu dem Bach zurück und steckte den Kopf ins Wasser, um sich zu erfrischen und die letzten Spuren von Schlaftrunkenheit zu vertreiben. Dann nahm er einen Imbiß zu sich, füllte die Thermosflasche mit Wasser und legte sie zusammen mit etwas Käse und Brot auf den Rücksitz des Wagens. Der Proviant mußte die Nacht über reichen. Er beabsichtigte, bis zum nächsten Morgen durchzufahren und jeden unnötigen Aufenthalt zu vermeiden. Seine Route, die er schon in New Orleans festgelegt und sich eingeprägt hatte, verlief in nordwestlicher Richtung durch Mississippi, bog in Alabama nach Westen ab und führte dann durch Tennessee und Kentucky genau nach Norden. Von Louisville aus würde er Indianapolis anpeilen und Indiana in westlicher Richtung durchqueren. Danach würde er unweit von Hammond nach Illinois überwechseln, Richtung Chikago. Die gesamte Strecke betrug noch immer siebenhundert Meilen, eine Entfernung, die in einer Nacht nicht zu schaffen war. Aber Ogilvie rechnete sich aus, daß er bei Tagesanbruch in der Nähe von Indianapolis sein würde, wo er aller Wahrscheinlichkeit nach nichts mehr zu befürchten hatte. Von da aus hatte er dann nur noch zweihundert Meilen bis Chikago. Es war völlig dunkel, als er mit dem Jaguar zurückstieß, den Schutz der Bäume verließ, wendete und vorsichtig auf dem Feldweg entlangholperte. Er grunzte befriedigt, als er endlich in die US 45 einschwenkte. In Columbus, Mississippi, wohin man im amerikanischen Bürgerkrieg die bei der Schlacht von Shiloh Gefallenen zur Bestattung gebracht hatte, stoppte Ogilvie, um zu tanken. Wohlweislich suchte er sich dazu einen kleinen Kramladen am Rand der Stadt aus, vor dem zwei altmodische, von einer einzigen trüben Lampe erhellte Zapfsäulen standen. Er fuhr mit dem Jaguar so weit wie möglich nach vorn, so daß sich der Kühler nicht mehr im Bereich der Lampe befand. Einer Unterhaltung ging er aus dem Wege indem er das »Schöne Nacht, nicht?« und »Fahren Sie weit?« des Ladenbesitzers kurzerhand ignorierte. Er bezahlte das Benzin und ein halbes Dutzend Riegel Schokolade bar und fuhr weiter. Neun Meilen weiter nördlich überquerte er die Grenze von Alabama. Er kam an mehreren kleinen Städten vorbei. Vernon, Sulligent, Hamilton, Russellville, Florence - letztere war, wie ein Schild anzeigte, bemerkenswert durch die Erzeugung von Toilettensitzen. Nach ein paar Meilen gelangte er nach Tennessee. Auf der Straße war wenig Verkehr, und der Jaguar lief ausgezeichnet. Die Fahrbedingungen waren ideal; es war eine wolkenlose Nacht und Vollmond. Von Polizei war nirgends etwas zu sehen. Ogilvie fühlte sich äußerst wohl. Fünfzig Meilen südlich von Nashville, bei Columbia, Tennessee, bog er auf die US 31 ein. Hier herrschte starker Verkehr. Schwere Laster, deren Scheinwerfer wie eine endlöse schimmernde Kette die Dunkelheit durchbohrten, donnerten nach Süden auf Birmingham zu und nach Norden in die Industriegebiete des Mittleren Westens. Personenwagen schlängelten sich durch den Strom hindurch, wobei einige Fahrer waghalsige Manöver vollführten, die ein Lastwagenfahrer nie riskiert hätte. Auch Ogilvie überholte gelegentlich ein langsames Fahrzeug, aber er hütete sich, die vorgeschriebene Geschwindigkeitsgrenze zu überschreiten. Er hatte kein Verlangen, durch zu schnelles Fahren oder andere dumme Mätzchen die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Nach einer Weile fiel ihm ein Wagen auf, der etwa im gleichen Tempo hinter ihm her fuhr. Ogilvie verstellte den Rückspiegel, um die Blendwirkung zu reduzieren, und ging mit der Geschwindigkeit herunter, um den anderen vorbeizulassen. Als der andere nicht reagierte, gab Ogilvie unbekümmert wieder Gas. Einige Meilen weiter vorn beobachtete er, daß der Verkehrsstrom ins Stocken geriet. Rücklichter blinkten warnend auf. Den Kopf durchs Fenster steckend, konnte er in der Ferne eine Gruppe von Scheinwerfern erkennen, vor der die zwei Fahrbahnen in eine zusammenliefen. Es sah ganz nach einem Unfall aus. Dann, als er die nächste Biegung hinter sich hatte, wurde ihm der wirkliche Grund für die Verkehrsstauung plötzlich klar. Auf beiden Seiten der Straße waren Wagen der Verkehrspolizei von Tennessee stationiert; die roten Lichter auf dem Wagendach pulsierten rhythmisch. Die eine Fahrbahn war gesperrt, auf der anderen bewegte sich eine nicht abreißende Wagenschlange vorwärts. Im gleichen Moment schaltete sich auf dem Wagen, der ihm gefolgt war, auch das rote Blinklicht ein; eine Polizeisirene gellte. Als der Jaguar langsamer wurde und stoppte, liefen Beamte mit gezücktem Revolver auf ihn zu. Schlotternd hob Ogilvie beide Hände über den Kopf. Ein stämmiger Sergeant öffnete die Wagentür. »Lassen Sie Ihre Hände, wo sie sind, und steigen Sie langsam aus«, befahl er. »Sie sind verhaftet.« 17 Christine Francis sagte versonnen: »Da!... jetzt tun Sie's wieder. Beide Male, als der Kaffee eingegossen wurde, haben Sie die Hände um die Tasse gelegt. Als ob Sie sie wärmen wollten.« Über den Dinnertisch hinweg nickte ihr Albert Wells lächelnd zu und erinnerte sie mehr denn je an einen munteren kleinen Sperling. »Sie sehen mehr als die meisten anderen Leute.« Er wirkte heute abend wieder sehr zerbrechlich und beinahe so blaß wie vor drei Tagen. Auch hatte sich im Laufe des Abends mehrmals ein lästiges Husten bemerkbar gemacht, aber das hatte seine Fröhlichkeit nicht beeinträchtigt. Er braucht jemanden, der sich um ihn kümmert, dachte Christine. Sie saßen im Hauptrestaurant des St. Gregory. Seit ihrer Ankunft vor über einer Stunde hatten sich die meisten anderen Gäste entfernt bis auf einige wenige, die noch bei Kaffee und Schnäpsen verweilten. Obwohl das Hotel voll besetzt war, hatte sich der Hauptspeisesaal nur eines mäßigen Zustroms erfreut. Max, der Oberkellner, trat diskret an ihren Tisch. »Haben die Herrschaften noch Wünsche?« Albert Wells sah Christine fragend an. Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Wenn Sie wollen, können Sie die Rechnung bringen.« »Sehr wohl, Sir.« Max nickte Christine zu und bedeutete ihr mit einem Blick, daß er ihre Abmachung von heute morgen nicht vergessen hatte. Als der Oberkellner verschwunden war, sagte der kleine Mann: »Um auf den Kaffee zurückzukommen..., beim Goldschürfen im Norden verschwendet man nichts, wenn man am Leben bleiben will, nicht mal die Wärme von einer Tasse Kaffee, die man in Händen hält. Mit der Zeit wird einem das zur Gewohnheit. Ich könnte sie ablegen, schätz' ich, aber ich finde, es ist klüger, manche Dinge nicht zu vergessen.« »Weil es gute Zeiten waren, oder weil das Leben jetzt besser ist?« Er überlegte. »Ein bißchen von beidem, glaube ich.« »Sie haben mir erzählt, daß Sie Bergmann waren«, sagte Christine. »Ich hatte keine Ahnung, daß Sie auch als Prospektor arbeiteten.« »Wenn man das eine ist, ist man meistens auch das andere. Vor allem auf dem Kanadischen Schild - der liegt im Nordwesten des Landes, Christine, um die Hudson Bay herum. Wenn man da allein ist inmitten der Tundra - die arktische Wüste nennen sie sie -, da macht man alles, vom Claimabstecken angefangen bis zum Aufbrennen des Frostbodens. Es ist niemand da, der einem hilft, die meiste Zeit wenigstens, und so ist man auf sich selbst angewiesen.« »Nach was haben Sie geschürft?« »Uran, Kobalt. Vor allem Gold.« »Haben Sie welches gefunden? Gold, meine ich?« Er nickte. »Viele haben welches gefunden. Im Gebiet von Yellowknife, am Großen Sklavensee. Die Funde begannen in den neunziger Jahren und setzten sich fort bis zum Goldrausch im Jahre neunzehnhundertfünfundvierzig. Aber der größte Teil des Landes war zu unwirtlich zum Abbau.« Christine sagte: »Es muß ein hartes Leben gewesen sein.« Der kleine Mann hustete, trank einen Schluck Wasser und lächelte abbittend. »Damals war ich ziher. Aber wenn man dem Schild auch nur eine halbe Chance gibt, bringt er einen um.« Er sah sich in dem behaglichen, von Kristallüstern erhellten Speisesaal um. »Es kommt einem sehr weit weg von hier vor.« »Sie sagten, daß es meistens zu schwierig war, dort Gold zu schürfen. Aber manchmal klappte es doch?« »O ja. Es gab welche, die hatten mehr Glück als andere, obwohl auch bei ihnen was schiefgehen konnte. Es lag wohl daran, daß der Schild und das Ödland sie irgendwie durcheinanderbrachte. Manche, die man für stark hielt - und nicht nur körperlich -, entpuppten sich als Schwächlinge. Und bei manchen, denen man sein Leben anvertraut hätte, entdeckte man, daß man sich nicht auf sie verlassen konnte. Und umgekehrt. Ich erinnere mich, einmal...« Er verstummte, als der Oberkellner auf einem silbernen Tablett die Rechnung brachte. »Weiter!« drängte sie. »Das ist eine lange Geschichte, Christine.« Er drehte die Rechnung um und prüfte sie. »Aber ich würde sie gern hören«, versicherte Christine, und es war ihr Ernst damit. Er blickte auf, und in seinen Augen lag ein Schimmer der Belustigung. Er sah quer durch den Raum zu dem Oberkellner hinüber, dann auf Christine, zog unvermittelt einen Bleistift hervor und unterschrieb die Rechnung. »Es war im Jahr sechsunddreißig«, begann er, »um die Zeit, als einer der letzten Booms bei Yellowknife anfing. Ich schürfte in der Nähe vom Großen Sklavensee. Hatte damals einen Partner namens Hymie Eckstein. Hymie stammte aus Ohio. Er hatte als Textilvertreter, Verkäufer von Gebrauchtwage n und in einem Haufen anderer Berufe gearbeitet. Er war ein Draufgänger und redete wie ein Buch. Aber er brachte es irgendwie fertig, daß die Leute ihn gern hatten. Ich schätze, man könnte es Charme nennen. Als er nach Yellowknife kam, hatte er etwas Geld. Ich war pleite. Hymie bezahlte Ausrüstung und Verpflegung für uns beide.« Albert Wells trank versonnen einen Schluck Wasser. »Hymie hatte noch nie einen Schneeschuh gesehen, noch nie von Frostboden gehört, konnte Schiefer nicht von Quarz unterscheiden. Aber wir kamen von Anfang an gut miteinander aus. Und wir hatten Glück. Wir waren einen Monat oder zwei draußen. Auf dem Schild verliert man jeden Zeitbegriff. Dann setzten wir zwei uns eines Tages unweit der Mündung des Yellowknife Rivers hin, um uns Zigaretten zu drehen. Beim Sitzen kratzte ich, wie Prospektoren das so an sich haben, auf ein paar Felsbrocken herum und steckte ein oder zwei davon in die Tasche. Später, am Ufer des Sees, wusch ich das Gestein, und man hätte mich glatt ins Wasser schubsen können, als sich herausstellte, daß es gutes grobkörniges Gold enthielt.« »Wenn so etwas wirklich passiert, muß es einem wie die aufregendste Sache von der Welt vorkommen«, sagte Christine. »Vielleicht gibt's Sachen, die einen noch mehr aufregen. Falls es so ist, sind sie mir wenigstens noch nie untergekommen. Na, wir rasten zu der Stelle zurück, wo die Gesteinsbrocken her waren, und bedeckten sie mit Moos. Zwei Tage später fanden wir heraus, daß bereits jemand anders einen Claim darauf hatte. Ich schätze, das war so ziemlich der schlimmste Schlag, der uns beide je getroffen hatte. Ein Prospektor aus Toronto hatte die Stelle abgesteckt. Er war im Jahr vorher draußen gewesen und nach dem Osten zurückgegangen, ohne zu wissen, was er da hatte. Nach dem Gesetz in den Territorien erlischt der Anspruch nach einem Jahr, wenn der Claim nicht bearbeitet wird.« »Und wie lange war es noch bis dahin?« »Im Juni hatten wir unseren Fund gemacht. Wenn die Dinge blieben, wie sie waren, wurde das Land am 30. September frei.« »Konnten Sie nicht einfach den Mund halten und warten?« »Das hatten wir auch vor. Es war bloß nicht so einfach. Erstens lag unser Fund genau in einer Linie mit einer Mine, wo gefördert wurde, und es waren außer uns noch mehr Prospektoren in der Gegend. Zweitens hatten Hymie und ich kein Geld und keine Vorräte mehr.« Albert Wells winkte einem Kellner. »Ich schätze, ich trinke doch noch einen Kaffee. Und Sie?« Christine schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Erzählen Sie weiter. Ich möchte den Rest auch noch hören.« Wie seltsam, dachte sie, daß die Art Abenteuer, von der manche Leute träumen, ausgerechnet diesem doch offenbar ganz alltäglichen kleinen Mann aus Montreal widerfahren war. »Also, Christine, ich schätze, die nächsten drei Monate waren die längsten, die zwei Männer jemals durchgestanden haben. Und vielleicht auch die schwersten. Wir fristeten unser Leben von Fisch und Moos und dergleichen. Am Ende war ich dünn wie ein Streichholz, und meine Beine waren schwarz von Skorbut. Hatte außerdem Bronchitis und Venenentzündung. Hymie war nicht viel besser dran, aber er beklagte sich nie, und ich mochte ihn immer lieber. Der Kaffee wurde serviert, und Christine wartete. »Schließlich kam dann der 30. September. Wir hatten in Yellowknife gehört, daß auch andere hinter dem Claim her waren, und deshalb wollten wir nichts riskieren. Wir hatten unsere Pfähle griffbereit, und gleich nach Mitternacht rammten wir sie ein. Ich weiß noch, es war eine kohlrabenschwarze Nacht, und es schneite und stürmte.« Seine Hände umschlossen die Kaffeetasse wie schon zweimal zuvor. »Das ist so ziemlich alles, woran ich mich noch erinnere, denn danach klappte ich zusammen. Und als ich wieder zu mir kam, lag ich in einem Krankenhaus in Edmonton, einige tausend Meilen von unserem Claim entfernt. Später hörte ich, daß Hymie mich vom Schild heruntergeschleppt hatte, aber ich hab' nie begriffen, wie er das zuwege gebracht hat. Und ein Buschpilot flog mich nach dem Süden. Viele Male, auch noch im Krankenhaus, gaben sie mich auf, aber ich starb nicht. Obwohl ich mir, als ich wieder klar denken konnte, manchmal wünschte, ich wäre gestorben.« Er hielt inne und trank einen Schluck Kaffee. »War denn der Claim nicht legal?« fragte Christine. »Der Claim war in Ordnung. Das Problem war Hymie.« Albert Wells strich sich nachdenklich über seine schnabelförmige Nase. »Vielleicht sollte ich was nachtragen. Während wir auf dem Schild die drei Monate abwarteten, stellten wir zwei Kaufverträge aus. Jeder von uns übertrug - auf dem Papier - seinen Anteil dem anderen.« »Warum?« »Es war Hymies Idee, für den Fall, daß einer von uns zwei nicht durchkam. Der Überlebende sollte dann das Papier behalten, aus dem hervorging, daß der ganze Claim ihm gehörte, und das andere zerreißen. Hymie sagte, damit würde er sich einen Haufen gesetzlicher Scherereien ersparen. Damals leuchtete mir das ein. Wir verabredeten, wenn wir beide durchhielten, würden wir beide Verträge vernichten.« »Und während Sie im Krankenhaus lagen...«, sagte Christine. »Hatte Hymie beide Verträge an sich genommen und seinen protokollieren lassen. Als ich endlich wieder einigermaßen bei Kräften war, hatte Hymie sich den vollen Besitzanspruch gesichert und schürfte bereits in großem Maßstab mit Maschinen und Hilfskräften. Ich fand heraus, daß ihm eine große Verhüttungsgesellschaft eine viertel Million für die Mine geboten hatte und daß noch mehr Interessenten da waren.« »Und Sie konnten nichts dagegen tun?« Der kleine Mann schüttelte den Kopf. »Ich dachte, ich wäre ausgebootet, bevor es noch richtig angefangen hatte. Trotzdem borgte ich mir, sobald ich aus dem Krankenhaus draußen war, genug Geld zusammen, um in den Norden zurückzugehen.« Albert Wells verstummte und winkte einen Gruß quer durch den Raum. Christine sah auf und erblickte Peter McDermott, der auf ihren Tisch zukam. Sie hatte sich schon gefragt, ob Peter an ihren Vorschlag, sich nach dem Dinner zu ihnen zu setzen, denken würde. Sein Anblick befeuerte alle ihre Sinne. Dann spürte sie, daß er niedergedrückt war. Der kleine Mann begrüßte Peter herzlich, und ein Kellner brachte schleunigst noch einen Stuhl. Peter sank dankbar hinein. »Ich fürchte, ich bin ein bißchen spät dran. Es ist einiges passiert.« Das war eine monumentale Untertreibung, dachte er im stillen. In der Hoffnung, daß sich später die Gelegenheit ergeben würde, allein mit Peter zu sprechen, sagte Christine: »Mr. Wells erzählt gerade eine ungeheuer spannende Geschichte. Ich muß unbedingt das Ende hören.« »Erzählen Sie weiter, Mr. Wells.« Peter nippte an dem Kaffee, den der Kellner vor ihn hingestellt hatte. »Ich komme mir vor wie jemand, der mitten in einen Film hineinplatzt. Den Anfang hole ich später nach.« Der kleine Mann betrachtete lächelnd seine knorrigen, verarbeiteten Hände. »Es ist gar nicht mehr so viel, nur hat das Ende so 'ne Art Dreh. Ich kam nach dem Norden und fand Hymie in Yellowknife in einem Hotel. Es war bloß eine Bruchbude, aber sie lief unter der Bezeichnung. Ich warf ihm alle Schimpfnamen an den Kopf, die mir einfielen. Und die ganze Zeit grinste er mich an, und das machte mich immer wütender, bis ich ihn auf der Stelle hätte umbringen können. Aber natürlich hätte ich's nicht getan. Das wußte er genausogut wie ich.« Christine sagte: »Er muß ein abscheulicher Mensch gewesen sein.« »Das dachte ich damals auch. Aber als ich ein bißchen ruhiger geworden war, sagte Hymie, ich sollte mitkommen. Wir gingen zu einem Anwalt, und da lagen die Papiere fertig ausgestellt auf meinen Namen, über den Anteil, der mir zustand. Hymie hatte nicht mal 'etwas für die Arbeit berechnet, die er während meiner Abwesenheit geleistet hatte.« »Ich verstehe nicht.« Christine schüttelte verwirrt den Kopf. »Warum hat er...?« »Hymie erklärte es mir. Er hatte von Anfang an gewußt, daß es einen Haufen juristischen Schreibkram geben würde, vor allem, wenn wir nicht verkauften, sondern den Claim selber ausbeuteten, und er wußte, daß ich nicht verkaufen wollte. Da waren die Bankanleihen für die Maschinen, die Lohnzahlungen und alles übrige. Solange ich im Krankenhaus lag und die meiste Zeit nicht wußte, wo oben und unten war, hätte er nichts tun können, weil ich Mitbesitzer war. Folglich benutzte Hymie meinen Verkaufsvertrag und machte sich an die Arbeit. Er hatte immer vorgehabt, mir meinen Anteil wiederzugeben. Der Haken dabei war bloß, daß er kein großer Briefschreiber war und mir nie auch nur ein Wort darüber zukommen ließ. Aber er hatte gleich zu Anfang alle Dinge rechtsgültig festgelegt. Wenn er gestorben wäre, hätte ich außer meinem Anteil auch seinen bekommen.« Peter McDermott und Christine starrten ihn über den Tisch hinweg an. »Später tat ich dasselbe mit meiner Hälfte«, sagte Albert Wells, »machte ein Testament und setzte ihn als Erben ein. Und so blieb's bis zu dem Tag, an dem Hymie starb; das war vor fünf Jahren. Ich schätze, ich lernte was dabei: Wenn man an jemanden glaubt, soll man nicht auf einen bloßen Verdacht hin seine Meinung ändern.« »Und was wurde aus der Mine?« fragte Peter McDermott. »Also, wir wiesen alle Kaufangebote zurück, und es stellte sich heraus, daß wir recht daran getan hatten. Hymie verwaltete sie viele Jahre lang. Sie ist noch immer in Betrieb und eine der ergiebigsten im Norden. Dann und wann fliege ich rüber und seh' sie mir an, um der alten Zeiten willen.« Sprachlos, mit offenem Mund, starrte Christine den alten Mann an. »Sie..., Sie... besitzen eine Goldmine?« Albert Wells nickte fröhlich. »Ganz recht. Und eine Reihe andere Dinge.« »Entschuldigen Sie meine Neugier«, sagte Peter McDermott, »aber was für andere Dinge?« »Das weiß ich selbst nicht genau.« Der kleine Mann rutschte schüchtern auf seinem Stuhl herum. »Zwei Zeitungen, ein paar Schiffe, eine Versicherungsgesellschaft, Häuser und alles mögliche andere. Letztes Jahr hab' ich eine Reihe von Lebensmittelgeschäften gekauft. Ich mag neue Dinge. Sie halten mich in Trab.« »Ja«, sagte Peter, »das kann ich mir vorstellen.« Der kleine Mann lächelte mutwillig. »Tatsächlich ist da noch eine Sache, von der ich Ihnen eigentlich erst morgen erzählen wollte, aber ich kann's ebensogut gleich tun. Ich habe gerade das Hotel hier gekauft.« 18 »Da sind die Herren, Mr. McDermott.« Max, der Oberkellner, wies quer durch die Halle auf zwei Männer - einer war Captain Yolles von der Kriminalpolizei -, die geduldig neben dem Zeitungsstand warteten. Ein oder zwei Minuten vorher hatte er Peter McDermott von dem Tisch im Speisesaal weggeholt, wo Christine und er in betäubtem Schweigen dasaßen und Mr. Wells' Eröffnung zu verdauen versuchten. Peter wußte, daß sie beide zu erstaunt waren, um die Neuigkeit richtig zu begreifen oder die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu übersehen. Es war eine Erleichterung für ihn, als er hörte, daß jemand ihn dringend zu sprechen wünschte. Mit einer hastigen Entschuldigung und der Zusage, sich später, wenn möglich, wieder einzufinden, war er hinausgeeilt. Captain Yolles ging ihm entgegen. Er stellte seinen Gefährten als Detektiv-Sergeant Bennett vor. »Mr. McDermott, gibt es hier irgendeinen Raum, wo wir reden können?« »Hier entlang.« Peter führte die zwei Männer am Portierschalter vorbei ins Büro des Kreditmanagers, das nachts nicht benutzt wurde. Während sie hineingingen, überreichte Captain Yolles Peter eine zusammengefaltete Zeitung. Es war eine frühe Ausgabe der morgigen »Times-Picayune«. Die über drei Spalten laufende Schlagzeile lautete: Croydons Ernennung zum britischen Botschafter bestätigt. Die Neuigkeit erreichte ihn in New Orleans. Captain Yolles machte die Bürotür zu. »Mr. McDermott, Ogilvie ist verhaftet worden. Er wurde vor etwa einer Stunde in der Nähe von Nashville in dem Wagen angehalten. Die Polizei von Tennessee hält ihn fest, und wir haben jemanden hingeschickt, um ihn abzuholen. Der Jaguar wird unauffällig auf einem Lastwagen herübergebracht. Aber auf Grund einer Untersuchung an Ort und Stelle besteht kaum noch ein Zweifel, daß es sich um den Unfallwagen handelt.« Peter nickte. Er merkte, daß die zwei Beamten ihn neugierig musterten. »Sie müssen entschuldigen, wenn ich ein bißchen schwer von Begriff bin«, sagte er. »Aber ich habe gerade eben einen ziemlichen Schock erlebt.« »Wegen dieser Angelegenheit?« »Nein, wegen des Hotels.« Es gab eine kurze Pause, dann sagte Yolles: »Vielleicht interessiert es Sie, daß Ogilvie eine Aussage gemacht hat. Er behauptet, er hätte keine Ahnung gehabt, daß der Wagen in einen Unfall verwickelt war. Der Herzog und die Herzogin von Croydon hätten ihm zweihundert Dollar dafür gezahlt, daß er ihn nach dem Norden fährt. Er hatte den Geldbetrag bei sich.« »Nehmen Sie ihm das ab?« »Vielleicht stimmt es, vielleicht aber auch nicht. Wir werden mehr wissen, sobald wir ihn verhört haben.« Morgen würden sich viele Dinge klären, dachte Peter. Der heutige Abend hatte etwas Unwirkliches. Er fragte: »Was geschieht als nächstes?« »Wir möchten dem Herzog und der Herzogin von Croydon einen Besuch abstatten. Wir hätten Sie gern dabei, falls Sie nichts dagegen haben.« »Nun ja..., wenn Sie es für notwendig halten.« »Danke.« »Da ist noch ein Punkt«, sagte der andere Kriminalbeamte. »Die Herzogin soll eine Art Vollmacht ausgestellt haben, daß ihr Wagen aus der Hotelgarage geholt werden darf.« »Ganz recht.« »Das könnte wichtig sein. Glauben Sie, daß das Schreiben noch vorhanden ist?« »Möglich wäre es.« Peter überlegte. »Wenn Sie wollen, rufe ich die Garage an.« »Wir gehen hin«, sagte Captain Yolles. Kulgmer, der Nachtkontrolleur, war reumütig und bekümmert. »Stellen Sie sich vor, Sir, ich hab' mir gleich gesagt, daß ich den Wisch vielleicht brauchen würde, gewissermaßen als Rückendeckung, falls irgendwelche Fragen kämen. Ob Sie's glauben oder nicht, Sir, eben erst hab' ich's gesucht, bis mir einfiel, daß ich's gestern mit meinem Butterbrotpapier weggeworfen haben muß. Aber das ist nicht meine Schuld, Sir, wirklich.« Er zeigte auf den Glaskasten, den er gerade verlassen hatte. »Da drin ist viel zuwenig Platz. Kein Wunder, wenn einem alles durcheinandergerät. Erst neulich hab' ich gesagt, wenn das Ding bloß geräumiger wäre. Also, nehmen Sie beispielsweise die Buchführung... « Peter McDermott unterbrach ihn. »Was stand in dem Schreiben der Herzogin von Croydon?« »Bloß, daß Mr. Ogilvie den Wagen nehmen darf. Ich hab' mich eigentlich gewundert...« »Hat sie Hotelbriefpapier benutzt?« »Ja, Sir.« »Wissen Sie noch, ob das Papier verziert war und den Aufdruck >Präsidentensuite< hatte?« »Ja, Mr. McDermott, daran erinnere ich mich noch genau. Es sah so aus, wie Sie sagen, und hatte ein ziemlich kleines Format.« Peter sagte zu den zwei Kriminalbeamten: »Wir haben spezielles Briefpapier für die Präsidentensuite.« »Sie haben also die Mitteilung zusammen mit Ihrem Butterbrotpapier weggeworfen?« fragte Sergeant Bennett. »Kann's mir nicht anders erklären. Ich passe sonst nämlich immer gut auf. Wissen Sie, im letzten Jahr ist mir...« »Wie spät könnte es gewesen sein?« »Letztes Jahr?« »Gestern nacht«, erwiderte der Kriminalbeamte geduldig, »als Sie das Butterbrotpapier wegwarfen. Wie spät war es da etwa?« »Na, ich schätze, gegen zwei Uhr morgens. Um diese Zeit ist es hier ziemlich ruhig und... « »Wo haben Sie's hingeworfen?« »Wo ich's immer hintue - da drüben.« Kulgmer ging voran zu einer Nische, in der eine Mülltonne stand. Er nahm den Deckel ab. »Besteht die Möglichkeit, daß die Abfälle von gestern nacht noch drin sind?« »Nein, Sir. Das Ding wird jeden Tag geleert. Das Hotel ist darin sehr genau. Stimmt's, Mr. McDermott?« Peter nickte. »Außerdem erinnere ich mich, daß die Tonne gestern nacht beinahe voll war«, sagte Kulgmer. »Sie können selbst sehen, jetzt ist fast nichts drin.« »Schauen wir trotzdem mal nach.« Captain Yolles warf Peter einen fragenden Blick zu, drehte die Tonne um und schüttete den Inhalt aus. Obwohl sie gründlich suchten, fanden sie weder Kulgmers Butterbrotpapier noch die Mitteilung der Herzogin von Croydon. Kulgmer verließ sie, um sich um ein- und ausfahrende Wagen zu kümmern. Yolles wischte sich die Hände an einem Papierhandtuch ab. »Was geschieht eigentlich mit den Abfällen?« »Sie werden zu unserem Verbrennungsofen geschafft«, erklärte Peter. »Wenn sie dort anlangen, sind sie mit den Abfällen aus dem ganzen Hotel vermischt. Zu dem Zeitpunkt ist die Herkunft nicht mehr festzustellen. Außerdem sind die Abfälle von gestern nacht vermutlich schon verbrannt.« »Möglicherweise ist es nicht wichtig«, sagte Yolles, »aber trotzdem hätte ich das Schreiben der Herzogin sehr gern gehabt.« Der Fahrstuhl hielt in der neunten Etage. Als sie ausstiegen, bemerkte Peter: »Mir ist nicht sehr wohl in meiner Haut.« »Wir stellen nur ein paar Fragen, das ist alles«, sagte Yolles beruhigend. »Ich möchte, daß Sie gut zuhören. Vor allem bei den Antworten. Vielleicht brauchen wir Sie später als Zeugen.« Zu Peters Überraschung stand die Tür der Präsidentensuite offen. Als sie näher kamen, hörten sie Stimmengemurmel. »Klingt nach einer Party«, sagte Bennett. Sie blieben vor der offenen Tür stehen, und Peter drückte auf den Klingelknopf. Durch eine zweite, halb geöffnete Tür konnte er in den geräumigen Salon blicken. Eine Gruppe von Männern und Frauen standen darin, unter ihnen auch der Herzog und die Herzogin von Croydon. Die meisten Besucher hielten Gläser in der einen und Notizbücher oder Papier in der anderen Hand. Der Sekretär der Croydons tauchte in der Diele auf. »Guten Abend«, sagte Peter. »Diese beiden Herren hier würden gern den Herzog und die Herzogin sprechen.« »Sind sie von der Presse?« Captain Yolles schüttelte den Kopf. »Dann fürchte ich, ist es nicht möglich. Der Herzog hält eine Pressekonferenz ab. Seine Ernennung zum britischen Botschafter wurde heute abend bestätigt.« »Das ist mir bekannt«, sagte Yolles. »Aber unser Anliegen ist dringend.« Beim Sprechen waren sie aus dem Hotelkorridor in die Suite getreten. Nun trennte sich die Herzogin von Croydon von der Gruppe im Salon und kam auf sie zu. »Wollen Sie nicht hereinkommen?« fragte sie mit einem liebenswürdigen Lächeln. »Wir sind Polizeibeamte, Madame«, sagte Captain Yolles. »Ich habe eine Dienstmarke bei mir, aber es ist Ihnen vielleicht lieber, wenn ich sie hier nicht vorzeige.« Er blickte zum Salon, wo mehrere Leute sie neugierig beobachteten. Die Herzogin winkte dem Sekretär, der die Salontür zumachte. War es Einbildung, fragte sich Peter, oder war beim Wort »Polizei« wirklich ein ängstliches Zucken über das Gesicht der Herzogin gehuscht? Sinnestäuschung oder nicht, jetzt hatte sie sich jedenfalls ganz in der Gewalt. »Darf ich fragen, warum Sie hier sind?« »Wir würden Ihnen und Ihrem Gatten gern ein paar Fragen stellen, Madame.« »Das ist wohl kaum der passende Zeitpunkt dafür.« »Wir werden es so kurz wie möglich machen«, sagte Captain Yolles ruhig, aber die Autorität in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Ich werde meinen Mann fragen, ob er Sie sehen will. Warten Sie bitte dort drinnen.« Der Sekretär führte sie in einen Raum, der als Büro eingerichtet war. Ein oder zwei Minuten später, nachdem der Sekretär hinausgegangen war, trat die Herzogin, gefolgt vom Herzog herein. Er blickte unsicher umher. »Ich habe unseren Gästen gesagt«, verkündete die Herzogin, »daß wir nur einige Minuten wegbleiben werden.« Captain Yolles äußerte sich nicht dazu. Er zog sein Notizbuch hervor. »Würden Sie mir bitte sagen, falls es Ihnen nichts ausmacht, wann Sie zum letztenmal Ihren Wagen benutzt haben? Es ist, glaube ich, ein Jaguar.« Er nannte die Zulassungsnummer. »Unseren Wagen?« Die Herzogin war anscheinend überrascht. »Ich bin mir nicht sicher, wann wir ihn zuletzt benutzt haben. Doch - Moment mal - jetzt fällt es mir wieder ein. Es war am Montagmorgen. Seither steht er in der Garage. Da ist er auch jetzt noch.« »Denken Sie bitte gut nach. Haben Sie oder Ihr Gatte oder Sie beide den Wagen am Montagabend benutzt?« Es ist bezeichnend, dachte Peter, daß Yolles automatisch seine Fragen an die Herzogin richtet und nicht an den Herzog. Zwei rote Flecke erschienen auf den Wangen der Herzogin. »Ich bin nicht gewöhnt, daß man meine Worte anzweifelt. Ich habe bereits gesagt, daß der Wagen zuletzt am Montagmorgen benutzt wurde. Ich finde außerdem, daß Sie uns eine Erklärung für all dies schulden.« Yolles schrieb in sein Notizbuch. »Kennt einer von Ihnen beiden Theodore Ogilvie?« »Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor... « »Er ist der Chefdetektiv dieses Hotels.« »Jetzt entsinne ich mich. Er kam hierher. Ich weiß nicht mehr genau, wann. Er zog Erkundigungen über ein Schmuckstück ein, das gefunden worden war. Man nahm an, daß es mir gehöre. Aber das war nicht der Fall.« »Und Sie, Sir?« Yolles sprach den Herzog direkt an. »Kennen Sie Theodore Ogilvie, oder hatten Sie jemals mit ihm zu tun?« Der Herzog von Croydon zögerte merklich. Seine Frau blickte ihn starr an. »Also...« Er verstummte. »Nur soweit, wie es Ihnen meine Frau eben geschildert hat.« Yolles klappte sein Notizbuch zu. In gelassenem Tonfall fragte er: »Würde es Sie dann überraschen zu erfahren, daß Ihr Wagen sich gegenwärtig im Staat Tennessee befindet, daß Theodore Ogilvie ihn dort hingefahren hat und daß Ogilvie verhaftet worden ist? Ferner, daß Ogilvie eine Aussage gemacht hat, derzufolge er von Ihnen bezahlt wurde, damit er den Wagen von New Orleans nach Chikago fährt? Und weiterhin, daß Ihr Wagen, unseren Ermittlungen zufolge, am Montagabend in dieser Stadt in einen Unfall mit Fahrerflucht verwickelt war?« »Da Sie mich fragen«, antwortete die Herzogin von Croydon, »es würde mich allerdings sehr überraschen. Tatsächlich ist es das absurdeste Lügenmärchen, das ich jemals gehört habe.« »Es ist durchaus kein Märchen, Madame, daß Ihr Wagen sich in Tennessee befindet und daß Ogilvie ihn dort hingefahren hat.« »Gut, aber dann hat er das ohne unser Wissen und ohne unsere Erlaubnis getan. Und wenn, wie Sie sagen, der Wagen am Montagabend in einen Unfall verwickelt wurde, dann ist doch klar, daß derselbe Mann ihn bei der Gelegenheit zu irgendwelchen Privatfahrten benutzte.« »Sie beschuldigen also Theodore Ogilvie...« »Beschuldigungen sind Ihr Geschäft«, fauchte die Herzogin. »Sie scheinen sich darauf zu spezialisieren. Eine Beschuldigung möchte ich allerdings aussprechen, und zwar gegen dieses Hotel, das offenbar völlig außerstande ist, das Eigentum seiner Gäste zu schützen.« Die Herzogin fuhr herum und wandte sich an Peter McDermott. »Sie werden in dieser Angelegenheit noch von mir hören, das versichere ich Ihnen.« »Aber Sie haben doch eine Vollmacht ausgeschrieben«, protestierte Peter, »nach der Ogilvie den Wagen nehmen durfte.« Seine Worte wirkten auf die Herzogin wie ein Schlag ins Gesicht. Ihre Lippen bewegten sich unsicher, sie erbleichte. Ihm wurde klar, daß er sie an den einzigen belastenden Gegenstand erinnert hatte, der ihr entgangen war. Das Schweigen schien kein Ende zu nehmen. Dann warf sie den Kopf zurück. »Zeigen Sie sie mir!« Peter sagte: »Leider wurde sie...« In ihren Augen blitzte es spöttisch und triumphierend auf. 19 Endlich war, nach Fragen, Geschwätz und Banalitäten ohne Ende, die Pressekonferenz der Croydons vorbei. Als sich die äußere Tür der Präsidentensuite hinter dem letzten Gast geschlossen hatte, machte der Herzog von Croydon seinen unterdrückten Gefühlen Luft. »Mein Gott, das kannst du nicht tun! Damit kommst du unmöglich durch... « »Sei still!« Die Herzogin blickte sich im leeren Salon um. »Nicht hier. Ich habe kein Vertrauen mehr zu diesem Hotel und allem, was dazu gehört.« »Aber wo? Um Himmels willen, wo?« »Wir gehen spazieren. Auf der Straße können wir sprechen. Aber beherrsch dich bitte.« Sie öffnete die Verbindungstür zu ihren Schlafzimmern, wohin die Bedlington-Terrier verbannt worden waren. Sie kamen aufgeregt herausgepurzelt und bellten, als die Herzogin sie an die Leine nahm. In der Diele öffnete der Sekretär beflissen die Tür, und die Hunde stürzten voraus in den Korridor. Im Fahrstuhl wollte der Herzog etwas sagen, aber die Herzogin schüttelte abwehrend den Kopf. Erst, als sie sich außerhalb des Hotels und außer Hörweite anderer Fußgänger befanden, flüsterte sie: »Jetzt!« Seine Stimme klang gepreßt und heftig. »Es ist Wahnsinn, sag ich dir! Wir sitzen schon schlimm genug in der Klemme. Von Anfang an haben wir einen Kompromiß nach dem anderen geschlossen. Kannst du dir vorstellen, was jetzt passiert, wenn die Wahrheit herauskommt?« »Ja, ich kann's mir ungefähr vorstellen. Falls sie herauskommt.« Er bohrte weiter. »Abgesehen von allem anderen - dem moralischen Problem und dergleichen -, kann es einfach nicht gut ausgehen.« »Warum nicht?« »Weil es unmöglich ist. Undenkbar. Wir sind schlimmer dran als am Anfang. Und jetzt kommt noch das hinzu...« Seine Stimme erstarb. »Wir sind nicht schlimmer dran. Im Moment sind wir sogar besser dran. Darf ich dich an deine Berufung nach Washington erinnern.« »Du glaubst doch nicht im Ernst, daß auch nur die geringste Chance für uns besteht, jemals dort hinzukommen?« »Es besteht jede Chance.« Mit den herumtollenden Terriern waren sie die St. Charles Avenue entlanggegangen bis zum belebteren, heller erleuchteten Teil der Canal Street. Nun bogen sie nach Südosten ab, auf den Fluß zu, und täuschten Interesse an den farbenfrohen Schaufenstern vor, während Scharen von Passanten an ihnen vorbeiströmten. »Ich muß wissen, was am Montagabend vorgefallen ist, so widerwärtig es auch sein mag«, sagte die Herzogin leise. »Die Frau, mit der du in Irish Bayou warst, hast du sie dort hingefahren?« Der Herzog errötete. »Nein. Sie kam mit dem Taxi. Wir trafen uns drinnen. Ich hatte die Absicht, danach...« »Verschon mich mit deinen Absichten. Dann könntest du also auch in einem Taxi gekommen sein.« »Daran hab' ich noch nicht gedacht. Ich glaube, schon.« »Nach meiner Ankunft - gleichfalls im Taxi, was notfalls bewiesen werden kann - bemerkte ich, als wir zu unserem Wagen gingen, daß du ihn ziemlich weit entfernt von diesem gräßlichen Klub geparkt hattest. Einen Wächter gab es auch nicht.« »Ich hatte ihn absichtlich so weit weg geparkt. Vermutlich bildete ich mir ein, auf diese Art würde dir die Sache nicht so schnell zu Ohren kommen.« »Folglich gibt es keine Zeugen dafür, daß du am Montagabend den Wagen gefahren hast.« »Da ist noch die Hotelgarage. Beim Hinausfahren könnte uns jemand gesehen haben.« »Nein! Ich weiß genau, daß du gleich hinter der Einfahrt gehalten und den Wagen stehengelassen hast, wie wir's gewöhnlich tun. Wir haben niemanden und uns hat niemand gesehen.« »Und wie war es, als ich ihn herausholte?« »Du kannst ihn gar nicht herausgeholt haben. Nicht aus der Hotelgarage. Am Montagmorgen haben wir ihn auf einem Parkplatz gelassen.« »Ach, richtig«, sagte der Herzog, »und da habe ich ihn am Abend geholt.« Die Herzogin dachte laut weiter. »Wir werden natürlich sagen, daß wir den Wagen nach unserer Ausfahrt am Montagmorgen in die Hotelgarage zurückbrachten. Es ist zwar keine diesbezügliche Eintragung vorhanden, aber das beweist noch nichts. Wir jedenfalls haben den Wagen seit Montag vormittag nicht mehr gesehen.« Der Herzog schwieg, als sie langsam weitergingen. Er streckte die Hand aus und nahm seiner Frau die Hunde ab. Die Terrier spürten den Wechsel und zerrten kräftiger an ihrer Leine. Schließlich sagte er: »Es ist wirklich erstaunlich, wie alles zusammenpaßt.« »Es ist mehr als erstaunlich. Es sollte so sein. Von Anfang an hat alles uns in die Hände gearbeitet. Jetzt... « »Jetzt hast du vor, statt meiner einen anderen Mann ins Gefängnis zu schicken.« »Nein!« Er schüttelte den Kopf. »Das könnte nicht einmal ich ihm antun.« »Ich verspreche dir, daß man ihm nicht ein Haar krümmt.« »Woher willst du das wissen?« »Weil die Polizei beweisen müßte, daß er den Wagen zum Zeitpunkt des Unfalls fuhr. Und das kann sie nicht, ebensowenig, wie sie beweisen kann, daß du es warst. Begreifst du denn nicht? Sie glauben vielleicht, daß es einer von euch beiden war. Aber glauben allein genügt nicht. Man muß es auch beweisen können.« »Weißt du«, sagte er bewundernd, »manchmal bist du einfach unwahrscheinlich.« »Ich bin praktisch. Und da wir gerade davon sprechen, möchte ich dich an etwas erinnern. Dieser Ogilvie hat zehntausend Dollar von uns bekommen. Dafür können wir schließlich auch etwas verlangen.« »Übrigens«, sagte der Herzog, »wo sind die anderen fünfzehntausend?« »Noch immer in der Aktenmappe in meinem Schlafzimmer. Wir nehmen sie mit, wenn wir abreisen. Es könnte Aufsehen erregen, wenn wir sie hier wieder einzahlen.« »Du denkst wirklich an alles.« »Bei der Vollmacht nicht. Als ich dachte, sie hätten sie... ich muß verrückt gewesen sein, als ich sie schrieb... « »Das konnte niemand voraussehen.« Sie hatten das Ende des Geschäftsviertels erreicht. Nun kehrten sie um und gingen ins Stadtzentrum zurück. »Es ist diabolisch.« Der Herzog von Croydon hatte seit Mittag keinen Tropfen mehr getrunken und infolgedessen war seine Stimme viel klarer als an den vorhergehenden Tagen. »Es ist gerissen, niederträchtig und diabolisch. Aber es könnte -vielleicht - klappen.« 20 »Das Frauenzimmer lügt«, sagte Captain Yolles. »Aber es wird schwer zu beweisen sein, falls uns das überhaupt je gelingt.« Er ging langsam in Peter McDermotts Büro auf und ab. Sie waren nach ihrem schmählichen Rückzug aus der Präsidentensuite hierhergekommen. Bisher war der Captain nur gedankenverloren durch den Raum marschiert, während die beiden anderen warteten. »Ihr Mann würde vermutlich reden«, meinte Bennett, »falls es uns gelänge, ihn allein vorzuknöpfen.« Yolles schüttelte den Kopf. »Nichts zu machen. Erstens ist sie viel zu klug, um das zuzulassen. Und zweitens würden wir, in Anbetracht dessen, was und wer sie sind, einen wahren Eiertanz aufführen müssen.« Er sah Peter an. »Bilden Sie sich bloß nicht ein, daß die Polizei zwischen den Armen und Reichen keinen Unterschied macht.« Peter nickte zerstreut. Nun, da er getan hatte, was Pflicht und Gewissen von ihm verlangten, hatte er das Gefühl, alles Weitere sei einzig Sache der Polizei. Neugier ließ ihn allerdings eine Frage stellen. »Die Mitteilung, die von der Herzogin geschrieben wurde... « »Wenn wir die hätten«, sagte der zweite Kriminalbeamte, »wäre der Fall erledigt.« »Genügt es nicht, wenn der Nachtkontrolleur und Ogilvie -nehme ich an - beschwören, daß sie existierte?« »Sie würden behaupten, daß es eine Fälschung ist, daß Ogilvie sie selbst geschrieben hat«, erwiderte Yolles. Er dachte nach und fügte hinzu: »Sie sagten, die Suite hätte spezielles Briefpapier. Könnte ich es mal sehen?« Peter ging hinaus und fand in einem Schrank mehrere Bogen. Es war hellblaues Bütten und trug als Briefkopf den Namen des Hotels und darunter, ebenfalls in Prägeschrift, die Bezeichnung »Präsidentensuite«. Die beiden Kriminalbeamten betrachteten das Briefpapier. »Ziemlich ausgefallen«, sagte Bennett. »Wie viele Personen haben Zugang zu diesem Papier?« fragte Yolles. »Normalerweise nur ein paar. Aber ich vermute, wenn es jemand darauf anlegt, kann er sich leicht ein oder zwei Bogen verschaffen.« Yolles murrte. »Das scheidet also aus.« »Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, sagte Peter. Der plötzliche Einfall hatte seine Teilnahmslosigkeit für den Moment aufgehoben. »Welche?« »Ich weiß, daß Sie mich bereits danach fragten und daß ich sagte, sobald die Abfälle eingesammelt wären, bestünde kaum noch die Chance, etwas Bestimmtes darin aufzustöbern. Ich dachte wirklich... die Vorstellung, ein winziges Stück Papier ausfindig zu machen, erschien mir absurd. Außerdem war das Schreiben zu diesem Zeitpunkt nicht so wichtig.« Er bemerkte, daß die zwei Beamten ihn gespannt ansahen. »Wir haben einen Mann, der den Verbrennungsofen bedient«, sagte Peter. »Einen Teil der Abfälle sortiert er mit der Hand. Es wäre vermutlich purer Zufall und wahrscheinlich ist es auch zu spät... « »Herrgott noch mal!« schrie Yolles. »Nichts wie hin!« Sie stiegen ins Erdgeschoß hinunter und gelangten durch einen Personalaufzug zu einem Lastenaufzug, der sie weiter hinunter befördern sollte. Der Aufzug hing eine Abteilung tiefer fest, und Peter konnte hören, wie Pakete ausgeladen wurden. Er rief der Mannschaft zu, sie solle sich beeilen. Während sie warteten, sagte Bennett: »Wie ich hörte, hatten Sie diese Woche noch mehr Ärger.« »Stimmt. Gestern früh wurde in eines der Zimmer eingebrochen. Über der anderen Sache hatte ich es ganz vergessen.« »Ich sprach mit einem unserer Männer. Er hat sich mit Ogilvies Stellvertreter getroffen... wie heißt er doch gleich?« »Finnegan.« Trotz der Situation mußte Peter lächeln. »Also was den Diebstahl betrifft, so gab es kaum Anhaltspunkte. Unsere Leute überprüften Ihre Gästeliste, förderten aber nichts zutage. Heute ist allerdings was Komisches passiert. In einem Haus in Lakeview wurde eingebrochen. Ein Schlüsseljob. Die Frau verlor heute früh in der Stadt ihren Schlüsselbund. Wer immer ihn gefunden hat, muß vom Fleck weg zum Haus gefahren sein. Dieselben Merkmale wie beim Einbruch hier, auch das gleiche Zeug wurde entwendet, und keine Fingerabdrücke.« »Wurde jemand verhaftet?« Der Beamte schüttelte den Kopf. »Der Einbruch wurde erst Stunden später entdeckt. Es gibt aber eine Spur. Ein Nachbar sah einen Wagen. Konnte sich an nichts erinnern, außer daß das Nummernschild grün und weiß war. Fünf Staaten benutzen Schilder mit den beiden Farben - Michigan, Idaho, Nebraska, Vermont, Washington - und Saskatchewan in Kanada.« »Inwiefern hilft uns das weiter?« »In den nächsten Tagen werden unsere Leute nach Wagen aus den fraglichen Staaten Ausschau halten. Sie werden sie anhalten und durchsuchen. Vielleicht haben sie Glück. Wir haben schon öfter einen Fang gemacht, obwohl wir viel weniger Anhaltspunkte hatten. Peter nickte nur mäßig interessiert. Der Diebstahl hatte sich vor zwei Tagen ereignet und nicht wiederholt. Im Moment schien vieles andere wichtiger zu sein. Gleich darauf langte der Aufzug bei ihnen an. Das schwarzglänzende Gesicht von Booker T. Graham strahlte vor Freude beim Anblick McDermotts, des einzigen leitenden Angestellten, der sich jemals die Mühe machte, den Verbrennungsraum, tief unten in den »Eingeweiden« des Hotels, aufzusuchen. Die seltenen Stippvisiten wurden von Booker T. Graham wie königliche Ereignisse im Gedächtnis bewahrt. Captain Yolles verzog die Nase über den durchdringenden, von der Hitze noch verstärkten Müllgeruch. Der Widerschein von Flammen huschte über rauchgeschwärzte Wände. Mit lauter Stimme, um das Tosen des Ofens zu übertönen, rief Peter: »Überlassen Sie es lieber mir. Ich werde ihm erklären, was wir von ihm wollen.« Yolles nickte. Wie andere, die vor ihm hier gewesen waren, mußte er beim Anblick dieses rußigen, glühendheißen, übelriechenden Raumes an die Hölle denken, und er fragte sich, wie ein menschliches Wesen in dieser Umgebung überhaupt existieren konnte. Er beobachtete, wie Peter McDermott mit dem riesigen Neger sprach, der die Abfälle sortierte, bevor sie verbrannt wurden. McDermott hatte einen Bogen von dem Briefpapier der Präsidentensuite mitgebracht und hielt ihn hoch. Der Neger nickte und nahm das Blatt, machte aber ein zweifelndes Gesicht. Er wies auf die Dutzende überquellender Mülltonnen, die dicht an dicht um ihn herumstanden. Yolles hatte draußen auf dem Gang noch mehr Tonnen auf Handwagen stehen sehen und begriff, warum McDermott die Möglichkeit, ein einzelnes Stück Papier zwischen den Abfällen aufzustöbern, zunächst von der Hand gewiesen hatte. Nun schüttelte der Neger, als Antwort auf eine Frage, den Kopf. McDermott kam zu den Kriminalbeamten zurück. »Alles, was Sie hier sehen«, erklärte er, »ist der Müll von gestern. Gut ein Drittel wurde bereits verbrannt, und ob das, was wir suchen, dabei war, läßt sich natürlich nicht mehr feststellen. Den Rest geht Graham durch, um Dinge, die wir retten wollen, wie Tafelsilber und Flaschen, auszusondern. Er hat versprochen, dabei die Augen offenzuhalten nach einem Stück Papier, wie ich es ihm gezeigt habe; aber Sie sehen ja selbst, daß es eine gewaltige Arbeit ist. Bevor die Abfälle hier landen, werden sie gepreßt, und da viel von dem Zeug naß ist, wird auch alles andere feucht. Ich habe Graham gefragt, ob er Hilfe braucht, aber er sagt, die Chance würde noch geringer, wenn jemand herkommt, der an seine Arbeitsweise nicht gewöhnt ist.« »Ich würd' so oder so nicht darauf wetten, daß er was findet«, meinte Bennett. »Nein«, sagte Yolles, »aber mehr können wir vermutlich nicht tun. Was haben Sie mit ihm vereinbart für den Fall, daß er Erfolg hat?« »Er ruft sofort oben an. Ich werde Anweisung geben, daß man mich benachrichtigt, ganz gleich, wie spät es ist. Und dann rufe ich Sie an.« Yolles nickte. Als die drei Männer gingen, wühlte Booker T. Graham in einem Berg von Abfällen auf einem großen Blech. 21 Für Keycase Milne folgte eine Enttäuschung nach der anderen. Seit dem frühen Abend hatte er die Präsidentensuite überwacht. Kurz vor der Dinnerzeit hatte er sich, in der festen Erwartung, daß der Herzog und die Herzogin von Croydon wie fast alle Gäste das Hotel verlassen würden, in der neunten Etage nahe der Personaltreppe postiert. Von dort aus konnte er den Eingang zur Suite gut sehen und sich selber lästigen Blicken entziehen, indem er rasch durch die Tür zur Treppe auswich. Er tat dies mehrmals, sobald Fahrstühle hielten und Bewohner anderer Zimmer kamen und gingen, jedoch nicht, bevor er sie nicht in Augenschein genommen hatte. Auch hatte er sich ganz richtig ausgerechnet, daß um diese Tageszeit nur wenige Angestellte in den oberen Stockwerken beschäftigt sein würden. Falls sich etwas Unvorhergesehenes ereignete, konnte er sich leicht in die achte Etage und notfalls in sein Zimmer zurückziehen. Soweit hatte sein Plan funktioniert. Der Haken bei der Sache war, daß der Herzog und die Herzogin von Croydon ihre Suite den ganzen Abend über nicht verlassen hatten. Einmal war er, von dem Gedanken angetrieben, er habe den Weggang der Croydons möglicherweise verpaßt, schneidig durch den Korridor marschiert und hatte an der Tür gelauscht. Aus dem Inneren drangen Stimmen, darunter auch die einer Frau. Später hatte das Eintreffen von Besuchern seine Enttäuschung erhöht. Sie kamen allein oder zu zweit, und schließlich ließ man die Tür der Suite offen. Es kamen Kellner mit Tabletts voller Hors d'reuvres, und Geplauder und Klirren von Eiswürfeln und Gläsern war bis auf den Korridor zu vernehmen. Noch später verwirrte ihn die Ankunft eines breitschultrigen jüngeren Mannes, den Keycase für einen Hotelangestellten hielt. Das Gesicht des Hotelmannes war grimmig entschlossen, desgleichen die Mienen der zwei Männer in seiner Begleitung. Keycase nahm sich vor seinem Verschwinden Zeit, die beiden anderen genau zu betrachten, und hielt sie zunächst für Polizeibeamte. Dann beruhigte er sich mit der Überlegung, daß sein Verdacht absurd und nur ein Produkt seiner allzu lebhaften Phantasie war. Die drei letzten Ankömmlinge gingen als erste, eine halbe Stunde danach folgten ihnen die übrigen Gäste. Trotz des regen Betriebs am späten Abend war Keycase überzeugt, daß niemand ihn gesehen hatte, außer vielleicht irgendein anderer Hotelbewohner. Nach dem Weggang des letzten Besuchers kehrte in der neunten Etage Ruhe ein. Es war nun kurz vor elf Uhr, und offenbar war für heute jede günstige Gelegenheit vorüber. Keycase beschloß, noch zehn Minuten zu warten und dann zu gehen. Seine vorher so optimistische Stimmung war in Trübsinn umgeschlagen. Er war nicht sicher, ob er es wagen konnte, noch weitere vierundzwanzig Stunden im Hotel zu bleiben. Er hatte schon die Möglichkeit erwogen, in der Nacht oder bei Tagesanbruch in die Suite einzudringen, war aber davon abgekommen. Das Risiko war zu groß. Falls jemand erwachte, gab es für seine Anwesenheit in der Präsidentensuite keine plausible Ausrede. Seit gestern wußte er auch, daß er den Sekretär und die Zofe der Herzogin in seine Pläne einbeziehen mußte. Die Zofe hatte ein eigenes Zimmer irgendwo im Hotel und war heute abend nicht aufgetaucht. Aber der Sekretär schlief in der Suite und war für Keycase ein weiteres Hindernis. Außerdem störten ihn die Hunde, die Keycase neulich mit der Herzogin in der Halle gesehen hatte. Keycase stand vor der Alternative, ob er noch einen Tag zugeben oder den Versuch, an den Schmuck der Herzogin heranzukommen, abblasen sollte. Als er eben seinen Beobachtungsposten verlassen wollte, kamen die Bedlington-Terrier aus der Tür und hinter ihnen der Herzog und die Herzogin von Croydon. Rasch verdrückte sich Keycase auf die Personaltreppe. Sein Herz klopfte schneller. Endlich kam die Gelegenheit, auf die er so lange gewartet hatte. Aber sie war nicht ohne Tücken. Offenbar würden der Herzog und die Herzogin nicht lange wegbleiben. Und irgendwo in der Suite befand sich der Sekretär. Wo? In seinem Zimmer hinter verschlossener Tür? Schon im Bett? Er sah aus wie einer von diesen Fadians, die zeitig schlafen gehen. Wie groß auch die Gefahr war, Keycase mußte sie auf sich nehmen. Er wußte, daß seine Nerven noch einen Tag des Wartens nicht aushalten würden. Er hörte, wie sich die Lifttüren öffneten und schlossen. Vorsichtig kehrte er in den Korridor zurück. Er war still und menschenleer. Er schlich sich zur Präsidentensuite. Der Nachschlüssel drehte sich so leicht im Schloß wie am Nachmittag. Keycase schob den einen Türflügel einen Spalt breit auf, ließ das Schloß behutsam zurückschnappen und zog den Schlüssel heraus. Weder Schloß noch Tür verursachten das geringste Geräusch. Direkt vor ihm lag eine Diele, dahinter ein größerer Raum. Rechts und links waren zwei weitere geschlossene Türen. Durch die zu seiner Rechten hörte er so etwas wie ein Radio. Niemand war zu sehen. Die Lampen in der Suite brannten. Keycase schlüpfte hinein. Er zog sich Handschuhe über und verriegelte die äußere Tür. Er bewegte sich behutsam, verschwendete aber keine Zeit. Die Teppiche in Diele und Salon dämpften seine Fußtritte. Er ging quer durch den Salon auf eine halboffene Tür zu. Wie erwartet, führte sie in zwei geräumige Schlafzimmer, jedes mit Bad und Ankleideraum. Wie überall sonst brannten auch hier Lampen. Es war leicht zu erkennen, welches das Zimmer der Herzogin war. Zum Mobiliar gehörten eine Kommode, zwei Toilettentische und ein riesiger Wandschrank. Keycase begann sie systematisch zu durchsuchen. Einen Schmuckkasten entdeckte er weder in der Kommode noch im ersten Toilettentisch. Es gab eine Anzahl von Gegenständen - goldene Abendtaschen, Zigarettenetuis, teure Puderdosen -, die Keycase unter anderen Umständen nur zu gern eingesteckt hätte. Aber die Zeit drängte, und er war diesmal einzig und allein auf große Beute aus. Dann zog er die oberste Schublade des zweiten Toilettentisches auf. Sie enthielt nichts Lohnendes. Die nächste ebensowenig. In der dritten lagen obenauf einige Negliges. Darunter kam eine lange rechteckige Lederschatulle zum Vorschein. Sie war verschlossen. Er ließ sie an ihrem Platz und versuchte mit Messer und Schraubenzieher das Schloß aufzubrechen. Der Kasten war erstklassige Handwerksarbeit und widerstand allen seinen Bemühungen. Mehrere Minuten verstrichen. Keycase, der die Sekunden zählte, begann zu schwitzen. Endlich gab das Schloß nach, der Deckel klappte auf. Im Inneren funkelten zwei Reihen von Schmuckstücken - Ringe, Broschen, Ketten, Clips, Tiaren; aus Gold und Platin, mit Edelsteinen besetzt. Bei diesem Anblick zog Keycase die Luft ein. So war also ein Teil der berühmten Schmuckkollektion doch nicht im Hoteltresor hinterlegt worden. Wieder einmal hatte sich eine Ahnung, ein Omen, als zutreffend erwiesen. Mit beiden Händen griff Keycase gierig nach seiner Beute. Im gleichen Augenblick wurde ein Schlüssel ins Schloß der äußeren Tür gesteckt. Er reagierte im Bruchteil von Sekunden. Er klappte den Deckel der Schmuckschatulle zu und schloß die Schublade. Beim Hereinkommen hatte er die Schlafzimmertür nur angelehnt; nun raste er hinüber und spähte durch den Spalt in den Salon. Ein Zimmermädchen erschien in seinem Blickfeld. Sie hatte Handtücher überm Arm und steuerte aufs Schlafzimmer der Herzogin zu. Das Mädchen war ältlich und hatte einen watschelnden Gang. Ihr Schneckentempo bot ihm eine winzige Chance. Mit einem Satz stürzte sich Keycase auf die Nachttischlampe. Er zerrte am Kabel, und das Licht erlosch. Nun brauchte er etwas, das er in der Hand tragen konnte und das ihm ein geschäftsmäßiges Aussehen verlieh. Irgend etwas! An der Wand lehnte eine Aktenmappe. Er ergriff sie und stolzierte auf die Tür zu. Als Keycase die Tür weit aufriß, fuhr das Mädchen erschrocken zurück. »Oh!« Sie griff mit der Hand ans Herz. Keycase runzelte die Stirn. »Wo waren Sie? Sie hätten schon längst hier sein mü ssen.« Der Schock und die Anschuldigung brachten sie aus der Fassung. Das hatte er beabsichtigt. »Tut mir leid, Sir. Ich sah, daß Gäste da waren und...« »Schon gut«, sagte Keycase schroff. »Tun Sie, was Sie zu tun haben, und schauen Sie, daß die eine Lampe repariert wird.« Er zeigte aufs Schlafzimmer. »Die Herzogin braucht sie heute nacht.« »Gewiß, Sir, ich kümmere mich darum.« »Na schön.« Keycase nickte kühl und ging hinaus. Auf dem Korridor versuchte er, nicht nachzudenken. Das gelang ihm auch, bis er in seinem eigenen Zimmer, der Nummer 830 war. Dort warf er sich, verstört und verzweifelt, aufs Bett und vergrub sein Gesicht in den Kissen. Erst nach einer Stunde raffte er sich dazu auf, das Schloß der Aktenmappe, die er mitgenommen hatte, aufzubrechen. Päckchen um Päckchen amerikanischer Banknoten quollen ihm entgegen. Es waren nur gebrauchte Scheine, Zehn- und Zwanzig- Dollar-Noten. Mit zitternden Händen zählte er fünfzehntausend Dollar. 22 Peter McDermott geleitete die beiden Kriminalbeamten vom Verbrennungsofen im Souterrain zum Ausgang in die St. Charles Avenue. »Vorläufig möchte ich alles, was heute nacht geschehen ist, möglichst geheimhalten«, sagte Captain Yolles mahnend. »Es wird genug Fragen geben, wenn wir Ihren Ogilvie anklagen. Hat keinen Sinn, die Presse mobil zu machen, bevor es unbedingt notwendig ist.« »Falls das Hotel die Wahl hätte, würden wir gern auf diese Art Publicity verzichten«, versicherte Peter. Yolles brummte. »Geben Sie sich keinen falschen Hoffnungen hin.« Peter kehrte in den Hauptspeisesaal zurück und war nicht überrascht, als er Christine und Mr. Wells nicht mehr antraf. In der Halle fing ihn der Nachtmanager ab. »Mr. McDermott, hier ist ein Brief für Sie. Von Miss Francis.« Die Nachricht befand sich in einem verschlossenen Umschlag und lautete schlicht und einfach: »Ich bin heimgegangen. Komm nach, wenn du kannst. - Christine.« Er beschloß hinzugehen. Christine brannte vermutlich darauf, die Ereignisse des Tages und die erstaunliche Enthüllung von Albert Wells mit ihm zu besprechen. Im Hotel gab es für ihn ohnehin nichts mehr zu tun. Oder doch? Plötzlich fiel Peter das Versprechen ein, das er Marsha Preyscott vor seinem so unzeremoniellen Abschied auf dem Friedhof gegeben hatte. Er hatte gesagt, er wolle sie später anrufen, hatte aber bis jetzt nicht daran gedacht. Ihm kam es wie Tage vor, und Marsha erschien ihm irgendwie sehr fern. Aber er mußte wohl anrufen, auch wenn es schon spät war. Wieder begab er sich ins Büro des Kreditmanagers im Erdgeschoß und wählte die Nummer der Preyscotts. Marsha meldete sich beim ersten Rufzeichen. »Oh, Peter, ich sitze hier neben dem Telefon«, sagte sie. »Ich hab' gewartet und gewartet und dann zweimal angerufen und meinen Namen hinterlassen.« Der Stapel unbeantworteter Mitteilungen auf seinem Büroschreibtisch fiel ihm schwer auf die Seele. »Es tut mir aufrichtig leid, und ich kann es nicht mal erklären, wenigstens jetzt noch nicht. Bloß, daß eine Unmenge Dinge passiert sind.« »Erzählen Sie's mir morgen.« »Marsha, ich fürchte, ich habe morgen einen anstrengenden Tag... « »Beim Frühstück«, sagte Marsha. »Wenn das morgen ein anstrengender Tag wird, brauchen Sie ein New-Orleans-Frühstück. Es ist berühmt. Kennen Sie's schon?« »Ich frühstücke im allgemeinen nicht.« »Schön, dann machen Sie morgen eben eine Ausnahme. Annas Frühstücke sind was ganz Besonderes. Bestimmt viel besser als die in Ihrem alten Hotel. Wetten?« Es war unmöglich, Marshas bezauberndem Enthusiasmus zu widerstehen. Und schließlich hatte er sie am Nachmittag im Stich gelassen. »Dann müssen wir's aber ziemlich früh ansetzen.« »So früh wie Sie wollen.« Sie einigten sich auf halb acht. Einige Minuten später war er in einem Taxi auf dem Wege zu Christines Appartement in Gentilly. Er klingelte unten. Christine erwartete ihn an der geöffneten Wohnungstür. »Kein Wort bis nach dem zweiten Drink«, sagte sie. »Ich hab's noch immer nicht richtig verkraftet.« »Das solltest du aber. Du hast ja noch nicht mal die Hälfte gehört.« Sie hatte Daiquiri-Cocktails gemixt und im Kühlschrank kalt gestellt. Außerdem hatte sie eine gehäufte Platte Huhn- und Schinken-Sandwiches vorbereitet. Der Duft frisch aufgegossenen Kaffees durchzog die Wohnung. Peter fiel plötzlich ein, daß er trotz seines Aufenthalts in den Hotelküchen und trotz seines Gespräches über das morgige Frühstück seit dem Lunch nichts gegessen hatte. »Das hab' ich mir gedacht«, sagte Christine, als er es ihr erzählte. »Fang an.« Gehorsam griff er zu und beobachtete dabei, wie geschickt sie in der winzigen Küche herumhantierte. Er fühlte sich bei ihr zu Hause und geschützt vor allem, was draußen geschehen mochte. Christine empfand so viel für ihn, daß sie sich seinetwegen all die Mühe gemacht hatte. Und was noch wichtiger war, sie verstanden einander, auch wenn sie, wie jetzt, schwiegen. Er schob das Daiquiri-Glas weg und trank einen Schluck Kaffee. »Okay«, sagte er, wo fangen wir an?« Sie redeten ununterbrochen fast zwei Stunden lang, und ihre Vertrautheit wuchs. Am Ende kamen sie nur zu dem einen sicheren Ergebnis, daß sie morgen einen interessanten Tag vor sich hatten. »Ich kann nicht schlafen«, sagte Christine. »Ganz bestimmt nicht. Ich weiß schon jetzt, daß ich kein Auge zutun werde.« »Ich auch nicht«, sagte Peter. »Aber aus einem anderen Grunde, als du meinst.« Er hatte keine Zweifel; nur den überzeugten Wunsch, daß dieser Augenblick niemals enden möge. Er nahm sie in die Arme und küßte sie. Später erschien es ihnen als die natürlichste Sache von der Welt, miteinander zu schlafen. FREITAG 1 Es leuchtete Peter McDermott ein, daß der Herzog und die Herzogin von Croydon den fest zu einem Ball zusammengeschnürten Hausdetektiv Ogilvie an den Rand des Hoteldachs rollten, während von weit unten ein Meer von Gesichtern nach oben starrte. Aber er fand es seltsam und irgendwie schockierend, daß nur einige Meter entfernt Curtis O'Keefe und Warren Trent mit blutbefleckten Duellsäbeln wilde Hiebe wechselten. Warum, fragte Peter sich verwundert, griff Captain Yolles, der an der Tür zur Bodentreppe stand, nicht ein? Dann wurde ihm klar, daß der Polizeibeamte ein riesiges Vogelnest beobachtete, in dem eben ein einziges Ei aufplatzte. Aus ihm krabbelte ein überdimensionaler Sperling mit dem fröhlichen Gesicht von Albert Wells. Aber nun konzentrierte sich Peters Aufmerksamkeit wieder auf den Rand des Daches, wo eine verzweifelt kämpfende Christine sich irgendwie mit Ogilvie verheddert hatte und Marsha Preyscott den Croydons dabei half, die doppelte Last immer näher an den entsetzlichen Abgrund heranzuzerren. Die Menge auf der Straße glotzte weiter, und Captain Yolles lehnte gähnend am Türpfosten. Wenn er Christine retten wollte, mußte Peter selbst eingreifen. Aber als er vorwärts zu stürzen versuchte, schleppten seine Füße so schwer hinter ihm her, als steckten sie in Leim, und während sein Körper nach vorn strebte, weigerten sich die Beine, ihm zu folgen. Er versuchte zu schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Seine und Christines Augen begegneten einander in stummer Verzweiflung. Plötzlich hielten die Croydons, Marsha, O'Keefe und Warren Trent inne und horchten. Auch der Sperling Albert Wells spitzte die Ohren. Desgleichen Ogilvie, Yolles und Christine. Sie lauschten - worauf? Dann hörte es Peter auch: Eine Kakophonie, als läuteten sämtliche Telefone auf Erden gleichzeitig. Das Schrillen kam näher, schwoll an, bis es schien, als wolle es alle unter sich begraben. Peter hielt die Ohren zu und schloß gepeinigt die Augen. Dann machte er sie auf. Er war in seinem Appartement. Auf seinem Wecker war es halb sieben Uhr morgens. Er blieb noch einige Minuten liegen, um die letzten Reste des wirren Traums aus seinem Kopf zu vertreiben. Dann tappte er ins Bad unter die Dusche und zwang sich am Schluß, wenigstens eine Minute unter dem kalten Wasserstrahl zu bleiben. Danach fühlte er sich erfrischt und ganz wach. Er zog einen Bademantel über, stellte in der Küchennische Kaffee auf, ging zum Telefon und wählte die Nummer des Hotels. Der Nachtmanager versicherte ihm, daß keine Nachricht aus dem Verbrennungsraum vorliege. Nein, sagte er mit einem Anflug von Müdigkeit in der Stimme, er habe sich nicht persönlich darum gekümmert, aber wenn Mr. McDermott es wünsche, würde er sofort hinuntergehen und ihm das Ergebnis mitteilen. Man merkte ihm eine leichte Gereiztheit an über den so ungewöhnlichen Auftrag am Ende einer langen, anstrengenden Nachtschicht. Der Verbrennungsofen befand sich irgendwo unten im Souterrain, nicht wahr? Peter war beim Rasieren, als der Nachtmanager zurückrief und berichtete, daß er mit dem Angestellten, der den Verbrennungsofen bediente, gesprochen habe. Es tue Graham leid, aber das Papier, auf das Mr. McDermott so großen Wert lege, sei nicht aufgetaucht. Der Manager fügte von sich aus hinzu, daß Grahams Schicht - ebenso wie seine eigene -beinahe zu Ende sei. Später, sagte sich Peter, werde er Captain Yolles informieren. Seiner Meinung nach galt auch heute noch, was er bereits gestern nacht gedacht hatte, daß das Hotel seine Schuldigkeit der Öffentlichkeit gegenüber erfüllt habe und daß alles Weitere Sache der Polizei sei. Beim Kaffeetrinken und Anziehen beschäftigte sich Peter mit den beiden Problemen, die ihm am meisten am Herzen lagen. Das eine war Christine; das andere seine eigene Zukunft - falls er eine hatte - im St.-Gregory-Hotel. In der letzten Nacht hatte er erkannt, daß er sich mehr als alles andere wünschte, Christine möchte sein Leben mit ihm teilen. Die Überzeugung war allmählich in ihm gewachsen und stand nun unverrückbar fest. Vermutlich hätte man sagen können, daß er sie liebte, aber er hütete sich, seine tieferen Gefühle, sogar sich selbst gegenüber, genau zu definieren. Schon einmal hatte sich etwas, das er für Liebe gehalten hatte, in Asche verwandelt. Vielleicht war es besser, bescheiden mit Hoffnung zu beginnen und sich vorsichtig auf ein unbekanntes Ziel hinzutasten. Es klang unromantisch, aber er fühlte sich bei Christine behaglich. In gewisser Hinsicht hatte der Gedanke etwas sehr Tröstliches, denn er bestärkte ihn in seiner Überzeugung, daß das Band zwischen ihnen nicht schwächer, sondern mit der Zeit immer enger würde. Er glaubte, daß Christine ihm gegenüber ähnlich empfand. Sein Instinkt sagte ihm, daß das, was vor ihm lag, ausgekostet und nicht gierig hinuntergeschlungen werden sollte. Was das Hotel betraf, so war sogar jetzt noch schwer zu begreifen, daß Albert Wells, den sie für einen freundlichen, unbedeutenden kleinen Mann gehalten hatten, ein Krösus und der künftige Besitzer des St. Gregory war. Oberflächlich betrachtet, erschien es möglich, daß sich Peters Position durch den unerwarteten Wechsel verstärkte. Er hatte sich mit dem kleinen Mann angefreundet, und er hatte den Eindruck, daß der kleine Mann ihn auch gern mochte. Aber Sympathie und eine geschäftliche Entscheidung waren zwei verschiedene Dinge. Die nettesten Leute konnten realistisch und rücksichtslos sein, wenn sie wollten. Außerdem würde Albert Wells das Hotel wohl kaum selbst leiten, und sein Vertreter, wer immer das sein mochte, hatte vielleicht über das Vorleben des Personals seine eigene Meinung. Wie zuvor beschloß Peter, die Dinge an sich herankommen zu lassen und sich erst später den Kopf zu zerbrechen. Von den Kirchtürmen in New Orleans schlug es halb acht, als Peter McDermott im Taxi vor der Preyscott-Villa in der Prytania Street anlangte. Hinter anmutig hochstrebenden Säulen schimmerte das große weiße Haus in der Morgensonne. Die Luft war frisch und kühl und von der Nacht her noch etwas dunstig. Die Magnolien dufteten betäubend; auf dem Gras lag Tau. Auf der Straße und im Haus war es still, aber von der St. Charles Avenue schallte der ferne Lärm der erwachenden Stadt herüber. Peter ging über den gewundenen Backsteinpfad auf das Haus zu, stieg die Terrassenstufen hinauf und klopfte an die Tür. Ben, der Diener, der am Mittwochabend das Dinner serviert hatte, öffnete und begrüßte Peter herzlich. »Guten Morgen, Sir. Kommen Sie bitte herein.« In der Halle fügte er hinzu: »Miss Marsha bat mich, Sie in die Galerie zu führen. Sie ist in ein paar Minuten bei Ihnen.« Sie gingen - Ben voran, Peter hinterher - die breite geschwungene Treppe hinauf und den breiten Korridor mit den in Fresko bemalten Wänden entlang, denselben Weg, den Peter Mittwoch nacht im Halbdunkel mit Marsha gegangen war. Er fragte sich verwundert: War es wirklich erst so kurze Zeit her? Die Galerie sah auch im Tageslicht ordentlich und einladend aus. Tiefe gepolsterte Sessel und blühende Pflanzen standen herum. Ganz vorn, mit Blick auf den Garten, stand ein Tisch mit zwei Gedecken. »Sind Sie alle nur meinetwegen so zeitig aufgestanden?« fragte Peter. »Nein, Sir«, sagte Ben. »Wir sind hier Frühaufsteher. Mr. Preyscott mag das lange Herumliegen am Morgen nicht, wenn er zu Hause ist. Er sagt immer, der Tag ist so kurz, daß man keine Minute unnütz vertrödeln sollte.« »Sehen Sie! Ich sagte Ihnen doch, daß mein Vater Ihnen sehr ähnlich ist.« Beim Klang von Marshas Stimme wandte Peter sich um. Sie war ihnen leise gefolgt. Auf Peter machte sie einen Eindruck wie von Tau und Rosen und Sonnenschein.« »Guten Morgen!« Marsha lächelte. »Ben, bitte gib Mr. McDermott einen Absinth Suissesse.« Sie nahm Peters Arm. »Aber nur einen kleinen, Ben«, sagte Peter. »Ich weiß, Absinth Suissesse gehört zu einem New-Orleans-Frühstück, aber ich habe einen neuen Boß. Ich möchte ihm nüchtern gegenübertreten.« Der Diener grinste. »Yessir!« Als sie am Tisch saßen, fragte Marsha: »War das der Grund, warum Sie...?« »Warum ich so plötzlich von der Bildfläche verschwand? Nein. Das hatte einen anderen Grund.« Ihre Augen weiteten sich, als er ihr, ohne den Namen der Croydons zu erwähnen, so viel von den Ermittlungen in der Unfallsache erzählte, als er durfte. Er ließ sich auch durch Fragen nicht mehr entlocken, sondern sagte nur: »Sie werden die Neuigkeit bestimmt noch heute in der Zeitung lesen.« Bei sich selbst dachte er, daß Ogilvie inzwischen vermutlich in New Orleans angelangt war und verhört wurde. Falls er in Haft blieb, mußte er unter Anklage gestellt werden, und sein Erscheinen vor Gericht würde die Presse alarmieren. Ein Hinweis auf den Jaguar war dabei unvermeidlich, und der wiederum würde die Croydons ins Spiel bringen. Peter kostete den flaumigen Absinth Suissesse, an dessen Zutaten er sich aus seinen Barmixertagen her erinnerte - Eiweiß, Sahne, Anis-Sirup, Absinth und ein Spritzer Anisette. Er hatte ihn selten besser gemixt getrunken. Marsha ihm gegenüber nippte an einem Glas Orangensaft. Konnten der Herzog und die Herzogin von Croydon trotz Ogilvies Aussagen ihre unschuldige Pose auch weiterhin aufrechterhalten? Auch das war eine Frage, dachte Peter, die vielleicht heute noch entschieden werden würde. Das Schreiben der Herzogin war allerdings verschwunden, sofern es überhaupt jemals existiert hatte. Er hatte nichts mehr darüber gehört, und Booker T. Graham war inzwischen längst heimgegangen. Ben stellte vor Peter und Marsha einen mit Früchten garnierten kreolischen Weichkäse Evangeline. Peter machte sich vergnügt darüber her. »Vorhin wollten Sie irgendwas sagen. Über das Hotel.« »Ach ja.« Zwischen Happen Käse und Obst erzählte er Marsha von Albert Wells. »Der Besitzerwechsel wird heute offiziell verkündet. Ich wurde angerufen, kurz bevor ich mich hierher aufmachte.« Der Anruf kam von Warren Trent. Er hatte Peter mitgeteilt, daß Mr. Dempster aus Montreal, der Generalbevollmächtigte des neuen Eigentümers, sich auf dem Weg nach New Orleans befand. Mr. Dempster war bereits in New York, wo er in eine Maschine der Eastern Airlines umsteigen würde. Eine Suite sollte für ihn reserviert werden. Die Besprechung zwischen der alten und der neuen Hotelleitung war vorläufig auf halb zwölf angesetzt. Peter sollte sich zur Verfügung halten für den Fall, daß er gebraucht würde. Warren Trents Stimme hatte erstaunlich heiter geklungen. Wußte W. T. schon, daß der neue Eigentümer des St. Gregory im Hotel wohnte? Peter hatte sich gesagt, daß seine Loyalität bis zur offiziellen Verlautbarung dem alten Besitzer gehöre und deshalb seine Unterhaltung mit Christine und Albert Wells in kurzen Zügen wiedergegeben. »Ja«, hatte Warren Trent gesagt, »ich weiß. Emile Dumaire von der Industrie- und Handelsbank -er führt die Verhandlungen für Wells - hat mich spät gestern nacht noch angerufen. Anscheinend bestand bisher der Wunsch nach Geheimhaltung.« Peter wußte auch, daß Curtis O'Keefe und seine Gefährtin, Miss Lash, diesen Morgen noch abreisen würden. Offenbar gingen sie getrennte Wege, da das Hotel für Miss Lash eine Flugkarte nach Los Angeles besorgt hatte, während Curtis O'Keefe via New York und Rom nach Neapel fliegen wollte. »Sie sind mit Ihren Gedanken ganz woanders«, sagte Marsha. »Warum erzählen Sie mir nicht, was Sie so beschäftigt? Mein Vater wollte beim Frühstück immer über alles mögliche reden, aber meine Mutter interessierte sich nicht dafür. Ich schon.« Peter lächelte. Er sprach über den Tag, der vor ihm lag, und wie er sich seinen Verlauf vorstellte. Während sie plauderten, wurde ihnen eine dampfende aromatische Eierspeise serviert. Zwei pochierte Eier auf Artischockenböden, appetitlich gekrönt mit Spinatkrem und holländischer Soße. Peter bekam dazu einen Rose. »Jetzt verstehe ich, was Sie meinten, als Sie von einem anstrengenden Tag sprachen«, sagte Marsha. »Und ich verstehe jetzt, was Sie mit einem traditionellen Frühstück meinten.« Peter erspähte Anna, die Hausdame, im Hintergrund und rief: »Fabelhaft!« Sie lächelte. Später, beim Anblick von Lendensteaks mit Pilzen, heißem Pariserbrot und Marmelade, schnappte er nach Luft. »Ich bin nicht sicher, ob...« »Danach gibt es noch Crepes Suzette und Cafe au lait«, erklärte Marsha. »Als es hier noch große Plantagen gab, pflegten sich die Leute über das kontinentale Petit Dejeuner lustig zu machen. Für sie war das Frühstück eine feierliche Angelegenheit.« »Das ist es auch für mich«, sagte Peter. »Nicht bloß das Früstück, sondern auch alles andere. Daß ich Sie kennengelernt habe; der Geschichtsunterricht; unser Zusammensein hier. Ich werde es nicht vergessen - niemals.« Marsha sah ihn verwundert an. »Das klingt ja, als wollten Sie mir Lebewohl sagen.« »Ja, Marsha.« Er erwiderte ernst ihren Blick und lächelte dann. »Gleich nach den Crepes Suzette.« Nach kurzem Schweigen sagte sie: »Ich dachte...« Er streckte seine Hand aus und legte sie auf Marshas. »Vielleicht haben wir beide mit offenen Augen geträumt. Ich glaube, so war es. Aber es war der schönste Traum, den ich jemals hatte.« »Und warum können wir nicht weiterträumen?« »Manche Dinge lassen sich nicht erklären«, antwortete er sanft. »Wie gern man jemanden auch haben mag, es bleibt immer die Frage, ob das, was man tut, richtig ist. Man muß sich ein Urteil bilden und danach... « »Zählt meine Meinung denn gar nicht?« »Marsha, ich muß mich auf mein Urteil verlassen. Für uns beide.« Aber er fragte sich: Konnte er sich darauf verlassen? Es hatte sich früher als wenig zuverlässig erwiesen. Vielleicht machte er in diesem Augenblick einen Fehler, dessen er sich Jahre später mit Bedauern erinnern würde. Wie konnte man irgendeiner Sache sicher sein, wenn man die Wahrheit so oft zu spät erkannte? Er merkte, daß Marsha den Tränen nahe war. »Entschuldigen Sie mich«, sagte sie leise. Sie stand auf und entfernte sich rasch aus der Galerie. Peter wünschte, er hätte nicht gar so offen gesprochen und ein bißchen mehr von der Zärtlichkeit gezeigt, die er für das einsame Mädchen empfand. Nach einigen Minuten, als Marsha nicht zurückkehrte, tauchte Anna auf. »Sieht so aus, als müßten Sie Ihr Frühstück allein beenden, Sir. Ich glaube nicht, daß Miss Marsha zurückkommt.« »Wie geht es ihr?« »Sie weint in ihrem Zimmer.« Anna zuckte mit den Schultern. »Das macht sie immer, wenn sie nicht bekommt, was sie will.« Sie nahm die Teller weg. »Ben serviert Ihnen den Rest.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich muß gehen.« »Dann bringe ich Ihnen wenigstens noch den Kaffee.« Im Hintergrund hatte Ben geschäftig herumhantiert, aber es war Anna, die den Cafe au lait nahm und vor Peter hinstellte. »Machen Sie sich keine zu großen Sorgen, Sir. Sobald sie übers Schlimmste weg ist, kümmere ich mich um sie. Miss Marsha hat vielleicht zu viel Zeit, an sich selbst zu denken. Wenn ihr Daddy mehr hier wäre, wär's wahrscheinlich anders. Aber er ist fast nie zu Hause.« »Sie sind sehr verständnisvoll.« Peter fiel ein, was Marsha ihm über Anna erzählt hatte: wie man sie als junges Mädchen gezwungen hatte, einen Mann zu heiraten, den sie kaum kannte; daß sie jedoch mehr als vierzig Jahre lang eine sehr glückliche Ehe geführt hatte. »Ich habe von Ihrem Gatten gehört«, sagte er. »Er muß ein feiner Mann gewesen sein.« »Mein Mann!« Die Haushälterin lachte gackernd. »Ich hab' nie einen Mann gehabt, war nie verheiratet. Ich bin - mehr oder weniger - eine alte Jungfer.« Marsha hatte gesagt: Anna und ihr Mann lebten hier bei uns. Er war der netteste, süßeste Mann, den man sich denken kann. Und wenn es jemals ein glückliches Ehepaar gab, dann waren es die beiden. Sie hatte das schöne Portrait als Rechtfertigung für ihren Heiratsantrag benutzt. Anna kicherte noch immer vor sich hin. »Herrje! Miss Marsha hat Sie mit all ihren Geschichten an der Nase herumgeführt. Sie erfindet immer wieder neue. Die meiste Zeit spielt sie Theater, deshalb brauchen Sie sich ihretwegen auch keine Sorgen zu machen.« »Ich verstehe«, sagte Peter, obwohl er sich dessen gar nicht so sicher war. Aber er fühlte sich erleichtert. Ben begleitete ihn hinaus. Es war nach neun Uhr, und der Tag wurde heiß. Peter schritt rasch auf die St. Charles Avenue zu und von da stadteinwärts zum Hotel. Er hoffte, mit dem Fußmarsch die Schläfrigkeit, die sich nach dem Schlemmermahl möglicherweise einstellen würde, zu überwinden. Er bedauerte aufrichtig, daß er Marsha nicht wiedersehen würde, und war ihretwegen bekümmert aus einem Grund, den er nicht ganz zu durchschauen vermochte. Er fragte sich, ob er die Frauen jemals begreifen würde, und bezweifelte es. 2 Fahrstuhl Nummer vier bockte wieder einmal. Cy Lewin, der ihn tagsüber bediente, hatte die Nummer vier und ihre Launen gründlich satt. Vor einer Woche hatte sie mit ihren Mucken angefangen, und es wurde immer schlimmer. Am letzten Sonntag hatte der Fahrstuhl mehrmals auf die Steuerung nicht reagiert, obwohl die Türen fest geschlossen waren. Der Mann von der Nachtschicht hatte Cy erzählt, daß Montag nacht dasselbe passiert war, als sich Mr. McDermott, der stellvertretende Direktor, in der Kabine befand. Am Mittwoch hatte es wieder Ärger gegeben, und die Nummer vier war für mehrere Stunden stillgelegt worden. Fehlfunktion der Kupplung, hatten die Ingenieure gesagt, aber die Reparatur hatte nicht verhindert, daß Nummer vier am folgenden Tag dreimal in der fünfzehnten Etage hängenblieb. Heute ruckte die Nummer vier in jedem Stockwerk beim Halten und Starten. Es war nicht Cys Sache, der Fehlerquelle auf den Grund zu gehen. Sie interessierte ihn auch nicht sonderlich, obwohl er gehört hatte, wie Doc Vickery, der Chefingenieur, etwas über »Flickwerk und alten Kram« vor sich hin brummte und klagte, er brauchte einhunderttausend Dollar für neue Einbauten. Also, wer würde nicht gern so viel Geld haben? Cy Lewin bestimmt, und deshalb kratzte er auch das ganze Jahr hindurch die paar Cents fürs Toto zusammen, obgleich bisher nichts dabei herausgeschaut hatte. Aber als St.-Gregory-Veteran hatte er Anspruch auf bevorzugte Behandlung, und darum würde er morgen um Versetzung zu einem anderen Fahrstuhl bitten. Warum nicht? Er arbeitete seit siebenundzwanzig Jahren im Hotel und hatte schon den Lift bedient, bevor einige von den jungen Wichtigtuern geboren waren. Sollte sich ab heute jemand anders mit der Nummer vier und ihren Mucken herumärgern. Es war kurz vor zehn, und das Hotel belebte sich. Cy Lewin holte eine Ladung in der Halle ab - zumeist Delegierte mit Namen am Rockaufschlag - und fuhr, mit Unterbrechungen in mehreren Stockwerken, bis zur fünfzehnten und letzten Etage hinauf. Auf dem Weg nach unten war die Kabine bereits im neunten Stock ganz voll, und den Rest der Strecke bis zur Halle fuhr er durch, ohne anzuhalten. Dabei fiel ihm auf, daß das krampfartige Rucken aufgehört hatte. Na, dachte er, der Ärger hatte sich also von allein eingerenkt. Das war ein großer Irrtum. Hoch über Cy Lewin auf dem Hoteldach befand sich der Maschinenraum für die Fahrstühle. Dort, im mechanischen Herz der Nummer vier, hatte ein kleines Relais die Grenze seiner Leistungsfähigkeit erreicht. Die unbekannte und ungeahnte Ursache war ein winziger Stößel von der Größe eines Nagels. Der Stößel war in einen Kolben eingeschraubt, der seinerseits drei Schalter in Tätigkeit setzte. Ein Schalter regulierte die Fahrstuhlbremse, der zweite die Stromversorgung des Motors und der dritte einen Generator. Solange alle drei funktionierten, glitt der Fahrkorb weich und der Steuerung gehorchend an seinen Führungsschienen auf und ab. Fiel jedoch ein Schalter aus, und zwar der, welcher den Motor kontrollierte, dann würde sich die Kabine selbständig machen und, von ihrem Eigengewicht herabgezogen, in den Schacht stürzen. Seit mehreren Wochen lockerte sich der Stößel. Mit unendlich kleinen Bewegungen, so daß hundert vielleicht gerade die Dicke eines menschlichen Haares ausmachten, hatte sich der Kolben langsam, aber unerbittlich, am Stößelgewinde hochgeschraubt. Die Wirkung war zweifach. Stößel und Kolben hatten ihre totale Länge vergrößert, und der Motorschalter reagierte kaum noch. So, wie ein letztes Sandkorn die Waagschale zum Sinken bringt, würde die nächste Drehung des Kolbens den Motorschalter von einem Moment zum anderen völlig isolieren. Der Defekt war schuld an den Launen des Fahrstuhls vier, die Cy Lewin und den anderen so viel Ärger bereitet hatten. Eine Wartungsmannschaft hatte dem Fehler nachgespürt, ihn jedoch nicht gefunden. Man konnte ihnen daraus kaum einen Vorwurf machen. Jeder Fahrstuhl hatte mehr als sechzig Relais, und im Hotel gab es insgesamt zwanzig Fahrstühle. Es war auch niemandem aufgefallen, daß zwei Sicherheitseinrichtungen in der Kabine schadhaft waren. Um zehn Uhr zehn am Freitagmorgen hing Fahrstuhl Nummer vier - buchstäblich und im übertragenen Sinn - nur noch an einem Faden. 3 Mr. Dempster aus Montreal traf um halb elf ein. Peter McDermott, von seiner Ankunft benachrichtigt, begab sich in die Halle, um den Gast im Namen des Hotels zu begrüßen. Bisher hatten sich weder Warren Trent noch Albert Wells in den unteren Stockwerken gezeigt, noch hatte Mr. Wells von sich hören lassen. Mr. Wells Bevollmächtigter war ein lebhafter, eindrucksvoller Mann, der wie der erfahrene Manager einer großen Bankfiliale aussah. Peters Hinweis auf das atemberaubende Tempo der Ereignisse beantwortete er mit der Bemerkung: »Bei Mr. Wells geht so was oft sehr schnell.« Ein Boy brachte den Neuankömmling zu einer Suite in der elften Etage. Zwanzig Minuten später kam Mr. Dempster in Peters Büro. Er sagte, er habe Mr. Wells aufgesucht und mit Mr. Trent telefonisch gesprochen. Die für halb zwölf angesetzte Konferenz werde planmäßig stattfinden. In der Zwischenzeit hätte er sich gern mit einigen Leuten unterhalten - dem Rechnungsprüfer des Hotels beispielsweise -, und Mr. Trent habe ihm für diesen Zweck das Direktionsbüro zur Verfügung gestellt. Mr. Dempster schien daran gewöhnt zu sein, Autorität auszuüben. Peter führte ihn in Warren Trents Büro und stellte ihm Christine vor. Für Peter und Christine war das an diesem Morgen die zweite Begegnung. Er war sofort nach seiner Ankunft zu ihr gegangen, und obwohl sie sich in der dichtumlagerten Verwaltungssuite nur gerade die Hand drücken konnten, war das verstohlene Zusammensein süß und erregend. Zum erstenmal seit seinem Einzug lächelte der Mann aus Montreal. »O ja, Miss Francis. Mr. Wells erwähnte Sie. Tatsächlich sprach er sehr herzlich von Ihnen.« »Ich finde, Mr. Wells ist ein wundervoller Mann. Das fand ich auch schon vorher...« Sie verstummte. »Ja?« »Etwas, das gestern nacht passierte, macht mich ein bißchen verlegen«, sagte Christine. Mr. Dempster holte eine dicke Brille hervor, die er polierte und aufsetzte. »Falls Sie auf die Episode mit der Dinnerrechnung anspielen, Miss Francis, braucht Sie das nicht zu beunruhigen. Mr. Wells sagte mir wörtlich, es sei das Reizendste, Netteste gewesen, das ihm jemals begegnet ist. Natürlich merkte er sofort, was los war. Ihm entgeht sehr wenig.« »Ja«, sagte Christine, »das ist mir allmählich auch klargeworden.« Es klopfte an die äußere Bürotür. Sie öffnete sich, und der Kreditmanager Sam Jakubiec erschien. »Verzeihen Sie«, sagte er, als er die Gruppe erblickte, und wandte sich zum Gehen. Peter rief ihn zurück. »Ich wollte mich bloß erkundigen, ob das Gerücht stimmt«, sagte Jakubiec. »Es geht durchs ganze Hotel wie ein Präriebrand, daß der alte Herr, Mr. Wells...« »Es ist kein Gerücht«, antwortete Peter. »Es ist Tatsache.« Er stellte Mr. Dempster den Kreditmanager vor. Jakubiec schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Mein Gott! -Und ich habe seinen Kredit überprüft. Ich habe seinen Scheck angezweifelt. Ich habe sogar in Montreal angerufen!« »Man hat mir von Ihrem Anruf erzählt.« Mr. Dempster lächelte zum zweitenmal. »Bei der Bank haben sie sich köstlich darüber amüsiert. Aber sie haben strenge Anweisung, keine Informationen über Mr. Wells zu erteilen. Es ist ihm so lieber.« Jakubiec gab ein Ächzen von sich. »Sie hätten, glaube ich, mehr Grund zur Beunruhigung, wenn Sie Mr. Wells' Kredit nicht überprüft hätten«, versicherte ihm der Mann aus Montreal. »Er achtet Sie Ihrer Genauigkeit wegen. Er hat die Angewohnheit, Schecks auf alle möglichen Zettel zu schreiben, und das bringt die Leute aus der Fassung. Die Schecks sind natürlich alle gut. Sie wissen vermutlich inzwischen, daß Mr. Wells einer der reichsten Männer in Nordamerika ist.« Der Kreditmanager konnte nur benommen den Kopf schütteln. »Es ist vielleicht für Sie alle einfacher«, bemerkte Mr. Dempster, »wenn ich ein paar erklärende Worte über meinen Arbeitgeber sage.« Er blickte auf seine Uhr. »Mr. Dumaire, der Bankier, und einige Anwälte werden bald hier sein, aber ich glaube, dafür reicht die Zeit noch.« Er wurde durch die Ankunft von Royall Edwards unterbrochen. Der Rechnungsprüfer war mit einem Stoß von Papieren und einer geschwollenen Aktentasche bewaffnet. Wieder schnurrte das Vorstellungsritual ab. Beim Händeschütteln sagte Mr. Dempster zum Rechnungsprüfer: »Wir werden gleich ein kurzes Gespräch miteinander haben, und ich möchte, daß Sie an unserer Konferenz um halb zwölf teilnehmen. Übrigens - Sie auch, Miss Francis. Mr. Trent bat darum, und ich weiß, Mr. Wells wird darüber entzückt sein.« Zum erstenmal hatte Peter McDermott das bestürzende Gefühl, aus dem Geschehen ausgeschlosen zu sein. »Ich wollte gerade einige Erklärungen über Mr. Wells abgeben.« Mr. Dempster nahm seine Brille ab, hauchte die Gläser an und polierte sie. »Trotz seines beträchtlichen Reichtums ist Mr. Wells ein Mann mit einfachen Gewohnheiten geblieben. Das hat nichts mit Geiz zu tun. Tatsächlich ist er äußerst großzügig. Es ist nur so, daß er für sich selbst bescheidene Dinge vorzieht, was Kleidung, Reisen und Unterbringung betrifft.« »Da wir gerade davon sprechen«, sagte Peter, »ich hatte die Absicht, Mr. Wells in einer Suite unterzubringen. Durch Mr. O'Keefes Abreise wird heute nachmittag eine von unseren besseren frei.« »Tun Sie's nicht. Ich weiß zufällig, daß Mr. Wells sich in seinem jetzigen Zimmer sehr wohl fühlt, was man von dem vorigen allerdings nicht behaupten konnte.« Peter schauderte es beim Gedanken an die Folterkammer, die Albert Wells vor seinem Umzug in die Nummer 1410 bewohnt hatte. »Er hat nichts dagegen, wenn andere eine Suite bewohnen -wie ich beispielsweise«, erklärte Mr. Dempster. »Er selbst empfindet einfach kein Verlangen nach solchen Dingen. Langweile ich Sie?« Seine Zuhörer verneinten einstimmig. Royall Edwards schien belustigt. »Das klingt wie ein Märchen von den Gebrüdern Grimm.« »Vielleicht. Aber glauben Sie ja nicht, daß Mr. Wells in einer Märchenwelt lebt. Das ist bei ihm ebensowenig der Fall wie bei mir.« Ob die anderen es nun merkten oder nicht, hinter den verbindlichen Worten dieses Mannes war stählerne Entschlossenheit zu spüren, dachte Peter McDermott. Mr. Dempster fuhr fort: »Ich kenne Mr. Wells seit vielen Jahren und habe die größte Hochachtung vor seinem Geschäftsinstinkt und seiner Menschenkenntnis. Er besitzt einen angeborenen Scharfsinn, der auf der HarvardHandelshochschule nicht gelehrt wird.« Edwards, der Harvard absolviert hatte, errötete. Peter fragte sich, ob der Seitenhieb ein Zufall war oder ob Albert Wells' Bevollmächtigter bereits einige Auskünfte über die leitenden Angestellten eingeholt hatte. Traf das letztere zu, und Peter hielt das bei Mr. Dempster für durchaus möglich, dann waren auch Peters Vorleben, seine Entlassung aus dem Waldorf und nachfolgende Verfemung bekannt. War das der Grund, warum man ihn von den Beratungen im engsten Kreis ausschloß? »Vermutlich wird sich hier eine Menge ändern«, sagte Royall Edwards. »Das halte ich für wahrscheinlich.« Wieder polierte Mr. Dempster seine Brillengläser; das schien ein Trick von ihm zu sein. »Die erste Veränderung ist meine Ernennung zum Präsidenten der Hotelgesellschaft, ein Amt, das ich in fast allen Gesellschaften von Mr. Wells innehabe. Er selbst legt auf Titel keinen Wert.« »Dann werden wir Sie also oft sehen«, sagte Christine. »Nein, Miss Francis. Ich werde nur ein Strohmann sein, mehr nicht. Der Vizepräsident hat die volle Handlungsvollmacht. Das entspricht Mr. Wells' Geschäftspolitik und auch meiner.« Die Dinge entwickelten sich wie erwartet, dachte Peter. Albert Wells hatte mit der Leitung des Hotels kaum etwas zu tun; daher bot die Bekanntschaft mit ihm keinen Vorteil. Peters Zukunft würde von dem Vizepräsidenten abhängen, und er fragte sich, ob das jemand war, den er kannte. Wenn ja, konnte das für ihn einen großen Unterschied machen. Bis zu diesem Moment hatte Peter sich eingeredet, er würde die Dinge nehmen, wie sie kamen, seinen Weggang mit eingeschlossen. Nun entdeckte er, daß er sehr gern im St. Gregory bleiben würde. Christine war natürlich der eine Grund. Der andere war, daß die Arbeit im Hotel, unter Beibehaltung der Unabhängigkeit und unter einer neuen Leitung, aufregend zu werden versprach. »Mr. Dempster«, sagte Peter, »falls es kein Geheimnis ist, wer wird eigentlich Vizepräsident?« Der Mann aus Montreal machte ein verblüfftes Gesicht. Er sah Peter seltsam an, dann klärte sich seine Miene. »Entschuldigen Sie, ich dachte, Sie wüßten das schon. Sie!« 4 Die ganze letzte Nacht hindurch, in all den Stunden, die sich endlos hinzogen, während die Hotelgäste in seligem Schlummer lagen, hatte sich Booker T. Graham im Feuerschein des Verbrennungsofens abgeplagt. Darin lag an sich nichts Ungewöhnliches. Booker war eine schlichte Seele, deren Tage und Nächte sich nicht voneinander unterschieden, und es hatte ihn nie gestört, daß es so war. Auch seine Wünsche waren bescheiden und beschränkten sich auf Essen, Unterkunft und ein gewisses Maß an menschlicher Würde, obwohl letzteres seinem Instinkt entsprang und nicht einem Bedürfnis, das er hätte erklären können. Ungewöhnlich war nur die Langsamkeit, mit der seine Arbeit voranging. Normalerweise hatte er vor dem Ende der Schicht die Abfälle des Vortages verbrannt, die Fundsachen aussortiert und danach noch eine halbe Stunde für sich, in der er ruhig dasaß und eine selbstgedrehte Zigarette rauchte, bevor er den Ofen zumachte. Aber heute morgen war zwar seine Dienstzeit beendet, nicht jedoch die Arbeit. Etwa ein Dutzend vollgepackter Mülltonnen waren noch nicht geleert. Schuld daran war Bookers Bestreben, das Papier für Mr. McDermott ausfindig zu machen. Er hatte sorgsam und gründlich gesucht und sich Zeit gelassen. Allerdings bisher ohne Erfolg. Booker hatte die Tatsache bekümmert dem Nachtmanager mitgeteilt, der hereingekommen war, die finstere Umgebung befremdet betrachtet und über den durchdringenden Gestank die Nase gerümpft hatte. Der Nachtmanager hatte so schnell wie möglich wieder Reißaus genommen, aber sein Kommen und seine Fragen bewiesen, daß Mr. McDermott noch immer viel an dem Papier lag. Bekümmert oder nicht, es war Zeit für Booker, Schluß zu machen und nach Haus zu gehen. Das Hotel bezahlte nicht gern Überstunden. Und im übrigen war Booker angestellt worden, um sich mit den Abfällen zu befassen und nicht mit irgendwelchen Betriebsproblemen. Er wußte, falls man im Laufe des Tages die vollen Tonnen bemerkte, würde jemand heruntergeschickt werden, um den Rest zu verbrennen. Andernfalls würde Booker ihn aufarbeiten, wenn er spät in der Nacht seinen Dienst antrat. Der Haken war nur, daß im ersten Fall das Papier unwiderbringlich verloren war und daß es im zweiten Fall vielleicht zu spät entdeckt wurde, um noch von Nutzen zu sein. Und dabei wünschte sich Booker nichts sehnlicher, als Mr. McDermott diesen Gefallen zu erweisen. Auch auf Befragen hin hätte er den Grund dafür nicht nennen können, da er schwerfällig im Denken und Sprechen war. Aber in Gegenwart des jungen stellvertretenden Direktors kam sich Booker irgendwie mehr wie ein Mensch - wie ein Einzelwesen - vor. Er beschloß weiterzuarbeiten. Um sich Ärger zu ersparen, ging er zur Stechuhr und lochte seine Karte. Dann kehrte er zurück. Es war unwahrscheinlich, daß seine Anwesenheit bemerkt würde. Der Verbrennungsraum lockte keine Besucher an. Er arbeitete noch dreieinhalb Stunden lang. Er arbeitete bedächtig und gewissenhaft, obwohl er wußte, daß das, was er suchte, sich vielleicht gar nicht unter den Abfällen befand oder mit dem ersten Schub verbrannt worden war. Am frühen Vormittag war er sehr müde und bei der letzten Tonne angelangt. Er sah es beinahe sofort, als er den Müll auskippte - ein Ball Wachspapier, das man zum Verpacken von Sandwiches nahm. Als er es auseinanderzupfte, kam ein zerknitterter Briefbogen zum Vorschein, der dem Muster glich, das Mr. McDermott dagelassen hatte. Er hielt die beiden nebeneinander unter die Lampe, um sich zu vergewissern. Kein Zweifel, sie stimmten überein. Das wiedererlangte Papier war fleckig und feucht. An einer Stelle war die Schrift verschmiert. Aber nur ein wenig. Alles übrige war deutlich zu lesen. Booker T. zog seinen schäbigen, schmutzigen Mantel an. Ohne sich um den Rest der ausgeleerten Abfälle zu kümmern, steuerte er auf die oberen Gefilde des Hotels zu. 5 In Warren Trents geräumigem Büro hatte Mr. Dempster sein privates Gespräch mit dem Rechnungsprüfer beendet. Um sie herum lagen Bilanzaufstellungen und Kontoauszüge, die Royall Edwards einsammelte, als die übrigen Konferenzteilnehmer eintraten. Als erster kam Emile Dumaire, der pompöse Bankier, mit leicht gerötetem, aufgedunsenem Gesicht. Ihm folgte der fahle, spindeldürre Anwalt, der fast alle Rechtsgeschäfte des St. Gregory erledigte, und ein jüngerer ortsansässiger Anwalt, der Albert Wells vertrat. Peter McDermott kam als nächster, in Begleitung von Warren Trent, der vor einigen Minuten aus der fünfzehnten Etage eingetroffen war. Paradoxerweise wirkte der Besitzer des St. Gregory, obwohl er seinen langen Kampf um Beibehaltung der Kontrolle über das Hotel verloren hatte, so liebenswürdig und entspannt wie schon lange nicht mehr. Er trug eine Nelke im Knopfloch und begrüßte die Besucher herzlich, auch Mr. Dempster, den Peter vorstellte. Für Peter hatte der Vorgang etwas von einer Chimäre. Er bewegte sich mechanisch und sprach, ohne zu wissen, was er sagte. Es war, als hätte ein Roboter in seinem Inneren den Befehl übernommen bis zu dem Moment, in dem Peter sich von dem Schock, den cfer Mann aus Montreal ihm versetzt hatte, erholt haben würde. Vizepräsident. Ihn beeindruckte weniger der Titel als das, was er implizierte. Das St. Gregory in eigener Verantwortung zu leiten, war wie die Erfüllung einer Vision. Peter hatte die leidenschaftliche innere Gewißheit, daß aus dem St. Gregory ein ausgezeichnetes Hotel werden konnte. Es konnte hochgeschätzt, leistungsfähig, profitabel sein. Curtis O'Keefe, dessen Meinung zählte, dachte offensichtlich auch so. Als er von dem Ankauf des Hotels durch Albert Wells und seinem Weiterbestehen als unabhängiges Haus gehört hatte, hoffte Peter, daß jemand anders mit der erforderlichen Einsicht und Schwungkraft fortschrittliche Maßnahmen ergreifen würde. Nun bekam er selbst die Möglichkeit dazu. Die Aussicht war erregend - und ein wenig erschreckend. Auch für ihn persönlich war sie von Bedeutung. Die Beförderung, und was ihr folgte, würde Peter McDermotts Status innerhalb der Hotelindustrie wiederherstellen. Falls er das St. Gregory zum Erfolg führte, würde alles, was vorher war, vergessen und seine Weste wieder makellos weiß sein. Hoteliers waren in ihrer Mehrzahl weder bösartig noch kurzsichtig. Am Ende kam es vor allem auf die Leistung an. Peters Gedanken rasten. Noch immer leicht benommen, gesellte er sich zu den anderen, die sich nun an dem langen, in der Mitte des Raumes stehenden Konferenztisch niederließen. Albert Wells trat als letzter ein. Er kam scheu, von Christine begleitet, durch die Tür, und alle im Raum Anwesenden erhoben sich von ihren Stühlen. Sichtlich verlegen, winkte der kleine Mann ab. »Nein, nein! Bitte!« Warren Trent ging lächelnd auf ihn zu. »Mr. Wells, ich heiße Sie in meinem Haus willkommen.« Sie schüttelten einander die Hand. »Wenn es Ihr Haus wird, ist es mein tiefgefühlter Wunsch, daß diese alten Wände Ihnen ebensoviel Glück und Befriedigung bringen mögen wie sie - zuweilen - mir gebracht haben.« Aus den Worten sprach Ritterlichkeit und Charme. Bei jedem anderen, dachte Peter McDermott, hätten sie vielleicht hohl und übertrieben geklungen. In Warren Trents Mund bekamen sie eine Überzeugungskraft, die irgendwie rührend wirkte. Albert Wells blinzelte. Mit derselben Ritterlichkeit nahm Warren Trent seinen Arm und stellte ihm die übrigen Anwesenden vor. Christine schloß die Tür und begab sich zu den anderen. »Ich glaube, Sie kennen meine Assistentin Miss Francis und Mr. McDermott.« Der kleine Mann lächelte verschmitzt. »Wir hatten ein paarmal miteinander zu tun.« Er zwinkerte Peter zu. »Und dabei wird's nicht bleiben, schätz' ich.« Emile Dumaire räusperte sich mahnend und eröffnete die Verhandlungen. Über die Kaufbedingungen habe man sich im wesentlichen schon geeinigt, meinte der Bankier. Zweck der Konferenz, bei der er auf Bitten von Mr. Trent und Mr. Dempster den Vorsitz übernommen habe, sei die Festlegung des weiteren Verlaufs einschließlich des Übergabedatums. Mit Schwierigkeiten brauche man nicht zu rechnen. Die Hypothek auf dem Hotel, die mit dem heutigen Tag verfallen gewesen wäre, habe die Industrie- und Handelsbank pro tempore übernommen, auf die Bürgschaft von Mr. Dempster hin, dem Bevollmächtigten von Mr. Wells. Peter fing einen ironischen Blick von Warren Trent auf, der seit Monaten vergeblich versucht hatte, eine Erneuerung der Hypothek durchzusetzen. Der Bankier zog eine Aufstellung der zu erledigenden Punkte hervor und verteilte sie. Die Tagesordnung wurde unter Beteiligung Mr. Dempsters und der Anwälte kurz diskutiert. Dann ging man sie Punkt für Punkt durch. Bei der folgenden Debatte blieben Warren Trent und Albert Wells nur Zuschauer; der erstere sann vor sich hin, der kleine Mann saß zusammengesunken in seinem Sessel, als wolle er sich darin verkriechen. Nicht ein einziges Mal verwies Mr. Dempster auf Albert Wells oder streifte ihn auch nur mit einem Blick. Offenbar respektierte der Mann aus Montreal den Wunsch seines Arbeitgebers, unbeachtet zu bleiben, und war daran gewöhnt, selbst Entscheidungen zu treffen. Peter McDermott und Royall Edwards beantworteten verwaltungstechnische und finanzielle Fragen, die sich während der Debatte ergaben. Zweimal verließ Christine den Raum und kehrte mit Dokumenten aus den Hotelakten zurück. Trotz seiner Wichtigtuerei leitete der Bankier die Konferenz gut. In einer knappen halben Stunde herrschte über die wichtigsten Punkte Klarheit. Die offizielle Übergabe wurde auf den folgenden Dienstag festgesetzt. Die Entscheidung nebensächlicher Details überließ man den Anwälten. Emile Dumaire warf einen schnellen Blick in die Runde. »Falls jemand noch etwas bemerken möchte...?« »Ja, da wäre noch eine Kleinigkeit.« Warren Trent beugte sich in seinem Sessel vor. Alle Augen wandten sich ihm zu. »Zwischen Gentlemen ist die Unterzeichnung eines Vertrages eine Formalität, die lediglich dazu dient, eine bereits getroffene mündliche Vereinbarung zu bekräftigen.« Er sah Albert Wells an. »Ich vermute, Sie pflichten mir bei.« »Gewiß«, sagte Mr. Dempster. »Dann bitte ich Sie, Ihre Tätigkeit sofort zu beginnen.« »Danke.« Mr. Dempster nickte anerkennend. »Es gibt in der Tat einige Dinge, die wir sofort in die Wege leiten möchten. Unmittelbar nach der Übergabe am Dienstag wird auf Wunsch von Mr. Wells der Aufsichtsrat zusammentreten und Ihre Wahl zum Vorsitzenden beschließen, Mr. Trent.« Warren Trent neigte liebenswürdig den Kopf. »Es wird mir eine Ehre sein, den Posten zu akzeptieren. Ich werde mich bemühen, ihn mit der angemessenen dekorativen Würde auszufüllen.« Mr. Dempster gestattete sich ein leichtes Lächeln. »Ferner ist es Mr. Wells' Wunsch, daß ich den Posten des Präsidenten übernehme.« »Ein Wunsch, den ich verstehen kann.« »Mit Peter McDermott als geschäftsführendem Vizepräsidenten.« Ein Chor von Glückwünschen tönte Peter von allen Seiten entgegen. Christine lächelte. Wie die anderen schüttelte auch Warren Trent ihm die Hand. Mr. Dempster wartete, bis wieder Ruhe herrschte. »Dann ist da noch ein anderer Punkt. Ich war gerade in New York, als der unselige Zwischenfall hier im Hotel von der Presse ausgeschlachtet wurde. Ich möchte die Versicherung haben, daß sich das nicht wiederholt.« Alles schwieg. Der ältere Anwalt machte ein verwirrtes Gesicht. In gut vernehmbarem Flüsterton erklärte ihm der jüngere: »Es war wegen eines Farbigen, der aus dem Hotel gewiesen wurde.« »Aha!« Der ältere Anwalt nickte verständnisvoll. »Lassen Sie mich eines ganz klarmachen.« Mr. Dempster nahm die Brille ab und fing an, sie sorgsam zu putzen. »Ich rate nicht zu einer grundlegenden Änderung der Hotelpolitik. Meine Meinung als Geschäftsmann ist, daß lokale Anschauungen und Bräuche respektiert werden müssen. Es geht mir nur darum, zu verhindern, daß es in einer ähnlichen Situation wieder zu einem Skandal kommt.« Niemand sagte etwas. Dann merkte Peter plötzlich, daß sich die allgemeine Aufmerksamkeit ihm zugewandt hatte. Es überlief ihn kalt, denn ihm schwante, daß er vor einer Entscheidung stand - vielleicht der wichtigsten in seinem neuen Amt. Seine Haltung würde die Zukunft des Hotels und seine eigene Zukunft beeinflussen. Er wartete, bis er sich absolut klar darüber war, was er sagen wollte. »Das, was soeben gesagt wurde« - Peter wies mit einem Nicken auf den jüngeren Anwalt -, »ist leider wahr. Ein Kongreßteilnehmer mit einer bestätigten Reservierung wurde vom Hotel abgewiesen. Er war Zahnarzt, offenbar auch ein bedeutender Gelehrter - und außerdem Neger. Bedauerlicherweise war ich es, der ihn fortschickte. Ich habe seitdem den festen Entschluß gefaßt, daß so etwas nicht noch einmal vorkommt.« Emile Dumaire sagte: »Als Vizepräsident dürften Sie kaum jemals in die Lage kommen... « »Das gilt auch für die Angestellten. In einem Hotel, das ich leite, werde ich eine solche Handlungsweise nicht mehr gestatten.« Der Bankier schürzte die Lippen. »Das ist ein ziemlich drastischer Standpunkt.« Warren Trent knurrte gereizt: »Fangen Sie nicht wieder mit der alten Geschichte an, McDermott.« »Meine Herren«, Mr. Dempster setzte seine Brille auf, »ich dächte, ich hätte deutlich genug darauf hingewiesen, daß es mir nicht um eine grundlegende Änderung zu tun ist.« »Aber mir, Mr. Dempster.« Falls eine Kraftprobe unvermeidlich war, dachte Peter, dann sollte es lieber gleich dazu kommen; dann wußte er wenigstens, woran er war. Entweder er hatte alle Vollmachten, oder er hatte sie nicht. Der Mann aus Montreal beugte sich vor. »Wie soll ich das verstehen?« Eine innere Stimme warnte Peter davor, nicht zu leichtsinnig zu sein. Er beachtete sie nicht. »Die Sache ist ganz einfach. Die Voraussetzung für meine Tätigkeit hier im Hotel wäre eine vollständige Aufhebung der Rassentrennung.« »Ist es nicht etwas unbesonnen von Ihnen, uns Bedingungen zu stellen?« Peter sagte ruhig: »Ihre Frage bedeutet vermutlich, daß Sie über gewisse persönliche Angelegenheiten im Bilde sind...« Mr. Dempster nickte. »Ja.« Christine sah Peter gespannt an. Er fragte sich, was in ihrem Kopf vorgehen mochte. »Unbesonnen oder nicht, ich halte es jedenfalls für fair, Sie wissen zu lassen, wo ich stehe.« Mr. Dempster polierte wieder einmal seine Brillengläser. Er wandte sich an die Allgemeinheit. »Ich glaube, wir alle respektieren eine feste Überzeugung. Dennoch meine ich, handelt es sich hier um ein Problem, in dem wir zu einem Kompromiß gelangen könnten. Falls es Mr. McDermott recht ist, verschieben wir eine Entscheidung darüber auf später. In ein oder zwei Monaten können wir es wieder aufgreifen.« Falls es Mr. McDermott recht ist. Der Mann aus Montreal hatte ihm mit diplomatischem Geschick einen Ausweg geöffnet. Immer dasselbe uralte Schema: Zuerst pochte man auf seine Überzeugung, um sein Gewissen zu beruhigen. Dann kam es zu leichten Konzessionen, zu einem vernünftigen Kompromiß zwischen vernünftigen Menschen. Später können wir das Problem wieder aufgreifen. Eine zivilisierte, einsichtige Antwort. War es nicht die gemäßigte, zahme Haltung, zu der die meisten Leute neigten? Die Zahnärzte beispielsweise. Ihr offizieller Brief, in dem sie die Handlungsweise des Hotels im Fall Dr. Nicholas beklagten, war heute eingetroffen. Andererseits mußte man auch bedenken, daß dem Hotel eine schwere Zeit bevorstand. Der Augenblick war für drastische Maßnahmen ungeeignet. Der Wechsel in der Hotelleitung würde zwangsläufig viele Probleme mit sich bringen. Vielleicht war es wirklich das klügste, die Entscheidung zu vertagen. Aber man fand immer Gründe dafür, etwas nicht zu tun. Der Zeitpunkt war stets ungelegen. Irgend jemand hatte kürzlich erst davon gesprochen. Wer? Dr. Ingram. Der ungestüme kleine Präsident des Zahnärztekongresses, der sein Amt niedergelegt hatte, weil ihm Prinzipien wichtiger waren als sein persönlicher Vorteil, und der das Hotel gestern abend in gerechtem Zorn verlassen hatte. Ab und zu mußte man das, was man sich wünscht, gegen das, was man glaubt, abwägen, hatte Dr. Ingram gesagt... Sie haben es nicht getan, McDermott, als Sie die Chance hatten. Sie sorgten sich zu sehr um das Hotel, um Ihren Job... Aber manchmal bekommt man noch eine zweite Chance. Falls Ihnen das passiert, ergreifen Sie sie. »Mr. Dempster«, sagte Peter, »das Gesetz über die Bürgerrechte ist völlig klar. Ob wir es nun eine Zeitlang hinauszögern oder umgehen, das Resultat wird am Ende dasselbe sein.« »Wie ich höre, sind die Bürgerrechtsgesetze immer noch umstritten«, bemerkte der Mann aus Montreal. Peter schüttelte ungeduldig den Kopf. Seine Augen schweiften um den Tisch. »Ich glaube, ein gutes Hotel muß sich dem Wandel der Zeiten anpassen. Eines der brennendsten Probleme unserer Zeit sind die Menschenrechte, und es gibt wohl nicht viele, die sich dessen nicht bewußt sind. Es ist besser, wir erkennen und akzeptieren diese Dinge, anstatt sie uns aufzwingen zu lassen, wie es unvermeidlich geschehen wird, wenn wir nicht von selbst die Initiative ergreifen. Ich sagte vorhin, daß ich mich nie wieder - weder direkt noch indirekt -dazu hergeben werde, einen Dr. Nicholas wegzuschicken. Ich bin nicht bereit, meine Meinung zu ändern.« Warren Trent schnaubte. »Sie werden nicht alle ein Dr. Nicholas sein.« »Wir erhalten jetzt einen gewissen Standard aufrecht, Mr. Trent, und werden das auch künftig tun.« »Ich warne Sie! Sie werden das Hotel ruinieren.« »Es scheint mehr als ein Mittel zu geben, um das zu erreichen.« Die Antwort brachte Warren Trent aus der Fassung. Er errötete. Mr. Dempster betrachtete seine Hände. »Bedauerlicherweise scheinen wir in eine Sackgasse geraten zu sein. Mr. McDermott, Ihre Haltung wird uns vielleicht dazu zwingen...« Zum erstenmal wirkte der Mann aus Montreal unsicher. Er blickte zu Albert Wells hinüber. Der kleine Mann schien unter all den Blicken in sich zusammenzuschrumpfen. Aber er sah Mr. Dempster fest an. »Charlie«, sagte er, »ich schätze, wir sollten den jungen Burschen das machen lassen, was er für richtig hält.« Er wies mit dem Kopf auf Peter. Ohne die Miene zu verziehen, verkündete Mr. Dempster: »Mr. McDermott, Ihre Bedingungen sind angenommen.« Die Sitzung wurde aufgehoben. Im Gegensatz zu der früheren Eintracht herrschte nun eine gewisse Befangenheit. Warren Trent übersah Peter geflissentlich; er wirkte verstimmt. Der ältere Anwalt sah mißbilligend drein, der jüngere reserviert. Emile Dumaire unterhielt sich angeregt mit Mr. Dempster. Nur Albert Wells schien sich über den Zwischenfall insgeheim zu amüsieren. Christine ging als erste hinaus. Gleich darauf kam sie zurück und winkte Peter zu sich. Durch die offene Tür erspähte er seine Sekretärin. Wie er Flora kannte, mußte etwas Ungewöhnliches sie hergeführt haben. Er entschuldigte sich und ging hinaus. An der Tür schob ihm Christine ein gefaltetes Briefchen in die Hand. Sie flüsterte : »Lies es später.« Er nickte und steckte es ein. »Mr. McDermott«, sagte Flora, »ich hätte Sie nicht gestört, aber... « »Ich weiß. Was ist los?« »In Ihrem Büro wartet ein Mann. Er sagt, er arbeitet am Verbrennungsofen und hätte etwas Wichtiges für Sie. Er will's mir nicht geben und auch nicht weggehen.« Peter sah bestürzt aus. »Ich komme so schnell wie möglich.« »Bitte, beeilen Sie sich.« Flora wirkte verlegen. »Ich sag's nicht gern, Mr. McDermott, aber..., also, er riecht nicht gut!« 6 Einige Minuten vor zwölf Uhr mittags kroch ein langer schlaksiger Wartungsmann namens Billyboi Noble in die flache Grube an der Schachtsohle von Fahrstuhl Nummer vier. Es handelte sich um eine Routineinspektion, wie er sie an diesem Morgen schon an den Fahrstühlen Nummer eins, zwei und drei vorgenommen hatte. Man hielt es nicht für notwendig, dieser Prozedur wegen die Fahrstühle anzuhalten, und während Billyboi unten im Schacht herumhantierte, konnte er hoch über sich die Kabine von Nummer vier auf- und niedersteigen sehen. 7 Kleine Ursachen, große Wirkungen, dachte Peter. Er war allein in seinem Büro. Booker T. Graham hatte sich, über seinen kleinen Erfolg strahlend, vor einigen Minuten nach Haus begeben. Kleine Ursachen. Wenn Booker weniger pflichtbewußt gewesen, wenn er zur festgesetzten Zeit heimgegangen wäre, wie andere es an seiner Stelle getan hätten, wenn er nicht so eifrig gesucht hätte, dann wäre das Blatt Papier, das nun auf Peters Schreibtisch lag, vernichtet worden. Ihrer Unterredung hatte er entnommen, daß seine Besuche im Verbrennungsraum Booker heute morgen zu seiner Großtat inspiriert hatten. Es stellte sich heraus, daß der Mann sogar seine Stechkarte gelocht und weitergearbeitet hatte, ohne auf Bezahlung der Überstunden zu rechnen. Als Peter Flora hereinrief und sie anwies, für die Bezahlung der Überstunden zu sorgen, war Peter der anbetende Ausdruck in Bookers Gesicht beinahe peinlich. Was immer die Ursache sein mochte, hier lag das Ergebnis. Die Mitteilung war zwei Tage früher datiert, von der Herzogin von Croydon auf dem Spezialbriefpapier der Präsidentensuite geschrieben, und ermächtigte die Garage, Ogilvie den Wagen, »wann immer er es für angebracht hält«, zu überlassen. Peter hatte die Handschrift bereits nachgeprüft. Er hatte Flora um die Unterlagen der Croydons gebeten. Der Ordner lag aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch. Er enthielt die Korrespondenz wegen der Reservierung sowie einige Briefe von der Hand der Herzogin. Ein Graphologe würde zweifellos mehr ins Detail gehen. Aber auch für einen Laien war die Übereinstimmung unverkennbar. Die Herzogin hatte den Kriminalbeamten erklärt, daß Ogilvie nicht berechtigt gewesen sei, den Wagen zu nehmen. Sie hatte Ogilvies Aussage, er habe den Jaguar im Auftrag der Croydons und gegen Bezahlung aus New Orleans geschafft, abgestritten. Sie hatte sogar angedeutet, daß Ogilvie, und nicht die Croydons, zum Zeitpunkt des Unfalls mit dem Wagen unterwegs gewesen sei. Die Frage nach der Vollmacht hatte sie mit einem herausfordernden »Zeigen Sie sie mir!« beantwortet. Nun konnte er sie ihr zeigen. Peter McDermotts juristische Kenntnisse beschränkten sich auf Rechtsfragen, die das Hotel betrafen. Immerhin war ihm klar, daß dieses Papier für die Herzogin äußerst belastend war. Und er wußte, daß es seine Pflicht war, Captain Yolles umgehend über den Fund zu informieren. Die Hand schon auf dem Telefonhörer, zögerte er plötzlich. Er empfand keine Sympathie für die Croydons. Aus dem gesammelten Beweismaterial ging deutlich genug hervor, daß sie ein abscheuliches Verbrechen verübt und es danach feige bemäntelt hatten. Vor seinem geistigen Auge sah Peter den alten St.-Louis-Friedhof, die Trauerprozession, den großen und den kleinen weißen Sarg... Die Croydons hatten sogar ihren Komplicen Ogilvie betrogen. So verachtenswert der fette Hausdetektiv auch war, seine Schuld wog geringer als ihre. Dennoch waren der Herzog und die Herzogin durchaus bereit gewesen, Ogilvie das Verbrechen und die Strafe zuzuschieben. All das war nicht der Anlaß seines Zögerns. Der Grund war die traditionelle Höflichkeit des Wirtes dem Gast gegenüber. Und was immer die Croydons auch sonst sein mochten, sie waren Gäste des Hotels. Er würde die Polizei benachrichtigen. Aber vorher würde er die Croydons anrufen. Peter hob den Hörer ab und verlangte die Präsidentensuite. 8 Curtis O'Keefe hatte persönlich ein spätes Frühstück für sich selbst und Dodo bestellt, und es war vor einer Stunde in seine Suite gebracht worden. Aber die Mahlzeit war so gut wie unberührt geblieben. Er und Dodo hatten sich gewohnheitsmäßig zum Essen hingesetzt, aber anscheinend brachte keiner von beiden den nötigen Appetit auf. Nach einer Weile hatte Dodo sich entschuldigt und war in die angrenzende Suite zurückgekehrt, um fertigzupacken. Sie mußte in zwanzig Minuten zum Flughafen aufbrechen, Curtis O'Keefe eine Stunde später. Die Gezwungenheit zwischen ihnen bestand seit gestern nachmittag. Curtis O'Keefe hatte seinen Wutausbruch sofort und ehrlich bereut. In seinen Augen hatte Warren Trent einen Treuebruch begangen, und sein Groll darüber war keineswegs verraucht. Aber sein Ausfall gegen Dodo war unverzeihlich, und er wußte das. Schlimmer noch, er war nicht wiedergutzumachen. Trotz seiner Entschuldigungen ließ sich die Wahrheit nicht verschleiern. Er schickte Dodo wirklich weg, und ihre Delta-Air-Lines-Maschine nach Los Angeles ging heute nachmittag ab. Er hatte wirklich schon einen Ersatz für sie - Jenny LaMarsh, die in diesem Moment in New York auf ihn wartete. Gestern abend hatte er Dodo in seiner Zerknirschung groß ausgeführt. Zuerst hatten sie im Commander's Palace exquisit diniert und danach im Blauen Salon des Roosevelt-Hotels getanzt und sich unterhalten lassen. Aber der Abend war kein Erfolg gewesen, nicht etwa durch Dodos Verschulden, sondern weil er selbst nicht über seine niedergeschlagene Stimmung hinwegkam. Sie hatte ihr Bestes getan, um ihn aufzuheitern. Obwohl ihr am Nachmittag sehr elend zumute war, hatte sie sich allem Anschein nach fest vorgenommen, ihren Kummer nicht zu zeigen und so reizend wie immer zu sein. »Herrje, Curtie«, hatte sie während des Dinners ausgerufen, »eine Menge Mädels würden für eine Filmrolle, wie ich sie gekriegt habe, mit Freuden ihre Playtex-Hüftgürtel hergeben!« Und später hatte sie ihre Hand auf seine gelegt und gesagt: »Du bist doch der Süßeste, Curtie. Und du wirst's immer bleiben.« Ihre gutgemeinten Aufmunterungsversuche hatten jedoch seine Niedergeschlagenheit nur noch verstärkt, und schließlich hatte er sie damit angesteckt. Curtis O'Keefe führte seine Mißstimmung auf den Verlust des Hotels zurück, obwohl er solche Fehlschläge sonst schnell verschmerzte. Während seiner langen Karriere hatte er seinen Teil an geschäftlichen Enttäuschungen erlebt und sich dazu erzogen, sie rasch abzuschütteln und etwas Neues in Angriff zu nehmen, anstatt seine Zeit mit Lamentos zu vergeuden. Aber diesmal hatte ihn nicht einmal eine ausgiebige Nachtruhe von seinen Depressionen befreit. Das machte ihn sogar Gott gegenüber gereizt. In seinem Morgengebet schwang ein Unterton scharfer Kritk mit... »Du hast es für richtig gehalten, Dein St. Gregory fremden Händen zu übergeben... Zweifellos hattest Du Deine unerforschlichen Gründe dafür, selbst wenn so erfahrene Sterbliche wie Dein Knecht die Notwendigkeit nicht einsehen..« Er betete nicht so lange wie sonst und ertappte Dodo nachher beim Packen seiner Sachen. Als er protestierte, erwiderte sie: »Aber ich mach's doch gern, Curtie. Und wenn ich's diesmal nicht täte, wer würde es sonst tun?« Es widerstrebte ihm, ihr zu erklären, daß keine ihrer Vorgängerinnen jemals seine Koffer ein- oder ausgepackt und daß er einen Hotelangestellten damit betraut hätte. In Zukunft würde es vermutlich wieder so sein. Zu diesem Zeitpunkt war er darauf verfallen, ein ausgiebiges Frühstück zu bestellen, aber die Idee hatte nicht gezündet, obwohl Dodo wiederum alles tat, um sich und ihn über den Abschied hinwegzutrösten. »Herrje, Curtie, wir brauchen doch nicht traurig zu sein. Es ist ja nicht so, daß wir uns niemals wiedersehen. Wir können uns doch in Los Angeles treffen, so oft wir wollen.« Aber O'Keefe, der das nicht zum erstenmal mitmachte, wußte, daß es kein Wiedersehen geben würde. Im übrigen war es nicht die Trennung von Dodo, die ihm zu Herzen ging, sondern der Verlust des Hotels. Die Minuten verstrichen. Dodo mußte aufbrechen. Ihr großes Gepäck war bereits von zwei Boys in die Halle befördert worden. Nun erschien der Chefportier, um das Handgepäck zu holen und Dodo zum Taxi zu geleiten. Herbie Chandler, über Curtis O'Keefes Bedeutung im Bilde und stets empfänglich für ein hohes Trinkgeld, hatte den Auftrag persönlich übernommen. Er wartete an der Tür. O'Keefe sah auf die Uhr und ging zur Verbindungstür hinüber. »Du hast sehr wenig Zeit, meine Liebe.« »Ich muß noch meine Fingernägel fertiglackieren, Curtie.« Sich im stillen darüber verwundernd, warum alle Frauen die Nagelpflege grundsätzlich bis zum letzten Moment aufschoben, machte Curtis O'Keefe kehrt und überreichte Herbie Chandler einen Fünfdollarschein. »Teilen Sie sich das mit den beiden anderen.« Chandlers Wieselgesicht hellte sich auf. »Vielen Dank, Sir.« Natürlich würde er teilen, nur würden die beiden andern je fünfzig Cents bekommen, während er vier Dollar für sich behielt. Dodo trat aus dem angrenzenden Zimmer. Jetzt wäre ein Tusch am Platz, dachte Curtis O'Keefe, das Schmettern von Trompeten und das aufwühlende Säuseln von Streichern. Sie hatte ein schlichtes gelbes Kleid an und den breitrandigen Hut auf, den sie auch am Dienstag bei der Ankunft getragen hatte. Das aschblonde Haar hing locker um ihre Schultern. Sie sah ihn mit ihren großen blauen Augen an. »Leb wohl, liebster Curtie.« Sie legte ihm die Arme um den Hals und küßte ihn. Unwillkürlich zog er sie an sich. Es verlangte ihn plötzlich danach, das Gepäck vom Chefportier wieder heraufholen zu lassen und Dodo zu bitten, bei ihm zu bleiben und ihn nie zu verlassen. Er tat den Gedanken als sentimentalen Unsinn ab. Auf jeden Fall gab es noch Jenny LaMarsh. Morgen um diese Zeit... »Leb wohl, meine Liebe. Ich werde oft an dich denken und deine Karriere genau verfolgen.« An der Tür wandte sie sich um und winkte. Er war sich nicht sicher, aber er hatte den Eindruck, daß sie weinte. Herbie Chandler schloß die Tür von außen. Chandler läutete nach einem Fahrstuhl. Während sie warteten, reparierte Dodo ihr Make-up mit einem Taschentuch. Der Fahrstuhl schien heute morgen zu trödeln. Herbie Chandler drückte noch einmal mehrere Sekunden lang auf den Knopf. Er war noch immer nervös. Seit seiner gestrigen Unterhaltung mit McDermott saß er wie auf Kohlen. Andauernd fragte er sich, wann der Ruf an ihn ergehen würde - oder vielleicht sogar eine Vorladung von Warren Trent persönlich -, der seiner lukrativen Tätigkeit im St. Gregory ein Ende bereiten würde. Bisher hatte er nichts gehört, und heute morgen war das Gerücht umgegangen, daß das Hotel an irgendeinen alten Knaben verkauft worden war. Würde sich eine Veränderung zu seinem Vorteil auswirken? Herbie Chandler sagte sich bekümmert, daß das wohl kaum der Fall sein würde, wenigstens dann nicht, wenn McDermott bliebe, und der würde bestimmt bleiben. Die Kündigung des Chefportiers würde sich höchstens um ein paar Tage verzögern, das war alles. McDermott! Der verhaßte Name trieb ihm die Galle hoch. Wenn ich Schneid hätte, dachte Herbie, würde ich dem Bastard ein Messer zwischen die Rippen stoßen. Plötzlich kam ihm eine Idee. Es gab andere, weniger drastische, aber fast genauso unerfreuliche Methoden, um jemandem wie McDermott das Leben zu vergällen. Besonders in New Orleans. Natürlich kostete so etwas Geld, aber er hatte noch die fünfhundert Dollar, die McDermott so großspurig zurückgewiesen hatte. Es würde ihm vielleicht bald leid tun, daß er sie nicht genommen hatte. Er würde das Geld mit Vergnügen opfern, dachte Herbie, wenn er dafür die Gewißheit hätte, daß McDermott sich blutig und zerschunden in irgendeinem Rinnstein krümmte. Herbie hatte einmal jemanden gesehen, der gerade eine solche Abreibung hinter sich hatte. Es war kein hübscher Anblick gewesen. Der Chefportier fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Je länger er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm sein Plan. Sobald er wieder in der Halle war, würde er einen Anruf tätigen. Die Sache konnte rasch abgemacht werden. Vielleicht schon heute abend. Endlich kam ein Fahrstuhl. Die Türen glitten auf. Es waren bereits mehrere Leute drin, die Dodo höflich Platz machten. Herbie Chandler folgte ihr. Die Türen schlossen sich. Es war Fahrstuhl Nummer vier und die Zeit elf Minuten nach zwölf Uhr. 9 Der Herzogin von Croydon kam es so vor, als warte sie auf das Explodieren einer unsichtbaren Bombe. Die Lunte brannte, aber ob sie zünden würde und wo und wann, würde sich erst herausstellen, wenn es soweit war. Sie brannte seit vierzehn Stunden. Seit gestern nacht, nachdem die Kriminalbeamten gegangen waren, hatte sich nichts Neues ereignet. Quälende Fragen blieben unbeantwortet. Was tat die Polizei? Wo war Ogilvie? Wo der Jaguar? Gab es irgendein winziges Beweisstück, das die Herzogin trotz ihres Scharfsinns übersehen hatte? Selbst jetzt noch hielt sie das für ausgeschlossen. Eins war wichtig: Die Croydons durften sich von ihrer inneren Anspannung nichts anmerken lassen. Sie mußten unbekümmert erscheinen. Deshalb hatten sie zu ihrer gewöhnlichen Zeit gefrühstückt. Auf Drängen der Herzogin hatte der Herzog von Croydon mit London und Washington telefoniert. Ihre Abreise von New Orleans wurde auf den folgenden Tag festgesetzt und vorbereitet. Am Vormittag führte die Herzogin, wie an den meisten anderen Tagen, die Bedlington-Terrier aus. Vor einer halben Stunde war sie in die Präsidentensuite zurückgekehrt. Es war kurz vor zwölf. Noch immer hatten sie kein Sterbenswörtchen über die Angelegenheit gehört, auf die es ihnen am meisten ankam. Gestern nacht schien die Position der Croydons, logisch betrachtet, unangreifbar zu sein. Heute morgen wirkte die Logik wenig überzeugend und unzulänglich. »Man könnte fast meinen«, sagte der Herzog schüchtern, »daß sie versuchen, uns durch Schweigen kleinzukriegen.« Er stand im Salon am Fenster und blickte hinaus, wie er es in den letzten Tagen so oft getan hatte. Im Gegensatz zu anderen Gelegenheiten klang seine Stimme heute klar. Obwohl Alkohol zur Hand war, hatte er seit gestern keinen Tropfen getrunken. »Sollte das der Fall sein«, erwiderte die Herzogin, »werden wir dafür sorgen, daß...« Sie wurde vom Läuten des Telefons unterbrochen. Wie jeder Anruf an diesem Morgen zerrte das plötzliche Schrillen an ihren bis zum Zerreißen gespannten Nerven. Die Herzogin war dem Telefon am nächsten. Sie streckte die Hand aus und hielt mitten in der Bewegung inne. Eine Ahnung sagte ihr, daß dieser Anruf sich von den übrigen unterschied. »Soll ich lieber rangehen?« fragte der Herzog mitfühlend. Sie schüttelte den Kopf, die kurze Schwächeanwandlung unterdrückend. Sie nahm den Hörer ab. »Ja?« Eine Pause. »Am Apparat«, sagte sie, bedeckte das Mundstück mit der Hand und fügte an ihren Gatten gewandt hinzu: »Der Mann vom Hotel - McDermott -, der gestern nacht hier war.« »Ja, ich erinnere mich«, sagte sie wieder ins Telefon. »Sie waren dabei, als jene lächerlichen Anschuldigungen... « Die Herzogin verstummte und hörte zu. Ihr Gesicht erbleichte. Sie schloß die Augen und öffnete sie wieder. »Ja«, sagte sie langsam. »Ja, ich verstehe.« Sie legte den Hörer auf. Ihre Hände zitterten. Der Herzog von Croydon sagte: »Irgend etwas schiefgegangen.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Die Herzogin nickte betäubt. »Die Vollmacht.« Ihre Stimme war kaum vernehmbar. »Die Vollmacht, die ich geschrieben habe, ist gefunden worden. Der Hotelmanager hat sie.« Ihr Mann war vom Fenster in die Mitte des Raumes gekommen. Er stand reglos da, mit lose herabhängenden Armen, und ließ die Information in sich einsickern. Schließlich fragte er: »Und jetzt?« »Er benachrichtigte die Polizei. Er sagt, er hätte beschlossen, uns zuerst anzurufen.« Sie faßte sich verzweifelt an die Stirn. »Die Vollmacht war der schlimmste Fehler. Wenn ich sie nicht ausgestellt hätte... « »Nein«, sagte der Herzog, »wenn nicht das, dann wäre es irgend etwas anderes gewesen. Dich trifft keine Schuld. Den ärgsten Fehler, mit dem alles anfing, habe ich begangen.« Er ging zu der Anrichte, die als Bar diente, und goß sich einen steifen Scotch mit Soda ein. »Ich nehme nur den einen, nicht mehr. Wird vermutlich eine Weile dauern, bevor ich den nächsten kriege.« »Was hast du vor?« »Es ist ein bißchen spät, von Anstand zu reden.« Er schüttete den Drink hinunter. »Aber falls noch ein paar kümmerliche Reste übrig sind, will ich versuchen sie zu retten.« Er begab sich ins angrenzende Schlafzimmer und kam beinahe sofort mit einem leichten Regenmantel und einem Homburg zurück. »Wenn's geht, möchte ich bei der Polizei sein, bevor sie zu mir kommt«, sagte der Herzog von Croydon. »Ich glaube, man nennt das: sich freiwillig stellen. Viel Zeit habe ich vermutlich nicht mehr, deshalb will ich das, was ich zu sagen habe, rasch abmachen.« Die Herzogin sah ihn an. In diesem Moment zu sprechen überstieg ihre Kraft. Mit beherrschter, leiser Stimme sagte der Herzog: »Du sollst wissen, daß ich dir für alles, was du getan hast, dankbar bin. Wir haben beide Fehler gemacht, aber ich bin dir trotzdem dankbar. Ich werde mein möglichstes tun, damit du nicht in die Sache hineingezogen wirst. Geschieht es doch, werde ich sagen, daß die Idee, den Unfall zu vertuschen, von mir stammt und daß ich dich überredet habe.« Die Herzogin nickte matt. »Noch eins. Ich nehme an, ich werde einen Anwalt brauchen. Du könntest dich darum kümmern, wenn du magst.« Der Herzog setzte seinen Hut auf und stippte ihn mit einem Finger zurecht. Für jemanden, dessen Leben und Zukunft vor wenigen Minuten vernichtet worden waren, war seine Ruhe bemerkenswert. »Du wirst für den Anwalt Geld brauchen. Eine ganze Menge vermutlich. Bezahl ihn von den fünfundzwanzigtausend Dollar, die du nach Chikago mitnehmen wolltest, und bring den Rest wieder zur Bank. Jetzt ist alle Geheimnistuerei überflüssig.« Nichts deutete darauf hin, daß die Herzogin ihn gehört hatte. Ein Ausdruck des Mitleids flog über das Gesicht ihres Mannes. »Es wird lange dauern...«, sagte er unsicher und streckte die Arme nach ihr aus. Kalt und ohne Hast wandte die Herzogin sich ab. Der Herzog wollte etwas sagen, überlegte es sich jedoch anders. Mit einem leichten Schulterzucken drehte er sich um, ging leise hinaus und schloß die Tür hinter sich. Ein, zwei Minuten blieb die Herzogin unbeweglich sitzen und dachte an die Zukunft und die unmittelbar vor ihr liegende Bloßstellung und Schande. Dann siegte die Gewohnheit, und sie erhob sich. Zunächst würde sie für einen Anwalt sorgen; das war das wichtigste. Später würde sie über die Mittel für einen Selbstmord nachdenken. Zunächst aber mußte das Geld an einem sicheren Platz verstaut werden. Sie ging in ihr Schlafzimmer. Nach einigen Minuten, in denen sie zuerst ungläubig, dann verzweifelt sämtliche Winkel und Ecken absuchte, wurde ihr klar, daß die Aktenmappe verschwunden war. Sie konnte nur gestohlen worden sein. Als sie die Möglichkeit erwog, die Polizei zu informieren, brach die Herzogin von Croydon in wildes, hysterisches Gelächter aus. Wenn man schnell einen Fahrstuhl braucht, dachte der Herzog von Croydon, kann man damit rechnen, daß er besonders langsam kommt. Das Warten war unerträglich. Endlich hörte er den Fahrstuhl in dem Stockwerk über sich. Gleich darauf hielt er in der neunten Etage, und die Türen glitten auseinander. Den Bruchteil einer Sekunde lang zögerte der Herzog. Es schien ihm, als hätte er seine Frau aufschreien gehört. Er war stark versucht, umzukehren, entschied sich dann jedoch dagegen. Er betrat den Fahrstuhl Nummer vier. In der Kabine befanden sich bereits mehrere Leute, unter ihnen ein attraktives blondes Mädchen und der Chefportier, der den Herzog wiedererkannte. »Guten Tag, Euer Gnaden.« Der Herzog von Croydon nickte zerstreut. Die Türen glitten zu. 10 Es dauerte fast die ganze Nacht und bis in den Morgen hinein, bevor Keycase Milne sein Glück zu fassen vermochte und nicht mehr für eine Halluzination hielt. Als er das Geld entdeckte, das er ahnungslos aus der Präsidentensuite mitgenommen hatte, glaubte er zuerst zu träumen. Er war in seinem Zimmer umhergelaufen, um wach zu werden. Aber das nützte nichts, denn er war auch im Traum wach. All das machte ihn so konfus, daß er erst bei Tagesanbruch einschlief und dann so tief und fest schlummerte, daß er erst am späten Vormittag erwachte. Typisch für Keycase war jedoch, daß die Nacht nicht vergeudet wurde. Während er sich mit Zweifeln herumschlug, machte er Pläne und traf Vorsichtsmaßregeln für den Fall, daß er nicht geträumt und wirklich fünfzehntausend Dollar erbeutet hatte. So viel Geld war ihm während seiner langjährigen Betätigung als professioneller Dieb noch nie zwischen die Finger geraten. Besonders bemerkenswert erschien ihm dabei, daß es nur zwei Probleme zu lösen galt, um das Geld unangefochten aus dem Hotel zu schleusen. Das erste war der Zeitpunkt seiner Abreise, das zweite der Transport des Geldes. Beide Fragen wurden noch in der Nacht zufriedenstellend geklärt. Beim Verlassen des Hotels durfte er möglichst kein Aufsehen erregen. Folglich mußte er sich normal abmelden und seine Rechnung bezahlen. Alles andere wäre pure Torheit gewesen, hätte ihn als Betrüger entlarvt und zu Nachforschungen geführt. Keycase wäre am liebsten auf der Stelle abgereist, widerstand aber der Versuchung. Eine Abreise mitten in der Nacht, die womöglich eine Diskussion darüber herausforderte, ob noch ein Tag mehr auf die Rechnung gesetzt werden sollte oder nicht, hatte zu viele Nachteile. Der Nachtkassierer würde sich an ihn erinnern und ihn beschreiben können. Das galt auch für andere Angestellte. Nein! - Der Vormittag war die günstigste Zeit. Wenn er sich einem Schub abreisender Gäste anschloß, würde er unbeachtet bleiben. Natürlich war der Aufschub nicht ganz ungefährlich. Der Herzog und die Herzogin von Croydon konnten den Verlust des Geldes entdecken und die Polizei alarmieren. Die Folge wäre Überwachung der Halle und Gepäckkontrolle bei den abreisenden Gästen. Auf der Kreditseite stand jedoch, daß nichts auf Keycase als den Täter hinwies und daß man wohl kaum sämtliche Gepäckstücke durchsuchen würde. Ferner sagte Keycase ein Instinkt, daß das Vorhandensein einer so hohen Geldsumme in kleinen Scheinen sowie ihr Aufbewahrungsort zum mindesten seltsam, wenn nicht sogar verdächtig war. Würden die Croydons wirklich die Polizei alarmieren? Es war immerhin denkbar, daß sie es nicht tun würden. Das zweite Problem war der Transport des Geldes. Keycase erwog, es mit der Post zu versenden und an sich selbst zu adressieren, an ein Hotel in irgendeiner anderen Stadt, wo er es in ein oder zwei Tagen abholen konnte. Mit Bedauern sagte er sich, daß die Summe zu hoch war. Er würde zu viele Päckchen machen müssen und damit vielleicht die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Er würde das Geld bei sich tragen müssen. Aber wie? Natürlich nicht in der Aktenmappe, die er aus dem Schlafzimmer der Herzogin entwendet hatte. Bevor er etwas in Angriff nahm, mußte er die Tasche verschwinden lassen. Keycase machte sich sogleich an die Arbeit. Sorglich trennte er sie mit Hilfe von Rasierklingen auseinander und zerschnitt das Leder in kleine Schnipsel. Es war ein mühsames und langwieriges Unternehmen. Dann und wann spülte er eine Portion Schnipsel in der Toilette hinunter, war jedoch seiner Zimmernachbarn wegen darauf bedacht, es nicht zu häufig zu tun. Es dauerte über zwei Stunden. Schließlich war von der Tasche nichts mehr vorhanden außer den Metallscharnieren und dem Schloß. Keycase steckte sie ein, verließ das Zimmer und schlenderte den Korridor entlang. Nahe bei den Fahrstühlen standen mehrere Sandurnen. Er wühlte ein Loch in den Sand und stopfte Scharniere und Schloß möglichst tief hinein. Vermutlich würden sie irgendwann gefunden werden, aber erst, wenn er längst über alle Berge war. Inzwischen war es ein bis zwei Stunden vor Tagesanbruch und totenstill im Hotel. Keycase kehrte in sein Zimmer zurück und verpackte seine Habseligkeiten bis auf die wenigen Dinge, die er noch brauchen würde. Er benutzte die zwei Koffer, mit denen er am Dienstag gekommen war. In dem größeren verstaute er die fünfzehntausend Dollar, nachdem er sie in mehrere schmutzige Oberhemden eingewickelt hatte. Dann legte er sich schlafen. Er hatte den Wecker auf zehn Uhr gestellt, aber entweder versagte der Wecker, oder er hörte ihn nicht. Als er erwachte, war es kurz vor halb zwölf, und die Sonne schien hell ins Zimmer. Der Schlaf hatte eines zuwege gebracht. Keycase war endlich überzeugt davon, daß die Geschehnisse der letzten Nacht keine Täuschung waren. Eine Niederlage war durch Zauberkraft in einen glänzenden Triumph verwandelt worden. Keycase frohlockte. Er zog sich an und rasierte sich, packte zu Ende und schloß die Koffer. Bevor er in die Halle hinunterging, um die Rechnung zu bezahlen und die Lage zu peilen, beseitigte er die überzähligen Schlüssel - für die Zimmer 449, 641, 803, 1062 und die Präsidentensuite. Beim Rasieren hatte er unten an der Badezimmerwand eine Reparaturklappe für den Klempner entdeckt. Er schraubte die Deckplatte ab und warf die Schlüssel in den Schacht. Er hörte, wie sie weit unten aufplumpsten. Seinen eigenen Zimmerschlüssel behielt er, um ihn nachher ordnungsgemäß abzuliefern. »Byron Meaders« Abreise aus dem St.-Gregory-Hotel mußte in jeder Beziehung normal verlaufen. In der Halle herrschte mäßiger Betrieb. Keycase bemerkte nichts Ungewöhnliches. Er bezahlte seine Rechnungen und wurde von der Kassiererin mit einem freundlichen Lächeln bedacht. »Ist das Zimmer jetzt frei, Sir?« Er erwiderte das Lächeln. »In ein paar Minuten. Ich muß bloß noch meine Koffer holen.« Befriedigt begab er sich wieder hinauf. Oben in der 830 warf er einen letzten Blick in die Runde. Er hatte nichts zurückgelassen; keinen Fetzen Papier, keine Streichholzschachtel, nichts, was seine Identität hätte verraten können. Mit einem feuchten Handtuch wischte er alle Stellen ab, wo er seine Fingerabdrücke vermutete. Dann nahm er seine Koffer und ging hinaus. Auf seiner Uhr war es zehn Minuten nach zwölf. Er hielt den größeren Koffer krampfhaft fest. Beim Gedanken, daß er mit ihm durch die Halle laufen mußte, klopfte sein Puls schneller, wurden seine Hände feucht. Der Fahrsruhl kam beinahe sofort. Keycase hörte, wie er in der neunten Etage hielt, weiterfuhr und erneut hielt. Die Türen öffneten sich direkt vor Keycase. Ganz vorn in der Kabine stand der Herzog von Croydon. Einen schreckerfüllten Augenblick lang trieb es Keycase, kehrtzumachen und davonzulaufen. Er riß sich mühsam zusammen. Seine Vernunft sagte ihm, daß die Begegnung ein Zufall war. Ein rascher Blick bestätigte das. Der Herzog war allein. Er hatte Keycase überhaupt noch nicht bemerkt. Seiner Miene nach zu schließen, war er mit seinen Gedanken ganz woanders. Der Fahrstuhlführer sagte: »Wir fahren runter!« Neben dem Fahrstuhlführer stand der Chefportier, den Keycase von der Hotelhalle her kannte. Der Chefportier zeigte mit einem Nicken auf die beiden Koffer und erkundigte sich: »Soll ich die zwei nehmen, Sir?« Keycase schüttelte den Kopf. Als er die Kabine betrat, wichen der Herzog von Croydon und ein schönes blondes Mädchen einen Schritt zurück, um ihm Platz zu machen. Die Türen von Nummer vier glitten zu. Der Fahrstuhlführer Cy Lewin drehte den Hebel auf »Ab«. In demselben Moment ertönte ein durchdringendes Knirschen, das protestierende Schrillen gemarterten Metalls, und der Fahrkorb stürzte unaufhaltsam in den Schacht. 11 Peter McDermott entschied, daß es seine Pflicht war, Warren Trent über die Affäre Croydon persönlich zu informieren. Er fand den Hotelbesitzer in seinem Büro im Zwischengeschoß. Die anderen Konferenzteilnehmer waren gegangen. Aloysius Royce war da und half seinem Arbeitgeber, seine persönliche Habe zusammenzusuchen und zu verpacken. »Ich dachte, ich könnte ebensogut gleich damit anfangen«, erklärte Warren Trent. »Ich brauche das Büro nicht mehr. Vermutlich wird es jetzt Ihres.« In der Stimme des älteren Mannes lag kein Groll mehr, trotz ihres Wortwechsels vor einer knappen halben Stunde. Aloysius Royce arbeitete leise weiter, während die beiden anderen sich unterhielten. Warren Trent lauschte Peters Bericht aufmerksam. Peter schilderte die Ereignisse ihrer zeitlichen Abfolge nach und schloß mit seinem Anruf bei der Herzogin von Croydon und der Polizei. »Falls die Croydons das getan haben«, sagte Warren Trent, »habe ich kein Mitleid mit ihnen. Sie haben sich in der Angelegenheit gut verhalten, McDermott.« Nachträglich fügte er knurrend hinzu: »Jetzt werden wir wenigstens die verdammten Köter los.« »Ich fürchte, Ogilvie ist tief darin verwickelt.« Der ältere Mann nickte. »Diesmal ist er zu weit gegangen. Er muß die Suppe auslöffeln, die er sich eingebrockt hat. Hier hat er nichts mehr zu suchen.« Warren Trent hielt inne und überlegte. Nach einer Weile sagte er: »Vermutlich haben Sie sich manchmal darüber gewundert, warum ich Ogilvie gegenüber immer so nachsichtig war.« »Ja«, sagte Peter. »Er war der Neffe meiner Frau. Ich bin stolz auf diese Tatsache, und ich kann Ihnen versichern, daß meine Frau und Ogilvie nichts miteinander gemein hatten. Aber vor vielen Jahren bat sie mich, ihm hier einen Job zu geben, und das tat ich. Später, als sie seinetwegen in Sorge war, versprach ich ihr, ihn nie zu entlassen. Und das habe ich eigentlich auch nie tun wollen.« Wie konnte man erklären, fragte sich Warren Trent, daß Ogilvie zwar nur ein unvollkommenes und schwaches Bindeglied zwischen ihm selbst und Hester gewesen war, aber das einzige, was er hatte. »Tut mir leid«, sagte Peter. »Ich wußte nicht...« »Daß ich verheiratet war?« Der ältere Mann lächelte. »Es gibt nur noch wenige Menschen, die das wissen. Meine Frau kam mit mir hierher. Wir waren damals beide noch jung. Kurz danach starb sie. Es scheint sehr lange her zu sein.« Es erinnerte ihn an die Einsamkeit, die er all die Jahre ertragen hatte, und an die noch größere Einsamkeit, die vor ihm lag. Peter sagte: »Kann ich irgend etwas... « Die Tür zum äußeren Büro flog auf. Christine stolperte herein. Sie war gerannt und hatte einen Schuh verloren. Sie war außer Atem und ihr Haar zerzaust. Keuchend brachte sie heraus: »Ein schrecklicher Unfall! Einer der Fahrstühle! Ich war in der Halle..., es ist entsetzlich! Mehrere Menschen sind eingequetscht..., sie schreien!« Peter McDermott schob sie beiseite und raste hinaus. Aloysius Royce war dicht hinter ihm. 12 Drei Dinge hätten Fahrstuhl Nummer vier vor dem Abstürzen retten sollen. Ein Regulator, der bei Überschreiten der zulässigen Geschwindigkeit automatisch bremste. Bei Fahrstuhl Nummer vier reagierte er zu langsam, aber dieser Defekt war bisher niemandem aufgefallen. Eine Fangvorrichtung, bestehend aus vier Klammern, die sich, vom Regulator ausgelöst, gegen die Führungsschienen pressen und den Fahrkorb stoppen sollte. Auf der einen Seite funktionierten die Klammern, auf der anderen versagten sie, weil der Regulator zu spät reagierte und der Mechanismus alt und verbraucht war. Endlich hätte noch die Nothaltevorrichtung das Unheil verhindern können. Das war ein einzelner roter Knopf, der, sobald man auf ihn drückte, den Strom abschaltete und den Fahrstuhl lahmlegte. In modernen Aufzügen war er hoch angebracht und deutlich zu sehen. Bei der Nummer vier war er in Kniehöhe. Cy Lewin beugte sich seitwärts und fummelte ungeschickt herum. Er fand ihn eine Sekunde zu spät. Da das eine Paar Klammern die Kabine festhielt, das andere nicht, hing sie schief und bog sich durch. Krachend rissen Metallteile auseinander; ihr Eigengewicht und die schwere Last in ihrem Inneren bewirkte, daß die Kabine barst. Zwischen Tür und Wand, am unteren Ende des stark geneigten Fußbodens, entstand ein breiter, langer Spalt. Kreischend, sich wild aneinanderklammernd, glitten die Fahrgäste auf ihn zu. Cy Lewin, der ihm am nächsten war, fiel als erster. Sein Schrei bei seinem Sturz neun Stockwerke tief verstummte erst, als er auf der betonierten Schachtsohle aufschlug. Ein Ehepaar aus Salt Lake City fiel als nächstes. Sie hielten einander umfaßt und starben, wie Cy Lewin, als sie unten aufprallten. Der Herzog von Croydon fiel unbeholfen und prallte auf eine Eisenstange an der Wandung des Schachts. Sie durchbohrte ihn, brach ab, und er fiel weiter. Er war tot, bevor sein Körper unten ankam. Irgendwie gelang es den anderen, sich festzuhalten. Dann gaben die beiden Klammern nach, und der halbzertrümmerte Fahrkorb sauste in die Tiefe. Auf halbem Wege rutschte ein junger Delegierter des Zahnärztekongresses wild um sich schlagend durch den Spalt. Er überlebte den Unfall, starb jedoch drei Tage danach an inneren Verletzungen. Herbie Chandler hatte mehr Glück. Er fiel, als die Kabine die Schachtsohle beinahe erreicht hatte. Dabei wurde er in den Nachbarschacht geschleudert und zog sich Kopfverletzungen zu, von denen er sich wieder erholte. Jedoch machte ihn eine schwere Beschädigung der Wirbelsäule zum lebenslänglichen Krüppel. Eine Frau mittleren Alters lag mit gebrochenem Unterschenkel und zerschmettertem Unterkiefer auf dem Boden des Fahrstuhls. Als die Kabine unten aufschlug, wurde Dodo hinausgeschleudert. Sie brach sich einen Arm und prallte mit dem Kopf gegen eine Führungsschiene. Bewußtlos, dem Tode nahe, lag sie da, und aus einer schweren Kopfwunde strömte Blut. Drei andere - ein Gold-Crown-Cola-Delegierter und seine Frau und Keycase Milne - blieben wie durch ein Wunder unversehrt. Unter dem zersplitterten Fahrkorb lag Billyboi Noble, der Wartungsmann, der vor zehn Minuten in den Schacht gekrochen war, mit zerschmetterten Beinen und Becken, blutend und schreiend. 13 In einem Tempo, das er im Hotel noch nie eingeschlagen hatte, raste Peter McDermott die Treppe hinunter. In der Halle empfing ihn ein Höllenlärm. Schreie drangen durch die Fahrstuhltüren, und mehrere Frauen jammerten laut. Verwirrte Zurufe waren zu hören. Von einer hin und her wogenden Menschenmenge umlagert, versuchten ein kreidebleicher Direktionsassistent und ein Boy die Türen des Fahrstuhls Nummer vier aufzubrechen. Kassierer, Receptionisten und Büroangestellte strömten hinter Schaltern und Schreibtischen hervor. Gäste aus den Restaurants und der Bar ergossen sich in die Halle, gefolgt von den Kellnern und Barmixern. Im Hauptspeisesaal war die Lunchmusik verstummt, da sich die Kapelle dem Massenauszug angeschlossen hatte. Eine Reihe von Küchenhelfern kam durch den Personaleingang. Als Peter unten anlangte, wurde er mit Fragen überschüttet. So laut er konnte, brüllte er: »Ruhe!« Für einen Moment wurde es still, und er rief wieder: »Treten Sie bitte zurück, und wir werden unser möglichstes tun.« Er fing den Blick eines Receptionisten ein. »Hat jemand die Feuerwehr benachrichtigt?« »Ich bin nicht sicher, Sir. Ich dachte...« »Dann tun Sie's jetzt!« brüllte Peter. Einem anderen Empfangsangestellten befahl er: »Rufen Sie die Polizei an. Sagen Sie ihr, wir brauchen Ambulanzen, Ärzte und jemanden, der die Menge in Schach hält.« Beide Männer verschwanden im Laufschritt. Ein hochgewachsener hagerer Mann in Tweedjacke und Drillichhosen trat vor. »Ich bin Marineoffizier. Sagen Sie mir, was ich tun kann.« »Die Mitte der Halle muß frei bleiben. Bilden Sie aus den Hotelangestellten einen Kordon. Lassen Sie nach dem Haupteingang hin eine Passage frei. Klappen Sie die Drehtür zusammen.« »Okay!« Der große Mann machte kehrt und gab eine Reihe knatternder Kommandos. Die anderen gehorchten bereitwillig, als seien sie dankbar, daß jemand die Führung übernommen hatte. Bald erstreckte sich eine von Kellnern, Köchen, Buchhaltern, Boys, Musikern und einigen requirierten Gästen gebildete Kette quer durch die Halle bis zum Portal an der St. Charles Avenue. Aloysius Royce hatte sich zu den zwei Männern gesellt, die an der Fahrstuhltür herumhantierten. Er wandte sich um und rief Peter zu: »Ohne Werkzeug schaffen wir das nicht. Wir müssen woanders durchbrechen.« Ein Wartungsarbeiter in Overalls kam in die Halle gerannt. »Wir brauchen Hilfe an der Schachtsohle. Ein Mann ist unter dem Fahrkorb eingeklemmt. Wir können ihn nicht rausholen und kommen an die anderen nicht ran.« »Kommt, schnell!« Peter sauste auf die Personaltreppe zu, dicht gefolgt von Aloysius Royce. Ein schwachbeleuchteter grauer Backsteintunnel führte zum Fahrstuhlschacht. Hier waren die Schreie, die sie oben gehört hatten, viel lauter und unheimlicher. Die zertrümmerte Kabine befand sich direkt vor ihnen, aber der Zugang zu ihr war versperrt von verbogenen Metallteilen des Fahrstuhls und der Installation, die durch die Wucht des Aufpralls stark beschädigt worden war. Wartungsarbeiter mühten sich mit Brecheisen ab. Andere standen hilflos daneben. Zurufe, das Rattern von Maschinen vermischten sich mit dem unaufhörlichen Ächzen und Stöhnen aus dem Inneren der Kabine. Peter brüllte den unbeschäftigten Männern zu: »Schafft mehr Licht her!« Mehrere hasteten durch den Tunnel davon. Zu dem Mann in Overalls sagte er: »Gehen Sie zurück in die Halle. Zeigen Sie den Feuerwehrleuten den Weg.« »Und schicken Sie einen Arzt runter!« rief Aloysius Royce, der vor den Trümmern kniete. »Ja«, sagte Peter, »lassen Sie oben ausrufen, daß wir einen Arzt brauchen, und schicken Sie ihn mit jemanden herunter. Es sind mehrere Ärzte im Hotel.« Der Mann nickte und rannte los. Immer mehr Leute fanden sich im Tunnel ein und begannen ihn zu blockieren. Der Chefingenieur Doc Vickery zwängte sich durch die Menge. »Mein Gott!« Er starrte auf die Unglücksstätte. »Mein Gott! Ich hab' sie gewarnt! Ich hab' immer wieder gesagt, wenn wir kein Geld reinstecken, würde was passieren...« Er packte Peter am Arm. »Sie haben's gehört, Jungchen. Sie haben mich oft genug sagen hören... « »Später, Doc.« Peter machte seinen Arm los. »Wie können wir die Leute rausholen?« Doc Vickery schüttelte hilflos den Kopf. »Dazu müßten wir schweres Werkzeug haben..., Winden, Abstützgeräte, Schweißbrenner... « Es war offenkundig, daß der Chefingenieur der Situation nicht gewachsen war. »Überprüfen Sie die anderen Fahrstühle«, sagte Peter. »Stoppen Sie sie, wenn's sein muß. Wir dürfen keine Wiederholung riskieren.« Der alte Mann nickte benommen und trabte gebeugt und gebrochen davon. Peter packte einen grauhaarigen Techniker, den er erkannte, bei der Schulter. »Kümmern Sie sich darum, daß der Tunnel geräumt wird. Schicken Sie alle weg, die nicht unmittelbar mit den Rettungsarbeiten zu tun haben.« Der Techniker nickte. Er rief Befehle und drängte die Schaulustigen langsam zurück. Aloysius Royce hatte sich auf allen vieren unter die Trümmer geschoben und hielt den verletzten, stöhnenden Wartungsmann an den Schultern. Trotz der schlechten Beleuchtung war deutlich zu sehen, daß seine Beine und sein Unterleib unter Holz- und Eisenteilen begraben waren. »Billyboi«, sagte Royce tröstend, »wir holen Sie raus, das verspreche ich Ihnen. Es dauert nicht mehr lange.« Die Antwort war ein qualvoller Aufschrei. Peter nahm die Hand des Verletzten. »Royce hat recht. Wir sind alle da. Die Hilfe kommt gerade.« Von der Straße her war das immer stärker anschwellende Heulen von Sirenen zu hören. 14 Der telefonische Hilferuf des Empfangs erreichte die Brandwache im Rathaus. Bevor er seine Nachricht ganz durchgegeben hatte, ertönte in sämtlichen städtischen Feuerwachen ein schrilles Alarmsignal. Gleich darauf erklang über Sprechfunk die gelassene Stimme des Einsatzleiters. »Ruf Null Null Null Acht - Alarm im St.-Gregory-Hotel -Carondelet und Common Street.« Vier Feuerwachen reagierten automatisch auf den Alarm - die in der Decatur, Tulane, South Rampart und Dumaine Street. Bei dreien waren sämtliche Männer bis auf den Diensthabenden beim Lunch, bei der vierten war der Lunch fast vorbei. Es gab Fleischklopse und Spaghetti. Ein Feuerwehrmann, der Küchendienst hatte, seufzte, als er das Gas abdrehte und hinter den anderen her rannte. Konnten die sich für ihren gottverdammten Alarm nicht eine andere Zeit aussuchen! Uniformen und Stiefel waren auf den Wagen. Die Männer schleuderten ihre Schuhe weg und kletterten auf ihre Plätze, während die Fahrzeuge anrollten. Innerhalb von dreißig Sekunden nach dem Alarm waren fünf Löschzüge, zwei Hakenleitern, eine Motorspritze, Bergungs- und Rettungstrupps, ein Brandmeister und zwei Distriktchefs auf dem Weg zum St. Gregory. Die Fahrer kämpften sich durch den starken Mittagsverkehr. Ein Hotelalarm hatte die höchste Dringlichkeitsstufe. In anderen Feuerwachen standen weitere sechzehn Löschzüge und zwei Hakenleitern auf Abruf bereit. Dem Polizeirettungsdienst ging die Meldung von zwei Seiten zu: von der Brandwache und direkt vom Hotel. Unter einem Schild mit der Aufschrift »Seid nett zueinander« notierten zwei Telefonistinnen die Meldung und gaben sie weiter. Unmittelbar danach erging über Sprechfunk die Anweisung: »Sämtliche Ambulanzen - Polizei und Charity-Hospital - zum St.-Gregory-Hotel.« 15 Drei Stockwerke unter der Halle des St. Gregory, im Tunnel zum Fahrstuhlschacht, hatte sich nichts geändert. Noch immer der gleiche Lärm, Schreie, hastige Kommandorufe, Wimmern und Stöhnen. Nun erklangen energische schnelle Fußtritte. Ein Mann in einem leichten Leinenanzug tauchte auf. Ein junger Mann. Mit einer Instrumententasche. »Doktor!« rief Peter eindringlich, »hierher!« Der Neuankömmling kroch auf Händen und Knien unter die Trümmer und kauerte sich neben Peter und Aloysius Royce. Hinter ihnen strahlten in aller Eile montierte Glühbirnen auf. Billyboi Noble schrie wieder und wandte sein schmerzverzerrtes Gesicht dem Arzt zu. Er sah ihn flehend an. »O Gott! O Gott! Bitte, geben Sie mir etwas...« Der Arzt nickte, in seiner Tasche kramend. Er zog eine Injektionsspritze hervor. Peter schob den Ärmel von Billybois Overall hoch und hielt den Arm fest. Der Arzt tupfte rasch die Haut ab und stieß die Nadel hinein. Innerhalb weniger Sekunden tat das Morphium seine Wirkung. Billybois Kopf fiel zurück. Seine Augen schlossen sich. Mit einem Stethoskop horchte der Arzt Billybois Brust ab. »Ich habe nicht viel bei mir. Man hat mich auf der Straße abgefangen. Wie schnell können Sie ihn hier herausholen?« »Sobald Hilfe eintrifft. Eben kommt sie.« Wieder waren Schritte zu hören. Diesmal das schwere Stampfen vieler rennender Füße. Behelmte Feuerwehrleute strömten herein. Mit ihnen grelle Scheinwerfer und ein Arsenal von Werkzeug: Äxte, Abstützspindeln, Schneidbrenner, Brechstangen, Hebeböcke. Kurze abgehackte Worte. Grunzlaute, scharfe Befehle. »Hierher! Stützt das Ding ab. Das schwere Zeug muß weg! Dalli!« Von oben drang das Krachen von Äxten herunter. Das Knirschen auseinanderbrechender Eisenteile. Ein heller Lichtschein, als sich in der Halle die Tür zum Schacht öffnete. Ein Schrei: »Leitern! Wir brauchen Leitern!« Lange Leitern wurden in den Schacht hinuntergelassen. Die gebieterische Stimme des jungen Arztes: »Ich muß den Mann hier heraushaben!« Zwei Feuerwehrleute mühten sich mit einer Abstützspindel ab. Zu voller Höhe geschraubt, würde sie Billyboi von dem auf ihm lastenden Gewicht befreien. Die beiden Männer suchten fluchend in dem Berg von Trümmern nach einer genügend großen Öffnung. Die Spindel war um mehrere Zentimeter zu lang. »Wir brauchen eine kleinere! Bringt uns eine kleinere Spindel, damit wir Spielraum für die große kriegen.« Die Forderung wurde über ein tragbares Funksprechgerät wiederholt. »Bringt die kleine Abstützspindel aus dem Gerätewagen runter!« Und wieder die drängende Stimme des Arztes: »Ich muß den Mann hier heraushaben!« »Der Balken da!« Dis war Peter. »Nein, der darüber. Wenn wir ihn bewegen, hebt er den anderen mit an, und wir kriegen Platz für die Spindel.« Ein Feuerwehrmann sagte warnend: »Zwanzig Tonnen hängen da oben. Verschieben Sie was, und das ganze Zeug kracht runter. Wir gehen es lieber sachte an.« »Probieren wir's wenigstens«, sagte Aloysius Royce. Royce und Peter schoben sich Schulter an Schulter, Arm in Arm mit dem Rücken unter den oberen Balken. Stemmen! Der Balken rührte sich nicht. Noch einmal! Fester! Lungen schienen zu bersten, Blut wallte, in den Ohren rauschte es. Beißt die Zähne zusammen! Versucht das Unmögliche! Im Kopf drehte sich alles, vor den Augen war ein roter Nebel. Der Balken bewegte sich. Stemmen! Er gab nach. Ein Schrei: »Die Spindel ist drin!« Das Gewicht auf dem Rücken verringerte sich, war nicht mehr zu spüren. Die Spindel schraubte sich hoch, hob die Trümmer an, stützte sie ab. »Jetzt können wir ihn rausholen!« Die ruhige Stimme des Arztes: »Lassen Sie sich Zeit. Er ist eben gestorben.« Die Toten und Verletzten wurden einer nach dem anderen die Leiter hinaufgetragen. Die Halle verwandelte sich in eine Sanitätsstation, wo man den Lebenden Erste Hilfe leistete und bei den anderen, die jenseits aller Hilfe waren, den Tod feststellte. Möbel wurden beiseite geschoben, Bahren hereingebracht. Hinter dem Kordon drängte sich eine schweigende Menschenmenge. Frauen weinten. Einige Männer hatten sich abgewandt. Draußen wartete eine Reihe von Ambulanzen. Die Polizei hatte die St. Charles Avenue und das Stück der Carondelet Street zwischen Canal und Gravier Street für den Verkehr gesperrt. Hinter beiden Absperrungen strömten Neugierige zusammen. Eine nach der anderen rasten die Ambulanzen davon. Die erste mit Herbie Chandler; die zweite mit dem sterbenden Zahnarzt; die dritte mit der Frau aus New Orleans, deren Bein und Unterkiefer gebrochen war. Andere Ambulanzen fuhren langsamer zum städtischen Leichenschauhaus. Im Hotel befragte ein Polizeicaptain die Zeugen, erkundigte sich nach den Namen der Opfer. Dodo wurde als letzte in die Halle getragen. Ein Arzt war in den Schacht hinuntergeklettert und hatte über der klaffenden Kopfwunde einen Druckverband angelegt. Ihr Arm war in einer Plastikschiene. Keycase, der alle Hilfsangebote für sich selbst zurückgewiesen hatte, war bei Dodo geblieben, hatte sie gehalten und die Retter durch Zurufe dahin dirigiert, wo sie lag. Keycase kam als letzter hinter dem Gold-Crown-Cola-Delegierten und dessen Frau. Ein Feuerwehrmann klaubte Dodos und Keycases Gepäck aus den Trümmern und hievte es die Leitern hinauf. Oben wurde es von einem Polizisten in Empfang genommen und bewacht. Peter McDermott kehrte gerade in die Halle zurück, als Dodo hereingetragen wurde. Sie war bleich und still, blutüberströmt, die Kompresse über ihrer Kopfwunde bereits wieder rot. Als man sie auf eine Bahre legte, beugten sich zwei Ärzte kurz über sie. Der eine war ein junger Assistenzarzt, der andere ein älterer Mann. Der jüngere schüttelte zweifelnd den Kopf. Hinter dem Kordon gab es einen kleinen Tumult. Ein Mann in Hemdsärmeln rief erregt: »Lassen Sie mich durch!« Peter wandte den Kopf und gab dann dem Marineoffizier ein Zeichen. Der Kordon öffnete sich. Curtis O'Keefe drängte sich hindurch und zu Dodo hinüber. Mit bestürzter, schmerzbewegter Miene ging er neben der Bahre her. Als Peter ihn zum letztenmal sah, stand er draußen auf der Straße und bettelte darum, in der Ambulanz mitfahren zu dürfen. Der Assistenzarzt nickte. Türen knallten zu. Mit gellender Sirene raste die Ambulanz davon. 16 Keycase vermochte es noch immer nicht zu fassen, daß er mit dem Leben davongekommen war. Benommen, zittrig kletterte er die Leiter hinauf. Ein Feuerwehrmann war dicht hinter ihm und stützte ihn. Hände streckten sich ihm von oben entgegen und zogen ihn hoch. Er stellte fest, daß er sich aus eigener Kraft fortbewegen konnte. Der Schock ließ nach, er war wieder bei klarem Verstand. Alle seine Sinne waren aufs äußerste angespannt. Die vielen Uniformen um ihn herum jagten ihm Angst ein. Seine zwei Koffer! Falls der größere aufgeplatzt war... Aber nein, da stand er zusammen mit mehreren anderen Gepäckstücken. Keycase schob sich näher an ihn heran. Eine Stimme hinter ihm sagte: »Sir, draußen wartet eine Ambulanz.« Keycase drehte sich um und erblickte einen jungen Polizisten. »Ich brauche aber keine...« »Es ist so angeordnet, Sir. Jeder wird untersucht. Es geschieht zu Ihrem eigenen Besten.« »Aber ich möchte meine Koffer haben«, protestierte Keycase. »Sie können sie später abholen, Sir. Sie werden hier bewacht.« »Nein, jetzt gleich.« Eine andere Stimme schaltete sich ein. »Jesus! Wenn er seine Koffer mitnehmen will, dann laß ihn doch. Nach allem, was er hinter sich hat, ist es sein gutes Recht... « Der junge Polizeibeamte ergriff die beiden Koffer und eskortierte Keycase zum Haupteingang an der St. Charles Avenue. »Warten Sie hier bitte, Sir. Ich sehe eben mal nach, welche Ambulanz es ist.« Sobald er verschwunden war, nahm Keycase sein Gepäck und verdrückte sich seitwärts zwischen die Zuschauer. Niemand beachtete ihn, als er davonging. Er begab sich zu dem Parkplatz, wo er seinen Wagen gestern, nach dem erfolgreichen Beutezug in dem Haus in Lakeview, stehengelassen hatte. In seinem Innern herrschte Frieden und Zuversicht. Nun konnte ihm nichts mehr passieren. Der Parkplatz war voll, aber Keycase erkannte seinen Ford von weitem an dem charakteristischen grünweißen Nummernschild von Michigan. Dabei fiel ihm ein, welches Unbehagen ihm noch am Montag die auffällige Farbenzusammenstellung bereitet hatte. Seine Befürchtungen waren offenbar unnötig gewesen. Der Wagen war intakt, und wie immer sprang der Motor sofort an. Aus dem Stadtzentrum fuhr Keycase vorsichtig zu dem Motel am Chef Menteur Highway, wo er die Beute der letzten Tage versteckt hatte. Ihr Wert war gering im Vergleich zu den glorreichen fünfzehntausend Dollar, aber dennoch nicht zu verachten. Im Motel parkte er den Ford direkt vor seiner Kabine und schaffte die beiden Koffer hinein. Er zog die Vorhänge an den Fenstern vor, bevor er den größeren Koffer aufmachte, um sich zu vergewissern, ob das Geld noch da war. Es war noch da. Er hatte einen großen Teil seiner persönlichen Habe in der Kabine zurückgelassen und packte nun sämtliche Koffer aus und wieder ein, um für alles, was er darin unterbringen mußte, Platz zu schaffen. Zum Schluß blieben ihm die zwei Pelzmäntel, die Silberschale und das Tablett aus dem Haus in Lakeview übrig. Für sie war kein Raum mehr, außer, er fing die Packerei noch einmal von vorn an. Keycase wußte, daß er es eigentlich tun müßte. Aber seit einigen Minuten verspürte er eine überwältigende Müdigkeit -vermutlich die Nachwirkung der aufregenden Ereignisse und des Schocks. Außerdem wurde auch die Zeit knapp, denn es war wichtig, daß er sich so schnell wie möglich von New Orleans absetzte. Er entschied, daß die Mäntel und das Silberzeug im Kofferraum des Fords sicher aufgehoben sein würden. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß die Luft rein war, lud er sein Gepäck in den Wagen, beglich im Motelbüro seine Rechnung und fuhr los. Sobald er hinter dem Steuer saß, fühlte er sich wesentlich frischer. Sein Fahrtziel war Detroit. Er beschloß, die Strecke in kurzen Etappen zurückzulegen und anzuhalten, wo und wann er wollte. Und er würde auf der Fahrt ernsthaft über seine Zukunft nachdenken. Seit einer Reihe von Jahren hatte Keycase sich vorgenommen, daß er sich, sollte ihm jemals ein ordentlicher Batzen Geld in die Hände fallen, davon eine kleine Garage kaufen würde. Dort würde er sich zur Ruhe setzen, nach einem Leben voller Unrast und Verbrechen, und die letzten Jahre vor seinem Hinscheiden mit ehrlicher Arbeit zubringen. Die Fähigkeiten dazu hatte er. Sein Ford war ein Beweis dafür. Und fünfzehntausend Dollar genügten für den Anfang. Blieb nur die Frage: War es wirklich der richtige Zeitpunkt zum Aussteigen? Keycase erwog bereits das Für und Wider seines Plans, als er durch die nördlichen Vororte von New Orleans fuhr, in Richtung Pontchartrain Expressway, wo die Freiheit für ihn begann. Es gab logische Argumente zugunsten seines Projekts, sich zur Ruhe zu setzen. Er war nicht mehr jung. De Risiken und Anspannungen seines Berufs rieben ihn auf. In New Orleans hatte er zum erstenmal die lähmende Wirkung der Angst verspürt. Und doch hatten die Ereignisse der letzten sechsunddreißig Stunden seine Lebensgeister beflügelt, ihm neuen Elan gegeben. Der erfolgreiche Einbruch in Lakeview, der unerwartete, ans Wunderbare grenzende Geldsegen, seine Rettung bei dem Fahrstuhlunglück - all dies schienen ihm Symptome für seine Unbesiegbarkeit zu sein. Und waren sie in ihrer Gesamtheit nicht ein Omen, das ihm den Weg wies, den er gehen sollte? Vielleicht war es doch besser, wenn er noch für eine Weile seine alte Tätigkeit beibehielt. Die Garage lief ihm nicht weg. Er hatte noch viel Zeit. Vom Chef Menteur Highway aus war er auf den Gentilly Boulevard gefahren, am Stadtpark vorbei mit seinen Lagunen und mächtigen alten Eichen. Nun befand er sich auf der City Park Avenue und näherte sich der Metarie Road. Hier erstreckten sich die neueren Friedhöfe von New Orleans -Greenwood, Metarie, St. Patrick, Fireman's, Charity Hospital, Cypress Grove - mit einem Meer von Grabsteinen, so weit das Auge reichte. Hoch über ihnen spannte sich der Pontchartrain Expressway. Keycase konnte den Expressway jetzt sehen - eine Zitadelle im Himmel, ein lockender Hafen. In wenigen Minuten würde er ihn erreicht haben. Als er auf der Kreuzung Canal Street und City Park Avenue zufuhr, der letzten Station vor der Auffahrt zum Expressway, bemerkte er, daß die Verkehrsampel ausgefallen war. Ein Polizist dirigierte den Verkehr von der Mitte der Canal Street aus. Ein paar Meter vor der Kreuzung hatte Keycase eine Reifenpanne. Der Schutzmann Nicholas Clancy von der New-Orleans-Polizei war einst von seinem erbitterten Sergeant als »der dümmste Schupo in der ganzen Polizei« bezeichnet worden. Die Klage war berechtigt. Obwohl Clancy im Dienst alt und grau geworden war, hatte man ihn nie befördert oder eine Beförderung auch nur in Erwägung gezogen. Er hatte sich nicht mit Ruhm bedeckt, kaum je eine Verhaftung vorgenommen, und wenn, dann keine bedeutende. Falls Clancy einem flüchtenden Wagen nachjagte, entkam der Fahrer bestimmt. Einmal, bei einem Handgemenge, sollte Clancy einem Verdächtigen, den ein anderer Beamter überwältigt hatte, die Handschellen anlegen. Clancy kämpfte noch mit seinen Handschellen, die sich an seinem Gürtel verheddert hatten, als der Verdächtige schon mehrere Häuserblocks weit weg war. Bei einer anderen Gelegenheit stellte sich ein lang gesuchter Bankräuber, der sich bekehrt hatte, Clancy freiwillig auf der Straße. Der Bandit lieferte seine Waffe aus. Clancy ließ sie fallen, ein Schuß löste sich, der aufgescheuchte Bandit änderte seine Meinung und machte sich aus dem Staub. Er konnte erst nach einem Jahr und sechs Banküberfällen wieder gefaßt werden. Nur eines rettete Clancy in all den Jahren vor der Entlassung aus dem Polizeidienst - seine Gutmütigkeit, der niemand widerstehen konnte, sowie die demütige Haltung eines traurigen Clowns, der sich seiner Unzulänglichkeit bewußt ist. Manchmal, wenn er mit sich allein war, wünschte sich Clancy, daß ihm etwas gelingen möchte, eine einzige lohnende Tat, damit er wenigstens einen Pluspunkt vorzuweisen hätte. Bisher jedoch hatte er immer versagt. Es gab nur eine Aufgabe, die Clancy nie die mindeste Schwierigkeit bereitete - den Verkehr zu regeln. Es machte ihm sogar Spaß. Falls er irgendwie die Geschichte zurückdrehen und die Erfindung der automatischen Verkehrsregelung hätte verhindern können, würde er es mit Freuden getan haben. Vor zehn Minuten, als er erkannte, daß die Ampel nicht funktionierte, hatte er über Sprechfunk Meldung gemacht, sein Motorrad geparkt und sich mitten auf die Kreuzung gestellt. Er hoffte, daß die Reparaturkolonne sich Zeit lassen würde. Von der gegenüberliegenden Straßenseite aus sah Clancy, wie der graue Ford langsamer wurde und stoppte. Er schlenderte gemächlich hinüber. Keycase saß noch immer regungslos am Steuer. Clancy betrachtete das eine Hinterrad, das auf der Felge saß. »Plattfuß, eh?« Keycase nickte. Wäre Clancy ein guter Beobachter gewesen, hätten ihm die weißen Fingerknöchel des Fahrers, der noch immer das Lenkrad umklammerte, auffallen müssen. Keycase dachte voller erbitterter Selbstvorwürfe an die einzige Nachlässigkeit, die ihm bei seiner sorgsamen Planung unterlaufen war. Der Reservereifen und das Werkzeug befanden sich im Kofferraum, zusammen mit den Pelzmänteln, dem Silberzeug und diversen anderen Gepäckstücken. Er wartete schwitzend. Der Polizist machte keine Anstalten, wieder wegzugehen. »Schätze, Sie müssen das Rad wechseln, eh?« Wieder nickte Keycase. Seine Gedanken rasten. In höchstens drei Minuten konnte er es schaffen. Wagenheber! Schraubenschlüssel! Radmuttern abschrauben! Rad weg! Reserverad drauf! Muttern festschrauben! Rad und Wagenheber und Schraubenschlüssel auf den Rücksitz! Kofferraum zu! Und nichts wie weg. Wenn der Polyp bloß abhauen würde. Andere Wagen kamen von hinten und kurvten um den Ford herum. Mehrere mußten stoppen, bevor sie nach links ausscheren konnten. Einer fuhr zu früh heraus. Bremsen quietschten, eine Hupe gellte protestierend. Der Polizist beugte sich vor und stützte sich mit den Armen auf das heruntergedrehte Fenster neben Keycase. »Wird hier allmählich ein bißchen brenzlig.« »Ja.« Keycase schluckte. Der Polizist richtete sich auf und öffnete die Wagentür. »Na, dann wird's Zeit, daß wir was tun.« Keycase zog den Zündschlüssel heraus. Er kletterte langsam aus dem Wagen und zwang sich zu einem Lächeln. »Schon gut. Ich pack' das auch allein.« Er wartete und hielt die Luft an, während der Beamte zur Kreuzung hinübersah. Clancy sagte gutmütig: »Ich helfe Ihnen.« Es kostete Keycase unsägliche Anstrengung, sich zu beherrschen, den Wagen nicht einfach im Stich zu lassen und wegzulaufen. Er verzichtete darauf, weil es ohnehin zwecklos gewesen wäre. Resigniert schloß er den Kofferraum auf und öffnete ihn. Eine knappe Minute später hatte er den Wagenheber angesetzt, die Radmuttern losgeschraubt. Während er in rasender Eile arbeitete, betrachtete der Polizist die Pelzmäntel, die im Kofferraum wirr aufeinanderlagen. Bisher hatte er sich erstaunlicherweise noch nicht dazu geäußert. Keycase konnte nicht ahnen, daß Clancys Denkprozeß eine gewisse Anlaufzeit brauchte. Clancy beugte sich vor und befingerte einen von den Mänteln. »Bißchen heiß für das Zeug.« In den letzten zehn Tagen war die Temperatur in der Stadt nie unter fünfunddreißig Grad im Schatten gesunken. »Meine Frau... ist sehr empfindlich.« Das alte Rad war abgenommen. Keycase öffnete die hintere Tür und warf es auf den Rücksitz. Der Polizist streckte den Hals und spähte um die aufgeklappte Haube des Kofferraums herum ins Wageninnere. »Haben die kleine Dame nicht bei sich, eh?« »Bin gerade auf dem Weg, um sie abzuholen.« Keycase zerrte verzweifelt am Reserverad. Die Verschlußmutter war schwer beweglich. Er brach sich einen Fingernagel ab und riß sich die Haut auf. Den Schmerz ignorierend, hievte er das Rad aus dem Kofferraum. »Sieht irgendwie komisch aus, der Kram da.« Keycase erstarrte. Er wagte nicht, sich zu rühren. Er war auf Golgatha angelangt. Und eine plötzliche Erkenntnis sagte ihm, warum. Das Schicksal hatte ihm eine Chance gegeben, und er hatte sie in den Wind geschlagen. Es spielte keine Rolle, daß er die Entscheidung nur in Gedanken gefällt hatte. Das Schicksal hatte es gut mit ihm gemeint, aber Keycase hatte sich dieser Güte nicht würdig gezeigt und sie verschmäht. Nun hatte das Schicksal sich zornig von ihm abgewandt. Entsetzen packte ihn, als ihm einfiel, was er vor ein paar Minuten so leichtherzig vergessen hatte - der hohe Preis, den er noch für eine Verurteilung würde zahlen müssen; die lange Haft, die vielleicht den Rest seines Lebens dauern würde. Die Freiheit war ihm niemals kostbarer erschienen. Eine halbe Welt schien ihn von dem so nahen Expressway zu trennen. Jetzt endlich begriff Keycase, was die Vorzeichen der letzten anderthalb Tage wirklich bedeuteten. Sie hatten ihm Befreiung dargeboten, die Möglichkeit zu einem neuen, anständigen Leben, ein Entrinnen in das Morgen. Hätte er es doch nur eher begriffen! Statt dessen hatte er die Zeichen falsch gelesen. Arrogant und selbstgefällig hatte er seiner eigenen Unbesiegbarkeit zugeschrieben, was er doch nur der Güte des Schicksals zu verdanken hatte. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Und das war nun das Ergebnis. Nun kam jede Reue zu spät. Oder nicht? War es jemals zu spät - für ein wenig Hoffnung? Keycase schloß die Augen. Er gab sich das Versprechen - und er wußte, daß er es halten würde, falls man ihm die Chance dazu gab -, daß er nie wieder -in seinem ganzen Leben nicht - auch nur eine einzige unehrliche Handlung begehen wollte, wenn er diesmal mit heiler Haut davonkam. Keycase machte die Augen auf. Der Polizist war zu einem anderen Wagen gegangen, dessen Fahrer angehalten hatte, um sich nach dem Weg zu erkundigen. Mit einer Geschwindigkeit, die er sich niemals zugetraut hätte, zog Keycase das Reserverad auf, schraubte die Radmuttern fest, drehte den Wagenheber herunter und schleuderte ihn in den Kofferraum. Sogar jetzt zog er, wie es sich für einen guten Mechaniker gehörte, die Muttern noch einmal fest an, als das Rad auf dem Boden stand. Er hatte den Kofferraum bereits wieder umgepackt, als der Polizist zurückkehrte. Clancy nickte billigend; seinen Verdacht hatte er längst vergessen. »Fertig?« Keycase knallte den Kofferraumdeckel zu. Zum erstenmal fiel Schutzmann Clancy das Nummernschild von Michigan ins Auge. Michigan. Grün auf Weiß. In der Tiefe von Clancys Gedächtnis rührte sich etwas. War es heute gewesen, gestern, vorgestern...? Beim Appell hatte sein Vorgesetzter die letzten offiziellen Bekanntmachungen laut vorgelesen... Irgend etwas über Grün und Weiß war auch darin vorgekommen... Clancy wünschte, er könnte sich daran erinnern. Es gab immer so viele Bekanntmachungen - über steckbrieflich gesuchte Kriminelle, über vermißt gemeldete Personen, gestohlene Wagen, Einbrüche. Jeden Tag kritzelten die eifrigen, klugen, jungen Bürschchen aus der Truppe in ihr Notizbuch, prägten sich die Informationen ein, lernten sie auswendig. Clancy versuchte es. Er versuchte es jedesmal. Da der Leutnant aber sehr schnell sprach und Clancy sehr langsam schrieb, geriet er unvermeidlich ins Hintertreffen. Grün und Weiß. Er wünschte, er könnte sich erinnern. Er zeigte auf das Nummernschild. »Michigan, eh?« Keycase nickte und wartete dumpf. Die immer neuen Schicksalsschläge hatten ihn allmählich abgestumpft. »Wasserwunderland«, las Clancy laut von dem Schild ab. »Wie ich höre, kann man bei euch oben prima angeln.« »Ja..., das stimmt.« »Würde gern mal da rauffahren. Bin selbst 'n begeisterter Angler.« Von hinten ertönte ungeduldiges Hupen. Clancy hielt die Wagentür auf. Es schien ihm plötzlich wieder einzufallen, daß er Polizeibeamter war. »Machen Sie die Fahrbahn frei.« Grün und Weiß. Er wurde den Gedanken daran nicht los. Der Motor sprang an. Keycase fuhr an und gab Gas. Clancy sah ihm nach. Vorsichtig, weder zu langsam noch zu schnell, steuerte Keycase die Auffahrt zum Expressway an. Sein Entschluß, ein neues Leben zu beginnen, stand unerschütterlich fest. Grün und Weiß. Clancy schüttelte den Kopf und kehrte auf seinen Posten an der Kreuzung zurück. Nicht umsonst wurde er der dümmste Schupo in der ganzen Polizei genannt. 17 Die blau-weiße Polizeiambulanz mit dem rotierenden Blaulicht schwenkte von der Tulane Avenue in die Einfahrt zur Erste-Hilfe-Station des Charity-Hospitals ein. Sie hielt. Die Türen wurden aufgerissen. Die Bahre, auf der Dodo lag, wurde herausgehoben und von Krankenhelfern mit geübter Schnelligkeit durch ein Portal gerollt. Es trug die Aufschrift: »Aufnahme - ambulante Patienten -Weiß.« Curtis O'Keefe folgte im Laufschritt, um nicht den Anschluß zu verlieren. Ein Helfer an der Spitze rief: »Ein dringender Fall! Platz machen, bitte!« Gruppen plaudernder Menschen, die in der Vorhalle auf Abfertigung warteten, traten zurück, um die kleine Prozession vorbeizulassen. Augen folgten ihr neugierig. Dodos bleiches, wächsernes Gesicht zog die meisten Blicke auf sich. Schwingtüren mit der Aufschrift »Unfallstation« öffneten sich weit, um die Bahre hindurchzulassen. Dahinter waren Schwestern, Ärzte, noch mehr Bahren und hektische Betriebsamkeit. Ein Helfer blockierte Curtis O'Keefe den Weg. »Warten Sie bitte hier draußen.« O'Keefe protestierte. »Ich möchte wissen...« Eine Schwester, die gerade hineinging, blieb stehen. »Alles menschenmögliche wird getan. Sie können nachher mit einem Arzt sprechen.« Die Schwingtür schlug hinter ihr zu. Curtis O'Keefe starrte die Tür an mit feuchten Augen, Verzweiflung im Herzen. Vor noch nicht mal einer Stunde, nach dem Abschied von Dodo, war er verstört im Salon der Suite auf und ab gegangen. Sein Instinkt sagte ihm, daß er etwas verloren hatte, das er vielleicht in seinem ganzen Leben nicht wiederfinden würde. Er machte sich über diese Anwandlung lustig. Andere Frauen vor Dodo waren gekommen und gegangen. Er hatte den Abschied von ihnen überlebt. Der Gedanke, daß es diesmal anders sein könnte, war absurd. Dennoch erlag er fast der Versuchung, Dodo nachzulaufen, die Trennung von ihr für einige Stunden aufzuschieben und seine Gefühle noch einmal gründlich zu überprüfen. Die Vernunft hatte schließlich gesiegt. Er blieb, wo er war. Ein paar Minuten darauf hörte er die Sirenen. Zunächst hatte er sich nicht darum gekümmert. Als er dann aber merkte, wie viele es waren und daß sie sich allem Anschein nach dem St. Gregory näherten, war er ans Fenster seiner Suite getreten. Die Auffahrt der Löschzüge und Ambulanzen vor dem Hotel brachte ihn zu dem Entschluß, hinunterzugehen. Er ging, wie er war - in Hemdsärmeln, ohne sich ein Jackett anzuziehen. Während er in der zwölften Etage auf einen Lift wartete, drangen beunruhigende Geräusche von unten herauf. Als nach fast fünf Minuten noch immer kein Fahrstuhl gekommen war und sich immer mehr Menschen vor der Lifttür ansammelten, wandte sich O'Keefe der Treppe zu. Er entdeckte, daß andere Gäste denselben Einfall gehabt hatten. In den unteren Stockwerken, wo die Geräusche deutlicher zu hören waren, half ihm sein athletisches Training, schneller voranzukommen. In der Halle erfuhr er von aufgeregten Zuschauem, was geschehen war. In diesem Moment betete er inbrünstig darum, daß Dodo das Hotel vor dem Unglück verlassen haben möchte. Gleich danach sah er, wie man sie, bewußtlos, aus dem Fahrstuhlschacht trug. Das gelbe Kleid, das er bewundert hatte, ihr Haar, ihre Glieder waren blutüberströmt. Ihr Gesicht sah aus wie eine Totenmaske. Bei dem Anblick traf ihn die Wahrheit, gegen die er sich so lange gewehrt hatte, wie ein Blitz, der ihn blendete. Er liebte sie. Von ganzem Herzen, glühend, mehr, als er sagen konnte. Zu spät erkannte er, daß er den größten Fehler seines Lebens gemacht hatte, als er Dodo gehen ließ. Während er auf die Tür zur Unfallstation starrte, verdammte er seine Blindheit. Die Tür öffnete sich, und eine Schwester schoß heraus. Als er sie ansprechen wollte, schüttelte sie abwehrend den Kopf und hastete davon. Er fühlte sich entsetzlich hilflos. Es gab so wenig, was er tun konnte. Aber er wollte es zumindest versuchen. O'Keefe wandte sich ab und marschierte durch das Krankenhaus. Er streifte durch von Menschen wimmelnde Hallen und Korridore und erreichte schließlich mit Hilfe von Schildern und Pfeilen sein Ziel. Er öffnete Türen mit der Aufschrift »Privat«, ohne sich um die Proteste von Sekretärinnen zu kümmern, und landete vor dem Schreibtisch des Direktors. Der Direktor erhob sich ärgerlich von seinem Sessel. Als Curtis O'Keefe seinen Namen genannt hatte, entspannte sich die Atmosphäre. Fünfzehn Minuten später kehrte der Direktor aus der Unfallstation zurück, in Begleitung eines schmächtigen, zurückhaltenden Mannes, den er als Dr. Beauclaire vorstellte. Der Arzt und O'Keefe schüttelten einander die Hand. »Wie ich höre, sind Sie ein Freund der jungen Dame..., Miss Lash, glaube ich.« »Wie geht es ihr, Doktor?« »Ihr Zustand ist kritisch. Wir tun alles, was wir können. Aber ich kann Ihnen leider nicht viel Hoffnung machen. Es ist zu befürchten, daß sie nicht mit dem Leben davonkommt.« O'Keefe stand stumm und tief bekümmert da. Der Arzt fuhr fort: »Sie hat eine schwere Kopfwunde, die äußerlich wie eine eingedrückte Schädelfraktur aussieht. Wahrscheinlich sind Bruchstücke von Knochen ins Gehirn eingedrungen. Nach der Röntgenuntersuchung werden wir Genaueres wissen.« »Die Patientin muß vorher ins Bewußtsein zurückgebracht werden«, erklärte der Direktor. Dr. Beauclaire nickte. »Sie bekommt gerade eine Bluttransfusion. Sie hat sehr viel Blut verloren. Und wir haben mit der Behandlung gegen Schock begonnen.« »Wie lange... « »Die Behandlung wird mindestens noch eine Stunde dauern. Danach müssen wir, falls die Röntgenuntersuchung die Diagnose bestätigt, sofort operieren. Befinden sich die nächsten Angehörigen der Patientin in New Orleans?« O'Keefe schüttelte den Kopf. »Eigentlich spielt das weiter keine Rolle. In einem so dringenden Fall brauchen wir die Erlaubnis der Angehörigen nicht einzuholen.« »Darf ich sie sehen?« »Später, vielleicht.« »Doktor, falls Sie noch irgend etwas benötigen - in puncto Geld, fachlicher Hilfe... « Der Direktor unterbrach ihn. »Das ist ein kostenfreies Krankenhaus, Mr. O'Keefe. Es ist für Bedürftige und dringende Fälle wie Unfallopfer und dergleichen bestimmt. Trotzdem werden hier Dienste geleistet, die man mit Geld nicht kaufen kann. Zwei medizinische Akademien befinden sich gleich nebenan. Ihr Personal steht uns jederzeit zur Verfügung. Vielleicht sollte ich Ihnen noch sagen, daß Dr. Beauclaire einer der führenden Neurochirurgen des Landes ist.« »Es tut mir leid«, sagte O'Keefe zerknirscht. »Da wäre allerdings eine Sache«, sagte der Arzt. O'Keefe hob den Kopf. »Die Patientin ist jetzt nicht bei Bewußtsein und unter dem Einfluß von Beruhigungsmitteln. Aber vorher hatte sie einige lichte Momente, und da fragte sie nach ihrer Mutter. Wäre es möglich, ihre Mutter herzuholen?« »Selbstverständlich.« Es war eine Erleichterung für ihn, daß er wenigstens etwas tun konnte. Von einer Telefonzelle im Korridor aus rief Curtis O'Keefe das O'Keefe-Cuyahoga-Hotel in Akron, Ohio, an. Der Manager Harrison war in seinem Büro. »Lassen Sie alles stehen und liegen«, befahl O'Keefe. »Ich habe einen äußerst wichtigen Auftrag für Sie, der so schnell wie möglich erledigt werden muß.« »Ja, Sir.« »Setzen Sie sich mit einer Mrs. Irene Lash in der Exchange Street, Akron, in Verbindung. Die Hausnummer weiß ich nicht.« An die Straße erinnerte sich O'Keefe von dem Tag her, an dem er Dodos Mutter einen Korb mit Früchten geschickt hatte. War es wirklich erst am letzten Dienstag gewesen? Er hörte, wie Harrison jemandem im Büro zurief: »Ein Adreßbuch - schnell!« O'Keefe fuhr fort: »Suchen Sie Mrs. Lash selbst auf und bringen Sie ihr vorsichtig bei, daß ihre Tochter Dorothy bei einem Unfall schwer verletzt wurde und vielleicht sterben wird. Ich möchte, daß Mrs. Lash auf schnellstem Weg nach New Orleans geflogen wird. Mit einer Chartermaschine, wenn es sein muß. Die Kosten spielen keine Rolle.« »Einen Moment, Mr. O'Keefe.« Durch die Leitung kamen Harrisons kurze Kommandos. »Verbinden Sie mich mit Eastern Airlines - dem Verkaufsbüro in Cleveland. Legen Sie das Gespräch auf eine andere Leitung. Und danach brauche ich eine Limousine mit einem schnellen Fahrer - am Ausgang Market Street.« Er sprach wieder in den Apparat. »Okay, Mr. O'Keefe, sprechen Sie weiter.« Sie verabredeten, daß Harrison im Charity-Hospital anrufen würde, sobald er sämtliche Arrangements getroffen und Mrs. Lash zur Maschine gebracht hatte. O'Keefe hängte auf in der Überzeugung, daß man alle seine Anweisungen aufs pünktlichste befolgen würde. Ein guter Mann, dieser Harrison. Verdiente vielleicht den leitenden Posten in einem der größeren Hotels. Neunzig Minuten später bestätigte die Röntgenuntersuchung Dr. Beauclaires Diagnose. Ein Operationssaal im zwölften Stockwerk wurde für die Operation vorbereitet. Der chirurgische Eingriff würde mehrere Stunden in Anspruch nehmen. Bevor Dodo in den Operationssaal gerollt wurde, durfte Curtis O'Keefe sie kurz sehen. Sie war bleich und bewußtlos. Es kam ihm so vor, als sei all ihre Frische und Vitalität dahingeschwunden. Nun hatten sich die Türen des Operationssaals hinter ihr geschlossen. Dodos Mutter war auf dem Weg nach New Orleans. Harrison hatte ihn benachrichtigt. McDermott vom St. Gregory, den O'Keefe vor ein paar Minuten angerufen hatte, wollte jemanden zum Flughafen schicken, der Mrs. Lash in Empfang nehmen und direkt ins Krankenhaus bringen würde. Vorläufig konnte er nur warten. O'Keefe hatte das Angebot, sich im Büro des Direktors auszuruhen, abgelehnt. Er wollte im Korridor vor dem Operationssaal ausharren, wie lange es auch dauern mochte. Plötzlich hatte er das Bedürfnis, zu beten. Eine Tür in der Nähe trug die Aufschrift: »Damen - farbig.« Eine andere daneben war als Abstellraum gekennzeichnet. Durch die Glasscheibe konnte man sehen, daß er dunkel war. Curtis O'Keefe zwängte sich hinein und tastete sich im Halbdunkel an einem Sauerstoffzelt und einer Eisernen Lunge vorbei. Als er ein freies Fleckchen fand, kniete er nieder. Der Linoleumbelag fühlte sich unter seinen Knien viel härter an als die Teppiche, an die er gewöhnt war. Es machte ihm nichts aus. Er faltete flehend die Hände und senkte den Kopf. Seltsamerweise fand er zum erstenmal seit vielen Jahren keine Worte für das, was ihm am Herzen lag. 18 Die Abenddämmerung senkte sich lindernd auf die Stadt herab. Bald kam die Nacht und brachte Schlaf und für eine Weile Vergessen. Morgen würde der Schock über die heutigen Ereignisse ein wenig abgeklungen sein. Schon die Abenddämmerung leitete einen Prozeß ein, den die Zeit schließlich vollenden würde; die Zeit heilte alle Wunden. Dennoch würden viele Tage und Nächte dazu gehören, um all jene, die den Ereignissen am nächsten standen, von einem Gefühl der Trauer und des Schreckens zu befreien. Arbeit half einem dabei - milderte den Druck, wenn sie ihn auch nicht ganz lösen konnte. Seit dem frühen Nachmittag war eine Menge geschehen. Während Peter McDermott allein in seinem Büro im Zwischengeschoß saß, machte er eine Bestandsaufnahme dessen, was getan worden war und was noch zu tun blieb. Die harte und traurige Pflicht, die Toten zu identifizieren und die Angehörigen zu benachrichtigen, hatte er bereits hinter sich. Dort, wo das Hotel bei den Beerdigungen Beistand leistete, waren die Vorbereitungen schon im Gange. Feuerwehr und Polizei waren längst wieder abgezogen. Inspektoren vom Technischen Überwachungsamt waren eingetroffen, die sämtliche Fahrstühle des Hotels auf Herz und Nieren prüften. Sie würden die Nacht durcharbeiten und den ganzen nächsten Tag. Einige Fahrstühle waren inzwischen wieder in Betrieb. Abgesandte von Versicherungen - Männer mit düsteren Mienen, die bereits mit beträchtlichen Schadenersatzforderungen rechneten - stellten Fragen, nahmen Aussagen zu Protokoll. Am Montag würde ein Team von Fachleuten von New York herüberfliegen und mit den Plänen für den Einbau neuer Aufzüge an Stelle der alten beginnen. Es würde die erste größere Ausgabe unter dem neuen Regime Wells-Dempster-McDermott sein. Das Kündigungsgesuch des Chefingenieurs lag auf Peters Schreibtisch. Er hatte die Absicht, es anzunehmen. Doc Vickery mußte ehrenvoll entlassen werden, mit einer Pension, die seiner langjährigen Dienstzeit im Hotel angemessen war. Peter würde dafür sorgen, daß er gut behandelt würde. M. Hebrand, dem Chef de Cuisine, würde die gleiche Berücksichtigung zuteil werden. Aber seine Pensionierung mußte rasch erfolgen, ebenso die Beförderung von Andre Lemieux zum Küchenchef. Von dem jungen Andre Lemieux - der von Spezialitätenrestaurants, intimen Bars, einer Reorganisation des gesamten Verpflegungsfahrplans träumte - würde die Zukunft des St. Gregory zu einem erheblichen Teil abhängen. Ein Hotel lebte nicht nur vom Zimmervermieten. Es konnte bis zum letzten Platz belegt sein und trotzdem bankrott machen. Die Hauptquelle der Einkünfte lag in den Sonderdienstleistungen -Kongressen, Restaurants, Bars. Neue Leute mußten eingestellt, die einzelnen Abteilungen umorganisiert, die Verantwortlichkeiten neu festgelegt werden. Als geschäftsführender Vizepräsident würde Peter einen Großteil seiner Zeit mit reinen Verwaltungsfragen und Geschäftspolitik zu tun haben. Für die tägliche Arbeit im Hotel würde er einen stellvertretenden Direktor brauchen. Es mußte ein fähiger junger Mann sein, der das Personal fest in der Hand hatte, aber mit Leuten, die älter waren als er selbst, gut auskam. Ein Absolvent der Hotelfachschule würde sich für den Posten vermutlich am besten eignen. Peter beschloß, am Montag den Dekan Robert Beck in der Cornell-Universität anzurufen. Der Dekan stand mit vielen seiner ehemaligen Studenten in Verbindung. Vielleicht kannte er einen Mann, der den Anforderungen entsprach und gleich greifbar war. Trotz der Tragödie des heutigen Tages mußte man vorausdenken. Da war seine eigene Zukunft mit Christine. Die Aussicht erregte und beflügelte ihn. Sie hatten bisher nicht darüber gesprochen. Christine war schon nach Hause gegangen. Er würde sich bald zu ihr auf den Weg machen. Einige weniger angenehme Angelegenheiten waren noch in der Schwebe. Vor einer Stunde hatte Captain Yolles von der Kriminalpolizei kurz bei Peter hereingeschaut. Er kam von einer Unterredung mit der Herzogin von Croydon. »Wenn man ihr gegenübersitzt«, sagte Yolles, »fragt man sich, was sich hinter der soliden Eisschicht verbirgt. Ist sie eine Frau? Empfindet sie etwas bei dem Gedanken daran, wie ihr Mann gestorben ist? Ich habe seine Leiche gesehen. Mein Gott! - Das hat er nicht verdient; das wünsche ich nicht mal meinem schlimmsten Feind. Übrigens hat sie ihn auch gesehen. Nicht viele Frauen hätten den Anblick ertragen können. Aber sie! -Sie hat nicht mit der Wimper gezuckt. Keine Wärme, keine Tränen. Hat bloß den Kopf zurückgeworfen, wie sie's immer macht, und ihre übliche hoheitsvolle Miene aufgesetzt. Wenn ich die Wahrheit sagen soll - als Mann fühle ich mich zu ihr hingezogen. Irgendwie packt einen die Neugier, und man möchte wissen, wie sie nun eigentlich wirklich ist.« Der Kriminalbeamte verstummte nachdenklich. Später, auf eine Frage Peters, sagte Yolles: »Ja, wir werden sie wegen Beihilfe belangen. Nach dem Begräbnis wird sie verhaftet. Was danach mit ihr geschieht - ob die Geschworenen sie verurteilen, falls die Verteidigung behauptet, ihr Mann hätte das Komplott geschmiedet, und er ist tot... Also, das wird sich zeigen.« Ogilvie sei bereits unter Anklage gestellt, berichtete der Captain. »Auch wegen Beihilfe. Vielleicht kommt später noch mehr dazu. Das entscheidet der Staatsanwalt. Sollten Sie seinen Posten für ihn freihalten, dann rechnen Sie jedenfalls nicht damit, daß Sie ihn vor fünf Jahren wiedersehen.« »Bei uns ist er abgeschrieben.« Die Gruppe der Hoteldetektive stand auf Peters Reorganisationsplan ganz oben. Es war eine der vordringlichsten Aufgaben. Als Captain Yolles gegangen war, wurde es im Büro still. Inzwischen war es Abend geworden. Nach einer Weile hörte Peter, wie sich die Tür zum Vorzimmer öffnete und schloß. Gleich danach klopfte es leise an seine Tür. Er rief: »Herein!« Es war Aloysius Royce. Der junge Neger brachte ein Tablett mit einem Krug Martini und einem einzelnen Glas. »Ich dachte mir, daß Sie gegen eine kleine Stärkung vielleicht nichts einzuwenden hätten.« »Danke«, sagte Peter, »aber ich trinke nie allein.« »Mir schwante schon, daß Sie das sagen würden.« Royce zog aus einer Rocktasche ein zweites Glas. Sie tranken schweigend. Nach allem, was sie heute erlebt hatten, war ihnen nicht nach Scherzen oder Trinksprüchen zumute. »Haben Sie Miss Lash abgeliefert?« Royce nickte. »Ich habe sie direkt zum Krankenhaus gefahren. Wir mußten zwar verschiedene Eingänge benutzen, trafen drinnen aber wieder zusammen, und ich brachte sie zu Mr. O'Keefe.« »Danke.« Nach Curtis O'Keefes Anruf wollte Peter jemanden zum Flughafen schicken, auf den er sich verlassen konnte. Deshalb hatte er Royce darum gebeten. »Sie waren gerade mit der Operation fertig, als wir ankamen. Wenn keine Komplikationen eintreten, wird die junge Dame -Miss Lash - bald wieder okay sein.« »Das freut mich.« »Mr. O'Keefe erzählte mir, sie würden heiraten. Sobald Miss Lash wieder einigermaßen gesund ist. Ihre Mutter war von der Idee anscheinend sehr angetan.« Peter lächelte flüchtig. »Das wären wohl die meisten Mütter, nehme ich an.« Ein Schweigen folgte, und dann sagte Royce: »Ich hörte von der Konferenz heute morgen. Von Ihrem entschlossenen Auftreten. Und wie die Sache schließlich ausging.« »Ja«, Peter nickte, »im Hotel ist die Rassentrennung aufgehoben. Völlig. Von heute an.« »Sie erwarten vermutlich, daß ich Ihnen danke, weil Sie uns etwas gegeben haben, was uns rechtmäßig zusteht.« »Nein«, sagte Peter. »Und Sie sticheln schon wieder. Aber ich frage mich, ob Sie sich nicht doch dazu entschließen könnten, bei W. T. zu bleiben. Ich weiß, daß er sich darüber freuen würde, und Sie wären völlig unabhängig. Im Hotel fällt immer eine Menge Arbeit für einen Anwalt an, und ich würde dafür sorgen, daß einiges davon auf Ihren Schreibtisch flattert.« »Danke«, sagte Royce, »aber die Antwort ist nein. Ich habe heute nachmittag mit Mr. Trent gesprochen - gleich nach der Abschlußprüfung gehe ich fort.« Er schenkte neu ein und betrachtete sein Glas. »In gewisser Weise stehen wir beide auf entgegengesetzten Seiten. Wir werden das Ende des Kampfes auch nicht mehr erleben. Ich will meinen Leuten mit dem, was ich gelernt habe, helfen. Uns stehen noch eine Menge Auseinandersetzungen bevor - rechtliche und auch ein paar von der anderen Sorte. Es wird nicht immer fair zugehen, weder auf unserer Seite noch auf Ihrer. Aber wenn wir ungerecht, intolerant, unvernünftig sind, denken Sie dran - wir haben das von euch gelernt. Es wird für uns alle richt einfach sein. Und Sie werden hier auch einiges zu spüren kriegen. Sie haben die Rassentrennung aufgehoben, aber das ist nicht das Ende. Die Probleme kommen erst - mit den Leuten, denen das, was Sie getan haben, nicht paßt; mit Farbigen, die sich nicht anständig aufführen, die Ihnen auf die Nerven fallen, weil sie eben so sind, wie sie sind. Was werden Sie mit dem farbigen Großmaul, dem farbigen Neunmalgescheiten, dem angetrunkenen farbigen Romeo machen. Bei uns gibt's diese Typen auch. Solange es sich um Weiße handelt, die sich danebenbenehmen, schlucken Sie krampfhaft, zwingen sich zu einem Lächeln und sehen meistens darüber hinweg. Aber wenn es Farbige sind - was werden Sie dann machen?« »Es wird vermutlich nicht leicht sein«, sagte Peter. »Ich werde versuchen, objektiv zu sein.« »Sie ja. Andere aber nicht. So wird sich der Krieg jedenfalls abspielen. Er hat nur ein Gutes.« »Ja?« »Daß es dann und wann zu einem Waffenstillstand kommt.« Royce nahm das Tablett mit dem Krug und den leeren Gläsern und wandte sich zum Gehen. »Ich schätze, das war einer.« Nun war es Nacht. Im Hotel hatte wieder ein Arbeitstag seine regelmäßige Bahn durchlaufen und leigte sich dem Ende zu. Obwohl er sich von den meisten anderen Tagen unterschieden hatte, war die alltägliche Routine, von den unvorhergesehenen Ereignissen kaum berührt, wie ein Uhrwerk abgeschnurrt. Reservierung, Empfang, Verwaltung, Installation, Garage, Kasse, Technik, Küche..., sie alle hatten gemeinsam eine einzige simple Funktion erfüllt: den Reisenden freundlich aufzunehmen, zu verpflegen, mit einem Bett zu versorgen und weiterzuschicken. Bald würde der Zyklus von neuem beginnen. Müde machte sich Peter McDermott zum Aufbruch bereit. Er knipste die Lampen im Büro aus und ging von der Verwaltungssuite aus durch die ganze erste Etage. Kurz vor der Treppe zur Halle sah er sich in einem Spiegel. Zum erstenmal bemerkte er, daß sein Anzug zerknittert und fleckig war. Die Spuren stammten von dem Trümmerhaufen unten am Fahrstuhlschacht, wo Billyboi gestorben war. Er strich das Jackett, so gut es ging, mit der Hand glatt. Ein leises Rascheln veranlaßte ihn, in die Tasche zu greifen, wo ihm ein gefaltetes Papier zwischen die Finger geriet. Als er es herauszog, erinnerte er sich wieder. Es war das Briefchen, das Christine ihm in die Hand gedrückt hatte, als er die Konferenz verließ - die Konferenz, bei der er um eines Prinzips willen seine Karriere aufs Spiel gesetzt und das Spiel gewonnen hatte. Im Trubel der Ereignisse hatte er den Brief völlig vergessen. Er faltete ihn neugierig auseinander. Der Text lautete: »Es wird ein großartiges Hotel werden - genauso großartig wie der Mann, der es leitet.« Lächelnd rannte er in langen Sätzen die Treppe hinunter in die Halle seines Hotels.