Der Amphibienmensch Alexander Beljajew In der Geschichte „Der Amphibienmensch“ werden mittels einer Operation einem Jugendlichen, später namens Ichthyander, Kiemen eingesetzt, zusätzlich zu seinen Lungen. Er ist somit in der Lage viele Stunden unter Wasser zu bleiben. Der ausführende Wissenschaftler hat die Rolle des Freundes inne. Doch Geschäftemacher wollen seine Fähigkeiten benutzen um noch mehr Fische zu fangen, Ichthyander soll die Fische anlocken, immer länger unter Wasser bleiben. Doch dies schadet seinen Lungen. Schließlich zerbricht Ichthyander an der neuen geschäfte-treibenden Welt. (DDR, KOMPASS, Band 319, Verlag Das Neue Leben Berlin). Alexander Beljajew Der Amphibienmensch Wissenschaftlich-phantastischer Roman Übersetzt von Nelly Sergejewa Der Meerteufel Die schwüle Januarnacht des argentinischen Sommers brach herein. Sterne erglänzten am tiefdunklen Himmel, Die „Meduse“ lag reglos vor Anker. Kein Wellenschlag, kein Knarren der Takelage unterbrachen die Stille der Nacht. Auch der Ozean schien in tiefstem Schlafe. An Deck des Schoners lagen die halbnackten Perlenfischer. Erschöpft von der Arbeit und der sengenden Sonne, wälzten sie sich stöhnend im schweren Halbschlaf. Traumtrunkene Angstschreie zerrissen hin und wieder das nächtliche Schweigen. Krampfhaft zuckten Arme und Beine der Schlafenden. Sie mochten wohl von ihren Feinden träumen — den Haifischen. Die brütende Hitze dieser Tage entkräftete die Männer so sehr, daß sie nach beendetem Fang nicht einmal mehr imstande waren, ihre Boote an Deck zu hieven. Das schien auch nicht notwendig. Keinerlei Anzeichen deuteten auf einen Wetterwechsel hin. Vertäut an der Ankerkette, blieben die Boote nachtsüber auf dem Wasser. Die Rahe waren nicht ausgerichtet, das Takelzeug schlecht aufgezogen, der nicht abgeräumte Klüver erbebte kaum merklich unter einem leisen Windzug. Das Deck war mit Bergen von Muschelschalen überschüttet, mit Bruchstücken von Korallenkalksteinen, Seilen, an denen sich die Taucher herablassen, mit Leinwandsäckchen für die Muschelfunde. Dazwischen lagen leere Fässer herum. Neben dem Besanbaum stand eine große Tonne mit Trinkwasser, daneben hing angekettet eine blecherne Schöpfkelle. Verschüttetes Wasser bildete einen dunkelschimmernden Fleck neben der Tonne. Hin und wieder erhob sich einer der Fischer, taumelte im Halbschlaf über Arme und Beine, schleppte sich stolpernd zum Wasserfaß. Gierig trank er aus der Schöpfkelle und sank gleich wieder, wie in schwerem Rausch, schlafend nieder. Die Taucher quälte der Durst. Wegen des hohen Wasserdrucks vermieden sie es, vor Arbeitsbeginn etwas zu essen. So fischten sie bis zur einfallenden Dämmerung mit nüchternem Magen Perlen. Ihre einzige Mahlzeit erhielten sie abends vor dem Einschlafen: Pökelfleisch! Nachtwache hatte der Indianer Balthasar, Er war der Erste Gehilfe von Kapitän Pedro Surita, dem Eigentümer des Schoners „Meduse“. In seiner Jugend war Balthasar ein bekannter Perlenfischer gewesen: Er konnte 90 und sogar 100 Sekunden unter Wasser bleiben, doppelt so lange wie die anderen. „Warum? Weil man zu meiner Zeit das Tauchen noch richtig lernen mußte, schon von Kindheit an“, erzählte Balthasar den jungen Perlenfischern. „Schon mit zehn Jahren gab mich mein Vater in die Lehre auf den Tender zu Jose. Er hatte zwölf Jungs in der Lehre Und tauchen lernten wir so: Jose warf einen weißen Stein oder eine Muschel ins Wasser und befahl: ,Tauch! Bring! Tauche wieder!‘ Fanden wir nichts, verprügelte er uns mit einem Tau oder einer Peitsche und warf uns wie einen Hund ins Wasser. Dann gewöhnte, er uns, länger unter Wasser zu bleiben. Der alte erfahrene Perlenfischer ließ sich auf den Grund hinab und band einen Korb oder ein Netz an den Anker: ,Solange du nichts losgebunden hast, darfst du dich oben nicht blicken lassen. Zeigst du dich, setzt es Prügel!‘ Man schlug uns unbarmherzig. Wenige nur hielten aus, aber die konnten dann tauchen! Und ich wurde der beste Perlenfischer im ganzen Bezirk. Und verdiente viel Geld!“ Im Alter gab Balthasar seinen gefährlichen Beruf auf. Die Zähne eines Haifisches hatten sein linkes Bein verstümmelt, die Ankerkette seine Hüfte zerfetzt. In Buenos Aires unterhielt er einen kleinen Laden und handelte mit Perlen, Korallen, Muscheln und allerlei Raritäten aus der Tiefe des Meeres. Aber da sich Balthasar zu Lande langweilte, ging er noch immer ziemlich häufig auf Perlenfang, Niemand kannte besser als er die Ufer des Rio de la Plata und die Muschelplätze. Die Perlenfischer achteten ihn, Er verstand es, allen gefällig zu sein. Den jungen Perlenfischern brachte er die Geheimnisse ihres Berufes bei: Den Atem richtig anzuhalten, die Angriffe der Haifische abzuwehren und — unterderhand — auch, wie man eine seltene Perle vor dem Chef verstecken kann. Die Schiffseigner schätzten besonders seine Fähigkeit, die Perlen mit unfehlbarem Blick zu taxieren. Darum nahmen sie ihn gern als Gehilfen und Berater mit. Balthasar saß auf einem Faß und rauchte langsam eine dicke Zigarre. Das Licht der am Mast befestigten Lampe erhellte sein Gesicht. Es war länglich, mit flachen Wangen, einer geraden Nase und großen, schönen Augen — das Gesicht eines Araukaners. Schwer senkten sich Balthasars Augenlider. Er döste. Aber seine Ohren schliefen nicht. Selbst im tiefsten Dämmern waren sie wachsam angespannt. Aber augenblicklich vernahm Balthasar nur das Seufzen und Murmeln der Schlafenden. Vom Ufer herüber zog Gestank zur „Meduse“. Um die Perlen leichter ausnehmen zu können, ließ man die Muscheln erst verfaulen. Nach dem Ausnehmen der Perlen wurden die größten Muscheln auf die „Meduse“ verladen. Surita verkaufte sie an eine Fabrik, die daraus Knöpfe und dergleichen herstellte. Balthasar schlief und träumte. Die Zigarre entfiel seinen erschlafften Fingern. Der Kopf sank auf die Brust. Aber plötzlich drang irgendein Laut in sein Bewußtsein, der fern vom Ozean herüberwehte. Lauschend öffnete Balthasar die Augen. Nun tönte es wieder, in größerer Nähe. Es schien der Wohlklang eines Horns zu sein, begleitet von einer kräftigen jungen Stimme: „Ah!“ Und dann eine Oktave höher: „Ah-ah!“ Für Balthasar, der sich in Schiffssirenen auskannte, war dieser übermütige Ruf neu und unbekannt. Er erhob sich. Die Schwüle schien ihm plötzlich aufgefrischt. Er trat zur Reling und spähte über das glatte Meer. Stille. Balthasar weckte mit einem Fußtritt den neben ihm auf dem Deck liegenden Indianer und flüsterte ihm zu: „Der Ruf! Das ist wahrscheinlich ER.“ „Ich höre nichts“, erwiderte ebenso leise der Hurone, der knieend lauschte. Die Stille zerriß wieder durch den Aufklang des Horns und das „Ah-ah!“ Der Hurone duckte sich vor diesem Laut wie unter einem Peitschenhieb. „Ja, das ist sicher ER“, meinte der Hurone, zähneklappernd vor Angst. Auch die anderen Perlenfischer erwachten. Sie drängten sich auf dem von der Laterne erhellten Fleck, schienen vor der Dunkelheit im fahlen gelblichen Licht Hilfe zu suchen. Alle lauschten angestrengt. Ganz in der Ferne erklangen nochmals Horn und Stimme, verstummten dann. „Das ist ER…“ „Der Meerteufel!“ „Hier können wir nicht länger bleiben!“ „Das ist schrecklicher als die Haifische!“ „Ruft den Kapitän!“ Man hörte das Schlurfen nackter Füße. Gähnend und seine behaarte Brust kratzend, erschien Pedro Surita auf Deck. Er war ohne Hemd, nur in Leinwandhosen, am breiten Ledergürtel hing die Revolvertasche, Surita ging zu den Fischern. Die Laterne beleuchtete sein verschlafenes bronzefarbenes Gesicht, sein dichtes zerwühltes Haar, das ihm in Strähnen in die Stirn fiel, die schwarzen Augenbrauen, den buschigen gesträubten Schnurrbart und einen kurzen angegrauten Bart. „Was geht hier vor?“ Seine rauhe ruhige Stimme und seine gelassenen Bewegungen beruhigten die Indianer. Alle begannen durcheinander zu sprechen. Balthasar gebot mit einem Handzeichen zu schweigen und sagte: „Wir haben SEINE Stimme gehört, die Stimme des Meerteufels.“ „Einbildung“, antwortete Pedro verschlafen, tief den Kopf senkend. „Nein, keine Einbildung. Wir alle hörten das Horn und den Ruf, Ah-ahm, schrien die Fischer aufgeregt. Balthasar unterstrich: „Ich habe es selbst gehört. Nur der Teufel bläst so das Horn. Niemand sonst auf dem Meer hat so eine Stimme. Wir müssen so schnell wie möglich fort von hier!“ „Märchen“, antwortete, immer noch träge, Pedro Surita. Er hatte keine Lust, die noch faulenden stinkenden Muscheln auf die „Meduse“ zu verladen und schon jetzt auszulaufen. Aber es gelang ihm nicht, die Indianer zu überzeugen, Aufgeregt gestikulierend, schrien sie drohend, daß sie gleich morgen früh die „Meduse“ verlassen und zu Fuß nach Buenos Aires gehen würden, wenn Surita nicht sofort die Anker lichte. „Der Satan hol diesen Meerteufel und euch dazu! Also gut. Bei Morgengrauen laufen wir aus.“ Brummend verschwand der Kapitän in seiner Kajüte. Ihm war der Schlaf vergangen. Er entzündete seine Lampe, steckte sich eine Zigarre an und ging auf und ab. Tief in Gedanken über jenes unbekannte Geschöpf, das seit einiger Zeit sein Unwesen trieb, die Fischer und Uferbewohner ängstigte. Noch niemand hatte dieses Ungeheuer zu Gesicht bekommen, aber man meinte, es habe sich bereits mehrmals bemerkbar gemacht. Viele Gerüchte waren in Umlauf. Die Fischer flüsterten sie einander zu, sich ängstlich umsehend, als könne das Untier sie belauschen. Dieses Geschöpf verursachte manchen Leuten großen Schaden, während es anderen unerwartete Hilfe brachte. „Das ist der Meergott“, sagten die alten Indianer, „alle tausend Jahre einmal steigt er aus den Tiefen empor, um die Gerechtigkeit auf Erden wiederherzustellen.“ Die katholischen Priester versicherten den abergläubischen Spaniern, daß es der Meerteufel sei. Er erscheine den Menschen, weil sie die heilige katholische Kirche vergäßen. Alle diese von Mund zu Mund weitergegebenen Gerüchte drangen bis nach Buenos Aires. Mehrere Wochen lang war der Meerteufel das beliebteste Thema der Chronisten und Feuilletonisten der Boulevardblätter. Wenn Schoner oder Fischerboote aus unbekannten Gründen sanken, Fischnetze zerrissen oder bereits gefangene Fische wieder entschlüpften, so beschuldigte man immer den Meerteufel. Man erzählte aber auch, daß er manchmal große Fische in die Kähne warf. Einmal hätte er sogar einen Ertrinkenden gerettet. Ein Fischer bezeugte, daß ihn jemand im Moment des Absackens aus der Tiefe am Rücken packte und ans Ufer schwamm. In dem Augenblick, als der Gerettete den Fuß auf den Sand setzte, sei sein Retter in der Brandung verschwunden. Am erstaunlichsten war, daß den Teufel noch niemand gesehen hatte. Natürlich fanden sich „Augenzeugen“, die ihn mit einem gehörnten Kopf, einem Bocksbart, Löwentatzen und einem Fischschwanz ausstatteten oder als gigantische Kröte mit Hörnern und menschlichen Beinen. Die Regierungsbeamten von Buenos Aires schenkten anfänglich weder dem Gerede noch den Zeitungsartikeln Beachtung, bezeichneten alles als die reinste Phantasie. Doch die Unruhe unter den Fischern wuchs. Viele wagten sich nicht mehr auf See. Die Fänge verringerten sich, der Bevölkerung mangelte es an Nahrung. Da beschlossen die örtlichen Behörden, die Angelegenheit zu untersuchen. Einige Dampfkutter und Motorboote der Küstenschutzpolizei wurden in die Küstengewässer entsandt mit dem Befehl: „Die unbekannte Person, die Unruhe und Panik unter den Küstenbewohnern verursacht, ist festzunehmen.“ Die Polizei manövrierte zwei Wochen lang vor der Küste und im Mündungsgebiet des Rio de la Plata, verhaftete einige Indianer als böswillige Verbreiter, Unruhe hervorrufender Gerüchte — doch der Teufel blieb unsichtbar. Der Polizeichef veröffentlichte eine offizielle Erklärung darüber, daß der Teufel nicht existiere, daß alles nur die Erfindung unwissender Leute sei, die bereits verhaftet wären und der verdienten Strafe entgegensähen. Er beschwor die Fischer, den Gerüchten keinen Glauben zu schenken und wieder auszulaufen. Das half eine Zeitlang, Aber der Teufel machte erneut von sich reden. Eines Nachts wurden Fischer, die ziemlich weit vom Ufer entfernt waren, durch das Meckern eines Ziegenbocks geweckt. Durch irgendein Wunder befand sich das Tier plötzlich an Bord der Barkasse. Andere Fischer entdeckten beim Bergen der Netze, daß diese völlig zerschnitten waren. Die Journalisten, erfreut über die weiteren Streiche des Teufels, forderten nun eine Erklärung der Wissenschaft. Ohne Zögern gaben Gelehrte ihre Ansicht bekannt: In den erreichbaren Ozeantiefen könne kein der Wissenschaft unbekanntes Meeresungeheuer leben, das zu menschlichen Taten fähig sei. Ganz anders sähe es aus — so schrieben die Gelehrten —, wenn ein solches Wesen in den wenig erforschten Tiefen des Ozeans beobachtet worden wäre. Die Gelehrten stimmten mit dem Chef der Wasserpolizei darin überein, daß alle geschilderten Vorkommnisse nur Streiche eines Schlingels seien. Aber nicht alle dachten so. Andere Wissenschaftler beriefen sich auf den bekannten deutschen Naturforscher Konrad Heßner, der bereits im 15. Jahrhundert die Meerjungfrau, den Meerteufel sowie den Bischof und den Mönch des Meeres beschrieben hatte. „Schließlich bewahrheitete sich vieles, worüber im Altertum und Mittelalter berichtet wurde, Bescheidenheit und Vorsicht in den Schlußfolgerungen sind also unerläßlich.“ So schrieben einige Gelehrte. Übrigens war es schwer, diese vorsichtigen Leute als Wissenschaftler anzuerkennen, Sie glaubten mehr an Wunder als an Erkenntnisse. Ihre Vorlesungen glichen Predigten. Um schließlich die Streitfrage zu klären, wurde eine wissenschaftliche Expedition ausgerüstet. Deren Mitglieder hatten nicht das Glück, dem Teufel zu begegnen. Dafür erfuhren sie viel Neues über die Taten der „unbekannten Person“. Die Zeitungen brachten einen Bericht des Expeditionskorps: 1. Auf manchen Sandbänken beobachteten wir Spuren schmaler menschlicher Fußspuren, Die Spuren kamen vom Meer und führten wieder zurück. Solche Spuren kann aber auch ein Mensch zurückgelassen haben, der das Ufer auf einem Boot erreichte. 2. Die von uns untersuchten Fischnetze zeigten Schnitte, die von einem scharfen Werkzeug herrühren könnten. Es ist aber auch möglich, daß die Netze an Unterwasserfelsen oder an stählernen Bruchstücken versunkener Schiffe hängengeblieben und dabei zerrissen sind. 3. Nach Aussagen von Augenzeugen war ein Delphin, der durch den Sturm weit aufs Land gespült wurde, nachts von jemandem ins Wasser zurückgebracht worden. Dabei sind Fußspuren und lange, krallenartige Abdrücke auf dem Sand zurückgeblieben. Möglicherweise hat irgendein mitleidiger Fischer den Delphin ins Meer zurückgeschleppt. Es ist bekannt, daß nach Fischen jagende Delphine diese häufig in Untiefen treiben und somit den Fischern ihren Fang erleichtern. Daher helfen die Fischer den Delphinen oft aus der Not. Die krallenartigen Spuren kann ein Mensch mit seinen Fingern verursacht haben. 4. Der Ziegenbock könnte mit einem Kahn gebracht und von einem Spaßmacher auf der Barkasse ausgesetzt worden sein. Die Gelehrten fanden noch andere, nicht weniger schlichte Gründe, die die Herkunft der Spuren erklärten. Sie schlußfolgerten, daß ein Meeresungeheuer unmöglich so komplizierte Handlungen ausführen könne. Dennoch befriedigten diese Erklärungen nicht alle. Auch unter den Gelehrten fanden sich welche, denen sie fragwürdig vorkamen. Selbst der gerissenste und hartnäckigste Schelm konnte solchen Schabernack schließlich nicht gänzlich unbeobachtet treiben. Und in den Berichten war die Tatsache verschwiegen, daß der Teufel — wie man festgestellt hatte — seine Taten während einer kurzen Zeitspanne an verschiedenen und weit voneinander entfernten Plätzen vollbrachte. Entweder konnte er unglaublich schnell schwimmen, oder er hatte irgendwelche besonderen Vorrichtungen dazu. Oder war er nicht allein? Handelte es sich gar um mehrere? Aber dann wären alle diese Vorkommnisse noch viel unverständlicher und bedrohlicher. Pedro Surita erinnerte sich all dieser rätselhaften Geschichten als er in der Kabine unaufhörlich auf und ab ging. Er bemerkte nicht, wie Morgenröte aufzog und ein rötlicher Lichtstrahl durch das Bullauge fiel. Schließlich löschte er die Lampe und begann sich zu waschen. Während er sich den Kopf gerade mit lauwarmem Wasser begoß, vernahm er erschrecktes Geschrei, das vom Deck herabschallte. Ohne sich fertig zu waschen, eilte Surita die Steigleiter empor. Die nackten, nur mit einer um die Hüften geschlungenen Sackleinwand bekleideten Fischer gestikulierten aufgeregt, schrien durcheinander und deuteten über Bord. Pedro schaute ebenfalls herab und sah, daß die Boote, die über Nacht auf dem Wasser blieben, losgebunden waren. Die nächtliche Brise hatte die Boote weit in das offene Meer hinausgetragen. Jetzt trieben sie langsam wieder dem Ufer zu. Surita befahl den Fischern, die Schaluppen einzuholen. Aber niemand wagte, das Deck zu verlassen. So wiederholte er seinen Befehl. „Krieche selbst in die Klauen des Teufels“, ließ sich eine Stimme vernehmen. Surita griff an seine Revolvertasche. Die Fischer wichen zurück, rotteten sich am Mastbaum zusammen und blickten feindselig. Ein Zusammenstoß schien unvermeidlich. Da mischte sich Balthasar ein. „Ein Araukaner fürchtet niemanden“, sagte er. „Der Haifisch hat mich nicht aufgefressen, und auch der Teufel würde an alten Knochen herumwürgen.“ Die Arme über den Kopf erhebend, warf er sich über Bord ins Wasser Und schwamm zum nächsten Boot. Jetzt traten auch die Perlenfischer wieder an die Reling und beobachteten angstvoll Balthasars Unterfangen. Ungeachtet seines hohen Alters und seines kranken Beines schwamm Balthasar ausgezeichnet. Mit wenigen Zügen hatte der Indianer das Boot erreicht, die schwimmenden Ruder aufgefischt. „Das Seil ist mit einem Messer durchgeschnitten“, rief er. „Die Klinge muß scharf wie ein Rasiermesser gewesen sein.“ Nachdem mit Balthasar nichts Gefährliches geschah, folgten einige Fischer seinem Beispiel. Der Delphinreiter Die Sonne war gerade erst aufgegangen, brannte aber schon unbarmherzig. Der silberblaue Himmel schien wolkenlos, der Ozean unbeweglich, Die „Meduse“ befand sich schon zwanzig Meilen südlich von Buenos Aires. Auf Balthasars Rat warf man in einer kleinen Bucht Anker, an einem felsigen Ufer, das sich mit zwei Vorsprüngen aus dem Wasser erhob. Die Boote verteilten sich in der Bucht. Auf jedem befanden sich, wie gewöhnlich, zwei Fischer. Der eine tauchte, der andere zog ihn empor, dann wechselten sie ab. Ein Boot hatte sich dem Ufer genähert. Der Taucher erfaßte einen großen Kalksteinbrocken, der das Ende des Seils beschwerte, und ließ sich rasch auf den Grund hinab. Das Wasser war klar und warm, jeder Stein auf dem Grund deutlich zu erkennen. In Ufernähe wuchsen Korallen — die unbeweglich erstarrten Sträucher der Seegärten. Gold- und silberschimmernde kleine Fische schnellten durch das Gestrüpp. Der Taucher begann sogleich, die Muscheln aufzulesen und in ein Säckchen zu stopfen, das mit einem Riemen an seiner Hüfte befestigt war. Sein Kamerad, ein Hurone, hielt das andere Ende des Seils in den Händen und beobachtete, über Bord gebeugt, das Wasser. Plötzlich sah er, daß der Taucher, so schnell er nur konnte, aufsprang, die Arme schwenkte, den Strick packte und so stark daran zerrte, daß er den Huronen fast mit ins Wasser gerissen hätte. Das Boot schwankte. Der Indianer zog schnell seinen Kameraden aus dem Wasser und half ihm ins Boot. Der Taucher atmete schwer, mit weit auf gerissenem Mund und starrem Blick. Sein bronzenes Gesicht war aschgrau erbleicht. „Ein Haifisch?“ Aber der Taucher konnte nicht antworten, er fiel auf dem Boden der Schaluppe zusammen. Was konnte ihn wohl auf dem Meeresgrund so erschreckt haben? Der Hurone beugte sich über Bord, starrte ins Wasser. Dort schien etwas Ungewöhnliches vorzugehen. Die kleinen Fische huschten wie aufgescheuchte Vögel, die vor dem Habicht flüchten, um sich im dichten Gesträuch der Unterwasserpflanzen zu verbergen. Und dann sah der Indianer, wie hinter dem zakkigen Vorsprung des wasserbedeckten Felsens etwas wie eine tiefrote Wolke emporstieg. Diese Wolke verteilte sich allmählich nach allen Seiten, das Wasser färbte sich rosa. Dann zeigte sich etwas Schwarzes. Das war der Köper eines Haifisches. Der drehte sich langsam und verschwand hinter dem Vorsprung des Felsens. Die dunkelroten Schwaden konnten nur Blut sein, das jemand auf dem Meeresboden vergossen hatte. Was ging dort vor? Der Hurone blickte besorgt nach seinem Kameraden, der unbeweglich auf dem Rücken lag, die Luft mit weit geöffnetem Mund einsaugte und blicklos in den Himmel starrte. Der Indianer griff nach den Rudern, um den plötzlich Erkrankten so schnell wie möglich an Bord der „Meduse“ zu bringen. Endlich kam der Taucher zu sich, aber es schien, als hätte er die Sprache verloren — er gab nur unartikulierte Laute von sich, schüttelte den Kopf, wölbte die Lippen und keuchte. Die auf dem Schoner verbliebenen Perlenfischer umringten den Taucher, ungeduldig seine Erklärungen erwartend. „Sprich“, rief schließlich ein junger Indianer, den Taucher schüttelnd. „Sprich, wenn du nicht willst, daß deine feige Seele dir aus dem Körper fliegt.“ Der Taucher drehte den Kopf beiseite und stammelte mit hohler Stimme: „Ich sah. Meerteufel.“ „IHN? So sprich doch, sprich!“ schrien die Perlenfischer ungeduldig durcheinander. „Ich sehe einen Haifisch. ein großer, schwarzer. er schwimmt gerade auf mich zu. hat schon den Rachen aufgerissen. das ist mein Ende!. Ich sehe, da schwimmt noch.“ „Ein zweiter Haifisch?“ „Der Teufel.“ „Wie sieht er denn aus? Hat er einen Kopf?“ „Einen Kopf? Wahrscheinlich hat er auch einen Kopf. Aber Augen hat er so groß wie Gläser.“ „Wo Augen sind, muß auch ein Kopf sein“, beharrte der junge Indianer. „Die Augen werden ihm schon irgendwo angebracht sein. Und Klauen hat er auch?“ „Tatzen wie ein Frosch. Er schwimmt auf den Haifisch zu, seine Tatze blitzt auf, fatsch! Und das Blut schießt nur so aus dem Bauch des Haifischs!“ „Was für Füße hat er denn?“ fragte einer der Taucher. „Füße?“ Der Taucher bemühte sich zu erinnern. „Füße hat er gar keine. Aber einen mächtigen Schwanz hat er und am Ende des Schwanzes zwei Sehlangen.“ „Vor wem bist du mehr erschrocken, vor dem Haifisch oder vor dem Ungeheuer?“ „Vor dem Ungeheuer“, erwiderte entschieden der Taucher „und wenn er mir das Leben auch gerettet hat. Das war ER!“ „Ja, das war ER!“ „Der Meerteufel“, sagte der Taucher. „Der Meergott“, verbesserte ihn ein alter Indianer. „Der Meergott, der den Armen zu Hilfe kommt.“ Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile auf allen Booten, die in der Bucht lagen. Die Perlenfischer eilten zum Schoner. Alle umringten den durch den Meerteufel geretteten Taucher. Und er wiederholte seine Erzählung immer wieder, stets mehr und neue Einzelheiten hinzufügend. Er erinnerte sich jetzt, daß aus den Nüstern des Ungeheuers eine rote Flamme herausschlug, daß die Zähne scharf und fingerlang waren, die Ohren beweglich. An den Seiten hatte er Flossen und hinten einen Schwanz, wie ein Ruder. Pedro Surita, bis zum Gürtel entblößt, in kurzen weißen Hosen, barfuß in Schuhen und einem hohen breitrandigen Strohhut auf dem Kopf, ging mit schlappenden Schritten auf Deck auf und ab und lauschte dem Gespräch. Je eifriger der Erzähler begeisterte, desto mehr war Pedro überzeugt, daß der vom Haifisch erschreckte Perlenfischer die ganze Geschichte nur erfunden hatte. Möglicher weise ist auch nicht alles erfunden, dachte Pedro. Jemand trennte dem Haifisch den Wanst auf, das Wasser färbte sich rosa. Der Mann lügt zwar, aber an alledem ist auch etwas Wahres. Komische Geschichte, hol‘s der Teufel! Suritas Gedankengang wurde jäh unterbrochen. Plötzlich ertönte, ganz nah hinter dem Felsen, der Wohlklang des Horns. Dieser Laut erschütterte dis Besatzung der „Meduse“ wie ein Donnerschlag. Die Gespräche erstarrten, die Gesichter erbleichten. Die Perlenfischer sahen mit abergläubischem Entsetzen auf den Felsen, hinter dem der Laut hervordrang. Unweit des Felsens tummelte sich an der Oberfläche des Wassers eine Herde Delphine. Einer der Delphine trennte sich von der Herde, schnaubte laut auf, als wolle er den Signalruf des Horns beantworten, schwamm schnell auf den Felsen zu und verschwand hinter den Klippen. Einige Augen blicke angespannter Erwartung vergingen. Dann erblickten die Perlenfischer den hinter dem Felsen hervorschwimmenden Delphin. Auf seinem Rücken saß, wie auf einem Pferd reitend, ein sonderbares Geschöpf. Der Teufel, von dem jüngst der Taucher berichtet hatte. Das Ungeheuer besaß einen menschlichen Körper. Es hatte zwei riesige Augen, die in der Sonne aufblitzten wie die Scheinwerfer eines Autos. Seine Haut schimmerte silbrigblau. Seine Hände waren froschähnlich-dunkelgrün, mit langen Fingern und Schwimmhäuten dazwischen. Die Beine blieben bis zu den Knien mit Wasser bedeckt. Ob sie in Schwänzen endeten oder in gewöhnlichen Menschenfüßen, blieb ungewiß. Das sonderbare Wesen hielt in der einen Hand eine lange gewundene Muschel. Er blies noch einmal in dieses Horn, lachte ein fröhliches menschliches Lachen und rief plötzlich auf Spanisch: „Schneller, Leading, vorwärts!“ Es tätschelte mit der Froschhand den glänzenden Rücken des Delphins und trat ihm in die Seiten. Folgsam, wie ein gutes Pferd, schwamm der Delphin rascher vorwärts. Einige der Fischer schrien unwillkürlich auf. Der ungewöhnliche Reiter drehte sich um. Die Menschen erblickend, glitt er mit der Geschmeidigkeit einer Eidechse blitzschnell vom Rücken des Delphins und verbarg sich hinter dem großen Körper. Auf dem Rücken des Delphins wurde eine grüne Hand sichtbar, die ihm einige Hiebe versetzte. Der gehorsame Delphin verschwand, zusammen mit dem Ungeheuer, sofort unter Wasser. Das seltsame Paar beschrieb einen Halbkreis unter Wasser und verschwand hinter den Klippen. Der gänzlich ungewöhnliche Aufzug dauerte nicht länger als eine Minute, die Zuschauer aber konnten sich vor Bestürzung lange nicht fassen. Die Perlenfischer schrien durcheinander, rannten auf dem Deck hin und her. Mancher faßte sich an den Kopf. Die Indianer sanken in die Knie und beschworen den Meeresgott, sie zu verschonen. Ein junger Mexikaner erkletterte, schreiend vor Angst, den Großmast. Die Taucher ließen sich in den Schiffsraum fallen und verkrochen sich in einem Winkel. An Fang war nun nicht mehr zu denken. Der Kapitän konnte, mit Balthasars Hilfe, die Ordnung einigermaßen wiederherstellen. Die „Meduse“ lichtete die Anker und drehte nach Norden bei. Suritas Mißerfolg Der Kapitän der „Meduse“ zog sich in seine Kajüte zurück, um das Geschehene zu überdenken. „Es ist zum Verrücktwerden!“ stieß Surita zwischen den Zähnen hervor, sich eine Kanne abgestandenes Wasser über den Kopf gießend. „Das Ungeheuer spricht in reinster kastilischer Mundart. Was bedeutet das! Eine Teufelei? Wahnsinn? Aber es ist doch undenkbar, daß eine ganze Besatzung wahnsinnig wird! Es können ja nicht einmal zwei Menschen den gleichen Traum träumen. Aber wir alle haben den Meerteufel gesehen. Das ist unbestreitbar. Und das bedeutet, daß ER tatsächlich existiert, wie unglaublich es auch scheinen mag.“ Surita übergoß seinen Kopf wieder mit dem lauwarmen Wasser und näherte sich, Kühlung suchend, den Bullaugen. Wie dem auch sei — setzte er, einigermaßen beruhigt, hinzu —, dieses ungeheuerliche Geschöpf besitzt gesunden Menschenverstand und kann vernünftige Handlungen ausführen. Anscheinend fühlt es sich im Wasser ebenso wohl wie an der Luft. Und es kann Spanisch sprechen — folglich kann man sich mit ihm verständigen. Was, wenn man. Wie wäre es, wenn man das Scheusal einfangen, zähmen und zum Perlenfang abrichten wurde! Diese Kröte, die im Wasser leben kann, könnte eine ganze Belegschaft von Perlenfischern ersetzen. Was für ein Geschäft! Jedem Perlenfischer muß man schließlich ein Viertel des Fangs abgeben. Diese Kröte aber würde gar nichts kosten. Wirklich: So könnte man in kürzester Zeit Hunderttausende, ja Millionen Pesetas verdienen. Surita war in seinen Traum versunken. Bisher hoffte er, einmal reich zu werden, fischte Perlmuscheln an Stellen, die niemand kannte. Der Persische Meerbusen, die Westküste von Ceylon, das Rote Meer, die Australischen Gewässer waren weit entfernte Gebiete, Auch wurde dort die Perlenfischerei schon seit langer Zeit betrieben. Sollte er vielleicht den Golf von Mexiko oder die Fama- und Margarethen-Inseln aufsuchen? Zur Küste von Venezuela, dem besten amerikanischen Perlengebiet konnte er nicht fahren. Dazu war sein Schoner zu alt und seine Belegschaft zu klein — mit einem Wort, er mußte sein Geschäft in größerem Maßstab betreiben. Aber dazu reichten Suritas Mittel nicht aus. Und deshalb blieb er an der argentinischen Küste. Aber jetzt könnte er in einem einzigen Jahr reich werden, wenn es ihm nur gelingen würde, den Meerteufel einzufangen. Er wird der reichste Mann von Argentinien, vielleicht sogar von ganz Amerika sein. Das Geld ist der Weg zur Macht. Der Name Pedro Surita wird in aller Munde sein. Aber vorsichtig mußte man sein und vor allem das Geheimnis wahren. Surita ging auf Deck, rief die ganze Besatzung bis zum Koch zusammen und sagte: „Wißt ihr, was für ein Schicksal alle ereilte, die das Gerücht über den Meerteufel verbreitet haben? Sie wurden von der Polizei verhaftet und sitzen im Gefängnis. Ich bin gezwungen, euch zu warnen: Dasselbe wird mit jedem von euch geschehen, wenn ihr es wagen würdet, auch nur ein Wort darüber zu verlieren, daß ihr den Meerteufel gesehen habt. Einsperren wird man euch! Versteht ihr? Darum: Wenn euch euer Leben lieb ist, kein Wort über den Teufel! Zu niemandem!“ Surita bestellte Balthasar in seine Kajüte und weihte ihn als einzigen in seinen Plan ein. Dieser hörte seinem Kapitän aufmerksam zu. Nach nachdenklichem Schweigen sagte er: „Ja, das ist ausgezeichnet. Der Meerteufel ist ein paar hundert Perlenfischer wert. Es wäre gut, ihn zu Diensten zu haben. Aber wie ihn einfangen?“ „Mit einem Netz“, antwortete Surita. „Er zerschneidet das Netz, wie er den Wanst des Haifisches aufschlitzte.“ „Wir könnten ein Metallnetz anfertigen.“ „Und wer wird ihn fangen? Wenn unsere Fischer nur das Wort Teufel hören, sinken sie schon in die Knie. Nicht einmal für einen Sack voll Gold wären sie dafür zu gewinnen.“ „Und du, Balthasar?“ Der Indianer zuckte die Schultern: „Ich jagte noch nie einen Meerteufel. Ihm aufzulauern dürfte nicht leicht sein. Aber wir brauchen den lebendigen Teufel.“ „Hast du keine Angst, Balthasar? Was denkst du über ihn?“ „Was kann ich vom Jaguar denken, der übers Meer fliegt, und vom Haifisch, der auf Bäumen herumklettert? Eine unbekannte Bestie ist gefährlich. Doch ich liebe es, gefährliche Bestien zu jagen.“ „Ich werde dich reich belohnen.“ Surita drückte Balthasars Hand und fuhr fort, ihm seinen Plan zu entwickeln: „Je weniger Teilnehmer wir bei diesem Unternehmen sein werden, desto besser. Besprich dich mit allen Araukanern. Die sind tapfer und schlau. Wähle fünf Mann aus, nicht mehr. Findest du sie nicht unter unseren Leuten, dann such außerhalb ein paar passende Männer. Der Teufel hält sich an den Ufern auf. Vor allem muß man herausfinden, wo er seine Höhle hat. Dann wird es leicht sein, ihn mit dem Netz zu fangen.“ Surita und Balthasar begannen gleich mit der Arbeit. Nach Suritas Angaben wurde ein über Reifen gespanntes Schleppnetz angefertigt, das an ein großes Faß mit offenem Boden erinnerte. Im Innenraum hatte Surita Hanfnetze ausgespannt, in denen sich der Teufel wie in einem Spinngewebe verwickeln sollte. Die alte Besatzung wurde ausgezahlt. Nur zwei Indianer von der „Meduse“ konnte Balthasar überreden, an der Jagd auf den Teufel teilzunehmen. Weitere drei Araukaner hatte er in Buenos Aires angeworben. Man beschloß, den Teufel in jener Bucht aufzuspüren, wo die Besatzung der „Meduse“ ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Um bei ihm keinen Argwohn zu erwecken, ging die „Meduse“ einige Meilen von der kleinen Bucht entfernt vor Anker. Surita und seine Begleiter beschäftigten sich von Zeit zu Zeit mit Fischfang, so, als ob eben dies der ganze Zweck ihrer Seefahrt wäre. Gleichzeitig versteckten sich abwechselnd drei von ihnen hinter Steinen am Ufer und beobachteten aufmerksam, was in den Wassern der Bucht vorging. Schon die zweite Woche ging zu Ende, doch noch immer deutete kein Anzeichen auf die Anwesenheit des Teufels. Balthasar befreundete sich mit den Küstenbewohnern, den Farmer-Indianern, verkaufte ihnen billige Fische und brachte plaudernd das Gespräch immer wieder unauffällig auf den Meeresteufel. Aus diesen Unterhaltungen erfuhr der alte Indianer, daß sie das Jagdrevier richtig gewählt hatten. Viele Indianer, die in der Umgebung der Bucht wohnten, hatten schon den Klang des Horns vernommen und Fußspuren auf dem Sand entdeckt. Sie behaupteten, daß die Ferse des Teufels genau wie eine menschliche sei, daß aber die Fußzehen bedeutend länger wären. Hin und wieder hatten die Indianer auch den Abdruck eines Rückens im Sand bemerkt — also lag das Ungeheuer manchmal auch am Ufer. Da der Teufel den Küstenbewohnern keinen Schaden zufügte, beachteten sie die Spuren, die er von Zeit zu Zeit hinterließ, kaum noch. Aber den Teufel selbst hatte noch niemand gesehen. Zwei Wochen lag die „Meduse“ schon in der Bucht, zum Schein mit Fischfang beschäftigt. Zwei Wochen lang ließen Surita, Balthasar und die gedingten Indios kein Auge von der Oberfläche des Ozeans, aber der Meerteufel erschien nicht, Surita war unruhig. Er war ungeduldig und geizig. Jeder Tag kostete Geld, und dieser Teufel ließ noch immer auf sich warten. Pedro begann schon zu zweifeln. Wenn der Teufel ein übernatürliches Wesen wäre, könnte man ihn mit keinem Netz fangen. Da wäre es auch gefährlich, sich mit einem solchen Wesen einzulassen. Surita war abergläubisch. Vielleicht sollte er einen Geistlichen mit Kreuz und heiligen Sakramenten auf die „Meduse“ einladen? Neue Ausgaben. Aber vielleicht ist der Meerteufel gar kein Teufel, sondern irgendein Spaßmacher, ein guter Schwimmer, der sich in einen Teufel verkleidet hat, um den Leuten Angst einzujagen? Der Delphin? Aber den kann man, wie andere Tiere, zähmen und dressieren, Surita setzte einen Preis demjenigen aus, der als erster den Teufel aufspüre. Zu Pedros großer Freude begann sich der Teufel Anfang der dritten Woche bemerkbar zu machen. Nach dem Tagesanfang ließ Balthasar das mit Fischen gefüllte Boot am Ufer liegen. Am frühen Morgen sollte die Ware von den Käufern abgeholt werden. Indessen ging Balthasar auf eine Farm, um einen Indianer zu besuchen. Als er aber zum Ufer zurückkehrte, war das Boot leer. Das konnte doch nur der Teufel gewesen sein. Balthasar wunderte sich: Hat er so viele Fische gefressen? In der gleichen Nacht vernahm der wachhabende Indio südlich der Bucht wieder den Klang des Horns. Und zwei Tage später berichtete frühmorgens der junge Araukaner, daß es ihm endlich gelungen sei, den Teufel aufzuspüren. Er sei mit dem Delphin angeschwommen gekommen. Diesmal ritt er nicht auf seinem Gefährten, sondern glitt im Wasser neben ihm her, sich dabei mit der Hand an einem breiten ledernen Halsband haltend. In der Bucht nahm der Teufel dem Delphin das Band ab, tätschelte das Tier und verschwand in der Tiefe der Bucht. Der Delphin schwamm hinaus aufs offene Meer. Surita hörte den Bericht des Araukaners, bedankte sich, versprach ihn zu belohnen und sagte: „Es ist kaum anzunehmen, daß der Teufel seinen Schlupfwinkel tagsüber nochmals verläßt. Darum sollten wir den Grund der Bucht untersuchen. Wer übernimmt das?“ Aber niemand wollte sich in das Wasser hinablassen und sich der Gefahr aussetzen, Aug in Auge mit dem unbekannten Ungeheuer zusammenzutreffen. Schließlich trat Balthasar vor: „Ich!“ sagte er kurz und stand für sein Wort. Die „Meduse“ lag immer noch vor Anker. Alle Leute, mit Ausnahme der Wachen, waren an Land gegangen und hatten sich zum steilen Felsen am Rande der Bucht begeben. Balthasar umwand sich mit einem Seil, damit man ihn herausziehen könnte, falls er verwundet würde, nahm ein Messer mit, klemmte einen angebundenen Stein zwischen die Beine und ließ sich am Seil auf den Meeresboden herab. Die Araukaner erwarteten seine Rückkehr mit Ungeduld. Sie starrten wie gebannt immer nur auf einen Punkt, der in der bläulichen Dunkelheit der von Bäumen beschatteten Bucht schimmerte. Es vergingen vierzig, fünfzig Sekunden, eine Minute — von Balthasar keine Spur. Endlich zerrte er am Seil und wurde an die Oberfläche gezogen. Tief atmend sagte er: „Ein enger Durchgang führt in eine unterirdische Höhle. Dort ist es so dunkel wie im Bauch eines Haifisches. Der Meerteufel kann sich nur in dieser Höhle versteckt haben. Ringsum ist eine glatte Felswand.“ „Ausgezeichnet“, rief Surita. „Dort ist es dunkel, um so besser. Wir werfen unsere Netze aus, und das Fischlein wird gefangen.“ Bald nach Sonnenuntergang versenkten die Indios an starken Seilen befestige Drahtnetze am Höhleneingang. Und an die Seile band Balthasar Glöckchen, die bei der geringsten Berührung der Umzingelung läuten mußten. Surita, Balthasar und die fünf Araukaner setzten sich ans Ufer und warteten schweigend. Auf dem Schoner war niemand zurückgeblieben. Schnell brach die Dunkelheit herein. Der Mond stieg auf, und sein Schein spiegelte sich auf der ruhigen Oberfläche des Wassers. Die Wartenden waren von einer ungewöhnlichen Aufregung erfaßt. Möglicherweise würden sie jetzt gleich das sonderbare Wesen erblicken, das den Fischern und Tauchern gleichermaßen zum Schreckgespenst wurde. Langsam verstrichen die Nachtstunden. Die Leute begannen schläfrig zu werden. Plötzlich schlugen die Glöckchen an. Die Fischer sprangen auf, stürzten zu den Seilen und hoben das Netz. Es war schwer, die Seile zuckten. Jemand zappelte darin. Das Netz wurde an der Wasseroberfläche sichtbar. Im bleichen Mondschein erblickte man den kämpfenden Körper eines Tiermenschen. Der hatte riesige Augen und silberne Schuppen. Der Teufel machte unglaubliche Anstrengungen, um seine Hand zu befreien, die im Netz verheddert war. Das gelang ihm. Er zog ein Messer, das er an einem dünnen Riemen an seinen Hüften trug und bearbeitete das Netz. „Du zerschneidest es nicht, mach keinen Quatsch!“ sagte Balthasar leise, schon ganz hingerissen von der Jagd. Aber zu seinem Erstaunen überwand das Messer das Drahthindernis. Mit geschickten Bewegungen erweiterte der Teufel das Loch, während sich die Fischer beeilten, das Netz so schnell wie möglich an Land zu ziehen. „Stärker! Hau-ruck!“ schrie Balthasar. Aber im gleichen Augenblick, als sie die Beute schon sicher in Händen glaubten, schlüpfte der Teufel durch das ausgeweitete Loch, fiel ins Wasser zurück, wobei eine ganze Kaskade flimmernder Spritzer aufstiebte, und verschwand in der Tiefe. Verzweifelt ließen die Fischer das Netz fallen. „Ein gutes Messer! Schneidet sogar Draht!“ sagte Balthasar begeistert. „Die Messerschmiede sind besser als unsere.“ Mit gesenktem Kopf, ärgerlichen Gesichts, blickte Surita aufs Wasser, so, als wäre dort sein ganzer Reichtum untergegangen. Dann hob er den Kopf, zerrte an seinem dichten Schnurrbart und stampfte mit dem Fuß auf. „Nein! Nicht so!“ schrie er, „ehe ich‘s aufgebe, krepierst du in deiner Unterwasserhöhle. Kein Geld soll mir zu schade sein, ich lasse Tiefseetaucher kommen, ich bespanne die ganze Bucht mit Netzen und stell Fangeisen auf. Du entgehst mir nicht!“ Er war beharrlich und eigensinnig. Nicht umsonst floß in Suritas Adern das Blut spanischer Eroberer. Der Meerteufel war kein übernatürliches, kein allmächtiges Wesen. Er war offensichtlich aus Fleisch und Blut, wie Balthasar sagte. Das heißt also, man kann ihn fangen, an die Kette legen und zwingen, Reichtümer für Surita vom Meeresgrund zu heben. Balthasar wird ihn fangen, und wenn Neptun persönlich mit seinem Dreizack zur Verteidigung des Meerteufels erscheint. Doktor Salvator Surita verwirklichte seine Drohung. Am Grund der Bucht errichtete er Drahtverhaue, spannte in allen Richtungen Netze aus und stellte Fangeisen auf. Aber seine Opfer waren vorläufig nur Fische. Der Meerteufel blieb verschwunden, als hätte ihn die Erde verschluckt. Täglich erschien vergebens der zahme Delphin in der Bucht, tauchte, schnaubte und grunzte auffordernd, als erwarte er seinen ungewöhnlichen Freund zum gewohnten Ausflug. Da der nicht kam, entschwand schließlich auch der Delphin ins offene Meer, ein letztes Mal zornige Grunzlaute ausstoßend. Das Wetter verschlechterte sich, ein starker Ostwind kam auf und peitschte den glatten Ozean zu hohen Brechern auf. Das Wasser der Bucht wurde trüb vom hochgewirbelten Sand, die Schaumkämme der Brecher verdeckten.jede Sicht auf den Grund. Niemand konnte mehr beobachten, was unter Wasser vorging. Surita stand stundenlang am Ufer und blickte über das tobende Meer, wie sich Woge auf Woge heranwälzte und in mächtigen Kaskaden aufschlug. Die unteren Wellenschichten rollten sprudelnd über den feuchten Sand weiter und spülten Kiesel und Muscheln bis vor Suritas Füße. „Nein, der alte Plan ist nichts wert“, sagte er, „wir müssen uns etwas Neues einfallen lassen. Der Teufel lebt auf dem Meeresgrund und will seinen Zufluchtsort nicht verlassen. Das bedeutet, wir müssen ihn in seinem Versteck aufstöbern, wir müssen auf den Grund tauchen.“ Surita wandte sich an Balthasar, der gerade an einem neuen komplizierten Fangeisen bastelte und ergänzte: „Du mußt sofort nach Buenos Aires! Besorg dort zwei Taucheranzüge mit Sauerstoffbehältern. Keine gewöhnlichen mit Atemschläuchen, die genügen nicht für uns. Der Teufel könnte den Schlauch durchschneiden. Es kann sein, daß wir eine kleine Unterwasserreise machen werden. Dazu brauchen wir auch zwei elektrische Handlampen. Vergiß nicht, sie mitzubringen.“ Außer den Taucheranzügen und Unterwasserlampen beschaffte Balthasar noch zwei lange, eigenartig gekrümmte Bronzemesser. „Niemand versteht mehr, solche Messer herzustellen“, sagte er. „Das sind alte Araukanerwaffen. Damit haben meine Vorfahren die Bäuche der weißen Eroberer aufgeschlitzt — Ihrer Vorfahren. Nichts für ungut, Kapitän.“ Diese historische Auskunft gefiel Surita gar nicht, aber die Messer lobte er: „Du bist sehr vorsorglich, Balthasar.“ Trotz des starken Wellenganges zogen Surita und Balthasar am nächsten Tag die Taucheranzüge an und ließen sich zum Meeresgrund hinabgleiten. Mit einiger Anstrengung verschafften sie sich Zugang zu der vorher sorgfältig verbarrikadierten Unterwasserhöhle. Sie krochen in den engen Durchgang. Tiefste Finsternis und lautlose Stille umgab die Eindringlinge. Beim Schein ihrer Lampen ergriffen sie ihre Messer. Kleine Fische stoben erschreckt auseinander, schwammen aber bald wieder auf das Licht zu, in seinem bläulichen Schein durcheinander hastend wie ein Insektenschwarm. Surita verscheuchte sie mit der Hand, das Aufblitzen ihrer Schuppenleiber blendete ihn fast. Die Taucher blickten sich um. Sie befanden sich in einer ziemlich großen Höhle — etwa vier Meter hoch und fünf bis sechs Meter breit. Sie leuchteten alle Winkel aus. Die Höhle war leer und unbewohnt. Nur Schwärme kleiner Fische verbargen sich hier offensichtlich vor Sturm und Raubfischen. Surita und Balthasar bewegten sich vorsichtig vorwärts. Die Höhle verengte sich allmählich. Plötzlich blieb Surita verwundert stehen. Der Lichtschein fiel auf ein massives Eisengitter, das den weiteren Weg versperrte. Surita traute seinen Augen nicht, er packte die Stäbe mit der Hand und versuchte rüttelnd, die Schranke zu öffnen. Aber das Gitter gab nicht nach. Surita leuchtete es ab und überzeugte sich, daß es fest mit Türangeln und einem Innenschloß in die behauene Höhlenwand eingelassen war. Das gab ein neues Rätsel auf. Der Meerteufel mußte nicht nur ein kluges, sondern auch ein außerordentlich begabtes Geschöpf sein. Er verstand es den Delphin zu zähmen. Er kannte sich auch mit der Bearbeitung von Metallen aus, vermochte es, auf dem Meeresboden feste eiserne Schranken zu errichten. Das ist doch aber unglaublich! Er kann doch unter Wasser kein Eisen schmieden! Das bedeutet, daß er nicht unter Wasser lebt, oder wenigstens, daß er es für längere Zeit verlassen und an Land gehen kann. Obwohl Surita erst wenige Minuten unter Wasser war, hämmerte es in seinen Schläfen aus Sauerstoffmangel. Er gab Balthasar das Zeichen zum Umkehren. Sie verließen die Höhle und tauchten wieder empor. Die Araukaner hatten sie mit Ungeduld erwartet und waren glücklich über die unversehrte Rückkehr. Surita nahm seinen Taucherhelm ab, schöpfte tief Atem und sagte: „Was sagst du dazu, Balthasar?“ Der Araukaner hob die Schultern. „Ich sage, wir können hier lange warten. Der Teufel ernährt sich sicher von Fischen, und die gibt‘s dort genug. Aushungern können wir ihn nicht. Da hilft nur eins: das Gitter mit Dynamit sprengen!“ „Meinst du nicht, daß die Höhle zwei Ausgänge haben kann, einen nach der Bucht und den anderen zum Land hin?“ Daran hatte Balthasar nicht gedacht. „Man muß es überlegen. Daß wir nicht früher darauf gekommen sind, die Umgebung zu besichtigen“, sagte Surita. Sie beschlossen, das Ufer gründlich zu untersuchen. An Land stieß Surita auf eine hohe Mauer, die ein riesiges Grundstück umschloß, wenigstens zehn Hektar groß. Surita umschritt die Mauer und fand nur ein einziges starkes Tor. Darin war eine kleine eiserne Pforte mit einem von innen verdeckten Guckloch eingelassen. Ein richtiges Gefängnis oder eine Festung? dachte Surita. Eigenartig, die Farmer bauen keine so dicken und hohen Mauern. In der ganzen Umfriedung ist keine Lücke, kein Spalt für einen Blick nach innen zu finden. Und ringsum eine menschenleere wilde Gegend, kahle graue Felsen, stellenweise mit dornigem Gestrüpp oder Kakteen bewachsen. Und unten das Meer. Längere Zeit beobachtete Surita das eiserne Tor. Aber es blieb versperrt. Niemand ging hinein, niemand trat heraus. Kein Laut drang hinter der Mauer hervor. Als Surita abends auf die „Meduse“ zurückgekehrt war, rief er Balthasar zu sich und fragte ihn: „Weißt du, wer in der Festung über der Bucht wohnt?“ „Ich weiß es. Ich fragte die Indianer aus, die auf den Feldern arbeiten. Dort wohnt Salvator.“ „Wer ist dieser Salvator?“ „Gott“, antwortete Balthasar bedeutungsvoll. Surita hob erstaunt seine dicken Augenbrauen. „Mach keine Witze, Balthasar.“ Der Indianer lächelte kaum merkbar. „Ich berichte nur, was ich gehört habe. Viele Indianer halten Salvator für eine Gottheit, ein göttliches Wesen, einen Erretter.“ „Wovor errettet er sie?“ „Vor dem Tod. Sie sagen, er sei allmächtig, Salvator kann Wunder vollbringen. Er hält Leben und Tod in der Hand. Den Lahmen verschafft er Beine — lebendige Beine, dem Blinden neue scharfe Augen, und Tote läßt er auferstehen.“ „Verflucht!“ brummte Surita beeindruckt und kraulte mit den Fingern seinen Bart. „In der Bucht ein Teufel, über der Bucht ein Gott — meinst du nicht, Balthasar, daß die beiden einander beistehen könnten?“ „Ich meine, daß wir hier so schnell wie möglich abhauen sollten, bevor unser Gehirn bei all diesen Wundern wie saure Milch gerinnt.“ „Hast du selbst einen der von Salvator Geheilten gesehen?“ „Ja“, sagte Balthasar. „Man zeigte mir einen Mann mit gebrochenen Bein. Nachdem er bei Salvator war, springt er wieder wie ein Mustang herum. Ich habe auch einen vom Tode erweckten Indianer gesehen. Das ganze Dorf erzählt, daß er ein kalter Leichnam war, als man ihn zu Salvator brachte — mit gespaltenem Schädel und herausquellendem Gehirn. Und von dort kehrte er gesund und fröhlich wieder zurück. Geheiratet hat er sogar nach seinem Tode. Ein schönes Mädchen nahm er sich. Und dann sah ich noch Indianerkinder, die — “ „Das heißt, Salvator empfängt auch Fremde?“ „Nur Indianer. Und die kommen von überallher zu ihm. Von Feuerland, vom Amazonas, aus den Wüsten Atakama und Asuncion.“ Nachdem Surita diese Auskunft von Balthasar erhalten hatte, beschloß er, nach Buenos Aires zurückzukehren. Dort erfuhr er, daß Salvator als Arzt bekannt ist, nur Indianer behandelt und unter ihnen als Wunderdoktor gilt. Surita wandte sich dann, Auskunft suchend, an einige Ärzte, und erfuhr, daß Salvator ein talentierter, sogar genialer Chirurg sei, aber ein Mensch mit großen Absonderlichkeiten — wie viele hervorragende Leute. Unter den Wissenschaftlern der alten und neuen Welt sei Salvators Kunst bestens bekannt. In Amerika wurde er durch seine kühnen chirurgischen Eingriffe berühmt. Wenn die Erkrankung eines Patienten als hoffnungslos galt und die Ärzte es ablehnten zu operieren, wandten sie sich an Salvator. Niemals lehnte er ab. Auch in den schwierigsten Situationen wußte er Rat. Tausende von Menschen verdankten ihm ihre Rettung. Seine ärztliche Praxis und erfolgreiche Grundstücksspekulationen verhalfen ihm zu einem riesigen Vermögen. Unweit von Buenos Aires erwarb er ein großes Grundstück, umgab es mit einer gewaltigen Mauer — eine seiner Absonderlichkeiten — und verzichtete fortan auf seine Praxis. Er beschäftigte sich in seinem Laboratorium mit wissenschaftlichen Arbeiten. Jetzt behandelte er nur noch Indianer, die ihn einen auf Erden wandelnden Gott nannten. Surita gelang es, eine weitere Einzelheit über Salvator zu erfahren. Dort, wo sich jetzt der ausgedehnte Besitz befindet, stand einst ein kleines Haus in einem Garten, der ebenfalls von einer hohen Mauer umgeben war. Während Salvators Abwesenheit wurde das Anwesen von einem Neger und mehreren riesigen Hunden bewacht. Keinen einzigen Menschen ließen diese unbestechlichen Wächter in den Hof. In der letzten Zeit hatte sich Salvator noch geheimnisvoller abgesondert. Nicht einmal seine früheren Universitätskollegen empfing er mehr bei sich. Nachdem Surita das alles herausgebracht hatte, beschloß er zu handeln. Er sagte sich: Wenn Salvator Arzt ist, hat er kein Recht, einen Kranken abzuweisen. Warum sollte ich nicht ein Leiden haben? Unter diesem Vorwand dringe ich zu Salvator vor. Surita begab sich zum eisernen Tor, das den Zutritt zu Salvators Anwesen versperrte, und klopfte lange und ausdauernd an. Aber es wurde ihm nicht geöffnet. Wütend ergriff Surita einen großen Stein und hämmerte damit auf das Tor ein. Dabei verursachte er einen Lärm, der Tote hätte erwecken können. Weit entfernt hinter der Mauer ertönte Hundegebell. Endlich wurde das Guckloch in der Pforte ein wenig freigemacht. „Was wollen Sie?“ fragte eine Stimme in gebrochenem Spanisch. „Ich bin krank, öffnen Sie schnell“, antwortete Surita. „Kranke klopfen nicht so“, entgegnete ruhig die Stimme hinter dem Guckloch. „Der Arzt empfängt nicht.“ „Er untersteht sich, einem Kranken die Hilfe zu verweigern?“ Surita erregte sich. Die Klappe fiel ins Schloß, Schritte entfernten sich. Nur die Hunde bellten heftig weiter. Nachdem Surita seinen ganzen Vorrat an Schimpfwörtern verbraucht hatte, kehrte er auf den Schoner zurück. Sollte er sich über Salvator in Buenos Aires beschweren? Aber bei wem? Surita bebte vor Zorn. Vor Aufregung zerrte er so lange an seinem dichten schwarzen Schnurrbart, bis die Bartspitzen herabhingen wie die Zeiger eines Barometers bei fallendem Luftdruck. Allmählich beruhigte er sich wieder und überlegte, was nun zu unternehmen wäre. Je weiter seine Überlegungen gediehen, desto häufiger wirbelten die sonnengebräunten Finger den zerzausten Schnurrbart nach oben. Das Barometer stieg. Schließlich ging er an Deck und gab überraschend für alle den Befehl, die Anker zu lichten. Die „Meduse“ nahm Kurs auf Buenos Aires. „Gut“, sagte sich Balthasar, „wir haben viel Zeit vertrödelt. Der Satan hol diesen Teufel zusammen mit dem Wunderarzt.“ Die kranke Enkelin Die Sonne brannte erbarmungslos. Auf dem staubigen Weg, vorbei an fruchtbaren Weizen-, Maisund Haferfeldern, ging ein alter erschöpfter Indianer. Auf den Armen trug er ein krankes Kind. Es war in eine zerschlissene Decke gebettet, die vor den sengenden Sonnenstrahlen schützen sollte. Die Augen des Kindes waren halb geöffnet. An seinem Hals wucherte eine große Geschwulst. Von Zeit zu Zeit, wenn der Alte stolperte, stöhnte es heiser auf und hob kurz die Augenlider. Der Alte hielt an, und besorgt fächelte er das Kind, um ihm etwas Kühlung zu verschaffen. Wenn ich es nur lebend hinbringe, flüsterte er, seine Schritte beschleunigend. Am eisernen Tor angelangt, nahm der Indianer das Kind in den linken Arm und schlug mit der rechten Hand viermal gegen die Pforte. Die Klappe öffnete sich ein wenig, ein Auge blickte durch den Spalt, die Riegel knarrten, es wurde geöffnet. Der Indianer trat zaghaft über die Schwelle. Vor ihm stand ein alter Neger in einem weißen Arztkittel mit völlig weißem krausen Haar. „Zum Arzt, das Kind ist krank“, sagte der Indianer. Der Neger nickte schweigend und bedeutete mit einer Bewegung, ihm zu folgen. Der Indianer blickte sich um. Sie befanden sich auf einem kleinen, mit Steinplatten belegten Hof. Eine Seite begrenzte die hohe Außenmauer, eine andere niedrige Mauer teilte den Hof von dem inneren Grund stück ab. Kein Gras, kein Sträuchlein, wie ein richtiger Gefängnishof. Am Ende des Gevierts, am Tor der weiten Mauer, stand ein weißes Haus mit großen Fenstern. Neben dem Hause, auf dem Boden, lagerten Indianer, Männer und Frauen. Viele hatten Kinder dabei. Fast alle Kinder sahen vollkommen gesund aus, einige spielten mit Muscheln, andere balgten sich lautlos. Der alte, weißhaarige Neger wachte streng darüber, daß die Kinder nicht lärmten. Der alte Indianer lies sich demütig im Schatten des Hauses nieder und hauchte das starre, bläulich angelaufene Gesicht des Kindes an. Neben ihm saß eine alte Indianerfrau mit einem dick geschwollenen Fuß. Sie betrachtete das auf den Knien des Indianers liegende Kind und fragte: „Deine Tochter?“ „Enkelin“, antwortete der Indianer. „Der Sumpfgeist ist in deine Enkelin gefahren. Aber ER ist stärker als die bösen Geister, ER verjagt sie, und deine Enkelin wird wieder gesund.“ Der Neger im weißen Kittel machte bei den Kranken die Runde. Er warf einen aufmerksamen Blick auf das Kind des alten Indianers und deutete nach der Haustür. Der Indianer trat in ein großes, fliesenbelegtes Zimmer. In der Mitte des Raumes stand ein schmaler langer Tisch, der mit einem weißen Laken bedeckt war. Eine weite, mit Milchglasscheiben versehene Tür öffnete sich und Dr. Salvator betrat das Zimmer. Er war hochgewachsen, breitschultrig und brünett und trug einen weißen Kittel. Er hatte schwarze Augenbrauen und Wimpern, sein Schädel war kahlgeschoren und ebenso tief gebräunt wie sein Gesicht. Die ziemlich große, gebogene Nase, das etwas hervorspringende spitze Kinn und die fest zusammengepreßten Lippen gaben ihm einen wilden Ausdruck. Seine braunen Augen richteten sich kalt und durchdringend auf den Wartenden. Der Indianer verbeugte sich demutsvoll und hielt das Kind dem Arzt entgegen. Mit einer raschen, bestimmten und doch vorsichtigen Bewegung nahm Salvator das kranke Mädchen aus den Armen des Indianers. Er entfernte die Lumpen, in die das Kind eingewickelt war, und warf sie geschickt in einen weit entfernt stehenden Behälter. Der Indianer humpelte auf den Kasten zu, um die Lumpen wieder an sich zu nehmen, aber Salvator gebot ihm mit strenger Stimme: „Laß das, faß es nicht an!“ Dann legte er das Mädchen auf den Tisch und beugte sich tief zu ihm hinab. Er stand im Profil zum Indianer. Salvator tastete mit den Fingern die Geschwulst am Hals des Kindes ab. Diese Finger entsetzten den Indianer. Es waren lange bewegliche Finger, die sich in den Gelenken ebensogut auch seitwärts und nach oben wie unten zu biegen schienen. Der von Natur aus furchtlose Indianer bemühte sich, das Entsetzen zu überwinden, welches dieser unheimliche Mensch ihm einflößte. „Sehr gut, ausgezeichnet“, sagte Salvator wie begeistert und betastete weiter die Geschwulst. Nach beendeter Untersuchung wandte er sich an den Indianer und sagte: „Wir haben jetzt Neumond. Komm in vier Wochen beim nächsten Neumond wieder, und du bekommst dein Kind gesund zurück.“ Er trug das kranke Mädchen durch die Glastür in den Teil des Hauses, wo sich die Baderäume, Operationssäle und Krankenzimmer befanden. Der Neger führte schon den nächsten Patienten in das Untersuchungszimmer — die Alte mit dem kranken Bein. Der Indianer verbeugte sich tief gegen die Glastür, die sich bereits hinter Salvator geschlossen hatte, und ging hinaus. Genau achtundzwanzig Tage später öffnete sich dieselbe Glastür. Da stand das kleine Mädchen in einem neuen Kleid, gesund und blühend. Ängstlich sah es auf den Großvater. Der Indianer stürzte auf das Kind zu, nahm es in seine Arme, küßte es und betrachtete seinen Hals. Von der Geschwulst war nichts mehr zu sehen, nur eine kleine rötliche Narbe hatte die Operation zurückgelassen. Das Mädchen stieß den Großvater mit den Händen zurück und schrie sogar auf, als die Stoppeln des lange nicht rasierten Bartes es beim Kusse stachelten. Er mußte das Kind wieder auf den Boden stellen. Jetzt lächelte der Arzt sogar, streichelte den Kopf des Kindes und sagte: „Nun, da hast du dein Mädchen. Du hast es gerade noch rechtzeitig hergebracht. Einige Stunden später, und sogar ich hätte ihm das Leben nicht erhalten können.“ Das Gesicht des alten Indianers verzog sich in tiefe Falten, die Lippen bebten, und die Augen füllten sich mit Tränen. Erneut hob er das Kind auf, drückte es an seine Brust, fiel vor dem Arzt in die Knie und sagte mit tränenerstickter Stimme: „Ja, Sie haben meiner Enkelin das Leben gerettet. Was kann Euch ein alter Indianer zum Dank anbieten außer dem eigenen Leben?“ „Was soll ich mit deinem Leben?“ fragte verwundert Salvator. „Ich bin alt, aber noch rüstig“, fuhr der Indianer fort, ohne sich zu erheben. „Für das Gute, das Ihr mir erwiesen habt, will ich für den Rest meines Lebens bei Euch bleiben und Euch dienen wie ein Hund. Ich werde das Kind zu seiner Mutter — meiner Tochter — bringen und selbst zu Euch zurückkehren. Verweigern Sie mir diese Gunst nicht!“ Salvator überlegte. Er nahm sehr ungern und nur mit strengster Vorsicht neue Dienstboten auf. Zwar wäre Arbeit genug da, sogar sehr viel Arbeit, denn Jim wurde im Garten allein schlecht fertig. Dieser Indianer schien ihm ein geeigneter Mensch zu sein, obwohl er einen Neger bevorzugt hätte. „Du bietest mir dein Leben und flehst wie um eine Gnade, daß ich dein Geschenk annehme. Gut, du sollst deinen Willen haben. Wann kannst du kommen?“ „Bevor das erste Viertel des Mondes voll ist, bin ich wieder hier“, sagte der Indianer und küßte den Saum von Salvators Kittel. „Wie heißt du?“ „Ich — Christo — Christofer — “ „Geh, Christo, Ich erwarte dich.“ „Komm, Enkelchen!“ wandte sich Christo zu dem Kind und nahm es wieder in den Arm. Das Mädchen weinte. Christo beeilte sich, fortzukommen. Der wundervolle Garten Als Christo eine Woche später erschien, sah ihm Salvator prüfend in die Augen und sagte: „Paß gut auf, Christo, Ich nehme dich in Dienst, Du bekommst freie Verpflegung und einen guten Lohn.“ Christo hob abwehrend die Hände. „Ich brauche nichts, ich will Euch nur dienen.“ „Schweig und hör zu“, fuhr Salvator fort. „Du wirst alles bekommen. Aber ich verlange eins: Du mußt über alles schweigen, was du hier sehen wirst.“ „Eher schneide ich mir die Zunge ab und werfe sie den Hunden vor, bevor ich auch nur ein einziges Wort sage.“ „Vergiß es nicht, damit dich dies Unglück nicht trifft“, warnte ihn Salvator. Er rief den Neger im weißen Kittel herbei und befahl ihm: „Führ ihn in den Garten und übergib ihn Jim.“ Der Neger verneigte sich schweigend, führte den Indianer aus dem weißen Haus, hinweg über den Christo bereits bekannten Hof und klopfte an die eiserne Pforte der Innenmauer. Hinter der Mauer erklang Hundegebell, die Pforte quietschte und öffnete sich langsam. Der Neger schob Christo in den Garten einem anderen dort stehenden Neger zu, rief etwas mit unverständlichen Kehllauten und verschwand wieder hinter der Tür. Erschreckt drückte sich Christo an die Wand. Mit brüllendem Gebell stürzten unbekannte, dunkelge fleckte Bestien auf ihn zu. Hätte Christo sie in den Pampas getroffen, hätte er sie sofort als Jaguare erkannt, aber diese herbeistürmenden Bestien bellten wie Hunde. Zur Zeit war es Christo gleichgültig, welche Art von Bestien ihn da überfielen. Er sprang zum nächsten Baum und erkletterte ihn mit überraschender Geschwindigkeit. Der Neger zischte die Hunde an wie eine gereizte Kobra. Das beruhigte die Hunde sofort, sie hörten auf zu bellen und legten sich auf die Erde. Die Köpfe auf den ausgestreckten Pfoten, schielten sie nach dem Neger. Dieser wandte sich dem auf dem Baum sitzenden Indianer zu und bedeutete Christo mit den Armen, herunterzukommen. „Was zischst du wie eine Schlange?“ fragte Christo, ohne seine Zuflucht zu verlassen. „Hast wohl deine Zunge verschluckt?“ Der Neger antwortete mit einem zornigen Gestammel. Wahrscheinlich ist er stumm, überlegte Christo und erinnerte sich schaudernd an Salvators Warnung. Ob Salvator wirklich die Zungen der Dienstleute abschnitt, die sein Geheimnis verrieten? Womöglich hat auch dieser Neger deshalb keine Zunge mehr. Christo wäre vor Schreck fast vom Baum gefallen. Er wollte so schnell wie möglich fliehen und schätzte die Entfernung von seinem Baum bis zur Mauer ab. Nein, es war unmöglich, mit einem Sprung hinüber zugelangen. Der Neger saß unter dem Baum, packte den Indianer am Fuß und zerrte ihn ungeduldig abwärts. Dem Indianer blieb keine Wahl. Christo sprang vom Baum herunter, setzte ein gezwungenes Lächeln auf, streckte seine Hand aus und fragte freundschaftlich: „Jim?“ Der Neger nickte, Christo drückte fest die Hand des ihm Gegenüberstehenden. Wenn man in der Hölle ist, muß man mit dem Teufel tanzen, dachte er und fügte laut hinzu: „Bist du taub?“ Der Neger schwieg. „Hast du keine Zunge?“ Der Neger schwieg beharrlich. Wie kann ich ihm bloß mal in den Mund sehen? überlegte Christo. Aber Jim versuchte nicht einmal eine mimische Verständigung. Er ergriff Christo bei der Hand und führte ihn zu den Bestien, zischte ihnen etwas zu, so daß sie sich sofort erhoben, an Christo herumschnüffelten und sich beruhigt entfernten. Ihm wurde es leichter ums Herz. Jim forderte Christo mit einer Handbewegung auf, den Garten zu besichtigen. Nach der Öde des steingepflasterten Hofes überraschte der Garten mit einer üppig grünenden und blühenden Fülle an Gewächsen. Das Territorium erstreckte sich ostwärts langsam abfallend zum Meer. Die schmalen Wege führten in verschiedenen Richtungen auseinander. Sie waren mit rötlichem Muschelsand bestreut. Neben den Wegen wuchsen seltsam geformte Kakteen, blaugrüne saftige Agaven und Rispen mit einer Vielzahl gelblich-grüner Blüten. Ganze Haine von Pfirsich- und Olivenbäumen warfen ihre Schatten auf das dichte, mit vielen leuchtend bunten Blumen durchwachsene Gras. Zwischen dem saftigen Grün blinkten Wasserbecken, belegt mit weißen Sandsteinen. Hohe Springbrunnen erfrischten die Luft. Der Garten war von einem seltsamen Stimmengewirr erfüllt — dem Singen und Zwitschern der Vögel, dem Brüllen, Schnauben und Winseln der Tiere. Noch nie hatte Christo solche ungewöhnlichen Exemplare gesehen. In diesem Garten lebten ihm völlig unbekannte Tierarten. Eine sechsfüßige Eidechse lief mit kupfer-grünen Schuppen funkelnd über den Weg. Von einem Baumast hing eine zweiköpfige Schlange herab. Entsetzt sprang Christo beiseite, als ihn das Reptil aus zwei roten Mäulern anzischte. Der Neger stieß ein noch lauteres Zischen aus, die Schlange fiel, beide Köpfe schwingend, vom Baum und verbarg sich im dichten Gebüsch. Eine weitere Schlange bewegte sich auf zwei Pfoten rasch vom Weg. Hinter einem Drahtzaun grunzte ein Ferkel. Mitten auf der Stirn hatte es ein einziges Auge, mit dem es Christo anstarrte. Zwei an den Seiten zusammengewachsene Ratten liefen auf dem rötlichen Weg wie ein doppelköpfiges, achtfüßiges Untier. Mehrmals begann das unheimliche Geschöpf mit sich selbst zu kämpfen. Die eine Seite zog nach rechts, die andere nach links, und beide piepsten unzufrieden. Die rechte Rattenseite gewann immer und bestimmte die Richtung. A der Seite des Weges Richtung. An der Seite des Weges weideten seitlich verwachsene siamesische Zwillinge — dünnfellige Schafe. Sie stritten sich nicht wie die Ratten. Zwischen ihnen bestand wohl schon längst eine völlige Übereinstimmung in Wille und Wunsch. Eine Mißgeburt entsetzte Christo ganz besonders: Es war ein großer, vollständig nackter Hund mit rosa Haut. Auf seinem Rücken wuchs der Oberkörper eines Äffchens; Brust, Kopf und Arme. Der Hund näherte sich Christo schweifwedelnd, das Äffchen verdrehte den Kopf, winkte mit den Armen, patschte mit den Händchen den Rücken des Hundes, blickte Christo an und schrie gellend. Der Indianer kramte in der Tasche, langte ein Stück Zucker hervor und wollte es dem Äffchen geben. Christos Hand wurde beiseite gestoßen, hinter ihm ertönte ein scharfer Zischlaut. Er drehte sich um. Es war Jim. Der alte Neger erklärte Christo mit aufgeregten Handbewegungen und drohendem Kopfschütteln, daß es verboten sei, das Äffchen zu füttern. Im selben Augenblick riß im Vorbeiflug ein Sperling mit dem Kopf eines Wellensittichs den Zucker aus Christos Hand und verschwand damit in einem Gesträuch. Auf einer entfernteren Wiese brüllte ein Pferd mit seinem Kuhkopf. Zwei Lamas mit Pferdeschwänzen jagten über eine Wiese. Aus dem Gras, aus dichtem Gesträuch, von den Ästen der Bäume blickten mißgestaltete Geschöpfe aller Art Christo an: Hunde mit Katzenköpfen, gehörnte Keiler, Strauße mit Adlerschnäbeln, Schafe mit Pumaköpfen. Christo glaubte zu phantasieren. Er rieb sich die Augen, kühlte den Kopf unter dem Springbrunnen — aber es half nichts. In den Wasserbecken sah er Schlangen mit Fischköpfen und Kiemen, Fische mit Froschtatzen und Riesenkröten mit Eidechsenkörpern. Christo wollte von neuem entfliehen. Doch Jim führte ihn auf einen großen, mit Sand bestreuten Platz. Inmitten des Areals stand, von Palmen umringt, eine im maurischen Stil erbaute Villa aus weißem Marmor. Durch die Stämme der Palmen leuchteten Säulen und Arkaden. Kupferne Brunnenfiguren in Form von Delphinen spieen Wasserstrahlen, die kaskadenförmig in die Schalen zurückfielen. Die größte Brunnenfigur stellte einen auf einem Delphin reitenden Jüngling dar, der ein gewundenes Muschelhorn blies. Hinter der Villa befanden sich einige Wohn- und Wirtschaftsgebäude. Weiter zurück erstreckte sich das dichte Gestrüpp stachliger Kakteen bis zu einer weißen Mauer. Jim führte den Indianer in einen kleineren kühlen Raum. Er deutete an, daß dieses Zimmer Christo zur Verfügung stehe. Der alte Neger entfernte sich, Christo blieb allein. Die dritte Mauer Allmählich gewöhnte sich Christo an die ungewöhnliche Welt, die ihn umgab. Alle Tiere, sogar die Reptilien und die Vögel, waren ganz zahm. Mit einigen freundete er sich sogar an. Die Hunde mit Jaguarfellen, die ihn am ersten Tag so erschreckt hatten, liefen ihm jetzt auf Schritt und Tritt nach. Sie ließen sich streicheln und leckten ihm die Hände. Und die Papageien setzten sich auf seine Schultern. Der Garten und die Tiere wurden von zwölf Negern betreut, die alle ebenso schweigsam oder stumm waren wie Jim. Christo hörte nie, daß sie je miteinander gesprochen hätten. Schweigend verrichtete jeder seine Arbeit. Jim war den anderen irgendwie übergeordnet, anscheinend als Verwalter oder Aufseher. Jedenfalls beaufsichtigte er die Neger und teilte ihnen die Arbeit zu. Und Christo war, wie er selbst verwundert feststellte, als Jims Gehilfe eingeteilt worden. Christo hatte keinen Anlaß, über sein Leben zu klagen. Die Arbeit war nicht schwer und das Essen gut. Aber das unheimliche Schweigen der Neger beunruhigte ihn sehr. Er bildete sich ein, daß Salvator ihnen allen die Zunge abgeschnitten habe, und bangte vor dem gleichen Schicksal. Diese Angst verfolgte ihn so lange, bis er eines Tages Jim schlafend unter den Olivenbäumen antraf. Der Neger schnarchte mit weit offenem Mund. Christo schlich vorsichtig herbei und erblickte zu seiner großen Erleichterung Jims Zunge in voller Größe zwischen den blendend weißen Zähnen. Dieser Anblick beruhigte ihn ziemlich. Salvator hatte eine strenge Tageseinteilung. Morgens von sieben bis neun Uhr empfing er kranke Indianer, von neun bis elf operierte er. Danach ging er in seine Villa und arbeitete im Laboratorium. Er operierte Versuchstiere, die er danach lange Zeit im Garten beobachtete. Christo wurde schließlich auch im Hause beschäftigt. Dabei gelang es ihm, ins Laboratorium vorzudringen. Was er dort sah, beeindruckte ihn sehr. In Glasbehältern voll irgendwelcher Lösungen pulsierten verschiedene Organe. Abgetrennte Hände und Füße lebten und bewegten sich weiter. Erkrankte Glieder wurden, fern vom Körper, durch Salvator behandelt und geheilt. Der Anblick dieser Wunder jagte Christo tiefstes Entsetzen ein. Er war froh, als er wieder zwischen den lebendigen Mißgeburten im Garten sein konnte. Obwohl Salvator dem Indianer großes Vertrauen entgegenbrachte, gelang es Christo nicht, hinter die dritte Mauer vorzudringen. Dieses Geheimnis ließ ihm keine Ruhe. Eines Tages konnte er sich endlich unbeobachtet der Mauer nähern. Hinter der hohen Wand erklangen helle Kinderstimmen, er verstand indianische Worte. Mit den Lauten der Kinder mischten sich manchmal dünnere, winselnde, die mit den Kindern in unverständlicher Mundart zu zanken schienen. Salvator trat eines Tages im Garten auf Christo zu, blickte ihm scharf in die Augen und sagte: „Du arbeitest schon seit einem Monat bei mir, Christo, und ich bin mit dir zufrieden. Im unteren Garten ist einer meiner Diener erkrankt. Du wirst dort viel Neues sehen. Aber denk an unsere Abmachung, halt deine Zunge im Zaum, wenn du deine Stelle nicht verlieren willst.“ „Ich habe zwischen Ihren stummen Dienern schon fast das Sprechen verlernt, Doktor“, antwortete Christo. „Um so besser, Schweigen ist Gold. Du wirst viele goldene Pesetas bekommen, wenn du schweigst. Ich hoffe, daß ich den kranken Diener in zwei Wochen wieder geheilt habe. Übrigens: Kennst du dich in den Anden aus?“ „Ich bin im Gebirge geboren.“ „Ausgezeichnet. Für meinen Tiergarten benötige ich neue Tiere und Vögel. Ich werde dich mitnehmen. Aber jetzt geh, Jim begleitet dich in den unteren Garten.“ Christo hatte sich schon an vieles gewöhnt, aber was er im unteren Garten zu sehen bekam, übertraf alle seine Erwartungen. Auf einer großen, hell von der Sonne bestrahlten Wiese tummelten sich miteinander nackte Kinder und Affen. Die kleinsten Kinder waren nicht älter als drei Jahre, Diese Indio-Sprößlinge waren Salvators Patienten. Vielen sah man an, daß sie schwere Operationen überstanden hatten und ihr Leben Salvators ärztlicher Kunst verdankten. Die genesenden Kinder lebten in diesem Garten, bis sie, ganz wieder hergestellt, zu ihren Eltern nach Hause entlassen werden konnten. Unter den Kindern lebten die Affen. Sie waren schwanzlos und gänzlich unbehaart. Und das erstaunlichste: Alle Affen konnten sprechen, die einen besser, die anderen weniger gut. Sie vertrugen sich gut mit den Kindern, zankten sich zwar, winselten mit ihren dünnen Stimmchen, aber sie stritten sich mit den Kindern nicht mehr als diese untereinander. Die Menschen- und die Affenkinder sahen sich so ähnlich, daß Christo sie mitunter nicht unterscheiden konnte. Christo stellte bald fest, daß dieser Garten kleiner war als der obere, noch steiler zur Bucht abfiel und von einer senkrechten Felswand abgeschlossen wurde. Der Felsen mochte wohl direkt ins Meer ragen, denn dahinter erschallte laut die tosende Brandung. Christo untersuchte den Felsen bald genauer und stellte fest, daß es kein gewachsener Stein, sondern eine täuschend nachgeahmte künstliche Mauer war. Die rote Mauer! In einem von Glyzinien überwucherten Dickicht entdeckte er schließlich eine steingrau gestrichene Tür, die genau dem künstlichen Felsen angepaßt war und in ihn überzugehen schien. Soviel Christo auch lauschte, kein Laut, außer der Brandung, drang hinter der Mauer hervor. Wohin führte diese Pforte? An den Strand? In seine Betrachtungen drang plötzlich erregtes Kindergeschrei, die Kleinen deuteten aufgeregt in die Höhe, und Christo erblickte einen kleinen Luftballon, den der Wind langsam über den Garten seewärts trug. Dieses bunte Gebilde, hier einigermaßen ungewöhnlich, beunruhigte den Indio. Als der genesene Diener zurückkehrte, ging Christo zu Salvator und bat ihn: „Doktor, wir fahren bald in die Anden, womöglich für längere Zeit. Erlauben Sie mir, vorher meine Tochter und Enkelin zu besuchen.“ Salvator liebte es nicht, wenn seine Dienstleute sein Anwesen verließen, und zog es deshalb vor, Alleinstehende zu beschäftigen. Christo sah erwartungsvoll in Salvators Augen, Dieser blickte ihn forschend an: „Geh, aber sei spätestens in drei Tagen wieder hier. Und vergiß nicht unsere Abmachung: Schweig und hüte deine Zunge! Warte bitte.“ Salvator verließ das Zimmer und kehrte mit einem Wildledersäckchen voll goldener Pesetas zurück. „Das gehört deiner Enkelin und dir für dein Schweigen.“ Der Überfall „Wenn er auch heute nicht kommt, Balthasar, dann verzichte ich auf deine Hilfe und suche mir zuverlässigere und geschicktere Leute“, sagte Surita und zauste ungeduldig seinen struppigen Bart. Er trug jetzt einen weißen städtischen Anzug und einen Panamahut und traf Balthasar weit draußen am Stadtrand von Buenos Aires, wo das bebaute Land in die Pampas übergeht. Balthasar, in weißem Hemd und blaugestreiften Hosen, saß am Wegrand, schwieg und zupfte verlegen an dem von der Sonne versengten Gras. Er bereute schon selbst, seinen Bruder Christo als Spion zu Salvator geschickt zu haben. Christo war zehn Jahre älter als Balthasar, trotz seines Alters aber noch immer ein kräftiger und gewandter Mann, schlau und verschlagen wie eine Wildkatze. Er hatte sich in der Landwirtschaft versucht, aber die Arbeit langweilte ihn bald. Dann übernahm er eine kleine Hafenkneipe, hatte jedoch durch seine Vorliebe für den Wein bald alles versoffen. In den letzten Jahren gab sich Christo mit dunklen Geschäften ab. Seine ungewöhnliche Schlauheit und Skrupellosigkeit trieb er oft bis zum Verrat. Ein solcher Mensch war ein geeigneter Spion. Doch durfte man ihm nicht zu sehr vertrauen. Ging es um seinen eigenen Vorteil, so konnte er selbst seinen Bruder verraten, Balthasar wußte das und war deshalb ebenso beunruhigt wie Surita. „Bist du sicher, daß Christo deinen Luftballon bemerkt hat?“ Balthasar zuckte unbestimmt mit den Schultern. Er verwünschte das ganze Unternehmen und dachte sehnsüchtig daran, möglichst schnell nach Hause zu kommen, seine trockene Kehle mit kühlem Wasser und Wein zu begießen und sich auf seinem Lager auszustrecken. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne beschienen die staubigen Hügel, als ein schriller, lauter Pfiff ertönte. Balthasar fuhr zusammen: „Das ist er!“ „Endlich!“ Christo schritt rüstig auf sie zu. Er sah nicht mehr wie ein abgezehrter Indio aus. Verwegen pfeifend kam er näher, begrüßte Balthasar und Surita. „Was ist, hast du den Meerteufel gesehen?“ fragte ihn Surita gespannt. „Noch nicht, aber ich weiß, daß er da ist. Salvator verbirgt ihn hinter vier Mauern. Die Hauptsache ist erreicht: Ich bin bei Salvator angestellt, und er vertraut mir. Die Sache mit der kranken Enkelin hat gut geklappt.“ Christo lachte laut auf. „Wie hast du denn diese Enkelin gefunden?“ erkundigte sich Surita. „Geld findet man keins, aber mit Mädchen ist das einfacher“, antwortete Christo. „Nun, die Mutter ist zufrieden. Sie gab mir fünf Peseten, als ich ihr das geheilte Kind zurückbrachte.“ Christo verschwieg, daß er von Salvator ein pralles Säckchen mit Goldpeseten bekommen hatte. „Es gibt wahre Wunder bei Salvator“, begann er und berichtete ausführlich über alles, was er gesehen hatte. „Das ist sehr interessant“, sagte Surita und steckte sich eine Zigarre an, „aber das Wichtigste hast du nicht gesehen: den Meerteufel! Was willst du nun weiter tun, Christo?“ „Weiter? Erst mal einen kleinen Ausflug in die Anden.“ Und Christo erzählte von Salvators Absicht, zum Tierfang zu fahren. „Ausgezeichnet“, rief Surita, „Salvators Besitz liegt weit genug von den anderen Siedlungen entfernt. Während seiner Abwesenheit überfallen wie das Gut und entführen den Meerteufel.“ Christo schüttelte ablehnend den Kopf. „Ausgeschlossen, es ist alles so gut bewacht, und die Jaguars zerreißen jeden Fremden. Außerdem werdet ihr bei aller Schlauheit den Teufel nicht finden. Selbst ich habe ihn während meines längeren Aufenthalts noch nicht entdecken können.“ Nach einigem Überlegen sagte Surita: „Dann müssen wir Salvator eben in einen Hinterhalt lokken, ihn gefangennehmen und als Lösegeld den Meerteufel verlangen.“ Christo zog mit einer geschickten Bewegung eine Zigarre aus Suritas Tasche. „Danke dir. Ein Hinterhalt, das ist schon besser. Aber wenn Salvator uns den Teufel verspricht und dann doch nicht gibt? Diese Spanier — “ Christo hustete. „Was schlägst du dann vor?“ fragte Surita schon recht ärgerlich. „Geduld, Surita. Salvator glaubt mir, aber vorerst endet sein Vertrauen an der vierten Mauer. Der Doktor muß mir vollends freundschaftlich verbunden sein, dann zeigt er mir den Teufel.“ „Und wie?“ „Vielleicht so: Salvator wird von Banditen überfallen“ — Christo tippte mit seinem Zeigefinger auf Suritas Brust — „und ich“ — er schlug sich auf die Brust — „bin ein ehrlicher Araukaner und rette ihm sein Leben! Dann gibt es bei Salvator keine Geheimnisse mehr für Christo.“ Und meine Taschen füllen sich mit Gold, dachte er für sich. Der Plan wurde angenommen, und die Männer verabredeten, welchen Weg Christo mit Salvator einschlagen müsse. „Einen Tag vor unserer Abreise werde ich einen roten Stein über die Mauer werfen. Seid bereit.“ Obwohl sie den Überfall genau geplant hatten, hätte ein unvorhergesehener Umstand die ganze Sache beinahe zum Scheitern gebracht. Surita hatte im Hafen zehn Strolche angeworben. Die waren als Gauchos verkleidet, gut bewaffnet und erwarteten hoch zu Roß mit Surita, Balthasar und ihren Helfern an abgelegener Stelle das Opfer. Die stockfinstere Nacht begünstigte ihr Unternehmen. Gespannt lauschten sie auf das zu erwartende Pferdegetrappel. Denn Christo hatte geglaubt, daß er mit Salvator, wie landesüblich, zur Jagd reiten würde. Plötzlich hörten die Wegelagerer das Geräusch eines sich rasch nähernden Motors. Über dem Hügel blendeten zwei Scheinwerfer auf, und ein riesiges Auto brauste an den Reitern vorbei. Surita fluchte verzweifelt, aber Balthasar beruhigte ihn lächelnd: „Ärgern Sie sich nicht, Pedro, Am Tage ist es heiß, deshalb fahren sie nachts. Aber in der Mittagsglut werden sie rasten, und wir können sie einholen.“ Balthasar gab seinem Pferd die Sporen und ritt, gefolgt von den anderen, dem Auto nach. Schon nach zwei Stunden bemerkten die Reiter in der Nähe ein Lagerfeuer. „Da muß etwas passiert sein. Wartet hier, ich pirsche mich heran und sehe nach.“ Balthasar sprang vom Pferd und kroch geschickt fort. Als er zurückkehrte, meldete er: „Das Auto ist kaputt, sie reparieren daran, und Christo steht Wache. Wir müssen eilen.“ Alles ging dann sehr schnell. Bevor sich Salvator zur Wehr setzen konnte, waren ihm, Christo und den drei sie begleitenden Negern schon Hände und Füße gebunden. Während sich Surita im Schatten verbarg, verlangte einer der Banditen von Salvator ein reichliches Lösegeld. „Ich werde zahlen, bindet mich los“, antwortete er. „Das ist für deine Person, aber deine Begleiter mußt du ebenfalls auslösen.“ „Soviel Geld kann ich nicht sofort beschaffen“, sagte Salvator. „Dann bringt ihn um“, schrien die Banditen. „Hast bis zum Morgengrauen Zeit. Wenn du unsere Forderung nicht erfüllst, ist es um dich geschehen.“ „Woher nehmen, wenn nicht stehlen?“ sagte achselzuckend der Überfallene. Salvators Ruhe beeindruckte sogar die Räuber, Sie ließen die Gefesselten hinter dem Auto liegen und durchsuchten deren Sachen, entdeckten schließlich die Schnapsvorräte und fielen alsbald betrunken in den Schlaf. Als der erste blasse Schimmer die aufkommende Morgendämmerung anzeigte, kroch Christo vorsichtig zu Salvator und flüsterte ihm zu: „Ich bin‘s, Christo. Es gelang mir, meine Riemen zu lösen. Ich habe den Banditen, der Wache hielt, umgelegt, alle anderen sind besoffen. Das Auto ist repariert, wir müssen eilen.“ Salvator und seine Leute bemächtigten sich wieder des Wagens, der Negerfahrer ließ den Motor an und jagte davon. In ihrem Rücken erhob sich aufgeregtes Geschrei. Vereinzelt fielen Schüsse. Salvator drückte fest Christos Hand. Zu spät erfuhr Surita von den Banditen, daß Salvator bereit gewesen war, das hohe Lösegeld zu zahlen. Wäre es nicht einfacher gewesen — fragte sich Surita —, das Lösegeld zu nehmen, als den Meerteufel zu überlisten, von dem er noch gar nicht wußte, was er noch anstellen würde? Aber die Gelegenheit war verpaßt, es blieb nur noch übrig, die Nachrichten von Christo abzuwarten. Der Amphibienmensch Christo hoffte, daß Salvator seine Dankbarkeit für die Rettung gleich beweisen und sagen würde: „Christo, du hast mir das Leben gerettet, für dich gibt‘s hier keine Geheimnisse mehr, komm, ich zeige dir den Meerteufel.“ Aber Salvator tat nichts dergleichen. Er belohnte Christo großzügig für seine Rettung, zog sich zurück und vertiefte sich in seine Forschungsarbeit. Deshalb begann Christo, ohne Zeit zu verlieren, die vierte Mauer und die Geheimtür genauestens zu untersuchen. Lange widerstand die Tür seinen Bemühungen, aber eines Tages berührte er beim Abtasten eine kleine Erhöhung. Die Pforte gab nach und öffnete sich. Sie war dick und schwer, wie die eines Tresors. Christo schlüpfte schnell hindurch, und sofort schloß sich die Tür hinter ihm. Das beunruhigte ihn ein wenig. Er tastete die Tür wieder ab, drückte auf die Erhöhung, aber nichts geschah. Die Tür blieb verschlossen. „Ich habe mich selbst in der Falle gefangen“, brummte Christo. Es war nichts zu machen. So beschloß er, den letzten unbekannten Garten zu besichtigen. Er war in ein dicht bewachsenes Gelände geraten, das eine größere Mulde bildete, ringsum von einer kunstvoll geschichteten Mauer umschlossen. Vom Meer her hörte man deutlich den Wellenschlag und sogar das schabende Knirschen, mit dem der Kies über die Sandbank rollte. Der Garten war mit Bäumen und Sträuchern bewachsen, die man gewöhnlich in feuchten Niederungen findet, unter den schattenspendenden Bäumen rieselten Bächlein, gut geschützt vor den Sonnenstrahlen. Unzählige sprühende Fontänen kühlten und durchfeuchteten die Luft. Es war hier so feucht wie an den tiefliegenden Ufern des Mississippi. Mitten im Garten stand ein kleines Steinhaus mit flachem Dach. Seine Wände waren mit Efeu berankt, die grünen Fensterläden geschlossen. Das Haus schien nicht bewohnt zu. sein, Christo ging zum Ende des Gartens. An der Außenmauer, die das Haus gegen die Bucht abschloß, befand sich ein großes viereckiges Schwimmbassin, das mindestens 500 Quadratmeter groß und fünf Meter tief sein mochte. Es war dicht von Bäumen umstanden. Als Christo sich dem Bassin näherte, sprang ein Wesen erschreckt aus dem Dickicht und warf sich in das hochaufspritzende Wasser des Bassins. Christo blieb aufgeregt stehen. „Er! Der Meerteufel! Endlich!“ Der Indio trat zum Becken und blickte in das klare durchsichtige Wasser. Auf dem weißgekachelten Grund saß ein großer Affe. Erschreckt und neugierig blickte er unter Wasser zu Christo empor. Außer sich vor Verwunderung bemerkte Christo daß der Affe unter Wasser atmete. Seine Flanken hoben und senkten sich in regelmäßigen Atemzügen. Als Christo sich von seinem Erstaunen etwas erholt hatte, lachte er plötzlich auf: Der Meerteufel, der den Fischern Angst und Schrecken einjagte, war also ein Land- und Wasseraffe, ein Amphibienaffe. Was es auf der Welt nicht alles gibt, dachte kopfschüttelnd der alte Indianer. Christo war zufrieden: Schließlich war es ihm gelungen, alles auszukundschaften. Aber er war dennoch etwas enttäuscht. Der Affe hatte keinerlei Ähnlichkeit mit jenem Wesen, von dem die Augenzeugen berichtet hatten. Was Angst und Einbildung doch alles vermögen! Doch es war an der Zeit, an die Rückkehr zu denken. Christo ging zurück zur Tür, erkletterte einen nahe der Mauer stehenden hohen Baum und sprang — obwohl er fürchtete, sich die Beine zu brechen — über die Umfriedung zurück in den dritten Garten. Kaum war er wieder auf die Füße gekommen, als er Salvators Stimme vernahm: „Christo, wo bist du denn?“ Der Indio ergriff einen am Wege liegenden Rechen und begann, trockenes Laub zusammenzuharken. „Ich bin hier.“ „Komm, Christo“, sagte Salvator und trat an die eiserne Pforte, „Sieh — diese Tür öffnet man so.“ Salvator drückte auf die Christo schon bekannte Erhöhung. Zu spät, Doktor, ich habe den Teufel bereits gesehen, dachte Christo. Salvator und Christo betraten den Garten, umgingen das efeuumwachsene Häuschen und lenkten ihre Schritte zum Schwimmbassin. Der Affe saß noch immer im Wasser und blies Luftblasen nach oben. Christo tat so, als habe er dieses Wesen tatsächlich erstmals erblickt. Aber gleich darauf wurde er abermals überrascht. Salvator schenkte dem Affen keinerlei Bedeutung, er winkte nur mit der Hand ab, als ob er ihn riefe. Der Affe schwamm sofort nach oben, verließ das Bassin, schüttelte sich, daß die Tropfen spritzten, und erkletterte einen Baum. Salvator bückte sich, schob das Gras beiseite und drückte auf eine kleine grüne Platte. Am Boden des Bassins, an den Seiten, öffneten sich mehrere Luken, das Wasser rauschte dumpf auf, und nach wenigen Minuten war das Bassin leer. Die Luken schlossen sich wieder, und irgendwoher seitlich schob sich eine eiserne Leiter heraus, die bis zum Boden des Bassins reichte. „Komm, Christo.“ Sie stiegen in das Bassin hinunter. Salvator trat auf eine bestimmte Fliese, und sofort öffnete sich eine neue Luke inmitten des Bassins, einen Meter im Quadrat breit. Eiserne Stufen führten unter die Erde. Christo folgte Salvator in diese Unterwelt. Sie gingen ziemlich lange. Ein schwacher Lichtschein drang von oben durch die Luke, aber bald verschwand auch er, und sie waren von völliger Dunkelheit umgeben. Dumpf erklangen ihre Schritte in dem unterirdischen Gang. „Stolpere nicht, Christo, wir sind gleich da.“ Salvator blieb stehen, tastete die Wand ab, ein Schalter knackte, und helles Licht leuchtete auf. Sie standen in einer Tropfsteinhöhle vor einer Bronzetür, an der zwei Löwenköpfe als Halterung für große Ringe befestigt waren. Salvator ergriff den einen Ring, und mit Leichtigkeit schwang der schwere Türflügel auf. Wieder knackte ein Schalter, eine matte Kugelleuchte erhellte eine weitere Höhle, deren eine Wand ganz aus Glas bestand. Salvator regulierte das Licht. Die Höhle wurde abgedunkelt, und starke Scheinwerfer beleuchteten den hinter der Glaswand liegenden Raum: ein riesiges Aquarium, oder besser, ein Glashaus auf dem Meeresgrund. Dichte Wasserpflanzen wuchsen empor, bizarr geformte Korallensträucher, in denen sich Fische tummelten. Plötzlich sah Christo zwischen den Wasserpflanzen ein menschenähnliches Wesen hervorkriechen. Es hatte riesige, hervorquellende Augen und froschähnliche Tatzen. Sein Körper war mit silbrigblau schimmernden Schuppen bedeckt. Schnell und gewandt schwamm das Geschöpf der Glaswand entgegen, nickte Salvator kurz zu, betrat rasch eine ausgebaute Glasschleuse und schlug eilig die Tür hinter sich zu. Das eingedrungene Wasser floß in der Schleuse wieder ab. Der Unbekannte öffnete die zweite Tür und betrat die Höhle. „Nimm die Brille und die Handschuhe ab“, sagte Salvator. Gehorsam befreite sich das Wesen von den Utensilien. Christo erblickte einen schlanken schönen Jüngling. „Macht euch bekannt: Ichtiander, Fischmensch, oder besser Amphibienmensch, auch Meerteufel genannt.“ So stellte Salvator den Jüngling vor. Freundlich lächelnd reichte dieser dem Indianer die Hand und sagte auf Spanisch „Guten Tag“. Christo drückte schweigend die ihm dargebotene Rechte, Vor Verblüffung konnte er kein Wort sprechen. „Ichtianders Diener, der Neger, ist erkrankt“, fuhr Salvator fort. „Ich lasse dich einige Tage hier bei Ichtiander. Wenn du mit deinen neuen Pflichten gut zurechtkommst, könntest du Ichtianders ständiger Diener werden.“ Christo nickte schweigend. Ichtianders Tag Es war kurz vor Anbruch des Tages, noch tief dunkel. Die Luft, warm und feucht, ging schwanger mit dem betäubenden Duft zahlloser Blüten. Kein Blättchen regte sich. Ringsum Stille. Unter leichten Tritten knirschte leise der Sand. Ichtiander spazierte über den Gartenweg. An seinem Gürtel hingen Dolch, Brille und die Schwimmflossen, schwangen bei jedem Schritt rhythmisch hin und her. Der Weg war kaum erkennbar. Bäume und Sträucher bildeten schwarze, formlose Flecke. Von den Wasserbecken stiegen Nebelschwaden. Manchmal streifte Ichtiander einen Zweig. Der Tau benetzte seine Haare und heißen Wangen. Der Weg bog scharf nach rechts ab und führte nun abwärts. Die Luft wurde feuchter und frischer, Als Ichtiander Steinplatten unter den Füßen fühlte, verlangsamte er seinen Gang und blieb schließlich stehen. Ohne Eile setzte er seine große Brille mit den dicken Gläsern auf und zog die Schwimmflossen über Füße und Hände. Er stieß kräftig die Luft aus der Lunge und tauchte mit einem geschmeidigen Sprung tief in das Bassin. Angenehm frisch umspülte das Wasser seinen Körper und drang kühl durch seine Kiemen. Die Kiemenspalten begannen sich rhythmisch zu bewegen — der Mensch hatte sich in einen Fisch verwandelt. Ichtiander benötigte nur ein paar kräftige Armbewegungen, um den Boden des Bassins zu erreichen. Vollkommen sicher schwamm der Jüngling durch das Dunkel. Er ertastete einen in die Bassinwand eingelassenen eisernen Ring, dann den zweiten, den dritten, und gelangte so zu dem wassergefüllten Tunnel. Zuerst schwamm Ichtiander am Grunde, bis er die eindringende kalte Gegenströmung überwunden hatte. Dann stieß er sich vom Boden ab und schwamm aufwärts mit dem Gefühl, als würde er in eine Badewanne eintauchen. Der Oberlauf der Wasserbecken im Garten mündete in diesen Tunnel, so daß sonnenwarmes Wasser in den oberen Schichten des Tunnels zum offenen Meer strömte. Ichtiander legte sich auf den Rücken, kreuzte die Arme vor der Brust und ließ sich, Kopf voran, treiben. Bald war das Ende des Tunnels erreicht. Kurz vor dem Ausfluß ins Meer strömte aus einer Felsspalte unter starkem Druck eine heiße Quelle hervor. In ihren Strudeln tanzten Kieselsteinchen und kleine Muscheln. Der Jüngling drehte sich wieder auf den Bauch. Es war noch immer zu dunkel, um etwas zu erkennen. Tastend streckte er die Hände aus und berührte Eisengitter, dessen Stäbe weich und glitschig waren durch Algenwuchs und rauh durch abgelagerte Muscheln. An das Gitter geklammert, fand der Jüngling den Sperriegel. Die schwere runde Gittertür, die den Ausgang des Tunnels versperrte, öffnete sich langsam. Ichtiander schlüpfte durch den Spalt, die Tür schlug hinter ihm wieder zu. Mit kräftigen Kraulstößen schwamm er dem offenen Meer zu. Im Wasser war es noch immer dunkel. Hin und wieder leuchtete in den Tiefen der matte, bläuliche Schimmer leuchtender Wassertierchen oder trübroter Medusen. Doch in der aufsteigenden Dämmerung verblaßten rasch die Leuchtfarben der kleinen Lebewesen. Der Amphibienmensch umschwamm ein Felsenriff und spürte ein stechendes Brennen in seinen Kiemen, wie von unzähligen Nadelstichen. Auch das Atmen fiel ihm schwerer. Hinter diesem Riff war das Wasser stets stark verschmutzt durch Tonerdeteilchen, aufgewirbelten Sand und vielerlei Abfälle. Eine nahegelegene Flußmündung verdünnte das Seewasser hier so stark, daß es fast ganz entsalzt war. Es ist erstaunlich, daß Flußfische in trübem, salzlosem Wasser leben können, überlegte Ichtiander. Wahrscheinlich sind ihre Kiemen gegen Schmutz- und Sandteilchen nicht so empfindlich. Er reckte sich hoch, wendete nach rechts, nach Süden, und tauchte steil in größere Tiefen. Hier war das Wasser reiner. Ichtiander geriet in eine kalte Unterwasserströmung des Parano-Flusses, die entlang der Küste von Süden nach Norden bis zur Küste floß und ihn weit hinaus in den offenen Ozean trug. Der Amphibienmensch beschloß, ein wenig zu ruhen. Er liebte es, in der Zeit vor Sonnenaufgang zu schlummern. Es war ganz ungefährlich, denn die Raubtiere des Meeres schliefen noch. Seine Haut empfand wohlig die wechselnde Temperatur der verschiedenen Strömungen. Plötzlich drang ein dumpfes, polterndes Geräusch in Ichtianders Bewußtsein. Es wiederholte sich mehrmals: das Rasseln der Ankerketten. Die Fischkutter in der einige Kilometer entfernten Bucht lichteten die Anker. Ein kaum wahrnehmbares fernes Rollen erkannte er als das stampfende Maschinengeräusch eines großen Überseedampfers. Es war die „Horrox“, die zwischen Buenos Aires und Liverpool verkehrte, Der Morgen graute. Nun war keine Zeit mehr zum Träumen. Das Nahen des Ozeanriesen wurde deutlicher. Die Meeresbewohner erwachten. Wohl als erste regten sich die Delphine. Ihr Auftauchen verursachte eine leichte Unruhe, die Ichtiander warnte. Die Delphine schienen dem Schiff entgegenzuschwimmen. Das Rasseln der Ankerketten und das Tuckern der Motoren kam jetzt von verschiedenen Seiten. Der Hafen erwachte. Ichtiander öffnete die Augen, schüttelte den Schlaf ab, dehnte die Arme und stieg mit einigen Beinschlägen zur Oberfläche empor. Vorsichtig hob er den Kopf aus dem Wasser und blickte um sich. In der Nähe waren weder Boote noch Schoner. Langsam wassertretend reckte er sich bis zum Gürtel aus dem Wasser. Kormorane und Möwen kreisten niedrig, manchmal streiften sie im Tiefflug mit der Brust oder einer Flügelspitze die spiegelglatte Oberfläche. Mit rauschendem Flügelschlag flog ein riesiger Albatros über Ichtianders Kopf. Der schneeweiße Sturmvogel hatte schwarze Schwingen, einen roten Schnabel mit gelber Spitze und orangegelbe Beine. Der Amphibienmensch blickte dem prachtvollen Vogel, der zur Bucht flog, bewundernd nach. Ein wenig neidisch dachte er: Solche Flügel müßte ich haben. Während im Westen die fernen Berge noch im Dunkeln lagen, erhellte sich der Himmel im Osten. Eine leichte Dünung kam auf die golden schimmernden Streifen. Die Möwen flogen höher, das Morgenrot färbte ihr Gefieder rosa. Auf der matten Wasserfläche kündigten dunkelblaue Streifen die ersten Windstöße an. Der sandige Strand wurde schon von den gelblich-weißen Schaumzungen der Brandung bespült. An den Ufern wurde das Wasser grün. Die Fischerboote waren ausgelaufen und kamen näher. Ichtiander, dem der Vater streng verboten hatte, sich vor Menschen zu zeigen, tauchte rasch in die Tiefe. Er fand eine kalte Strömung und ließ sich vom Ufer weg nach Osten treiben, dem offenen Meer entgegen. Um ihn herum war die blauviolette Dunkelheit der Meerestiefe. Hellgrüne Fische mit dunklen Streifen und Flecken huschten vorbei. Ganze Schwärme, rot, gelb und braun spielten im Wasser wie bunte, flatternde Schmetterlinge. Himmelwärts wurde ein lautes Dröhnen vernehmbar. Ein schwarzer Schatten huschte über das Wasser. Ichtiander erkannte das Wasserflugzeug. Einmal war eine solche Maschine in seiner Nähe aufgesetzt. Er hatte sich unbemerkt an einen der Schwimmer angeklammert und wäre beinahe ums Leben gekommen, als das Flugzeug losraste und sich in die Lüfte erhob. Nur durch einen gewagten Sprung aus zehn Meter Höhe hatte sich der Amphibienmensch retten können. Ichtiander blickte aufwärts. Die Sonne schien fast senkrecht herab, der Mittag war nahe. Die spiegelnde Wasseroberfläche riß auf, bewegte sich. Der Amphibienmensch tauchte empor. Ein Wellenberg hob ihn hoch, dann riß es ihn hinunter und wieder hinauf. Am Ufer toste die Brandung und wälzte Steine vor sich her. Das Wasser schillerte hier gelbgrün. Ein scharfer Südwest war aufgekommen. Die Wellen stiegen höher, ihre Kämme waren gischtgekrönt. Das Wasser sprühte. Ichtiander fand es herrlich. Fliegende Fische schossen aus dem Wasser auf und ab, sie wichen den Wellen aus und überbrückten weite Entfernungen. Möwen jagten mit schrillen Schreien über das aufgewühlte Meer. Schnelle Fregattvögel durchschnitten mit ihren breiten Flügeln die Luft. Voraus das Männchen mit seinem riesigen krummen Schnabel, metallisch grün schimmerndem Gefieder und orangefarbenem Kropf. Dahinter das weißbrüstige Weibchen. Albatrosse signalisierten den Sturm. Der furchtlose Vogel Palamedea flog singend den Gewitterwolken entgegen. Die Fischerboote, Schoner und prächtige Jachten mit vollen Segeln dagegen hasteten dem Hafen zu, um sich in Sicherheit zu bringen. Auch Ichtiander beschloß, zu seiner Untiefe zurückzukehren. Durch die grünlichen Wasserschichten war die Sonne nur noch als fahler hohler Fleck zu erkennen. Aber das genügte, die Richtung zu peilen. Er mußte sein Ziel erreichen, bevor eine Wolke die Sonne verdeckte. In der Dunkelheit konnte er sein Riff nicht mehr finden. Mit kräftigen Schwimmbewegungen, wie ein Frosch glitt Ichtiander durch das Wasser. Von Zeit zu Zeit drehte er sich auf den Rücken und kontrollierte den Kurs nach dem schwächer werdenden Lichtschimmer in der blaugrünen Dämmerung. Dann wieder hielt er aufmerksam Ausschau nach vorn, nach dem Meer. Er spürte an Haut und Kiemen, wie sich das Wasser schließlich veränderte: In der Nähe der Untiefe wurde es spritziger, salziger und sauerstoffreicher. Er erkannte das Wasser am Geschmack, wie ein alter erfahrener Seemann, der auf offenem Meer die Nähe des Landes spürt. Allmählich wurde es heller, rechts und links schimmerten die altvertrauten Konturen der Klippen und Riffe. Dazwischen das kleine Plateau mit der Steinwand. Ichtiander nannte diesen Platz seine Unterwasserbucht. Hier war es ruhig, auch während der größten Stürme. In dieser stillen Bucht hatten Unmengen von Fischen Zuflucht gesucht. Kleine dunkle mit gelben Querstreifen, rote, hellblaue, dunkelblaue. Sie verschwanden ebenso plötzlich, wie sie unerwartet an der gleichen Stelle wieder auftauchten. Das Frühstück war längst fällig. Ichtiander schwamm zur Austernbank neben der steilem Felswand und klaubte die Tierchen aus den Muscheln. Er war daran gewöhnt, im Wasser zu essen: Wenn er ein Stück in den Mund geschoben hatte, stieß er geschickt das Wasser aus den halbgeöffneten Kiemen. Rundum bizarre Wasserpflanzen, deren Farbenpracht in der Tiefe schwerlich auszumachen war. Es stürmte und gewitterte noch immer, Manchmal ertönte dumpf ein Donner. Ichtiander sah empor. Warum ist es so plötzlich dunkel geworden? Direkt über dem Kopf des Amphibienmenschen wurde ein dunkler Fleck sichtbar. Was mochte das sein? Ichtiander beschloß aufzutauchen und sich umzusehen. Vorsichtig glitt er an der steilen Wand empor, dem dunklen Fleck zu. Ein Riesenalbatros hatte sich auf dem Wasser niedergelassen. Die orangefarbenen Beine baumelten greifbar über Ichtianders Kopf. Der erschreckte Vogel breitete seine riesigen Flügel aus und flog auf, Ichtiander mit empor ziehend. Doch der Albatros schaffte die Last nicht, stürzte aufs Wasser zurück, bedeckte den Jüngling mit seiner weich gefiederten Brust. Die Gefahr, daß der Sturmvogel mit seinem großen roten Schnabel auf ihn einhackte, war groß. So tauchte der Amphibienmensch rasch weg und kam nach einigen Sekunden an anderer Stelle wieder empor. Der Albatros entschwand in Richtung Osten hinter den Wellenbergen der entfesselten See. Ichtiander lag auf dem Rücken. Das Unwetter war abgezogen. Der Donner grollte noch im Osten, Aber es goß wie aus Eimern. Der Jüngling hob sich halb aus dem Wasser und sah sich um. Er befand sich gerade auf dem Kamm einer der größten Wellen. Um ihn waren Himmel, Wasser, Wind, Wolken und strömender Regen, alles vermischte sich zu einem tosenden, wirbelnden, brüllenden Knäuel. Die Gischt kräuselte und schlängelte sich auf den Wellenkämmen. Ungestüm türmten sich Wellen, stürzten wie Lawinen herab. Regen peitschte, der entfesselte Wind tobte. Was die Menschen in Furcht versetzte, erfreute Ichtiander. Natürlich mußte er auch vorsichtig sein, daß kein Wellenberg auf ihn herabstürzte. Aber Ichtiander vermochte sich wie ein Fisch zu orientieren. Er wußte, daß sich zuerst die kleinen Wellen beruhigten, dann die großen. Er liebte es, in der Brandung herumzutoben, aber er war achtsam. Einmal überrollte ihn überraschend ein Brecher, und Ichtiander schlug so hart mit dem Kopf auf, daß er die Besinnung verlor. Ein gewöhnlicher Mensch wäre dabei ertrunken, aber der Amphibienmensch blieb im Wasser liegen, bis er zu sich kam. Der Regen hörte auf. Der Wind drehte sich, blies aus dem tropischen Norden warme Luftmassen herbei. Blauer Himmel leuchtete zwischen den aufgerissenen Wolken. Im Südosten tuschte das Wetter einen doppelten Regenbogen. Das Meer war nicht wiederzuerkennen. Sonne! Augenblicks verwandelte sich alles. Die Luft war so herrlich leicht und feucht nach dem Sturm. Ichtiander atmete abwechselnd durch Lunge und Kiemen die reine, gesunde Meeresbrise. Aus dem Dickicht der Seedschungel, aus den engen Felsspalten und den bizarren Korallensträuchern krochen zuerst die kleinen Fische hervor, dann die größeren, die sich in den Tiefen verborgen hatten. Und als es ganz ruhig geworden war, erschienen auch die zarten, schwachen Medusen, durchsichtige, fast gewichtslose Krebschen und andere kleine, phantastisch geformte Lebewesen. In der Nähe tummelten sich die Delphine, Ichtianders Freunde, die mit ihren schlauen, vergnügten und gierigen Augen ihm hin und wieder zublinzelten. Ihre dunklen Rücken glänzten inmitten der Wellen. Platschend und grunzend schnellten sie durcheinander. Ichtiander lachte und tauchte mit den Delphinen um die Wette. Er fühlte sich so, als seien Meer, Delphine, Himmel und Sonne eigens für ihn geschaffen. Der Amphibienmensch hob den Kopf und blinzelte in die Sonne. Sie neigte sich schon tief nach Westen, Heute hatte Ichtiander keine Lust, zeitig nach Hause zurückzukehren. So wollte er sich schaukeln und wiegen lassen, bis der Himmel dunkelte und die Sterne aufleuchteten. Bald jedoch langweilte ihn das Nichtstun. Er beschloß, sich um die kleinen Meeresgeschöpfe zu kümmern, die der Sturm an den Strand gespült hatte, denen der Tod drohte. Er blickte zum fernen Ufer. Zur Sandbank an der Landzunge! Dort tobte die Brandung, dort war seine Hilfe am nötigsten. Die wilde Gischt wirft nach jedem Sturm Unmengen von Wasserpflanzen und Getier auf den Strand: Medusen, Krebse, Seesterne und manchmal sogar einen unvorsichtigen Delphin. Die Medusen gehen sehr schnell zugrunde. Einige Fische, zuckend und sich aufbäumend mit letzter Kraftanstrengung, gelangen zwar ins Wasser, doch sehr viele von ihnen verenden. Die Krabben erreichen fast sämtlich wieder das Meer. Manche kriechen sogar wieder an Land, um sich an den Opfern der Brandung vollzufressen. Stundenlang streifte Ichtiander am Strand umher, um zu retten, was noch zu retten war. Er freute sich, wenn er sah, wie ins Wasser geworfene Fische fortschwammen und mit dem Schwanz schlugen, manche halbverdurstete, nur noch auf der Seite oder rücklings treibend wieder auflebten. Gewöhnlich schwamm Ichtiander zur Bucht und zurück in tieferen Strömungen. Aber heute wollte er nicht mehr tauchen, hielt sich flach unter Wasser. Dunkle Wellen umgaben ihn wie dunkelgraue Schatten im Schimmer der letzten Sonnenstrahlen. Die abendliche Finsternis ist ohne Schrecken, Niemand greift um diese Zeit an. Die Räuber des Tages sind längst verschwunden, die nächtlichen noch nicht zur Jagd ausgezogen. Ichtiander erreichte die nördliche Strömung, die nahe der Oberfläche dahinfließt. Ein leichtes Auf und Ab im langsamen Fluß vom heißen Norden zum kalten Süden. Wesentlich tiefer verläuft das kalte Gegenwasser. Ichtiander bediente sich oft dieser Strömungen, wenn er über längere Strekken am Ufer entlangschwamm. Heute ist er weit in nördliche Richtung gelangt. Die warme Strömung trägt ihn bis zum Tunnel. Er darf jetzt nicht einschlafen und am Ziel vorbeitreiben, wie es ihm schon einmal geschah. Er legte seine Arme unter den Kopf und streckte sie wieder aus, dann bewegte er langsam seine Beine — er turnt. Der Strom trägt ihn südwärts. Das warme Wasser und die trägen Bewegungen wirken beruhigend. Ichtiander blickt empor. Das dunkle Gewölbe über ihm ist dicht mit kleinsten Sternen übersät. Die Leuchttierchen haben ihre Lichter entzündet und schweben zu Wasseroberfläche. Stellenweise schimmern durch die Dunkelheit bläuliche und rosarote Nebel — dichte Ansammlungen von winzigen, leuchtenden Lebewesen. Langsam treiben, ein weiches grünliches Licht ausstrahlend, Kugeln vorbei. Ganz nahe wird Ichtiander von einer Meduse geblendet, die wie eine Lampe aussieht, an deren spaßigen Schirm lange Fransen zotteln. Auf den Sandbänken scheinen schon die Meeressterne. Durch die tieferen Schichten huschen die großen nächtlichen Räuber. Sie jagen in der Runde, ihr Widerschein verlöscht und glimmt wieder auf wie bei einer Laterne mit Wackelkontakt. Wieder eine Untiefe. Die seltsam verästelten Korallen versprühen von innen heraus hellblaue, rosarote, grüne und weiße Feuer. Von der Erde aus erblickt man nachts nur kleine ferne Sterne oder den Mond. Hier aber erstrahlen Tausende Sterne, Tausende Monde, Tausende bunter Sonnen im sanften Licht. Die Nacht des Meeres ist unvergleichlich prächtiger. Und um wieder irdische Schönheiten zu spüren, taucht Ichtiander auf. Die Luft hat sich erwärmt. Über ihm das dunkelblaue, sternenübersäte Firmament. Über dem Horizont steht die silbrige Scheibe des Mondes. Von ihm aus zieht sich eine silberne Straße über das ganze Meer. Vom Hafen her ertönt der tiefe, langgezogene Ruf einer Schiffssirene. Das ist die „Horrox“. Das Riesenschiff legt ab, um die Rückreise anzutreten. Der neue Tag ist schon zu ahnen. Ichtiander war fast vierundzwanzig Stunden von zu Hause fort. Der Vater wird schelten. Ichtiander schwimmt zum Tunnel, schiebt seine Hand zwischen die Stäbe, öffnet das eiserne Gitter und bewältigt das letzte Stück seines Rückweges in tiefster Finsternis, peilt durch die kalte Strömung, die vom Meer zu den Gartenbassins flutet. Ein leichter Stoß an die Schulter weckt ihn. Er ist im Bassin. Eilig steigt er hinauf, beginnt mit seinen Lungen zu atmen und zieht tief die blumengesättigte Luft ein. Einige Minuten später schläft er schon fest im Bett, so wie es der Vater befahl. Das Mädchen und der Farbige Eines Tages tauchte Ichtiander nach einem Hurrikan zur Meeresoberfläche empor und bemerkte in seiner Höhe einen treibenden Gegenstand, den er für einen Fetzen Segeltuch hielt, den der Sturm einem Fischerboot entrissen haben mochte. Er schwamm näher heran und bemerkte zu seinem Erstaunen, daß es ein Mensch war — eine Frau, ein junges Mädchen. Es war an einem Brett festgebunden, Ichtiander erschrak. War dieses schöne Mädchen tot? War es nur bewußtlos? Er legte ihren hilflos herabhängenden Kopf bequemer auf dem Brett zurecht, umfaßte das Treibgut und schwamm damit sehr schnell dem Ufer zu, spannte all seine Kräfte an und verhielt mehrmals kurz, um den Kopf des Mädchens, der vom Brett geglitten war, wieder zu betten. Ichtiander flüsterte: „Hab noch etwas Geduld.“ Er hoffte, daß das Mädchen die Augen öffnen möge, fürchtete aber gleichzeitig, daß es von seinem Anblick erschrecken könnte. Er überlegte, ob er nicht Brille und Handschuhe ablegen sollte, aber er wollte sich damit nicht aufhalten. Außerdem würde er ohne die Handschuhe schwerer vorwärtskommen. Hastig schob er das Mädchen dem Ufer entgegen. Schon war die Brandungszone erreicht. Nun galt es, vorsichtig zu sein, hier rissen ihn die Wellen zum Ufer. Ichtiander ertastete vorsichtig mit den Füßen den Grund. Endlich erreichte er Flachwasser, hob das Mädchen empor, trug es an den Strand, löste es vom Brett, und an einem schattigen Platz in den Dünen hauchte er ihm seinen Atem ein and versuchte, es ins Leben zurückzurufen. Ihm schien, daß sich ihre Augenlider bewegten und ihre Wimpern zuckten. Ichtiander legte sein Ohr an des Mädchens Brust und vernahm einen schwachen Herzschlag. Sie lebt! Am liebsten hätte er vor Freude laut gejubelt. Das Mädchen blickte Ichtiander an, schloß die Augen jedoch mit einem Ausdruck des Erschrekkens gleich wieder. Ichtiander war betrübt. Es war ihm zwar gelungen, das Mädchen zu retten, aber nun mußte er sie, da er sie nicht ängstigen wollte, verlassen. Aber konnte er sie in Ihrer Hilflosigkeit allein lassen? Noch während er überlegte, vernahm er schwere, eilende Schritte und warf sich ohne Zögern kopfüber in die Fluten, tauchte und schwamm zu den Klippen. Hier erkletterte er die Felsen und verbarg sich in einer Spalte, um das Ufer genau beobachten zu können. Zwischen den Dünen erschien ein dunkelhäutiger Mann mit Knebelbärtchen und Panamahut. Leise sagte er auf Spanisch: „Heilige Jungfrau Maria, hier ist sie.“ Als er das Mädchen fast erreicht hatte, bog er plötzlich zum Wasser ab, tauchte kurz in die Brandung und eilte dann durchnäßt zur Gesuchten. Auch er unternahm künstliche Atemübungen, beugte sich über das Gesicht des Mädchens und küßte es. Dann sprach er drängend auf sie ein. Ichtiander verstand nur einige Satzfetzen: „.ich habe sie gewarnt. das war Wahnsinn. wie gut, daß ich sie an das Brett festband.“ Das Mädchen schlug die Augen auf und hob den Kopf. Das Erschrecken auf ihrem Gesicht wechselte über in Verwunderung, Zorn und Unbehagen. Der Mann mit dem Spitzbart redete noch immer auf das Mädchen ein und half ihm aufzustehen. Er ließ es jedoch, weil es noch zu schwach war, wieder in den Sand zurücksinken. Etwa nach einer halben Stunde begaben sich die beiden auf den Heimweg. Sie kamen nahe an Ichtianders Versteck vorbei. Das Mädchen sagte: „Sie also haben mich gerettet? Danke. Der liebe Gott beschütze Sie.“ „Nein, nicht der liebe Gott, Sie sollen mich beschützen“, antwortete der Dunkelhäutige. Das Mädchen überhörte diese Worte, es schwieg und fuhr schließlich fort: „Komisch, mir schien, als wäre ein Ungeheuer bei mir gewesen.“ Ihr Begleiter erwiderte: „Vielleicht war das der Teufel, der Sie für tot hielt und Ihre arme Seele holen wollte. Beten Sie rasch und lehnen Sie sich fest an mich. In meiner Gegenwart kann Ihnen kein Teufel etwas anhaben.“ Ichtiander beobachtete aufmerksam das schöne Mädchen und diesen braunen Mann, der sich als Retter aufspielte. Doch er konnte ihn nicht Lügen strafen, er hatte nur seine Pflicht getan. Das Mädchen und sein Begleiter verschwanden hinter den Dünen. Ichtiander sah ihnen noch lange nach. Dann richtete er seinen Blick wieder auf den Ozean, der ihm jetzt unermeßlich leer und groß erschien. Ichtiander verließ sein Versteck, streifte am Ufer entlang, sammelte Fische und Seesterne und trug sie ins Wasser. Allmählich begeisterte ihn diese Beschäftigung, verhalf ihm zu besserer Stimmung, Bis zur Abenddämmerung tauchte er nur ab und zu ins Wasser, wenn die trockene Luft seine Kiemen zu sengen begann. Ichtianders Diener Salvator beschloß, in die Stadt zu fahren, ohne Christo mitzunehmen, den Diener, der Ichtiander betreute. Der Indianer freute sich sehr darüber, weil er während der Abwesenheit Salvators Gelegenheit hatte, sich mit seinem Bruder Balthasar zu treffen. Christo würde es schon gelingen, seinen Bruder davon zu benachrichtigen, daß er den Meerteufel gefunden hatte. Nur mußten sie dann gemeinsam überlegen, wie Ichtiander zu entführen wäre. Christo wohnte jetzt in dem weißen, efeuumrankten Häuschen und traf oft mit Ichtiander zusammen. Sie freundeten sich bald an. Der alte Indianer erzählte ihm vom Leben an Land, Ichtiander dagegen wußte vom Meer mehr als die hervorragendsten Wissenschaftler, und er weihte Christo in die Geheimnisse der submarinen Welt ein. Er kannte alle Ozeane und die wichtigsten Flüsse, und er kannte sich auch in der Astronomie, Navigation, Physik, Botanik und Zoologie aus. Aber über die Menschen wußte er wenig. Einiges über die Rassen, die den Erdball bevölkern. Von der Geschichte der Menschheit hatte er jedoch nur eine blasse Vorstellung. Seine politischen und ökonomischen Kenntnisse glichen denen eines fünfjährigen Kindes. Bei Tag, sobald es heiß wurde, verschwand Ichtiander im Wasser und schwamm hinaus — irgendwohin. In das Häuschen kehrte er erst zurück, wenn die Hitze nachließ, und blieb dort bis zum Morgen. Wenn es aber regnete oder Sturm aufkam, verbrachte er den ganzen Tag an Land. Bei feuchtem Wetter fühlte er sich an der Luft wohl. Das Häuschen hatte nur vier Zimmer. In dem einen neben der Küche hauste Christo. Daneben war das Eßzimmer und eine große Bibliothek, die Ichtiander, da er die spanische und englische Sprache beherrschte, in Augenschein nahm. Das letzte und größte Zimmer war Ichtianders Schlafgemach. Dessen Mitte nahm ein Wasserbassin ein. An der Wand stand ein Bett. Manchmal schlief Ichtiander darin, aber er bevorzugte das Bassin als Lager. Als Salvator verreiste, befahl er Christo, darauf zu achten, daß Ichtiander mindestens dreimal wöchentlich in seinem Bett schlafe. Abends erschien der Diener und zeterte wie eine alte Kinderfrau, wenn der Amphibienmensch nicht in seinem Bett schlafen wollte. „Aber es ist für mich doch viel bequemer, im Wasser zu schlafen“, protestierte Ichtiander. „Der Doktor hat befohlen, das Bett zu wählen. Du mußt dem Vater folgen.“ Ichtiander nannte den Doktor Vater, jedoch bezweifelte Christo ihre Verwandtschaft. Seine Gesichtshaut und die Hände waren ziemlich hell. Konnte es sein, daß der ständige Aufenthalt unter Wasser die Haut bleichen ließ? Das gleichmäßige Oval des Gesichts, die gerade Nase, die schmalen Lippen und strahlenden großen Augen erinnerten eher an das Gesicht eines Indianers aus dem Stamm der Araukaner, dem auch Christo angehörte. Christo hätte gern Ichtianders Körperfarbe gesehen, aber die blieb ihm durch den festsitzenden Anzug aus einem schuppenartigen Material stets verborgen. „Ziehst du dein Hemd nachts nicht aus?“ fragte er den Jüngling. „Wozu? Meine Schuppen stören mich nicht, sie sind sehr bequem. Sie behindern weder die Atmung der Haut noch der Kiemen, und außerdem schützen sie zuverlässig. Weder die Zähne eines Haifisches noch das schärfste Messer können diesen Panzer durchdringen.“ So antwortete Ichtiander und legte sich ins Bett. „Warum trägst du Brille und Handschuhe?“ fragte Christo und betrachtete die neben dem Bett liegenden Utensilien. Die Handschuhe bestanden aus grünlichem Gummi, die Finger waren gelenkartig verlängert und durch Schwimmhäute verbunden. An der gleichartigen Fußbekleidung waren die Zehen noch weiter verlängert, „Diese Schwimmflossen helfen mir, schneller zu schwimmen. Und die Brille schützt die Augen, wenn der Sand vom Meeresgrund aufgewirbelt wird. Ich trage sie nicht immer. Aber mit der Brille sehe ich unter Wasser besser. Ohne sie ist die Sicht im Wasser so trüb. Als ich noch klein war, erlaubte mir mein Vater, zuweilen mit den Kindern, die im Nachbargarten wohnten, zu spielen. Ich wunderte mich sehr, als ich sie ohne Schwimmflossen ins Wasser steigen sah. ,Kann man denn ohne Flossen schwimmen?‘ fragte ich sie. Aber sie verstanden mich nicht, wußten nicht einmal, was ich mit Flossen meinte, denn ich schwamm nie in ihrer Gegenwart.“ „Schwimmst du auch jetzt noch in der Bucht?“ fragte Christo interessiert. „Natürlich. Nur schwimme ich jetzt durch einen seitlichen Unterwassertunnel. Irgendwelche bösen Menschen haben mich fast mit einem Netz gefangen, darum bin ich jetzt sehr vorsichtig.“ „Hm, dann gibt es noch einen anderen Tunnel zur Bucht?“ „Sogar ein paar. Schade, daß du nicht mit mir unter Wasser schwimmen kannst! Ich würde dir die erstaunlichsten Dinge zeigen. Wir könnten zusammen auf meinem Wasserpferd reiten.“ „Auf einem Wasserpferd? Was ist denn das?“ „Ein Delphin. Ich habe ihn gezähmt. Bei Sturm wurde er einmal weit auf den Strand geworfen, und dabei verletzte er sich eine Flosse. Ich schleppte ihn zurück ins Wasser. Das war eine mühselige Arbeit. Delphine sind im Wasser viel leichter als an Land. Im Meer läßt es sich leichter leben. Nun war der Delphin zwar wieder im Wasser, aber schwimmen konnte er nicht, sich also auch nicht ernähren. Einen ganzen Monat lang fütterte ich ihn mit Fischen. In dieser Zeit hat er sich an mich gewöhnt, Zutrauen zu mir gefaßt. Und so wurden wir Freunde. Auch die anderen Delphine kennen mich. Es ist herrlich, sich mit den Delphinen im Wasser zu tummeln. Wellen, Fontänen, Sonne, Wind und Lärm! Aber auch am Meeresgrund ist es verlockend. Als ob du in dichter blauer Luft schwimmst. Tiefste Stille. Du spürst deinen eigenen Körper nicht. Er wird so frei und leicht, gehorcht jeder deiner Bewegungen. Ich habe viele Freunde im Wasser. Ich füttere die kleinen Fische so wie ihr die Vögel — sie folgen mir in Schwärmen überall hin.“ „Und Feinde?“ „Es gibt auch Feinde. Haifische und Kraken. Aber ich fürchte mich nicht vor ihnen, ich habe ein Messer.“ „Wenn sie sich die aber unbemerkt nähern?“ Ichtiander staunte über eine solche Frage. „Ich höre sie doch, schon von weitem.“ „Du hörst im Wasser?“ staunte Christo, „Auch wenn Fische ganz leise an dich heranschwimmen?“ „Natürlich. Was ist denn dabei so erstaunlich? Ich höre mit den Ohren und mit dem ganzen Körper. Die Meeresbewohner verursachen ein Beben, das ihnen vorauseilt. Sobald ich solche Schwingungen bemerke, drehe ich mich um.“ „Auch wenn du schläfst?“ „Selbstverständlich.“ Surita hat recht: Für solch ein Wesen lohnt sich die Mühe, dachte Christo. Aber ihn im Wasser zu erwischen — das ist nicht einfach. „Ich höre mit dem ganzen Körper!“ Das ist ja enorm. Das muß ich Surita mitteilen. „Wie schön ist die Welt unter Wasser.“ Ichtiander begeisterte sich noch immer. „Nein, nie würde ich das Meer gegen eure dumpfe, staubige Erde eintauschen.“ „Warum UNSERE Erde? Du bist doch auch ein Erdensohn“, sagte Christo. „Wer war eigentlich deine Mutter?“ „Ich weiß nicht. Vater meint, daß Mutter bei meiner Geburt starb.“ „Aber sie war doch wohl eine Frau, ein Mensch und kein Fisch.“ „Kann sein“, stimmte Ichtiander bei. Christo lachte auf. „Bitte erzähl mir jetzt, warum hast du Unfug getrieben, warum hast du die Fischer geärgert, ihre Netze zerschnitten und ihren Fang aus den Booten geworfen?“ „Weil sie mehr fischten, als sie aufessen konnten.“ „Aber sie haben die Fische doch gefangen, um sie zu verkaufen.“ Das verstand Ichtiander nicht. „Damit auch andere Leute etwas zu Essen haben“, erklärte der Indianer. „Gibt es denn so viele Menschen?“ staunte Ichtiander. „Genügen ihnen die Vögel und Tiere der Erde nicht? Warum schieben sie sich noch ins Meer?“ „Das kann ich dir nicht so schnell erklären“, sagte Christo gähnend. „Es ist Zeit zum Schlafen. Kriech ja nicht wieder in deine Wanne. Dein Vater würde sonst böse werden.“ — und Christo ging. Am nächsten Morgen traf Christo, obwohl er zeitig aufstand, Ichtiander nicht mehr an. Die Steinfliesen waren naß. „Da hat er doch wieder in der Wanne geschlafen“, knurrte der Indianer vor sich hin, „und ist natürlich wieder ins Meer geschwommen.“ Zum Frühstück erschien Ichtiander mit etlicher Verspätung. Er war verstimmt, stocherte mit der Gabel in seinem Beefsteak herum und murrte: „Wieder gebratenes Fleisch.“ „So, wie es der Doktor angeordnet hat. Aber du hast dich wohl wieder an rohen Fischen sattgegessen? So gewöhnst du dir ganz die gekochte Nahrung ab. Und hast auch wieder in der Wanne geschlafen. Da du das Bett meidest, entwöhnen sich die Kiemen der Luft, und dann jammerst du über Seitenstechen. Zum Frühstück bist du auch zu spät gekommen. Wenn der Doktor zurückkommt, werde ich ihm alles sagen. Du gehorchst überhaupt nicht.“ „Sag es bitte nicht, Christo. Ich möchte meinen Vater nicht betrüben.“ Gedankenvoll senkte Ichtiander sein Haupt. Plötzlich blickte er mit seinen großen, diesmal sehr traurigen Augen den Indianer an: „Christo, ich habe ein Mädchen gesehen. Ich habe nie etwas Schöneres gesehen — nicht einmal in der Tiefsee.“ „Warum beschimpfst du dann eigentlich unsere Erde?“ Ichtiander schwärmte: „Ich schwamm auf einem Delphin am Ufer entlang, und unweit von Buenos Aires erblickte ich sie am Strand. Sie hatte blaue Augen und goldenes Haar. Und einmal rettete ich ein Mädchen vor dem Ertrinken. Damals sah ich sie mir gar nicht so genau an. Womöglich ist es dieselbe. Ich glaube, die hatte auch goldenes Haar.“ Der Jüngling grübelte. Dann trat er plötzlich vor den Spiegel und betrachtete sich zum ersten Mal in seinem Leben genau. „Und was machtest du da?“ wollte Christo wissen. „Ich wartete auf sie. Aber sie kam nicht mehr zurück. Christo, vielleicht kommt sie nie mehr an den Strand?“ Vielleicht ist es gut, daß ihm das Mädchen gefällt, dachte Christo. Bisher hatte er vergeblich versucht, Ichtiander mit prächtigen Schilderungen zu einem Besuch von Buenos Aires zu verlocken. Dort wäre es für Surita eine Kleinigkeit, sich des Jünglings zu bemächtigen. Christo knüpfte wieder den Gesprächsfaden. „Schon möglich, daß das Mädchen nicht mehr an den Strand kommt. Aber ich könnte dir helfen, sie zu finden. Du ziehst einen guten Anzug an und kommst mit mir in die Stadt.“ „Und ich werde sie wiedersehen?“ rief Ichtiander begeistert. „Dort gibt es viele Mädchen. Vielleicht siehst du auch die, die am Strand war.“ „Gehen wir am besten gleich!“ „Dafür ist es heute schon zu spät. Zu Fuß in die Stadt, das braucht seine Zeit.“ „Ich schwimme auf dem Delphin, und du folgst am Ufer entlang.“ „Wie eilig du es doch hast.“ „Bei Tagesanbruch werden wir uns auf den Weg machen. Du schwimmst in die Bucht, und ich erwarte dich mit einem festlichen Anzug am Strand. Den muß ich dir aber erst noch besorgen.“ Nachts werde ich noch meinen Bruder treffen, dachte Christo. „Also dann — bis morgen früh.“ In der Stadt Ichtiander durchschwamm die Buch und stieg ans Ufer. Christo erwartete ihn bereits, trug einen weißen Anzug über dem Arm. Ichtiander betrachtete die schillernde Kleidung, als hätte man ihm eine Schlangenhaut gebracht. Seufzend begann er, sich anzukleiden. „Komm“, sagte der Indianer vergnügt. Um Ichtiander zu überraschen, führte er ihn durch die Hauptstraßen: Avenida Alvear und Vertis, zeigte ihm den Siegesplatz mit der Kathedrale, das Rathaus im maurischen Stil, den Puertoplatz, den Platz des 25. Mai mit dem Freiheitsobelisken und das von prächtigen Bäumen umrahmte Präsidentenpalais. Doch Christo hatte eines nicht vorhergesehen: Der Lärm, der Großstadtverkehr, der Staub, die Schwüle und das Gedränge verwirrten Ichtiander gänzlich. Er bemühte sich, in diesem Gedränge das Mädchen zu entdecken. Immer wieder ergriff er Christos Hand und flüsterte: „Da ist sie“, erkannte jedoch gleich wieder seinen Irrtum: „Nein, es war eine andere.“ Es wurde Mittag und die Hitze unerträglich. Christo schlug ein Mahl vor. Sie betraten ein kleines Kellerrestaurant. Hier war es kühl, aber laut. Und die Luft verbraucht. Zerlumpte Leute rauchten stinkende Zigarren. Ichtiander erstickte fast. Außerdem wurde mit unverständlichen Ausdrücken schrill gestritten. Ichtiander trank große Mengen kalten Wassers, ohne das Essen auch nur anzurühren. Traurig meinte er: „Es ist leichter, ein bestimmtes Fischlein im Ozean zu finden, als in diesem Strudel einen Menschen. Eure Städte sind mir widerwärtig. Hier ist es stickig, und alles stinkt. Ich bekomme schon Seitenstechen. Laß mich nach Hause, Christo!“ „Gut“, sagte der begütigend, „wir schauen nur noch kurz bei einem meiner Freunde herein und kehren dann zurück.“ „Ich will zu keinem Menschen mehr gehen.“ „Es ist auf dem Wege. Ich halte mich dort nicht lange auf.“ Christo bezahlte und trat mit Ichtiander auf die Straße. Schwer atmend, mit gesenktem Kopf ging Ichtiander dicht hinter seinem Diener, vorbei an weißen Häusern, vorbei an Gärten, in denen Kakteen, Oliven- und Pfirsichbäume üppig sprossen. Der Indianer lenkte beider Schritte zu seinem Bruder Balthasar, der am neuen Hafen wohnte. Am Meer sog Ichtiander gierig die feuchte Luft ein. Am liebsten hätte er die Kleider heruntergerissen und wäre ins Wasser gesprungen. „Gleich sind wir da“, beruhigte Christo und beobachtete besorgt seinen Begleiter. Sie überquerten einige Eisenbahnschienen und betraten schließlich einen düsteren Laden. Als sich Ichtianders Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, blickte er sich erstaunt um. Er fühlte sich auf den Meeresgrund versetzt. Die Regale und der Fußboden waren mit großen gewundenen Muscheln und Korallen bedeckt. Von der Decke hingen Seesterne, ausgestopfte Fische, getrocknete Krabben und allerlei Meeresgetier. In einem Kästchen lagen rosagefärbte Perlen. In dieser vertrauten Umgebung beruhigte sich Ichtiander allmählich. „Hier ist es kühl und ruhig“, sagte Christo, „erhol dich“, — und schob Ichtiander einen geflochtenen Stuhl hin. „Balthasar! Guttiere!“ rief der Indianer, „Bist du es, Christo?“ erwiderte eine Stimme aus dem Nebenzimmer. „Komm her, altes Haus!“ Christo bückte sich, um durch die niedrige Tür das andere Zimmer zu betreten. Dies war Balthasars Laboratorium, in dem er durch Feuchtigkeit verfleckte Perlen behandelte. In einem schwachen Säurebad erhielten sie neuen Glanz. Christo schloß hinter sich sorgfältig die Tür. Schwaches Licht fiel durch eine Dachluke ein und ließ die Umrisse von Glaskolben und Glasschalen auf dem alten schwarzen Tisch erkennen. „Guten Tag, Bruder, wo ist Guttiere?“ „Sie ging zur Nachbarin, ein Bügeleisen zu leihen. Hat bloß noch Bändchen und Spitzen im Kopf, wird gleich wieder zurück sein“, antwortete Balthasar. „Und Surita?“ fragte Christo ungeduldig. „Der verdammte Kerl ist irgendwohin verschwunden, wir haben uns gestern verkracht.“ „Alles wegen Guttiere?“ „Surita hat sich vor ihr wie ein Wurm gewunden. Aber sie sagte nur: Ich will nicht! Was soll man mit ihr machen? Lauter Launen! Widerspenstig ist sie und eingebildet. Versteht nicht, daß jede Indianerin, auch die Schönste, vor Glück verginge, wenn solch ein Mann sie heiraten wollte. Einen eigenen Schoner hat er, eine eigene Mannschaft.“ Balthasar brummte und behandelte seine Perlen. „Surita säuft jetzt vor Ärger.“ „Was sollen wir denn machen?“ fragte Christo. „Hast du dieses komische Wesen dabei?“ Balthasar verhielt sich ungeduldig. „Ja, es wartet draußen.“ Balthasar trat zur Tür und spähte gespannt durch das Schlüsselloch. „Ich sehe ihn nicht“, sagte er leise. „Er sitzt doch vor der Theke.“ „Nichts, da ist Guttiere.“ Balthasar öffnete die Tür und betrat mit Christo den Laden. Ichtiander war nicht da. In einer dunklen Ecke stand Guttiere, Balthasars Pflegetochter. Das Mädchen war wegen ihrer Schönheit weit über die Gegend des neuen Hafens bekannt. Aber sie gab sich schüchtern und eigensinnig. Oft genug sagte sie mit ihrer schwingenden Stimme: „Nein.“ Pedro Surita gefiel Guttiere, er wollte sie heiraten. Und der alte Balthasar war nicht abgeneigt, sich mit dem reichen Mann zu verschwägern, sein Kompagnon zu werden. Aber allen Anträgen Suritas setzte das Mädchen ein unabänderliches „Nein“ entgegen. Als der Vater und Christo den Raum betraten, stand das Mädchen mit geneigtem Kopf da. „Guten Tag, Guttiere“, sagte Christo, „Wo ist der junge Mensch?“ fragte Balthasar. „Ich verberge keine jungen Männer“, sagte das Mädchen lächelnd. „Als ich hier eintrat, sah er mich so merkwürdig an, war erschrocken. Er legte die Hand auf sein Herz und lief davon. Bevor ich mich umschauen konnte, war er schon zur Tür hinaus.“ Wieder im Meer Nach Atem ringend, lief Ichtiander am Meeresufer entlang. Als er diese schreckliche Stadt verlassen hatte, versteckte er sich zwischen den Felsen, blickte sich vorsichtig um, zog sich rasch aus, verbarg die Kleider unter den Steinen und stürzte sich ins Wasser. Seine Müdigkeit nicht beachtend, schwamm er so ungestüm wie noch nie. Erschreckt wichen ihm die Fische aus. Nachdem er sich in großer Tiefe einige Meilen von der Stadt entfernt hatte, näherte sich Ichtiander wieder der Wasseroberfläche und hielt auf das Ufer zu. Hier fühlte er sich wieder zu Hause. Jeder Stein und jede Vertiefung am Meeresgrund waren ihm vertraut. Im sandigen Grund ruhten die Flundern, wuchsen rote Korallenbüsche, zwischen deren Zweigen sich kleine Fische mit roten Flossen verbargen. In einem gesunkenen Boot hatten sich zwei Krakenfamilien mit ihrem Nachwuchs niedergelassen. Unter den grauen Steinen hausten Krabben. Und an den Strandfelsen wuchsen zahllose Austern. Stundenlang konnte Ichtiander ihr bewegtes Treiben beobachten. Ichtiander reckte den Kopf aus dem Wasser, erblickte ein Rudel Delphine, das sich in den Wellen tummelte. Er stieß einen durchdringenden Ruf aus. Der große Delphin antwortete mit einem vergnügten Grunzen und schwamm seinem Freund entgegen, wobei sein schwarzer Rücken zwischen den Wellen aufglänzte. „Schneller, schneller“, ermunterte ihn der entgegenschwimmende Ichtiander. Er schwang sich auf den Rücken des Delphins: „Komm ganz schnell fort von hier!“ Dem Befehl des Jünglings folgend, schwamm der Delphin rasch dem offenen Meer zu, Wind und Wellen entgegen, durchpflügte die aufschäumenden Wogen. Aber Ichtiander erschien das Tempo immer noch zu gering. „Was ist denn? Schneller, schneller!“ Plötzlich ließ sich der junge Reiter vom Rücken des Delphins gleiten und verschwand in den Tiefen des Meeres. Erstaunt schnaubend wartete der Delphin ein Weilchen, grunzte noch einmal unzufrieden, kehrte mit einem kräftigen Schwanzschlag um und schwamm wieder der Küste zu. Obwohl er sich noch mehrmals umwandte, sah er den Freund nicht mehr und gesellte sich wieder seinem Rudel zu. Ichtiander dagegen tauchte tiefer und tiefer in die düsteren Meeresschichten. Er wollte allein sein, wieder zu sich kommen nach den Schrecknissen der Stadt, sich auseinandersetzen mit allem, was er erfahren und gesehen hatte. Er schwamm weit hinaus, die Gefahr nicht achtend. Er versuchte zu verstehen, warum er anders war als alle, ein Fremdling im Meer und auf der Erde. Nur noch langsam sank er tiefer. Das Wasser wurde dichter und bedrängte seinen Atem in der undurchdringbaren graugrünen Düsternis. Die Lebewesen wurden seltener. Einige von ihnen waren Ichtiander unbekannt. Er hatte sich noch nie in solche Tiefen hinabgewagt. Und plötzlich erfaßte ihn Angst vor dieser schweigenden, drohenden Welt. So schnell wie möglich tauchte er empor und schwamm zur Küste. Die Sonne ging gerade unter. Ichtiander war ohne Brille und erblickte deshalb die Wasseroberfläche so, wie sie den Fischen sichtbar wird: Aus dem Wasser heraus erscheint sie nicht als Ebene sondern als Konus, als ob man sich am Grunde eines riesigen Trichters befände. Die Konusgrenzen schienen mit roten, gelben, grünen, blauen und violetten Säumen eingefaßt zu sein, und dahinter spiegelte die Wasseroberfläche Felsen, Pflanzen und Fische. Ichtiander drehte sich auf den Bauch und schwamm zum Ufer, blieb unter Wasser und setzte sich zwischen die Felsplatten unweit der Sandbank. Dort stiegen die Fischer ins Wasser, um ihre Boote an Land zu ziehen. Ichtiander vergnügte sich an den eigenartigen Spiegelungen. Ein Fischer stand bis zu den Schultern im Wasser und erschien wie ein kopfloses Wesen mit vier Beinen. Näherten sich die Menschen aber dem Ufer, so sah Ichtiander sie wie in einer Kugel von Kopf bis Fuß. Deshalb gelang es Ichtiander auch stets fortzuschwimmen, bevor die Menschen ihn wahrnehmen konnten. Menschen. Er hatte genug von ihnen. Mit den vergnügten und klugen Delphinen lebte es sich besser. Fern im Süden ist eine kleine geschützte Bucht. Riffe und Sandbänke verhindern den Schiffen den Zugang. Das Ufer ist steil und felsig. Weder Fischer noch Perlensucher gelangen hierher. Der flache Grund ist von einem seltsamen Gemisch teppichartig verwachsen, in dem sich unzählige Fische tummeln. Viele Jahre nacheinander wählte ein Delphinweibchen dieses ruhige Wasser, um ihre Jungen zu gebären, zwei, vier, manchmal auch sechs. Ichtiander erfreute sich an den Delphinkindern. Stundenlang konnte er sie verborgen in den Schlingpflanzen beobachten. Er fing kleine Fische und fütterte die Delphinbabys. Allmählich wurden sie ganz zahm; und auch die Mutter gewöhnte sich an ihn. Er konnte schon mit den Kleinen zusammen spielen, sie ließen sich fangen und in die Höhe werfen. Es schien ihnen zu gefallen, denn sie wichen nicht von seiner Seite. Als diese Delphinmutter einmal wieder Junge hatte, dachte Ichtiander: Warum soll ich nicht einmal Delphinmilch kosten? Unbemerkt schlich er sich unter das Muttertier, umfaßte es mit seinen Armen und begann, die Milch zu saugen, die einen starken Fischgeschmack hatte. Der Delphin erschrak und floh. Seine Jungen zerstreuten sich und taumelten suchend umher. Ichtiander bemühte sich, die Kleinen zusammenzutreiben, bis schließlich die Mutter wieder erschien und sie in die Nachbarbucht führte. Es dauerte viele Tage, bis Vertrauen und Freundschaft wiederhergestellt waren. Christo regte sich nicht umsonst auf. Ichtiander hatte sich drei Tage nicht blicken lassen. Müde, bleich, aber zufrieden kehrte er schließlich zurück. „Wo hast du gesteckt?“ fragte der Indianer streng, dennoch sichtlich erfreut über Ichtianders Wiederkehr. „Auf dem Grund.“ „Und warum bist du so blaß?“ „Ich — ich bin fast umgekommen.“ Ichtiander log zum ersten Mal im Leben und erzählte Christo ein Erlebnis, das er viel früher einmal gehabt hatte. In der Tiefsee gibt es eine felsige Hochebene, in deren Zentrum sich eine Vertiefung befindet — ein Gebirgssee unter dem Meer. Ichtiander schwamm über diesen See und wunderte sich über die ungewöhnliche hellgraue Färbung des Wassers. Er ließ sich tiefer hinunter und blickte sich um. Zu seinem Erstaunen erblickte er einen Friedhof für die verschiedensten Meerestiere — vom kleinsten Fisch bis zu Haien und Delphinen. Es gab auch frische Opfer, aber es wimmelte in ihrer Nähe nicht, wie sonst, von räubernden Krabben und Fischen. Alles war tot und starr. Nur einige Gasblasen sprudelten zur Oberfläche auf. Ichtiander schwamm an der Grenze der Senke, tauchte noch etwas tiefer und verspürte plötzlich einen scharfen Schmerz in den Kiemen, Atemnot und Schwindel. Fast verlor er die Besinnung, sank hilflos immer weiter und fiel schließlich auf den äußersten Rand der kraterartigen Vertiefung. Es hämmerte in seinen Schläfen, das Herz pochte wild, und rote Nebel wogten ihm vor Augen. Hier war von niemand Hilfe zu erwarten. Plötzlich bemerkte Ichtiander einen Hai, der sich in Krämpfen wand und hinabsank. Wahrscheinlich hatte der Raubfisch ihn selbst verfolgt, bis er in diese tödlich vergifteten Gewässer gelangt war. Der Leib und die Flanken wurden aufgetrieben und fielen zusammen, das Maul klappte auf, die scharfgeschliffene Zahnplatte lag bloß. Der Hai krepierte. Ichtiander erbebte. Mit zusammengebissenen Zähnen — um seine Kiemen vor dem giftigen Wasser zu schützen — kroch er bäuchlings vom Krater weg, weiter den Rand empor, bis er sich schließlich erheben und weitergehen konnte. Aber immer noch erfaßten ihn Schwindel, und er fiel hin. Endlich konnte er sich von den grauen Steinen abstoßen. Mit einer rudernden Armbewegung entfernte er sich blitzschnell vom Rand des Kraters. Als Ichtiander seine Geschichte beendet hatte, fügte er noch ergänzend hinzu, was er irgendwann von Salvator erfahren hatte: „Wahrscheinlich sammelten sich in diesem Krater irgendwelche Giftgase, vielleicht Schwefelwasserstoff oder Kohlenoxyd. An der Oberfläche oxydieren sie, und man spürt ihre Wirkung nicht mehr. Aber in dem Krater konzentrieren sie sich stark. — Aber jetzt gib mir zu essen, ich bin hungrig wie ein Hai.“ Ichtiander aß hastig, dann setzte er seine Brille auf, ergriff die Handschuhe und eilte zur Tür. „Deshalb bist du also nur gekommen?“ fragte Christo und deutete auf die Brille. „Warum willst du mir nicht sagen, was mit dir los ist?“ Ichtiander zeigte einen neuen Charakter. Er wurde verschlossen. „Frag mich nicht, Christo, ich weiß selbst nicht, was mit mir los ist.“ Und überstürzt verließ der Jüngling das Zimmer. Die kleine Rache Als Ichtiander in Balthasars Laden das blauäugige Mädchen unerwartet wiedergesehen hatte, war er so verwirrt, daß er eiligst aus dem Laden lief und ins Meer sprang. Doch jetzt wünschte er mit allen Fasern seines Herzens, das Mädchen kennenzulernen. Wie aber sollte er das bewerkstelligen? Am einfachsten wäre es gewesen, sich Christo anzuvertrauen und mit ihm gemeinsam hinzugehen. Aber es widerstrebte ihm, das Mädchen in Christos Gegenwart wiederzusehen. Täglich schwamm Ichtiander zu der Stelle am Strand, wo er das Mädchen zum ersten Mal gesehen hatte. Er verbarg sich am felsigen Ufer und wartete von morgens bis in den späten Abend in der Hoffnung, sie zu erspähen. Sobald Ichtiander an den Strand kam, nahm er, um das Mädchen nicht zu erschrecken, die Brille ab, streifte die Handschuhe ab und zog seinen weißen Anzug an. Häufig verbrachte er ganze Tage an diesem Punkt. Nachts tauchte er ins Wasser, nährte sich von Fischen und Austern und schlief unruhig, um noch im Morgengrauen wieder auf seinem Posten zu sein. Eines Tages entschloß er sich, zum Laden des Perlenhändlers zu gehen. Die Tür stand offen, am Ladentisch saß der alte Indianer. Aber von dem Mädchen war nichts zu sehen. Enttäuscht kehrte Ichtiander zum Meer zurück. Er erstarrte fast, als er das Mädchen auf dem Strandfelsen in einem duftigen weißen Kleid und mit großem Strohhut erblickte. Wie angewurzelt blieb Ich- tiander stehen, unschlüssig, näherzutreten. Das Mädchen schien jemand zu erwarten. Ungeduldig ging sie auf und ab und schaute immer wieder den Weg entlang. Sie bemerkte Ichtiander, der an einem Felsvorsprung stehengeblieben war, nicht. Plötzlich winkte das Mädchen einem hochgewachsenen, breitschultrigen jungen Mann, der ihr auf dem Weg entgegeneilte. Noch nie hatte Ichtiander so helle Augen und Haare bei einem Menschen gesehen. Der Riese näherte sich dem Mädchen, streckte ihm seine breite Hand entgegen und sagte zärtlich: „Guten Tag, Guttiere.“ „Guten Tag, Olsen“, antwortete sie. Der Fremde drückte kräftig Guttieres schmale Hand. Ichtiander wurde das Herz schwer. „Hast du das Halsband mitgebracht?“ fragte der Fremde. Guttiere nickte. „Wird es dein Vater nicht bemerken?“ „Nein“, antwortete das Mädchen, „das sind meine eigenen Perlen, mit denen kann ich machen, was mir gefällt.“ Beide traten an den Rand des Felsens. Guttiere öffnete die Öse des Halsbandes, faßte einen Zipfel der Schnur und hielt sie gegen das Licht: „Sieh, wie wunderbar die Perlen im Abendrot schimmern. Nimm sie Olsen.“ Olsen streckte schon die Hand aus, als die Perlen Guttieres Hand entglitten und ins Meer fielen. „Was habe ich angerichtet“, schrie das Mädchen entsetzt auf. Betrübt blickten beide in die Tiefe. „Vielleicht könnten wir das Halsband herausholen?“ meinte Olsen. „Hier ist es viel zu tief“, sagte Guttiere und jammerte: „Welch ein Unglück, Olsen!“ Ichtiander sah die Verzweiflung des Mädchens und vergaß in diesem Moment, daß sie die Perlen ja dem hellhaarigen Riesen schenken wollte. Er konnte ihrem Schmerz gegenüber aber nicht gleichgültig bleiben. Entschlossen trat er aus seinem Versteck und ging auf Guttiere zu. Olsen blickte finster, aber Guttiere schaute Ichtiander erstaunt an. Sie erkannte in ihm sofort jenen Jüngling wieder, der so fluchtartig den Laden verlassen hatte. „Soll ich das Halsband suchen?“ fragte Ichtiander freundlich. „Sogar mein Vater, der beste Taucher hier, würde das nicht schaffen“, entgegnete das Mädchen. „Ich will‘s versuchen“, sagte Ichtiander und sprang, zur Verwunderung der beiden, mit seinem Anzug von den hohen Felsen ins Meer. Olsen wußte nicht, was er davon halten sollte. „Wer ist das, wo kam er her?“ Eine Minute verging, eine zweite, der Jüngling blieb verschwunden. Aufgeregt beobachtete Guttiere das Meer. „Er ist umgekommen“, bangte sie. Ichtiander wollte dem Mädchen eigentlich verheimlichen, daß er auch unter Wasser leben konnte. Jedoch hatte er bei seiner begeisterten Suche jene Zeit, die ein Taucher unter Wasser bleiben konnte, schlecht bemessen. Er tauchte auf und bat lächelnd: „Noch ein bißchen Geduld! Der Grund ist sehr steinig. Aber ich wird’s schon finden.“ Und war schon wieder in den Wellen verschwunden. Nach zwei Minuten erschien Ichtianders Kopf über Wasser, er strahlte vor Freude: In der erhobenen Hand hielt er das Halsband. „Es war an einem Felsvorsprung hängengeblieben“, sagte der Jüngling, ohne nach Atem zu ringen. „Wenn die Perlen in einen Felsspalt gefallen wären, hätte es länger gedauert.“ Rasch erkletterte er die Felsen, trat zu Guttiere und übergab ihr das Halsband. Das Wasser floß in Bächen von seiner Kleidung. „Nehmen Sie.“ „Ich danke Ihnen“, sagte Guttiere, den Jüngling mit Neugierde betrachtend. Dann schwiegen alle drei. Sie wußten nicht, was sie tun sollten. Guttiere konnte sich nicht entschließen, Olsen die Perlen in Ichtianders Beisein zu geben. „Ich glaube, Sie wollten ihm die Perlen geben“, sagte Ichtiander. Olsen errötete und die überraschte Guttiere sagte verlegen: „Ja, ja!“ Sie reichte Olsen das Halsband, der es schweigend nahm und in die Tasche steckt. Für Ichtiander war es eine Genugtuung. Der Riese bekam den verlorenen Schmuck nun eigentlich nicht von Guttiere, sondern von ihm geschenkt. Er verneigte sich vor dem Mädchen und begab sich auf den Weg. Doch schon nach den ersten Schritten war Ichtianders Erfolg verrauscht, er überlegte: Wer war dieser blondköpfige Riese? Warum schenkte ihm Guttiere ihren Schmuck? Worüber sprachen die beiden miteinander auf der Klippe? In dieser Nacht stürmte Ichtiander wieder auf seinem Delphin über das Meer und erschreckte in der Dunkelheit die Fischer mit seinen grellen Schreien. Den ganzen folgenden Tag verbrachte er unter Wasser. Mit Brille, aber ohne Handschuhe, kroch er auf dem Meeresgrund umher und sammelte Perlenmuscheln. Abends besuchte er Christo, der ihn brummend mit Vorwürfen empfing. Am nächsten Morgen begab sich Ichtiander bereits früh zu jenem Platz, an dem er Guttiere und Olsen getroffen hatte. Bei Sonnenuntergang erschien dann ebenso wie beim vorigen Mal zuerst Guttiere allein. Ichtiander verließ seinen schützenden Felsen und ging auf sie zu. Das Mädchen nickte ihm wie einem alten Bekannten zu und fragte lächelnd: „Verfolgen Sie mich?“ „Ja“, erwiderte Ichtiander verlegen. „Sie haben Olsen ihr Halsband geschenkt. Aber ich sah, wie sie die Perlen vorher streichelten. Lieben Sie Perlen?“ „Ja.“ „Dann nehmen Sie diese von mir.“ Er hielt ihr eine Perle entgegen. Guttiere kannte gut deren Wert. Die Perle, die auf Ichtianders Hand lag, übertraf alle, die sie je gesehen hatte oder von denen sie aus den Erzählungen ihres Vaters gehört hatte. Die ebenmäßig geformte Perle von reinstem Weiß wog sicher zweihundert Karat und war ihre Million Pesos wert. Bestürzt betrachtete Guttiere abwechselnd die ungewöhnliche Perle und den schönen Jüngling. Kraftvoll, geschmeidig, gesund, jedoch ein wenig verlegen in seinem zerbeulten weißen Anzug, glich er den reichen Jünglingen von Buenos Aires wenig. Und er bot ihr, einem Mädchen, das er kaum kannte, ein derartig kostspieliges Geschenk an. „Nehmen Sie doch“, beharrte Ichtiander. „Nein“, erwiderte Guttiere kopfschüttelnd, „ich kann es nicht annehmen.“ „Ich gebe Ihnen diese Perle sehr gern“, erklärte Ichtiander. „Auf dem Meeresgrund gibt es davon noch Tausende.“ Guttiere lächelte, lehnte jedoch abermals ab. Ichtiander war gekränkt. „Wenn Sie diese Perle nicht für sich nehmen wollen: Olsen wird sie Ihnen bestimmt nicht abschlagen.“ Guttiere war erzürnt. „Er nimmt sie doch nicht für sich“, sagte sie weinend. „Sie kennen die Zusammenhänge nicht.“ Ichtiander warf die Perle weit ins Meer, nickte schweigend und entfernte sich. Die verblüffte Guttiere stand noch immer unbeweglich da. Ein Vermögen wie einen Kieselstein ins Wasser zu werfen! Warum auch mußte sie diesen sonderbaren Jüngling so kränken? „Warten Sie, wohin gehen Sie denn?“ Aber Ichtiander überhörte ihren Ruf und ging mit tief gesenktem Kopf weiter. Guttiere lief ihm nach, holte ihn ein, nahm ihn bei der Hand und blickte ihm ins Gesicht. Tränen liefen ihm über die Wangen. Noch nie hatte Ichtiander geweint, und deshalb konnte er nicht begreifen, warum er alles trüb und verschwommen sah. Es schien ihm, als ob er ohne Brille unter Wasser schwimmen würde. Das Mädchen ergriff seine Hände und sagte: „Verzeihen Sie mir, ich habe Sie gekränkt.“ Suritas Ungeduld Nach dieser Begegnung mit dem schönen Mädchen schwamm Ichtiander jedem Abend zum Strand nahe der Stadt, klaubte seinen Anzug aus dem Versteck, kleidete sich an und eilte zum Felsen, wo Guttiere schon auf ihn wartete. Sie gingen am Ufer entlang und unterhielten sich lebhaft. Guttiere fragte sich: Wer eigentlich ist mein neuer Freund? Er war klug und geistreich, kannte sich aus auf Gebieten, von denen das Mädchen nichts wußte. Und doch verstand er oft einfachste Dinge, die jedes Stadtkind aus dem Stegreif hersagen konnte, nicht. Wie war dieser Gegensatz zu erklären? Ichtiander sprach nur ungern über sich selbst. Mit der vollen Wahrheit wollte er nicht heraus. Das Mädchen erfuhr nur, daß er der Sohn eines Arztes war, eines anscheinend sehr wohlhabenden Mannes, der seinen Sohn fern der Stadt und der menschlichen Gesellschaft erzog. Manchmal saßen sie lange am Strand. Zu ihren Füßen rauschte die Brandung, über ihnen schimmerten die Sterne. Das Gespräch verstummte, Ichtiander war glücklich. „Es wird Zeit zu gehen“, sagte das Mädchen. Ichtiander erhob sich unlustig, begleitete sie bis zur Vorstadt, kehrte dann eilig zurück, warf die Kleider ab und schwamm nach Haus e. Nach dem Frühstück nahm er ein großes Weißbrot mit und begab sich zur Bucht. Er setzte sich auf den sandigen Meeresgrund und fütterte die kleinen Fische. Sie umringten ihn in Schwärmen, schlüpften zwischen seinen Fingern hindurch und rissen ihm gierig das auf geweichte Brot aus den Händen. Manchmal brachen größere Fische in den Schwarm ein und verfolgten die Kleinen. Der Amphibienmensch verscheuchte die Räuber. Die kleinen Fische suchten Schutz hinter seinem Rücken. Ichtiander begann Perlen zu sammeln und legte sie in eine Unterwassergrotte. Diese Arbeit machte ihm Freude. Er besaß bald einen ganzen Berg auserlesener Exemplare. So wurde er, ohne es selbst zu ahnen, der reichste Mann Argentiniens, vielleicht von ganz Südamerika. Aber er dachte nicht an Reichtum. Sonnig vergingen die Tage. Ichtiander bedauerte, daß Guttiere im Staub und Lärm der Stadt wohnen mußte. Wenn sie doch auch unter Wasser leben könnte! Er würde ihr eine unbekannte Welt eröffnen, sie zu den herrlichen Blumen der Tiefsee führen. Aber Guttiere konnte niemals unter Wasser leben und er nicht auf der Erde. Der Amphibienmensch verbrachte schon jetzt viel Zeit an der Luft. Und das blieb nicht ohne Folgen. Immer häufiger verspürte er stechende Schmerzen, wenn das Mädchen am Ufer saß. Aber er unterdrückte sie, wollte die Treffen weder verkürzen noch abbrechen. Dabei beunruhigte Ichtiander nach wie vor: Worüber sprach Guttiere mit dem blondschöpfigen Riesen? Er nahm sich jedes Mal vor, das Mädchen danach zu fragen, er befürchtete aber immer wieder, sie durch seine Neugier zu beleidigen. Eines Abends sagte das Mädchen: „Ich kann morgen nicht kommen.“ „Warum?“ Ichtiander war traurig. „Ich bin beschäftigt.“ „Womit?“ „Man darf nicht alles wissen wollen.“ Das Mädchen lachte. „Begleiten Sie mich heute bitte nicht“, fügte sie noch hinzu und ging. Ichtiander tauchte zum Grund und blieb die ganze Nacht auf den bemoosten Steinen liegen. Er war tief betrübt. Im Morgengrauen erst schwamm er nach Hause. In der Nähe der Bucht bemerkte er, daß die Fischer von ihren Booten aus jagten. Ein großer Delphin schnellte aus dem Wasser und fiel schwer zurück. „Leading“, flüsterte Ichtiander entsetzt. Einer der Fischer sprang ins Wasser, um das Auftauchen des verwundeten Tieres zu erwarten. Aber der Delphin erschien hundert Meter weiter entfernt, holte tief Atem und entschwand wieder. Der Fischer schwamm dem Tier nach. Ichtiander rüstete sich, um seinem Freund zu helfen. Da tauchte der Delphin nochmals auf. Im selben Augenblick ergriff der Fischer das entkräftete Tier an der Flosse und zog es zum Boot. Ichtiander pirschte sich unter Wasser heran, holte den Fischer ein und biß ihm kräftig ins Bein. Dieser glaubte, daß ihn ein Hai erwischt habe, er schlug verzweifelt mit den Beinen. In der freien Hand hielt er ein Messer und stach damit drauflos. Ichtiander spürte, wie ihm der Hals, dessen zarte Haut nicht durch Schuppen geschützt war, schmerzte. Er lies das Bein des Mannes los. Der Fischer schwamm eiligst zu seinem Boot. Die verwundeten Freunde, der befreite Delphin und Ichtiander, flohen zur Bucht. Der Jüngling befahl dem Tier, ihm zu folgen, und führte es in die Unterwasserhöhle. Da das Naß nur bis zur halben Höhe des Verlieses reichte und durch Felsspalten frische Luft zuströmte, konnte hier der Delphin ohne Gefahr zu Atem kommen. Ichtiander untersuchte dessen Wunde und stellte fest, daß sein Freund nicht ernstlich verletzt war. Die Kugel war in der Fettschicht steckengeblieben. Dem Jüngling gelang es, die Kugel mit den Fingern zu entfernen. Geduldig ertrug der Delphin diese Erste Hilfe. „Das heilt schon wieder, mein Dicker“, sagte Ichtiander und klopfte zärtlich den Rücken seines Freundes. Nun mußte er aber an sich denken. Schnell durchschwamm er den Unterwassertunnel und gelangte in den häuslichen Garten. Christo erschrak ob der Verwundung seines Zöglings. „Was ist denn los?“ „Die Fischer haben mich verwundet, als ich den Delphin verteidigte.“ Aber Christo glaubte ihm nicht. „Warst wohl wieder in der Stadt?“ Zweifelnd verband er die Wunde. Ichtiander schwieg. Der Indianer tastete unterhalb der Wunde die Schulter ab und schob die Schuppen hoch. Er entdeckte einen rötlichen Fleck, der ihn beunruhigte. „Bekamst du einen Schlag mit dem Ruder?“ fragte Christo. „Nein“, antwortete Ichtiander. Der Jüngling ging in sein Zimmer, um auszuruhen. Der alte Indianer stützte seinen Kopf auf und überlegte lange, eilte dann in die Stadt und betrat keuchend Balthasars Laden. Mißtrauisch beäugte er Guttiere, die am Ladentisch saß. „Ist dein Vater zu Hause?“ „Dort“, antwortete das Mädchen und deutete mit einer Kopfbewegung zum Nachbarzimmer. Christo betrat das Labor und schloß sorgfältig die Tür hinter sich. Sein Bruder saß hinter seinen Kolben und reinigte Perlen. Balthasar war wiederum gereizt. „Verrückt kann man mit euch werden.“ Balthasar polterte. „Surita ärgert sich, weil du den Meerteufel immer noch nicht hierher gelockt hast. Guttiere läuft irgendwohin und bleibt den ganzen Tag fort. Von Surita will sie nichts mehr wissen. Sagt immer nur stur: ,Nein, nein!‘ Aber Surita fordert: ,Ich hab die Warterei satt! Ich hol sie mir mit Gewalt!‘ Dann heult das Mädchen kräftig, aber das vergeht. Von Surita aber kann man alles erwarten.“ Christo hörte sich die Klagen an und sagte: „Hör mal, Bruder, ich konnte dir den Meerteufel noch nicht hierher mitbringen, weil er, ebenso wie Guttiere, meist den ganzen Tag über unsichtbar bleibt. Und er will mit mir partout nicht in die Stadt gehen. Er gehorcht mir einfach nicht mehr. Der Doktor wird mich schelten, weil ich schlecht auf Ichtiander aufgepaßt habe.“ Balthasar drängte: „Man muß Ichtiander schleunigst ergreifen oder entführen. Und du verläßt Salvator am besten, bevor er zurückkommt und…“ „Wart, Bruder, unterbrich mich nicht. Mit Ichtiander hat es keine Eile.“ „Warum nicht?“ Christo seufzte auf, als könne er sich nicht entschließen, seinen Plan preiszugeben. „Siehst du …“, begann er. Aber im selben Moment betrat jemand den Laden. Sie vernahmen Suritas krächzende Stimme. „Da hast du‘s.“ Balthasar knurrte und warf die Perlen zurück in ihr Bad. „Wenn man vom Teufel spricht, ist er nicht weit.“ Polternd stieß Surita die Tür auf. „Da sind ja gleich beide Brüderchen. Wollt ihr mich noch lange an der Nase herumführen?“ Drohend blickte er abwechselnd zu Balthasar und Christo. Christo erhob sich und lächelte freundlich. „Ich mache, alles, was ich kann. Geduld, Geduld. Der Meerteufel ist doch kein kleiner Fisch. Den kann man nicht so einfach aus der Tiefe holen. Einmal schaffte ich ihn her — aber damals wart ihr nicht da. Der Teufel ist enttäuscht von der Stadt, ich kann ihn nicht mehr überreden.“ „Er will also nicht! Mir langt‘s jetzt. Ich möchte in dieser Woche zwei Dinge zu Ende führen. Übrigens: Ist Salvator noch nicht zurück?“ „Er wird in den nächsten Tagen erwartet.“ „Also tut Eile not. Wir werden dem Doktor persönlich aufwarten. Ich habe zuverlässige Leute ausgesucht. Du brauchst uns nur die Türen zu öffnen, Christo, alles andere erledigen wir schon selber. Ich gebe Balthasar Bescheid, sobald unser Plan in allen Einzelheiten überlegt ist.“ Und zu Balthasar gewandt, fügte er hinzu: „Mit dir werde ich morgen reden. Aber denk daran, es wird unser letztes Gespräch sein.“ Die Brüder verneigten sich devot und schwiegen. Sobald Surita ihnen den Rücken zugedreht hatte, erlosch das liebenswürdige Lächeln auf ihren Gesichtern. Balthasar fluchte leise vor sich hin. Sie hörten, wie Surita im Laden leise mit Guttiere sprach. Wieder nur das entschlossene „Nein“ des Mädchens. Balthasar schüttelte niedergeschlagen den Kopf. „Christo!“ rief Surita aus dem Nebenraum. „Komm, ich brauch dich heute sehr dringend.“ Ichtiander fühlte sich schlecht. Die Halswunde schmerzte. Er hatte Fieber. Das Atmen an der Luft fiel ihm schwer. Doch er begab sich des Morgens zum Strandfelsen, um Guttiere zu treffen. Sie kam um die Mittagszeit. Die Hitze war unerträglich und wirbelte weißen Staub auf, der Ichtiander zu ersticken drohte. Er wollte am Seeufer bleiben, aber Guttiere trieb zur Eile. Sie müsse zurück in die Stadt. „Mein Vater muß fort, er hat geschäftlich zu tun. Ich soll den Laden hüten.“ „Dann begleite ich sie“, sagte der Jüngling, und sie strebten auf dem abfallenden staubigen Weg der Stadt zu. Da begegneten sie Olsen, der mit geneigtem Kopf so gedankenvoll einherging, daß er Guttiere nicht bemerkte. Doch das Mädchen rief ihn an. „Ich muß nur ein paar Worte mit ihm reden.“ Guttiere tröstete Ichtiander und trat auf Olsen zu. Sie sprachen schnell und leise miteinander. Das Mädchen schien ihn irgendwie überreden zu wollen. Ichtiander folgte ihnen in einiger Entfernung. Er hörte, wie Olsen sagte: „Gut, dann heute Mitternacht.“ Der Riese schüttelte die Hand des Mädchens und setzte eilig seinen Weg fort. Als Guttiere wieder bei Ichtiander war, glühten dessen Wangen und Ohren. Er wollte, daß ihm das Mädchen endlich Gewißheit über Olsen gab, aber ihm fehlten die Worte. „Ich — ich muß es erfahren“, begann er mit erstickter Stimme. „Olsen. Sie verheimlichen mir etwas. Warum treffen Sie ihn heute nacht? Lieben Sie ihn?“ Guttiere ergriff Ichtianders Hand und blickte ihn zärtlich an: „Vertrauen Sie mir?“ „Ich glaube Ihnen schon. Vielleicht spüren Sie, daß ich Sie liebe.“ Endlich fand Ichtiander das richtige Wort. „Aber ich. aber mir ist es so schwer ums Herz.“ Ichtiander litt unter diesem vermeintlichen Nebenbuhler und außerdem peinigte ihn ein schneidender Schmerz in der Hüfte. Er war am Ersticken. Eine erschreckende Blässe hatte sein Gesicht überzogen. „Sie sind ja krank“, sagte Guttiere besorgt. „Beruhigen Sie sich, ich bitte sie darum. Eigentlich wollte ich Ihnen die volle Wahrheit verbergen, aber jetzt kann ich nicht mehr umhin. Hören Sie bitte.“ Ein Reiter sprengte an ihnen vorüber, und als er Guttiere erblickte, riß er sein Pferd stracks herum. Er näherte sich den jungen Leuten. Ein dunkelhäutiger Mann mit einem kleinen Knebelbart. Irgendwo, irgendwann hatte Ichtiander diesen Mann schon gesehen. In der Stadt? Nein, es mußte am Strand gewesen sein. Der Reiter klopfte mit der Peitsche an seinen Stiefelschaft, blickte Ichtiander argwöhnisch an, streckte Guttiere die Hand hin und zog das Mädchen bis zum Sattel empor. Dann küßte er ihr die Hand und lachte schallend. „Nun bist du gefangen, mein Vögelchen. Wo gibt‘s denn das, daß die Bräute am Vortag ihrer Hochzeit mit fremden jungen Männern herumspazieren?“ Guttiere wollte erzürnt protestieren, aber der Reiter ließ sie nicht zu Wort kommen: „Der Vater erwartet Sie schon lange. Dalli, dalli, beeilen Sie sich. In einer Stunde bin ich im Laden.“ Die letzten Worte hörte Ichtiander nicht mehr. Ihm wurde es dunkel vor Augen, die Kehle schien ihm wie zugeschnürt, die Atmung setzte aus. Er konnte nicht mehr länger an der Luft ausharren. „So haben Sie mich. also betrogen.“ stammelte er mit blauen Lippen. Er wollte sprechen, wollte Guttiere mitteilen, wie betrübt er war, aber die Schmerzen wurden unerträglich, er fürchtete, die Besinnung zu verlieren. Mit letzter Kraftanstrengung schleppte er sich zum Ufer und sprang von einem steilen Felsen ins Meer. Guttiere schrie auf und taumelte. Sie zerrte Pedro Surita, der teilnahmslos sein Pferd hielt, an den Schultern. „Schnell, retten Sie ihn doch!“ Doch Surita rührte sich nicht von der Stelle. „Ich mische mich nicht ein, wenn sich jemand umbringen will“, meinte er. Guttiere lief zum Ufer, um sich ins Wasser zu stürzen. Surita gab seinem Pferd die Sporen, holte das Mädchen ein, hob es vor sich aufs Pferd und ritt weiter. „Ich pflege mich nicht um Menschen zu kümmern, die mich nichts angehen. Kommen Sie doch endlich zu sich, Guttiere!“ Das Mädchen antwortete nicht. Sie war in Ohnmacht gefallen. Erst in der Nähe des Ladens kam sie wieder zu sich. „Wer war dieser junge Mann?“ fragte der Reiter. Guttiere blickte Surita mit unverhohlenem Zorn an und forderte: „Lassen Sie mich los!“ Lauter Dummheiten, dachte Surita. Der Held ihres Romans hat sich im Meer ertränkt. Um so besser. Er rief in den Laden: „Vater! Balthasar!“ Der Indio stürzte heraus. „Nimm deine Tochter und bedank dich bei mir — ich hab sie gerettet. Fast hätte sie sich wegen eines Schönlings ins Meer gestürzt. Das ist nun schon das zweite Mal, daß ich deine Tochter vor dem Tod bewahrte. Doch sie meidet mich immer noch. Dieser Starrsinn muß jetzt aber bald ein Ende haben.“ Surita lachte laut auf. „Ich komme in einer Stunde wieder. Vergiß unsere Verabredung nicht!“ Balthasar verbeugte sich demütig und führte seine Tochter in den Laden. Kraftlos ließ sich Guttiere nieder und schlug die Hände vors Gesicht. Der Vater lehnte die Tür an, lief aufgeregt hin und her und begann, eindringlich zu reden. Es hörte ihm jedoch niemand zu. Mit dem gleichen Erfolg hätte er den getrockneten Krabben und Fischen, die auf den Regalen herumlagen, predigen können. Er stürzte sich ins Wasser, dachte das Mädchen und sah Ichtianders Gesicht vor sich. Zuerst Olsen und dann dieses Ekel, Surita. Wie konnte er sich erdreisten, mich seine Braut zu nennen. Guttiere weinte still vor sich hin. Balthasar indessen redete und redete: „Verstehst du Guttiere? Das ist unser Ruin. Alles, was du in diesem Laden siehst, gehört Surita. Wenn du ihn noch einmal abweist, nimmt er mir die Waren fort und macht keine Geschäfte mehr mit mir. Dann bin ich völlig pleite. Sei klug. Hab Mitleid mit deinem alten Vater.“ „Und wenn du mich auf Knien anflehst, Vater, ich heirate Surita nicht.“ Guttiere wehrte sich heftig. „Verflucht!“ Balthasar schrie wütend. „Wenn du nicht im Guten willst. dann. Surita wird andere Geschütze auffahren!“ Der alte Indianer lief in sein Labor und knallte die Tür hinter sich zu. Der Kampf mit dem Kraken Nachdem sich Ichtiander ins Meer gestürzt hatte, vergaß er vorübergehend alle seine irdischen Leiden. Die Kühle des Wassers erfrischte und beruhigte ihn, die stechenden Schmerzen ließen nach. Er atmete tief und gleichmäßig und bemühte sich, über das Erlebte nicht nachzudenken. Um sich abzulenken, beschloß der Amphibienmensch, die Höhlen aufzuräumen, die in den steilen Felsen der Bucht lagen und mit ihren großen Bogen einen phantastischen Blick freigab auf den mit leichter Neigung bis zur Tiefsee abfallenden Grund. Er hatte an diesem Ort schon lange Gefallen gefunden. Doch bevor er sich dort einrichten konnte, mußte er die bisherigen Bewohner, eine große Krakenfamilie, exmittieren. Ichtiander setzte die Brille auf, bewaffnete sich mit einem langen, scharfen Messer und schwamm mutig zur Höhle. Sie zu betreten, schien ihm aber doch zu gefährlich, und so beschloß er, seinen Gegner herauszulocken. Dabei half ihm eine Harpune, die er im Wrack eines Fischerbootes entdeckt hatte. Er baute sich vor der Höhle auf und begann, mit dem Instrument in ihr herumzustochern. Die aufgestörten Kraken regten sich alsbald. Im Bogenrand der Höhle schlängelten und tasteten Fühler. Vorsichtig näherten sie sich der Waffe. Ichtiander zog die Harpune zurück, ehe die Saugnäpfe der Tintenfische sie erreichten. Dieses Spiel setzte er einige Minuten fort. Schließlich erschien ein riesiger alter Tintenfisch, der den frechen Eindringling strafen wollte. Mit drohend bewegten Fühlern kroch der Krake aus einer Spalte. Er schwamm langsam an den Feind heran und wechselte dabei seine Farbe, um den Gegner zu erschrecken. Ichtiander trat etwas beiseite und warf die Harpune fort, bereitete sich auf den Zweikampf vor. Er wußte, wie schwer es für einen Menschen mit nur zwei Armen war, den Kampf mit einem achtarmigen Ungeheuer aufzunehmen. Kaum hatte man dem Kraken einen Arm abgehauen, so faßte er schon mit den restlichen sieben nach den Händen des Gegners und fesselte ihn. Darum wollte der Jüngling dem Ungeheuer das Messer tief in den Leib stoßen. Er ließ es so nahe an sich herankommen, bis die Tastarme ihn fast erreichten. Dann warf er sich überraschend nach vorn, direkt zwischen das Fühlarmeknäuel, bis dicht an den Kopf des Kraken. Dieser ungewöhnliche Angriff traf das Tier unerwartet. Und es dauerte mindestens vier Sekunden, bis es seine Fühler ordnen, seinen Feind umschlingen konnte. Bereits in dieser Zeitspanne hatte Ichtiander mit sicherem raschen Stoß den Bauch des Kraken aufgeschlitzt, das Herz getroffen und die Bewegungsnerven durchtrennt. Die riesigen Tastarme, die seinen Körper schon zu umschlingen versuchten, erlahmten und fielen leblos herab. Einer ist erledigt! Aber weitere Gefahren lauerten. Ichtiander griff wieder zur Harpune. Diesmal kamen ihm gleich zwei Tintenfische entgegen. Der eine schwamm direkt auf ihn zu, der andere umkreiste den Amphibienmenschen, um ihn von rücklings anzugreifen. Das konnte gefährlich werden. Ichtiander warf sich tapfer dem ersten Kraken entgegen, doch bevor er ihn erlegen konnte, hatte der zweite seinen Hals von hinten umschlungen. Blitz schnell durchtrennte der Kämpfende den oberen Tastarm, drehte sich dann um und machte sich an die restlichen Tentakel. Der verstümmelte Krake sank langsam schwankend auf den Grund. Ichtiander stritt schon mit dem Ungeheuer, das noch vor ihm war. Doch er mußte dieses Duell unterbrechen. Aus der Höhle kam jetzt eine ganze Karawane von Kraken herbei. Und das Blut trübte das Meer. In dieser finsteren Brühe konnten die Kraken leicht einen Vorteil herausschlagen, ihre umschlingenden Arme für Ichtiander unsichtbar werden lassen. Deshalb schwamm er so weit vom Kampfplatz weg, bis er klares Wasser erreichte. Hier erlangte er seine Sicherheit wieder, stürzte sich den Ungeheuern entgegen, die ihm aus der Blutwolke folgten. Die Schlacht dauerte mehrere Stunden. Als die letzten Kraken besiegt waren und sich das Wasser wieder lichtete, erblickte Ichtiander auf dem Meeresgrund die noch immer zuckenden Tastarme. Dann ging er in die Höhle, wo er noch einige kleine, nur faustgroße Tiere fand. Der Amphibienmensch wollte auch sie noch töten, besann sich jedoch eines anderen: Wenn er sie zähmen würde, könnten sie ihm treue Wächterdienste leisten. Nachdem die Höhle von den Kraken befreit war, beschloß Ichtiander, seine Unterwasserwohnung zu möblieren. Aus seinem Haus schleppte er einen Marmortisch mit eisernen Beinen und zwei chinesische Vasen herbei. Den Tisch stellte er in die Mitte der Höhle und darauf die beiden Vasen, die er mit Erde füllte und bepflanzte. An der Höhlenwand befand sich ein Vorsprung, der wie eine Steinbank geformt war. Der neue Besitzer der Höhle streckte sich behaglich darauf aus, unter Wasser spürte er die Härte seiner Liegestatt kaum. Es war ein sonderbares Unterwasserzimmer. Viele neugierige Fische schwammen herbei und bestaunten es. Sie schnellten zwischen den Tischbeinen herum und rochen an den Blumen. Auf dem weißen Sand kroch eine große Krabbe heran und ließ sich unter dem Tisch nieder. Ichtiander überlegte, wie er seine Wohnung weiter ausstaffieren könnte: Den Eingang bepflanze ich mit den schönsten Wasserpflanzen, den Boden bestreue ich mit Perlen und die Wand ziere ich mit Muscheln. Daran würde sich auch Guttiere erfreuen können. Aber sie betrügt mich, erzählt mir nichts von Olsen. Ichtiander stimmte die Erinnerung an das Mädchen traurig. Der Amphibienmensch war einsam und litt darunter, anders zu sein, als die anderen Menschen. Warum konnte nur er unter Wasser leben? Wenn nur der Vater bald nach Hause käme! Ihn würde er fragen. Ichtiander wollte seine Unterwasserbehausung einem lebenden Wesen zeigen und erinnerte sich an Leading den Delphin. Er nahm sein Muschelhorn, tauchte zur Oberfläche empor und blies das Signal. Bald darauf ertönte das bekannte Grunzen — der Delphin hielt sich immer in der Nähe der Bucht auf. Ichtiander umarmte seinen Freund zärtlich und sagte: „Komm mit mir, ich zeige dir mein neues Zimmer.“ Der Delphin aber erwies sich als ein unruhiger Gast. Er brachte eine so starke Wallung in die Höhle, daß alles wackelte. Dann stieß er zu allem Übel auch noch mit seiner Schnauze an ein Tischbein und kippte das Möbelstück um. Die Vasen fielen herab, zerschellten in dieser Umgebung aber nicht. „Was bist du ungeschickt“, schalt Ichtiander seinen Freund, rückte den Tisch in etliche Entfernung, und hob die Vasen auf. Dann bat er: „Bleib bei mir, Leading.“ Aber der Delphin schüttelte den Kopf und wurde unruhig. Er konnte nicht lange unter Wasser sein. Er brauchte unbedingt wieder Luft. Mit einigen Flossenschlägen war er in Richtung Oberfläche entschwunden. Ichtiander legte sich auf sein Steinbett. In der Höhle war es dunkel geworden. Das leichte Schaukeln des Wassers wiegte ihn ein. Der neue Freund Olsen saß in einer Barkasse und blickte über Bord ins Wasser. Die Sonne kroch gerade über den Horizont und drang mit ihren schrägen Strahlen bis auf den Grund der kleinen Bucht. Auf deren weißem Boden bewegten sich einige Indianer. Von Zeit zu Zeit tauchten sie kurz an die Oberfläche, um Luft zu schöpfen. Olsen beobachtete die Perlenfischer aufmerksam. Er verspürte Lust, auch einmal zu tauchen. Sein erster Versuch erwies sich als erfolgreich. Er konnte sogar länger als die geübten Perlenfischer unter Wasser bleiben. So schloß er sich diesen Männern an und übte sich in der neuen Tätigkeit, die seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Als er zum dritten Mal tauchte, bemerkte er, daß zwei Indianer, die auf dem Grund knieten, blitzschnell aufsprangen und wie Pfeile nach oben schossen, als würden sie von einem Hai verfolgt. Olsen blickte sich erschreckt um. Ein komisches Wesen kam auf ihn zugeschwommen, halb Mensch, halb Frosch, mit Silberschuppen, krakligen Füßen und hervortretenden großen Augen. Ehe er sich erheben konnte, faßte das Ungeheuer mit seinen Froschtatzen nach Olsens Händen, der sich dennoch vom Meeresgrund abstoßen und zur Oberfläche tauchen konnte. Das seltsame Wesen folgte in dieser Umklammerung. Als Olsen die Oberfläche erreicht hatte, schwang er sich flugs in die Barkasse und stieß den eigenartigen Menschen so stark von sich, daß dieser mit lautem Aufklatschen ins Wasser zurückfiel. Die Indianer, die im Boot saßen, stürzten Hals über Kopf ins Wasser und schwammen ans Ufer. Der abgewehrte Ichtiander näherte sich wieder der Barkasse und wandte sich an Olsen: „Hören Sie, ich muß mit Ihnen über Guttiere sprechen.“ Die Anrede ließ Olsen erstarren. Doch er war kein Feigling und besaß starke Nerven. Wenn dieses unbekannte Geschöpf seinen und Guttieres Namen kannte, so mußte es zu menschlichen Regungen fähig sein. „Ich bin bereit“, antwortete Olsen abwartend. Ichtiander kletterte in die Barkasse, ließ sich am Bug nieder, zog seine Füße unter sich und verschränkte die Arme über der Brust. Olsen starrte unbewegt auf des Amphibienmenschen Brille. „Ich heiße Ichtiander. Und habe neulich die Perlenschnur für Sie vom Meeresgrund geholt.“ Olsen staunte: „Aber damals hatten Sie Menschenaugen und — hände.“ Ichtiander schüttelte lächelnd seine Froschpfoten. „Man kann sie ablegen“, sagte er. Die Indianer, die sich hinter den Uferfelsen verborgen hatten, beobachteten diese seltsame Unterhaltung, obwohl sie keinen einzigen Laut vernehmen konnten, mit etlicher Neugierde. „Sie lieben Guttiere?“ fragte Ichtiander nach einer kleinen Pause. „Ja, ich liebe sie über alles.“ Ichtiander seufzte schwer. „Und Guttiere liebt Sie auch?“ „Sie fühlt sich mir verbunden.“ „Aber sie liebt doch mich, ich spüre es deutlich“, protestierte der Amphibienmensch. „Das ist allein Guttieres Sache.“ Olsen zuckte mit den Schultern. „Ist sie Ihre Braut?“ Olsen zeigte sich verunsichert und antwortete mit der früheren Ruhe: „Nein, das ist sie nicht.“ „Sie lügen!“ Ichtiander entrüstete sich. „Ich habe es doch selbst gehört, wie es der dunkelhäutige Mann auf dem Pferd sagte.“ „Das muß ein Irrtum sein“, beharrte Olsen. Ichtiander überlegte. Nein, der Dunkelhäutige hatte nicht gesagt, wessen Braut Guttiere sei. Aber diesem reitenden alten Manne konnte man die Rolle doch schwerlich zusprechen, ihn allenfalls als Verwandten anerkennen. Ichtiander, der dem Mädchen sowohl mit dem Dunkelhäutigen als auch mit Olsen begegnet war, konnte nur auf letzteren als Bräutigam tippen. Er beschloß, vom Thema abzulenken und der Wahrheit auf diese Weise näherzukommen. „Was taten Sie hier? Suchten Sie Perlen?“ „Ich muß gestehen, daß mir Ihre Fragen überhaupt nicht gefallen.“ Olsen runzelte die Stirn. „Wenn ich nicht schon von Guttiere einiges über Sie gehört hätte, würde ich Sie einfach über Bord werfen. Greifen Sie nicht nach Ihrem Messer. Ich kann Ihnen den Kopf spalten, ehe Sie sich erheben. Doch sehe ich keine Notwendigkeit, Ihnen zu verheimlichen, daß ich hier wirklich Perlen fischte.“ „Hat Ihnen Guttiere von der großen Perle erzählt, die ich ins Meer warf?“ erkundigte sich der Amphibienmensch. Olsen nickte. „Ich habe Guttiere versichert, daß Sie diese Perle annehmen würden. Ich bat das Mädchen damals, Ihnen dieses Prunkstück zu geben. Sie weigerte sich, und jetzt fischen Sie selbst danach.“ „Ja, denn jetzt gehört sie nicht Ihnen, sondern dem Ozean. Und wenn ich sie finde, so bin ich niemanden rechenschaftspflichtig.“ „Lieben Sie Perlen so sehr?“ wollte der Amphibienmensch wissen. „Ich bin doch keine Frau. Aber für Perlen kann man viel Geld bekommen.“ „Sie wollen also Reichtum, um Guttiere heiraten zu können?“ „Nein, diese Absicht habe ich nicht. Das Mädchen ist bereits einem anderen versprochen.“ Ichtiander erbleichte. „Ist es denn möglich, daß sie die Frau des Dunkelhäutigen wird?“ fragte er erschrocken. „Ja, sie heiratet Pedro Surita.“ „Doch mir schien, daß sie mich liebte“, sagte Ichtiander leise. Olsen blickte ihn mitleidsvoll an und bestätigte: „Ich hatte auch den Eindruck, daß Guttiere Sie liebte. Doch leider stürzten Sie sich vor Guttieres Augen ins Meer und ertranken — so wenigstens mußte sie es glauben.“ Der Jüngling erschauderte. Er hatte nie zu Guttiere darüber gesprochen, daß er unter Wasser leben konnte. Da blieb dem Mädchen schließlich gar nichts anderes übrig, als an einen Selbstmord zu glauben. „In der letzten Nacht sah ich Guttiere“, fuhr Olsen fort. „Ihr Tod hat sie sehr betrübt. Ich allein bin an allem schuld, behauptete sie immer wieder.“ „Es schien mir schon längst, daß Guttiere dem Mädchen ähnelt, das ich aus dem Ozean rettete“, erinnerte sich der Amphibienmensch. „Ich trug sie ans Ufer und versteckte mich in den Steinen. Dann kam dieser Dunkelhäutige und behauptete, daß er sie gerettet habe.“ „Guttiere hat mir das erzählt“, sagte Olsen. „So hat sie eben nie erfahren, wer ihr eigentlicher Retter war. Warum haben Sie es ihr verheimlicht?“ „Es ist nicht angenehm, sich selbst als Retter aufzuspielen“, meinte Ichtiander. „Aber erzählen Sie mir doch bitte mehr über das Mädchen und wie es zu dieser Heirat kommen konnte.“ „Ich bearbeite Muscheln in der Knopffabrik. Dort bin ich mit Guttiere bekannt geworden. Wir freundeten uns an. Manchmal trafen wir uns im Hafen oder gingen am Strand spazieren. Und sie berichtete mir, daß ein reicher Spanier um sie wirbt.“ „Etwa dieser Surita?“ „Ja, Guttieres Vater, der Indianer Balthasar, wünschte diese Verbindung sehr und redete ständig auf seine Tochter ein, einem so beneidenswerten Bräutigam keinen Korb zu geben.“ „Wieso denn beneidenswert? Er ist alt, abscheulich und riecht schlecht“, konnte sich Ichtiander nicht enthalten. „Für Balthasar ist Surita eine ausgezeichnete Partie. Der Indianer schuldet ihm eine große Menge Geldes. Surita könnte ihn ruinieren, wenn Guttiere in die Heirat nicht eingewilligt hätte. Stellen Sie sich das Leben dieses armen Mädchens vor: Das lästige Drängen des Bräutigams, andererseits die ewigen Vorwürfe und Drohungen des Vaters.“ „Warum haben Sie, Olsen, der Sie so groß und kräftig sind, diesen Surita nicht verprügelt?“ fragte der Amphibienmensch vorwurfsvoll. Olsen lächelte nur darüber. War Ichtiander wirklich so dumm, daß er solche Fragen stellte? „Es ist nicht so einfach, wie es Ihnen scheint. Surita und Balthasar haben eine starke Stütze: die Polizei und das Gesetz.“ „Warum ist Guttiere dann aber nicht weggelaufen?“ „Fliehen wäre leichter gewesen. Sie hatte sich schon dazu entschlossen, und ich hatte ihr meine Hilfe angeboten, zumal ich plante, Buenos Aires zu verlassen und nach Nordamerika zu gehen. Das Mädchen sollte mich begleiten.“ „Auch Sie wollten Guttiere heiraten?“ fragte Ichtiander. „Was sind Sie doch für ein eigenartiger Mensch“, erwiderte Olsen. „Ich habe Ihnen bereits gestanden, daß Guttiere und ich gute Freunde waren. Was danach gekommen wäre, weiß ich nicht.“ „Warum haben Sie sich denn nicht aus dem Staub gemacht?“ „Weil wir kein Geld für die Reise hatten.“ „Ist denn eine Fahrt auf der ,Horrox‘ wirklich so teuer?“ „Auf der ,Horrox‘! Die ist bestenfalls etwas für Millionäre. Kommen Sie vom Mond?“ Ichtiander zeigte sich verwirrt und beschloß, keine weiteren Fragen zu stellen, die Olsen verraten könnten, daß er die einfachsten Dinge der Welt nicht begreife. „Wir hatten nicht einmal soviel Zaster, daß uns ein Frachtschiff mitgenommen hätte. Außerdem liegt in Nordamerika die Arbeit nicht gerade auf der Straße herum. Guttiere hatte sich schon entschlossen, ihre Perlenschnur zu verkaufen.“ Wenn ich das gewußt hätte, dachte Ichtiander, sich an seine Unterwasserschätze erinnernd. „Alles war schon zur Flucht vorbereitet.“ Olsen erzählte weiter. Ichtiander war sehr traurig. „Also wollte das Mädchen auch mich verlassen?“ „Seien Sie beruhigt, das alles begann, als Sie Guttiere noch nicht kannten. Soviel ich weiß, hatte das Mädchen die Absicht, Sie darüber zu verständigen. Vielleicht hätte sie Ihnen sogar vorgeschlagen, mit uns zu kommen.“ „Erzählen Sie weiter“, drängte Ichtiander. „Alles war vorbereitet. Da stürzten Sie sich plötzlich vor Guttieres Augen ins Meer. Surita traf Sie zufällig zusammen mit dem Mädchen. Am anderen Morgen besuchte ich Guttiere. Ich tat das öfters. Es schien, als hätte Balthasar nichts dagegen. Vielleicht fürchtete er sich vor meinen Fäusten. Vielleicht auch sah er in mir einen zweiten Bräutigam, falls Surita sein Werben aufgegeben hätte. Mit einem Wort: Balthasar legte uns keine Steine in den Weg. Er bat nur, daß wir uns vor Suritas Augen hüten sollten. Natürlich hatte der alte Indianer keinerlei Ahnung von unserem Plan. An diesem Morgen wollte ich Guttiere mitteilen, daß ich die Fahrkarten für das Schiff gekauft hatte, daß sie abends um zehn bereit sein sollte. Balthasar kam mir entgegen. Er war erregt, sagte, daß Guttiere nicht zu Hause sei. Vor einer halben Stunde sei Surita mit einem nagelneuen Flitzer vorgefahren. Er habe Guttiere angeboten, sich bis zum Markt und zurück bringen zu lassen. Er kannte Guttieres Gewohnheit, um diese Zeit einkaufen zu gehen. Sie können sich vorstellen, daß Suritas funkelndes Maschinchen das Mädchen in eine große Versuchung brachte. Doch Guttiere traute Surita nicht ganz, sie bedankte sich höflich. ,Ich sehe, Sie sind schüchtern. Erlauben Sie, daß ich Ihnen helfe.‘ Er packte sie gewaltsam und setzte sie ins Auto. Guttiere konnte nur noch,Vater!‘ rufen, und fort waren sie. Balthasar war über die Entführung nicht einmal beunruhigt. Wenn dieser Geizhals sich ein Auto leisten konnte, so bedeutete es, daß Guttiere bei ihm nach der Heirat Geld im Überfluß haben würde. Bei so einem reichen Mann bestünde doch kein Grund zum Weinen. Surita besäße die Hazienda ,Dolores‘, unweit der Stadt Parana. Dorthin, wo auch seine Mutter wohne, sei er mit Guttiere wahrscheinlich gereist.“ „Und Sie haben Balthasar nicht verprügelt?“ fragte Ichtiander. „Wenn ich Sie so höre, dann könnte man meinen, Sie sähen mich einzig als Raufbold. Ich gestehe Ihnen, daß ich diesen Wunsch zwar hegte, dann jedoch die Schädlichkeit des Unterfangens einsah. Man muß Ruhe bewahren. Es gelang mir inzwischen, mich mit Guttiere zu treffen.“ „In der Hazienda ,Dolores‘?“ fragte Ichtiander ungeduldig. „Ja.“ „Und Sie sind nicht auf diesen Schuft Surita drauflosgegangen, haben Guttiere nicht befreit?“ „Wieder sind Sie mit dem Schlagen rasch bei der Hand.“ „Ich liebe Tätlichkeiten nicht unbedingt“, rief Ichtiander. „Doch das empört mich allzu sehr.“ Ichtiander tat Olsen leid. „Sie haben schon recht: Surita und Balthasar sind unwürdige Leute. Es gäbe Grund genug, beide tüchtig zu verprügeln. Manche Fälle aber sind komplizierter, als sie sich auf den ersten Blick darstellen. Guttiere hat sich in meiner Gegenwart geweigert, Surita zu verlassen.“ „Wieso?“ fragte der Amphibienmensch ungläubig. „Erstens ist sie überzeugt, daß Sie sich ihretwegen umgebracht haben. Das bedrückt sie. ,Mein Leben hat jetzt keinen Sinn mehr, Olsen‘, sagte sie. ,Als uns der Priester traute, war ich wie bewußtlos. Ich werde zwar unglücklich mit Surita sein, doch ich fürchte mich vor Gottes Zorn und bleibe deshalb bei ihm.™ „Aber das sind ja alles Dummheiten“, entrüstete sich Ichtiander. „Was für ein Gott? Mein Vater sagt immer, daß Gott ein Märchen für kleine Kinder sei.“ „Leider glaubt Guttiere an dieses Märchen. Sie drohte sogar, unsere Freundschaft zu lösen, wenn ich weiter versuchen sollte, sie von diesen Dingen abzubringen. Ich konnte mit ihr auf der Hazienda ohnehin nur einige Worte wechseln. Sie erzählte mir nur noch, daß Surita, nachdem sie getraut waren, tölpisch gelacht hatte: ,So, das hätten wir erledigt. Das Vögelchen ist eingefangen, jetzt muß ich noch das Fischlein fangen!‘ Mit dem Fisch ist der Meerteufel gemeint. Surita will nach Buenos Aires fahren, um ihn zu überlisten und fangen. Dann würde Guttiere eine Millionärin werden. Übrigens: Sind etwa Sie das gesuchte Wesen? Sie können doch wie ein Fisch unter Wasser sein.“ Vorsicht hielt Ichtiander zurück, Olsen sein Geheimnis preiszugeben. Ohne auf diese Frage einzugehen, fügte er eine eigene hinzu: „Wozu benötigt Surita den Meerteufel?“ „Pedro will ihn zwingen, Perlen zu fischen. Und sollten Sie dieses Wesen sein, so hüten Sie sich vor ihm!“ „Ich danke Ihnen für die Warnung“, sagte der Jüngling. Und er erkundigte sich nach der Stadt Parana, erfuhr, daß der Weg dorthin den gleichnamigen Fluß stromauf führe. Olsen erklärte ihm die Lage der Hazienda „Dolores“. Fest drückte Ichtiander die Hand seines neuen Partners: „Bitte verzeihen Sie mir. Es war töricht, Sie für einen Feind zu halten. Leben Sie wohl. Ich will aufbrechen. Ich muß Guttiere finden.“ Ichtiander sprang ins Wasser und schwamm zum Ufer. Mit bedenklichem Kopfschütteln schaute ihm Olsen nach. Unterwegs Ichtiander hatte sich schnell zur Abreise entschlossen. Er holte seinen am Ufer verstecken Anzug nebst Schuhen. Mit einem Riemen, an dem auch sein Messer hing, schnallte er sich die Kleidungsstücke auf den Rücken. Dann legte er Brille und Schwimmflossen an und machte sich auf den Weg. In der Bucht des Rio de la Plata lagen viele Ozeandampfer, Schoner und Barkassen vor Anker. Zwischen ihnen manövrierten eilig kleine Dampfboote, die den Küstenhandel besorgten. Von unten betrachtet, ähnelten sie Wasserkäfern, die nach allen Richtungen herumflitzten. Vom Grund ragten Ankerketten und Trossen wie die dünnen Stämme eines Waldes empor. Der Boden der Bucht war mit den verschiedensten Abfällen besät: Eisenteilen, Hanf, verschütteter Steinkohle und über Bord geworfener Schlacke, zerrissenen Schläuchen, Segeltuchfetzen, Blechkannen, Ziegeln, Flaschenscherben, Konservenbüchsen und Kadavern. Eine dünne Ölschicht befleckte die Oberfläche. Obzwar die Sonne noch nicht untergegangen war, herrschte hier eine grünlich-graue Dämmerung. Der Fluß Parana führte Sand und Schlamm mit, die das Wasser der Bucht trübten. Ichtiander hätte sich in diesem Labyrinth leicht verirren können, aber die leichte Strömung des in die Bucht mündenden Flusses diente ihm als Kompaß. Merkwürdig, wie unsauber die Menschen sind, dachte er und betrachtete mit Ekel den riesigen Schuttabladeplatz. Er schwamm in der Mitte der Bucht, unter dem Kiel der Schiffe. In diesem verschmutzten Wasser konnte der Jüngling nur schwer atmen, wie ein Mensch, der in ein dumpfes Zimmer gepfercht ist. An einigen Stellen des Grundes stieß er auf Menschenleichen und Tierskelette. Ichtiander strebte danach, von diesem vermoderten Ort so schnell wie möglich wegzukommen. Die Gegenströmung wurde stärker. Das Schwimmen strengte ihn an. Ein eiserner Gegenstand flog ganz nahe am Amphibienmenschen vorbei und hätte ihn fast mitgerissen. Das Schiff über ihm hatte Anker geworfen. Ichtiander ließ sich noch tiefer sinken, und als der Schiffsboden über ihn hinwegglitt, klammerte er sich an den Kiel. Polypen bedeckten das Eisen mit einer rauhen Schicht, so daß er sich gut festklammern konnte und in dieser Deckung mit Meilengeschwindigkeit fortgezogen wurde. Das Schiff befuhr schon den Parana. Wegen des starken Verkehrs wagte es Ichtiander nicht, an der Oberfläche zu schwimmen. Seine Hände erstarrten immer mehr, dazu verspürte er einen großen Hunger. Er mußte eine Ruhepause einlegen, stieß sich vom Kiel des Schiffes ab und tauchte auf den Grund hinab. In diesem Schlamm fand er weder Flundern noch Austern. Süßwasserfische schnellten umher, aber er kannte ihre Gewohnheiten nicht. Es war schwer, sie zu fangen. Erst in der Nacht, als die Fische zur Ruhe kamen, gelang es dem Amphibienmenschen, einen großen Hecht zu erbeuten. Sein Fleisch war zäh und schmeckte muffig, aber der hungrige Jüngling verschlang ganze Stücke mitsamt den Gräten. Ichtiander wollte ausruhen. Haifische oder Kraken hatte er ja nicht zu befürchten. Er mußte jedoch darauf achten, während des Schlafs nicht von der Strömung abgetrieben zu werden. Auf dem Grund fand er einige Steine, die er zu einem Lager zusammentrug. Er legte sich nieder und klammerte sich fest, konnte jedoch nicht lange ruhen, da ihn Signallampen aufschreckten. Das Schiff kam stromauf. Der Jüngling hängte sich an. Es war jedoch ein Motorboot mit glitschigem Boden, das keinen Halt bot. Ichtiander wäre fast in die Schraube geraten. Er mußte lange Ausschau halten, ehe es ihm gelang, sich am Boden eines stromauf fahrenden Schiffes festzuklammern. Als blinder Passagier erreichte er die Stadt Parana. Der erste Teil der Reise war geschafft, jetzt blieb noch die weitaus schwierigere Landstrecke. Morgens verließ Ichtiander den Hafen und schwamm an einen menschenleeren Ort. Sich vorsichtig umblikkend, stieg er ans Ufer. Er legte Brille und Schwimmflossen ab, verbarg sie im Ufersand und trocknete dann in der Sonne seinen Anzug, der ziemlich zerknautscht war. Als er ihn anlegte, sah er einem Vagabunden ähnlich. Doch das juckte ihn wenig. Er spazierte das rechte Ufer entlang, so wie Olsen es ihm erklärt hatte. Fischer, denen er begegnete, fragte er nach dem Weg zur Hazienda „Dolores“. Sie sahen ihn jedoch mißtrauisch an und verneinten kopfschüttelnd. So verging Stunde um Stunde. Die Hitze wurde immer unerträglicher. In unbekannter Festlandsgegend fiel es Ichtiander schwer, sich zu orientieren. Ihm wurde schwindlig, er vermochte keinen klaren Gedanken zu fassen. Um sich zu erfrischen, zog sich der Amphibienmensch einige Male aus und sprang ins Wasser. Am späten Nachmittag traf er endlich einen alten Bauern. Nachdem dieser Ichtiander angehört hatte, nickte er und sagte: „Geh immer diesem Feldweg nach. Du kommst dann an einen großen Teich, gehst über die Brücke und steigst etwas bergauf. Dort findest du die schnurrbärtige Donna Dolores.“ „Warum schnurrbärtige ,Dolores‘? Das ist doch eine Hazienda?“ „Ja, das ist es auch. Aber die Besitzerin heißt Dolores. Sie ist Pedro Suritas Mutter. Eine dicke schnurrbärtige Alte. Behüt dich Gott, falls es dir einfallen sollte, bei denen Arbeit zu suchen. Die frißt dich mit Haut und Haar. Eine richtige Hexe. Man sagt, Surita habe sich eine junge Frau geholt. Ich kann sie nur bedauern. Sie wird bei dieser Dolores kein leichtes Leben haben.“ Der Alte erzählte gesprächig. Guttiere, Guttiere, dachte Ichtiander. Er wollte sich aber nicht verraten und erkundigte sich nach dem Weg: „Ist es weit bis dort?“ „Gegen Abend wirst du die Hazienda erreicht haben.“ Nachdem sich der Amphibienmansch bei dem Alten bedankt hatte, schritt er rasch an Weizen- und Maisfeldern vorbei. Die Schneise dehnte sich wie ein unendliches Band, führte schließlich durch Wiesen, auf denen Schafherden grasten. Ichtiander verspürte schneidende Schmerzen. Auch quälte ihn der Durst. Weit und breit war kein Tropfen Wasser auszumachen. Die Wangen und Augen des Amphibienmenschen waren eingefallen, er atmete schwer. Und der Magen regte sich. Doch was hätte er in dieser Gegend schon essen können? Die Schafherde bewachten Hirten und Hunde. Die reifen Pfirsiche und Apfelsinen, die über eine Steinmauer ragten, waren ihm fremd. Hier ist alles anders als im Meer, hier ist alles aufgeteilt, alles eingezäunt, alles bewacht. Nur die Vögel, die zwitschernd herumschwirren, scheinen niemandem zu gehören. Doch wie sollte man sie fangen? Ein dicker Mann, der seine Arme auf dem Rücken verschränkte und einen weißen Anzug mit blitzenden Knöpfen trug, an dessen Seite eine Revolvertasche baumelte, kam Ichtiander entgegen. „Sagen Sie bitte, ist es noch weit bis zur Hazienda ,Dolores‘?“ Der Dicke blickte mißtrauisch. „Was willst du dort? Woher kommst du?“ „Aus Buenos Aires.“ Der Mann spitzte seine Ohren. „Ich muß auf der Hazienda dringend jemand sprechen“, fügte Ichtiander hinzu. „Zeig mir doch bitte mal deine Hände“, verlangte der Dicke. Ichtiander wunderte sich zwar, schöpfte jedoch keinen Verdacht. Der Mann hangelte in Windeseile Handschellen aus der Tasche und legte sie um Ichtianders Gelenk. „So, nun habe ich dich“, brummte der Dicke und trieb Ichtiander an. „Vorwärts! Marsch! Ich bringe dich zur ,Dolores‘.“ Der Amphibienmensch trottete mit gesenktem Kopf. Er begriff nicht, was ihm geschah. Er konnte keine Ahnung davon haben, daß in der vergangenen Nacht auf der Nachbarfarm ein Raubmord verübt worden war und daß die Polizei nach den Verbrechern fahndete. Sein zerknitterter Anzug und die ausweichende Antwort über den Grund seines Besuchs verdächtigten ihn. Der Polizist führte Ichtiander in die nächstgelegene Siedlung, um ihn von dort nach Parana ins Gefängnis zu befördern. Ichtiander begriff nur eins: Man hatte ihn seiner Freiheit beraubt. Und diese mußte er bei der ersten besten Gelegenheit wiedererlangen. Der Polizist, zufrieden mit seinem Fang, zündete sich eine Zigarre an. Er ging dicht hinter seinem Opfer und paffte Rauchwolken. Ichtiander war nahe am Ersticken. „Könnten Sie mich freundlicherweise mit Ihrem Nikotin verschonen, ich kann nicht atmen“, bat er seinen Bewacher. „Was unterstehst du dich? Ich soll nicht rauchen? Haha!“ Der Polizist lachte auf, sein ganzes Gesicht legte sich in Falten. „Du zartes Jüngelchen!“ Und er blies um so dickere Rauchklumpen in Ichtiander Gesicht, schrie „Vorwärts!“ Der Amphibienmensch mußte sich fügen. Als er einen Teich mit darüberführender Brücke erblickte, wurden seine Schritte unwillkürlich schneller. „Renn nicht so!“ schrie der Dicke. In der Mitte der Brücke beugte sich Ichtiander plötzlich über das Geländer und warf sich mit großer Hast ins Wasser. Das hatte der Polizist von einem mit Handschellen Gefesselten nicht erwarten können. Er sprang dem Amphibienmenschen auf dem Fuße nach. Es gelang ihm, ihn bei den Haaren zu packen. Ichtiander zog den Polizisten mit sich auf den Grund. Hier fühlte er, daß sich dessen Griff lockerte. Der Jüngling schwamm einige Meter seitwärts und lugte aus dem Wasser nach dem Dicken. Der wer schon aufgetaucht und schrie: „Du ertrinkst, du Schuft! Schwimm her zu mir!“ Ichtiander überlegte, wie er diesen Tölpel überrumpeln könne. Er begann lauthals um Hilfe zu schreien und ging unter Wasser. Der Polizist tauchte abermals und suchte Ichtiander. Da er von ihm nichts erblickte, gab er schließlich auf und schwamm ans Ufer. Gleich geht er fort, glaubte Ichtiander. Aber der Dikke blieb. Er fühlte sich verpflichtet, den Fall weiterhin zu verfolgen, den Ertrunkenen vom Grund des Teiches zu bergen und behördlich identifizieren zu lassen. Um diese Zeit erschien auf der Brücke ein Bauer mit einem Maultier, das an beiden Seiten mit Säcken behängt war. Der Polizist befahl dem Manne, die Last abzuwerfen und mit einem Zettel sofort zur nächsten Gendarmeriestation zu reiten. Die Sache wurde für Ichtiander brenzlig. Zu allem Übel wimmelte das Wasser von Blutegeln, die sich an ihm festsaugten. Er kam gar nicht so schnell nach, sie von sich abzuwehren. Und im stehenden Wasser des Teiches konnte jede Wallung die Aufmerksamkeit des Dicken erregen. Binnen einer halben Stunde kehrte der Bauer zurück, deutete auf den Weg, hievte die Säcke wieder auf den Rücken des Maultiers und machte sich schleunigst davon. Kaum fünf Minuten später näherten sich dem Ufer drei weitere Polizisten. Zwei von ihnen trugen über den Köpfen einen Kahn, der dritte Hakenstock und Ruder. Sie ließen das Boot aufs Wasser und begannen nach dem Ertrunkenen zu fischen. Ichtiander hatte keine Angst. Für ihn war das fast ein Spiel — er wechselte nur rechtzeitig seinen Standort. Die Polizisten stocherten den Wassergrund des Teiches genau ab. Eine Leiche jedoch fanden sie nicht. Der Dicke fluchte mit unaussprechlichen Worten, worüber sich Ichtiander belustigte. Doch bald verging ihm das Lachen. Die Polizisten hatten mit ihrem Haken riesige Schlammwolken aufgewühlt. Das Wasser im Teich trübte sich. Der Amphibienmensch konnte auf Armlänge nichts mehr unterscheiden. Es wurde ihm unmöglich, mit seinen Kiemen in diesem sauerstoffarmen Wasser zu atmen. Ichtiander war am Ersticken. Ein Stöhnen entrang sich seiner Brust. Was tun? Auftauchen? Es blieb ihm bei aller Gefährlichkeit keine andere Wahl. Schwankend schleppte er sich ins flache Wasser und streckte vorsichtig seinen Kopf an die Oberfläche. „A-a-a-a!“ schrie entsetzt einer der Polizisten und warf sich wie von einer Tarantel gestochen über Bord, um schneller ans Ufer zu kommen. „Jesus Maria! O-o-o-o!“ echote ein zweiter und warf sich auf den Boden des Bootes. Die zwei restlichen Polizisten beteten hingebungsvoll am Ufer. Sie zitterten vor Angst und waren bestrebt, sich irgendwo zu verstecken. Ichtiander verstand das nicht gleich. Dann erinnerte er sich, daß die Spanier sehr religiös und abergläubisch waren. Gewiß glaubten seine Bewacher, eine Erscheinung aus dem Jenseits vor sich zu haben. Der Amphibienmensch beschloß, ihnen weitere Schrecken einzujagen. Er fletschte die Zähne, rollte mit den Augen und brüllte tierisch auf. Dann stieg er langsam ans Ufer und entfernte sich mit gemessenem Gang. Keiner der Polizisten rührte sich vom Fleck. Das ist der Meerteufel Dolores, die Mutter von Pedro Surita, war eine dicke Alte mit krümmer Hase und einem mächtigen Doppelkinn. Ihr dichter Schnurrbart verlieh ihr ein maskulines Aussehen. Als ihr Sohn seine junge Frau ins Haus brachte, musterte die Alte Guttiere verächtlich. Die schnurrbärtige Dolores suchte bei jedem Menschen nur nach Fehlern. Die Schönheit des Mädchens verblüffte sie derart, daß sie nun diese zum Makel auserkor. Ihrem Sohn gestand die Alte: „Hübsch ist sie, zu hübsch! Du wirst viele Scherereien mit ihr bekommen. Es wäre besser gewesen, du hättest eine Spanierin geheiratet. Die Hände Guttieres sind weich und weiß. Eine Nichtstuerin wird sie sein.“ Dolores gähnte, und um ihren Sohn, der über den Haushaltsrechnungen saß, nicht zu stören, ging sie in den Garten, um sich in der Abendkühle zu erfrischen. Sie liebte es, im Mondschein nachzudenken. Bleich schimmerten Lilien. Unmerklich bewegten sich die Blätter der Lorbeer- und Gummibäume. Die schnurrbärtige Alte setzte sich auf eine Bank und überließ sich ihren Träumen: Ich kaufe das Nachbargelände noch dazu, züchte feinwollige Schafe, baue neue Ställe. Geschäftig grübelte sie in der Dämmerung und beobachtete, wie sich am Horizont die grellen Lichter der Stadt Parana spiegelten. Da erschrak Dolores plötzlich. Über der niedrigen Steinmauer erhob sich wie im Puppentheater der Kopf eines Menschen. Doch war es der Alten dabei gar nicht so lustig zumute. Dann wurden mit Handschellen gefesselte Hände sichtbar. Die Gestalt sprang über die Mauer und spähte vorsichtig. Die Alte war sehr erschrocken. Sie glaubte, daß ein Zuchthäusler in den Garten eingedrungen sei. Sie wollte schreien, brachte aber keinen Laut über die Lippen. Sie wollte aufstehen, aber ihre Füße versagten. Schweigend verfolgte sie jeden Schritt des Unbekannten. Der Handschellenmann schlich durch die Sträucher, näherte sich allmählich dem Haus und lugte in alle Fenster, flüsterte schließlich mit sehnsuchtsvoller Stimme: „Guttiere.“ Da hast du‘s, Schönheit! kommentierte Dolores im stillen diesen Vorgang. Da sieht man, wie sie es treibt! Von der haben wir nichts Gutes zu erwarten. Dieses Früchtchen ermordet uns letzten Endes noch, plündert die Hazienda und brennt mit dem Zuchthäusler durch. Die Alte hegte nun einen abgründigen Haß gegen die Schwiegertochter und frohlockte. Das gab ihr schnelle Entschlußkraft. Sie sprang auf und lief ins Haus. „Schnell!“ zischelte sie ihrem Sohn zu. „In unseren Garten ist ein Zuchthäusler eingedrungen. Er rief Guttieres Namen.“ Pedro lief, als hätte er Feuer in seiner Hose. Er ergriff einen im Weg liegenden Spaten und rannte um die Ecke. An der Wand lehnte der Eindringling und machte sich an Guttieres Fenster zu schaffen. „Verflucht!“ murmelte Surita und ließ den Spaten auf des Jünglings Haupt niedersausen. Ohne einen einzigen Laut fiel Ichtiander zu Boden. „Der ist erledigt“, sagte Pedro befriedigt. Und Dolores, die ihrem Sohn auf dem Fuße gefolgt war, lobte überschwenglich dessen Heldenhaftigkeit. „Wohin mit ihm?“ fragte Surita. „In den Teich“, schlug die Alte vor. „Er könnte hochtreiben.“ „Am besten, wir binden ihm einen Stein um den Hals. Warte, gleich.“ Dolores lief rasch ins Haus und suchte einen Sack für die Leiche. Da sie in der Eile keinen fand, griff sie einen Kissenbezug und außerdem eine lange Schnur. Als sie zurückkehrte, lud Surita die Leiche auf seine Schultern und schleppte sie zum Teich. Vom Kopf des Jünglings tropfte Blut. Pedro Surita füllte den Kissenbezug mit Steinen, band ihn an des Jünglings Handgelenken fest und warf das schwere Bündel in den Teich. „Guttiere sei verflucht“, stieß Surita heiser hervor, als sie wieder dem Haus zustrebten. Mit der Faust drohte er nach des Mädchens Fenster. Guttiere konnte in dieser Nacht keinen Schlaf finden. Es war sehr schwül, und die Moskitos quälten sie. Sie dachte ständig an Ichtiander, konnte ihn nicht vergessen. Eine große Abscheu bemächtigte sich ihrer, sobald das Bild Pedro Suritas nebst dieser häßlichen Alten vor ihr aufstieg. Es schien Guttiere plötzlich, als hätte sie Ichtianders Stimme gehört. Er rief sie beim Namen. Irgendein Lärm und gedämpfte Stimmen drangen aus den Garten an ihr Ohr. Sie wollte den Dingen nachgehen und trat in ihrem Morgenrock hinaus. Auf Bäumen und Blumen blitzten Tautropfen. Guttiere schritt barfuß durch das Gras. Auf einmal hielt sie jählings inne: Gegenüber ihrem Fenster war der Sand mit Blut befleckt. Daneben lag ein Spaten, der ebenfalls deutliche Spuren eines Verbrechens trug. Guttiere folgte dem niedergetretenen Gras, blickte angstvoll auf die grüne Oberfläche des Wassers. Mit einem Aufschrei erkannte sie Ichtianders Gesicht. Die Haut an seinen Schläfen klaffte auseinander. Er blickte sie schmerzerfüllt an, lächelte jedoch zugleich. Das Mädchen meinte, sie sei von Sinnen, wollte davonlaufen, aber der Jüngling hob langsam seinen Kopf aus dem Wasser und reichte Guttiere die gefesselten Hände. Zum ersten Mal sprach er sie mit „Du“ an. „Guttiere! Geliebte! Endlich.!“ Das Mädchen konnte immer noch nichts begreifen, vermeinte, einem Gespenst gegenüberzustehen. „Guttiere, meine liebe Guttiere, ich bin nicht tot. Geh nicht fort, höre mich an, nimm meine Hände. Hab keine Angst und höre: Ich, Ichtiander, kann unter Wasser leben, ich bin anders als alle Menschen. Ich stürzte mich damals nur ins Meer, weil mir das Atmen an der Luft zu schwer geworden war.“ Ichtiander wankte vor Schwäche und erzählte weiter: „Ich habe dich gesucht, Guttiere, bin dir gefolgt. Heute nacht hat mich dein Mann erschlagen wollen und hier in den Teich geworfen. Im Wasser kam ich wieder zu mir. Es war mir möglich, den Sack mit Steinen, an dem man mich festband, zu lösen. Doch diese Dinger kann ich nicht abnehmen.“ Ichtiander wies auf seine Handschellen. „Wie kommt es, daß Ihre Hände gefesselt sind?“ fragte das Mädchen, „Das erzähle ich dir später. Flieh mit mir. Wir verstecken uns bei meinem Vater. Dort findet uns niemand. Und wir werden immer zusammenbleiben. Olsen sagte mir, daß man mich Meerteufel nennt, doch ich bin ein Mensch. Du sollst dich vor mir nicht mehr fürchten.“ Der Amphibienmensch stieg schlammbedeckt aus dem Teich und fiel kraftlos ins Gras. Guttiere beugte sich über ihn und nahm endlich seine Hand. „Mein armer Junge“, seufzte sie mitfühlend. „Was für eine überraschende Begegnung!“ Eine spöttische Stimme schreckte beide auf. Sie drehten sich um und sahen sich voller Entsetzen Surita gegenüber. Er hatte das Gespräch belauscht und wußte nun, daß er den langgesuchten Meerteufel vor sich hatte. Zunächst wollte er ihn sofort fassen und auf die „Meduse“ bringen, doch nach einigem Überlegen besann er sich eines anderen. Surita wandte sich an Ichtiander: „Es wird Ihnen nicht gelingen, Guttiere zu entführen, denn sie ist meine Frau. Auch werden Sie kaum zu Ihrem Vater zurückkehren können. Die Polizei erwartet Sie bereits.“ „Aber ich bin völlig unschuldig“, rief der Jüngling. „Unschuldige Menschen beehrt die Polizei kaum mit solchen Armbändern. Und da Sie in meine Hände geraten sind, empfinde ich es als meine Pflicht, Sie auszuliefern.“ „Bringen Sie das wirklich fertig?“ empörte sich Guttiere. Doch Pedro Surita beharrte darauf. Und Dolores, die sich nun auch gestikulierend ins Gespräch mischte, meinte: „Das wird ja immer schöner — einen Zuchthäusler einfach in alle vier Winde laufen lassen.“ Guttiere trat zu ihrem Mann, faßte seine Hände und bat abermals zärtlich: „Ich bitte Sie inständigst, lassen Sie Ichtiander frei.“ Es schien, als lasse sich Surita umstimmen. „Gegen die Bitten meiner Frau bin ich machtlos. Ich willige ein.“ „Du hast kaum geheiratet und bist schon unter dem Pantoffel“, brummte die Alte, „Vertraue mir, Mutter. Wir zersägen dem jungen Mann die Handschellen, stecken ihn in einen chicen Anzug und dann bringe ich ihn auf die ,Meduse‘. Im Rio de la Plata kann er von Bord springen und schwimmen, wohin er will. Doch ich lasse ihn nur unter einer Bedingung frei: Er muß Guttiere für immer vergessen.“ Surita zwirbelte selbstzufrieden seinen Schnurrbart und verbeugte sich vor seiner Frau. Dolores kannte ihren Sohn zu gut, um nicht sofort zu verstehen, daß er eine Teufelei ausgeheckt hatte. Um in seinen Plan einzuwilligen, brummte sie scheinbar verärgert: „Aber glaub mir doch — deine Frau hat dich verhext.“ Mit Volldampf „Morgen kehrt Salvator zurück“, sagte Christo, als er Balthasar erneut in dessen Laden aufsuchte. „Paß gut auf, Bruder, und unterbrich mich nicht. Beide haben wir sehr viel für Surita getan. Er ist reicher als du und ich zusammen. Aber er will noch mehr Geld scheffeln und sich dabei des Meerteufels bedienen.“ Balthasar räusperte sich. „Schweig, Bruder, du nimmst mir sonst meinen Faden. Surita will den Meerteufel zu seinem Sklaven machen. Er soll für ihn auf dem Meeresgrund die kostbarsten Perlen sammeln und in den Wracks nach jahrhundertealten Raritäten stöbern. Aber wäre es nicht besser, der Meerteufel täte das alles für uns?“ Balthasar wollte etwas erwidern, doch Christo ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Hör weiter. Da mir nichts verborgen bleibt, erfuhr ich auch, daß der Amphibienmensch Guttiere liebt. Für unsere Zwecke kommt das wie gerufen. Er wird ein besserer Gatte und Schwiegersohn sein als dieser Surita.“ Balthasar seufzte tief. „Und das ist noch längst nicht alles, Bruder. Ich will dich daran erinnern, daß ich vor ungefähr zwanzig Jahren deine Frau begleitete, als sie aus dem Gebirge vom Begräbnis ihrer Mutter zurückkehrte. Unterwegs gebar sie und mußte, da sich Komplikationen einstellten, ihr Leben lassen. Das Kind starb auch. Aber ich sagte dir damals nicht die volle Wahrheit. Ich wollte dich schonen Jetzt gestehe ich dir alles. Dieses Kind war sehr schwach, doch es atmete. In einem Indianerdorf erfuhr ich durch eine alte Frau, daß unweit ein großer Wundertäter lebte, der Gott Salvator.“ Balthasar horchte interessiert auf. „Die Alte riet mir, das Kind zu Salvator zu bringen. Nur er könne es retten. Ich folgte dem guten Rat. Der Doktor aber meinte, es würde schwer sein, dem Knaben zu helfen. Ich wartete bis zum Abend. Ein Neger übermittelte mir, daß die Operation erfolglos, das Kind gestorben sei.“ Balthasar wollte abermals unterbrechen, doch Christo hieß ihn durch eine Handbewegung schweigen. „Damals entdeckte ich bei dem Neugeborenen — deinem Sohn — ein Muttermal. Achte jetzt genau auf meine weiteren Neuigkeiten: Vor einiger Zeit wurde Ichtiander am Halse verwundet. Als ich ihm einen Verband anlegte, öffnete ich seinen Schuppenpanzer ein wenig. Ich war völlig überrascht, als ich ein Muttermal von derselben Form erblickte, wie es dein Sohn damals als Säugling trug.“ Balthasar fiel es schwer, all diese Dinge zu begreifen. Er fragte erregt: „Du meinst nun, daß Ichtiander mein Sohn ist?“ „Genau das denke ich. Salvator muß seinerzeit gelogen haben. Er experimentierte mit dem Baby und machte aus ihm den Meerteufel.“ Balthasar geriet außer sich. Er schrie: „Wie konnte er so etwas wagen! Ich bringe ihn mit meinen eigenen Händen um!“ Christo beruhigte seinen Bruder. „Das wirst du nimmer schaffen. Salvator ist stärker als du. Die Leute hier im Umkreis nennen ihn nicht ohne Grund ihren Gott. Es könnte doch auch sein, daß ich mich irre, daß es solch ein Muttermal bei einem weiteren Menschen gibt. Wir müssen uns alles gut überlegen und vorsichtig sein. Am besten, du gehst zu Salvator und sagst, daß Ichtiander dein Sohn ist. Ich werde als Zeuge zugegen sein. Dann verlangst du, daß er dir deinen Nachkommen zurückgibt. Weigert er sich, so drohst du mit den Gericht. Wir müssen auf Biegen und Brechen erreichen, daß Ichtiander deine Pflegetochter Guttiere heiratet. Du bist beiden verpflichtet. Damals, als du trauertest, hatte ich dir dieses Mädchen als Waise ins Haus gebracht.“ Balthasar sprang auf und rannte im Laden auf und ab. „Mein Sohn! Welch ein Unglück!“ „Warum Unglück?“ wunderte sich Christo. „Jetzt höre auch du mir bitte aufmerksam zu. Während du krank warst, entführte Pedro Surita meine Tochter und heiratete sie.“ Diese Nachricht traf Christo wie ein Schlag. „Und Ichtiander ist in Suritas Hände gefallen!“ ergänzte er die bösen Vorkommnisse. „Unmöglich“, protestierte Christo. „Aber leider doch wahr. Der Jüngling befindet sich auf der ,Meduse‘. Heute früh war Surita bei mir und meldete mir seinen Erfolg. Er lachte uns beide aus und beschimpfte uns. Er sagte, daß wir ihn betrogen hätten. Stell dir vor, er selbst hat Ichtiander gefangen. Jetzt wird er uns keinen Pfennig geben. Ha, ich würde auch nichts mehr von ihm annehmen. Kann man denn seinen eigenen Sohn verkaufen?“ Balthasar war verzweifelt. Christo sah seinen Bruder mißbilligend an. Jetzt hieß es, überlegt vorzugehen. Er mußte aufpassen, daß Balthasar der Sache nicht schadete. Christo selbst war nicht sehr überzeugt von der Verwandtschaft zwischen Ichtiander und seinem Bruder. Als er das Muttermal bemerkte, dachte er eigentlich nur daran, die Sache aufzubauschen, um einen Vorteil für sich herauszuschlagen. Christo versuchte, die mißgestimmte Situation zu retten. „Wir haben jetzt keine Zeit zum Flennen. Wir müssen handeln. Salvator kommt morgen zurück. Erwarte mich bei Sonnenaufgang an der Mole. Wir müssen Ichtiander retten. Sag zu Salvator vorerst aber kein Wort darüber, daß du Ichtianders Vater bist. Übrigens: Welchen Weg hat Surita eingeschlagen?“ „Das sagte er mir nicht. Ich nehme an, den nördlichen. Surita wollte schon lange an die Küste Panamas.“ Christo nickte. „Vergiß nicht: Morgen früh an der Mole. Wart dort auf mich, und wenn es bis zum späten Abend dauern sollte.“ Christo eilte nach Hause. Die ganze Nacht hindurch überlegte er, wie er sich vor Salvator rechtfertigen könne. Der Doktor kam zu Tageseinbruch. Christo trat ihm betrübt gegenüber und legte in seinen Gesichtsausdruck jene Treue, derer sich Salvator vergewissern konnte. „Bei uns ist ein Unglück passiert. Schon oft habe ich Ichtiander gewarnt, in die Bucht zu schwimmen.“ „Was ist mit ihm geschehen?“ fragte Salvator ungeduldig. „Er wurde geraubt und auf einem Schoner fortgebracht.“ Der Doktor ergriff seinen Diener bei den Schultern und sah ihm lange forschend in die Augen. Christo erblaßte unter diesem Blick unwillkürlich. Salvator runzelte die Stirn, murmelte etwas, ließ Christos Schultern frei und sagte schnell: „Später erzählst du mir Genaueres.“ Danach rief der Doktor einen Neger herbei und verständigte sich mit ihm in einer für Christo unverständlichen Sprache. Seinem Diener befahl er schließlich: „Folge mir!“ Salvator verließ überstürzt das Haus und eilte in den Garten. Christo kam außer Puste. An der dritten Mauer wurden sie von zwei Negern eingeholt. „Ich habe auf Ichtiander aufgepaßt, war immer an seiner Seite“, bekräftigte Christo. Doch der Doktor tat, als höre er nichts. Vor dem Bassin machte er Halt und stampfte ungeduldig mit dem Fuß, bis sich die Schleusen öffneten und das Wasser abfloß. Salvator stieg die unterirdischen Treppen hinunter. Christo und die zwei Neger folgten ihm in tiefer Dunkelheit. Auf dem letzten Podest schaltete der Doktor das Licht nicht ein, sondern tastete die Wand ab, öffnete die rechte Tür. Den Korridor ließ er ebenfalls finster und beschleunigte seine Schritte. Christo und die Neger hatten Mühe, ihm auf den Fersen zu bleiben. Sie gingen lange, und endlich fühlte Christo, wie sich der: Boden senkte. Ein leichtes Plätschern wurde hörbar. Das war endlich das Ziel. Salvator schaltete das Licht ein. Christo erblickte eine große wassergefüllte Höhle, die ein ovales Gewölbe bildete. Auf dem Wasser schaukelte ein kleines U-Boot. Sie stiegen ein. Der Doktor sorgte in der Kajüte für Licht, einer der Neger verschloß die äußere Luke, und der andere ließ den Motor an. Christo fühlte, wie das Boot erzitterte, sich langsam drehte und schließlich unter Wasser tauchte. Nachdem sie ins Meer gelangt waren, begaben sie sich wieder an die Oberfläche. Salvator und Christo gingen auf die Kommandobrücke. Der Diener staunte über die ungewöhnliche Konstruktion und über den Motor, der sie wie eine Windsbraut dahinschnellen ließ. „Welchen Kurs haben Ichtianders Entführer mit dem Schoner genommen?“ fragte Salvator. „Sie fuhren am Nordufer entlang“, antwortete Christo und schlug vor, man möge doch auch seinen Bruder mitnehmen. „Ich benachrichtigte ihn. Er wartet am Ufer.“ „Wozu das?“ Der Doktor wurde mißtrauisch. „Ichtiander wurde vom Perlenfischer Surita geraubt.“ „Wie kommst du darauf?“ „Ich habe meinem Bruder den Schoner beschrieben, der Ichtiander in der Bucht gefangennahm, und da meinte er gleich: ,Das kann doch nur die ,Meduse‘ sein.‘ Vermutlich soll Ichtiander als Sklave nach Perlen tauchen. Mein Bruder Balthasar kennt alle Fundplätze. Er könnte uns sehr nützlich sein.“ Salvator überlegte eine Weile. „Gut, wir nehmen deinen Bruder mit.“ Das Boot drehte aufs Ufer zu. Der Indianer war innerlich zwar böse, daß ihm sein Sohn genommen und verunstaltet wurde, verbeugte sich jedoch tief vor dem Doktor, sprang ins Wasser und schwamm zum U-Boot. „Volle Fahrt voraus!“ befahl Salvator. Er stand auf der Kommandobrücke und beobachtete das Meer. Der ungewöhnliche Gefangene Surita befreite Ichtiander von den Handschellen, gab ihm einen neuen Anzug und erlaubte ihm, seine im Sand versteckten Schwimmflossen und die Brille zu holen. Aber kaum hatte der Jüngling das Deck der „Meduse“ betreten, da ergriffen ihn auf Suritas Befehl die Indianer und schleppten ihn unter Deck. Der Kapitän landete kurz in Buenos Aires, um sich mit Proviant zu versorgen. Er machte auch einen Abstecher zu Balthasar und prahlte vor ihm mit seinem Überrumpelungserfolg. Dann kehrte er auf das Schiff zurück und ließ es die Küste entlang Kurs auf Rio de Janeiro nehmen. Er wollte die Ostseite von Südamerika passieren, um im Karibischen Meer Perlen zu fischen. Guttiere brachte er in der Kapitänskajüte unter und versicherte ihr, daß er Ichtiander die Freiheit wiedergegeben habe. Doch die Wahrheit konnte dem Mädchen nicht lange verborgen bleiben. Noch am gleichen Abend hörte Guttiere aus dem Laderaum Stöhnen und Hilferufe. Sie erkannte Ichtianders Stimme, wollte die Kajüte verlassen, fand jedoch deren Tür verschlossen. Guttiere schrie und trommelte mit den Fäusten gegen das Holz, aber niemand schien sie zu hören. Als Surita Ichtianders Rufe vernahm, verließ er laut fluchend die Kapitänsbrücke und stieg mit einem Indianermatrosen in den Laderaum hinab. Hier war es ungewöhnlich stickig und finster. „Warum schreist du so erbärmlich?“ fuhr Pedro den Jüngling an. „Ich. ich ersticke. Ohne Wasser kann ich nicht leben. Lassen Sie mich ins Meer, sonst überlebe ich die Nacht nicht.“ Surita ließ sich nicht erweichen, schlug die Luke des Laderaums zu und ging wieder auf Deck. Und wenn er wirklich erstickt, überlegte er. Ohne Ichtiander käme ich nicht so schnell zu Reichtum. Ich muß ihn ausnutzen, also am Leben erhalten, Kapitän Pedro ordnete an, in den Laderaum ein Faß zu stellen. Die Matrosen schleppten Wasser herbei. „Da hast du einen richtigen Swimmingpool“, sagte Surita zum Jüngling. „Schwimm! Morgen früh lasse ich dich ins Meer zurück.“ Ichtiander tauchte schnell ins Faß. Die in der Tür stehenden Indianermatrosen beobachteten diese Badesitte mit ersichtlichem Befremden. Sie konnten nicht ahnen, daß sie den Meerteufel als Gefangenen an Bord hatten. „Schert euch auf Deck“, herrschte sie Surita an. Der Amphibienmensch konnte sich in der Tonne nicht einmal aufrichten, mußte sich zusammenkauern, um unter Wasser bleiben zu können. Außerdem roch das Holz intensiv nach Pökelfleisch. Auf See blies ein frischer Süd-Ost, der den Schoner rasch nach Norden trug. Surita blieb lange auf der Kommandobrücke und erschien erst gegen Morgen in der Kajüte. Er nahm an, daß seine Frau schon längst schlief. Doch sie saß an einem schmalen Tisch und stützte den Kopf in die Hände. Bei Pedros Eintreten erhob sich Guttiere. Im schwachen Schein der Lampe wirkte ihr Gesicht bleich. „Sie haben mich belogen“, sagte sie vorwurfsvoll. Surita versuchte, sich unbefangen zu geben. Er zwirbelte seinen Schnurrbart und scherzte: „Ichtiander hat es vorgezogen, auf der ,Meduse‘ zu bleiben, um deine Nähe zu spüren.“ „Sie lügen ganz penetrant! Sie sind ein Ekel! Ich hasse Sie!“ Guttiere ergriff von der Wand ein großes Messer und erhob es gegen ihren Mann. Blitzschnell packte Surita ihre Hand und preßte sie so stark, daß das Messer zu Boden fiel. Noch ein Fußtritt und der gefährliche Gegenstand war außer Reichweite, war draußen. Der Kapitän gab Guttieres Hand frei. „So ist es besser, mein Täubchen. Du bist sehr aufgeregt. Trink ein Glas Wasser, dann kommst du wieder zu dir.“ Er verließ die Kajüte, verschloß sorgfältig die Tür und ging an Deck. Im Osten begann sich der Himmel zu röten. Die salzige Morgenbrise blähte die Segel. Surita spazierte, die Arme auf dem Rücken verschränkt, auf und ab. Er grübelte. Schließlich befahl er den Matrosen, die Segel zu reffen und vor Anker zu gehen. Dann verlangte er, daß man ihm eine Kette bringe und Ichtiander aus dem Laderaum heraufführe. Er brannte vor Ungeduld, den Amphibienmenschen als Perlenfischer zu erproben. Der Jüngling sah erschöpft aus. Er stand neben dem Besanbaum. Nur einige Schritte trennten ihn von der Reling. Plötzlich stürzte er nach vorn, setzte zum Sprung an. Im gleichen Augenblick aber traf Suritas Faustschlag seinen Kopf. Ichtiander brach besinnungslos zusammen. „Sei doch nicht gar so hitzig, mein Knabe“, spottete Surita. Eisengerassel war zu hören, ein Matrose brachte eine lange Kette, die in einem Reifen endete. Surita umgürtete den noch immer nicht zu sich gekommenen Jüngling, verschloß die Umklammerung mit äußerster Vorsicht und befahl den Umstehenden: „Dalli, dalli! Gießt ihm Wasser über den Kopf.“ Ichtiander wachte auf und erblickte voller Entsetzen die Kette. „Jetzt wirst du mir nicht mehr entkommen“, höhnte Surita. „Ich lasse dich ins Meer hinunter. Du wirst für mich Muscheln fischen. Je mehr Perlen du findest, desto länger kannst du dich im Wasser aufhalten. Bringst du aber nichts, so stecke ich dich wieder in den Laderaum. Ist das kein Angebot?“ Ichtiander nickte zustimmend. Er war bereit, alle Schätze der Welt für Surita zu fördern, wenn er nur schnell ins reine Meerwasser tauchen könnte. Der Kapitän und die Matrosen ließen ihn hinunter. Die Kette zerreißen — dies war Ichtianders erster Gedanke. Doch sie war zu stark. Er fügte sich in sein Schicksal und begann nach Perlmuscheln zu suchen, die er in einen Sack sammelte, der an seiner Hüfte baumelte. Nach der Schwüle des Schiffsraums fühlte er sich fast glücklich. Die Matrosen der „Meduse“ staunten. Eine Minute nach der anderen verging, ohne daß der Jüngling daran dachte, wieder emporzukommen. Anfänglich stiegen Luftblasen zur Oberfläche, sie vergingen aber bald ganz. „Ein Haifisch soll mich fressen, wenn in seiner Brust noch das kleinste Teilchen Luft ist“, bemerkte ein alter Fischer. „Es scheint, er fühlt sich dort unten, wie ein Fisch im Wasser. Vielleicht ist es der Meerteufel höchstpersönlich.“ Und der Mann starrte offenen Mundes ins Wasser. Der auf dem Grund des Meeres kriechende Ichtiander war deutlich zu sehen. „Wer es auch sei — Kapitän Surita hat einen guten Fang mit ihm gemacht“, sagte der Steuermann. „Dieser Mann kann zehn andere ersetzen.“ Die Sonne stand schon fast im Zenit, als der Amphibienmensch an der Kette zog. Sein Beutel war prall gefüllt. Die Matrosen zogen den ungewöhnlichen Perlentaucher an Deck und waren neugierig auf dessen Beute. Gewöhnlich werden die Perlmuscheln einige Tage gelagert, damit die Mollusken verfaulen, doch heute war die Ungeduld zu groß. Alle griffen sofort nach ihren Messern und knackten die Schalen. Man redete laut durcheinander, auf dem Deck herrschte eine höllische Aufregung. Ichtianders Fang hatte jede Erwartung übertroffen. Im Perlenberg lagen etwa zwanzig besonders große Exemplare, die in den zartesten Farben schillerten. Schon der erste Abstieg brachte Surita ein Vermögen ein. Für eine einzige dieser kostbarsten Perlen konnte er einen neuen Schoner kaufen. Er sah sich auf dem besten Wege, zu einem unermeßlichen Reichtum zu kommen. Der Kapitän bemerkte, daß seine Matrosen die Perlen gierig bestaunten. Das mißfiel ihm. Darum beeilte er sich, den Schatz in seinem Strohhut zu verbergen. „Leute, es ist Zeit zum Frühstücken. Und dich Ichtiander, muß ich loben. Du hast fleißig gearbeitet. Ich. habe noch eine freie Kajüte, in der du mehr Luft haben wirst. Ich lasse dir auch ein großes Zinkbassin bauen. Du sollst viel Wasser haben, jeden Tag für mich im Meer schwimmen. An der Kette zwar, aber was macht das schon.“ Ichtiander verspürte keine große Lust, mit Surita zu reden. Doch als Gefangener dieses habgierigen Menschen mußte er an eine erträgliche Unterkunft denken. „Ein Bassin ist schon besser als das stinkende Faß, aber Sie müßten das Wasser wechseln lassen.“ „Wie oft?“ fragte Surita. „Jede halbe Stunde. Am angenehmsten für mich ist fließendes Wasser.“ Surita war entrüstet. „Du wirst hochmütig, mein Kleiner! Kaum reiche ich dir den Finger, da willst du gleich die ganze Hand.“ „Das sind keine Launen von mir“, erklärte Ichtiander. „Wenn Sie einen Fisch in einen Eimer Wasser legen, so verschmachtet er bald. Er braucht viel Sauerstoff. Und ich bin eben ein sehr großer Fisch.“ Der Amphibienmensch lächelte. Der Kapitän feilschte. „Wenn ich Leute anstellen muß, die ständig Wasser in deinen Behälter pumpen sollen, so wird das ziemlich viel Geld kosten, vielleicht mehr, als die Perlen einbringen.“ Ichtiander hatte keine Ahnung von solchen Preisen, er wußte auch nicht, daß Surita den Tauchern und Matrosen nur armselige Groschen zahlte. So schlug er vor: „Wenn ich Ihnen zu teuer bin, so lassen Sie mich doch frei.“ „Du bist irgendwie gut!“ Surita lachte laut auf. „Wenn Sie mich zu meinem Vater lassen, werde ich Ihnen freiwillig so viele Perlen bringen, wie Sie nur wollen. Ich sammelte einen ganzen Berg“ — Ichtiander deutete mit der Hand vom Boden weit aufwärts — „glatte, runde, eine Perle wie die andere, und jede bohnengroß.“ Surita versagte der Atem. „Das ist doch billiges Geschwätz.“ Er bemühte sich, ruhig zu bleiben. „Ich habe noch nie jemanden belogen“, sagte der Jüngling. „Und wo befindet sich dein Schatz?“ Surita hatte Mühe, seine Aufregung zu verbergen. „In der Unterwasserhöhle. Niemand außer Leading weiß von diesem Ort.“ „Leading? Was ist denn das für ein komischer Name?“ „Mein Delphin.“ Pedro Surita triumphierte innerlich. Ichtianders Angebot klang geradezu verlockend. Er würde unermeßlich reich werden, die Rothschilds und Rockefellers ihm gegenüber nur arme Kerle sein. Der gewiefte Geschäftsmann begann zu überlegen, wie er seinen Plan erfolgversprechend einfädeln könne: Wenn ich Guttiere darum bitte — ihr würde es Ichtiander am allerwenigsten abschlagen, den Schatz herauszurücken. Der Kapitän eröffnete dem Jüngling: „Möglich, daß ich dich eines Tages freilasse, aber momentan mußt du noch bei mir bleiben, ich glaube, du wirst es nicht bereuen. Solange du mein Gast bist, werde ich bemüht sein, es dir so angenehm wie möglich zu machen. Das Zinkbassin wird zwar zu teuer. Aber ich könnte dir einen großen Eisenkäfig unter Wasser anbieten. Das Gitter würde dich vor Haifischen beschützen.“ „Aber ich muß unbedingt auch an die Luft!“ verlangte der Amphibienmensch. „Dann werden wir dich eben manchmal nach oben ziehen.“ Surita war guter Laune. Er spendierte jedem Matrosen zum Frühstück ein Glas Wodka. Ichtiander wurde wieder in den Laderaum geführt. Pedro öffnete die Tür zur Kapitänskajüte und prahlte vor Guttiere mit den Perlen, die einen ganzen Strohhut füllten. „Eine Frau liebt Geschenke“, sagte er lächelnd. „Und damit ich dich mit Perlen überschütten kann, habe ich Ichtiander in meine Dienste genommen. Sieh genau her — das ist die Beute eines Morgens.“ Guttiere gelang es nur mit großer Anstrengung, ihr Erstaunen zu verbergen. Surita entging das nicht, er lachte selbstzufrieden auf. „Du wirst die reichste Frau Argentiniens sein, vielleicht von ganz Amerika. Du wirst bei mir alles haben. Ich lasse dir einen Palast bauen, um den dich selbst Könige beneiden werden. Nimm als Pfand für die Zukunft die Hälfte dieser Perlen.“ „Nein! Ich will nichts von diesem unrechtmäßig erworbenen Gut“, antwortete Guttiere schroff. „Und lassen Sie mich bitte in Ruhe.“ Surita wurde verlegen. Einen solchen Empfang hatte er nicht erwartet. „Gestatte mir noch eine Bemerkung: Möchtest du nicht, daß ich Ichtiander die Freiheit schenke?“ Das Mädchen blickte den niederträchtigen Mann ungläubig an, als wollte sie ergründen, welch neue Niedertracht er plane. „Wie denken Sie sich das?“ „Des Jüngling Schicksal liegt in deinen Händen. Du brauchst ihm nur zu befehlen, daß er seine Perlen, die er in irgendeiner Unterwasserhöhle hortet, auf die ,Meduse‘ bringt. Und sofort lasse ich ihn frei.“ Guttiere wurde resolut. „Ich glaube ihnen kein einziges Wort mehr. Falls Sie die Perlen bekommen sollten, würden Sie Ichtiander doch wieder an die Kette legen und für sich arbeiten lassen. Ihre Gier ist ungeheuer. Sie sind ein gemeiner Lügner und ein abscheulicher Betrüger. Bitte versuchen Sie nie wieder, mich in ihre dunklen Geschäfte zu verwickeln.“ Surita verließ ärgerlich die Kabine. In seiner Kajüte schüttete er die Perlen vorsichtig in ein Säckchen und verschloß sie in einer Kiste. Dann ging er auf Deck. Was meine Frau will, geht mich einen Dreck an, dachte er, zündete sich eine Zigarre an und sonnte sich in dem beruhigenden Gefühl seines riesigen Reichtums. Er bemerkte nicht einmal, daß sich die Matrosen zusammenrotteten und leise etwas berieten. Die verlassene „Meduse“ Surita stand dem Fockmast gegenüber an der Reling. Auf ein Zeichen des Steuermanns hin überfielen ihn plötzlich einige Matrosen. Sie waren unbewaffnet, aber es waren sehr viele. Zwei Männer umklammerten ihn von hinten. Der Kapitän schuf sich durch Fausthiebe unter den Herandrängenden Platz und warf sich mit äußerster Kraftanstrengung bis an den Rand der Reling. Stöhnend ließen die Matrosen ihr Opfer los und stürzten zu Boden, Pedro richtete sich auf und erwiderte jeden neuen Angriff seiner Feinde mit konternden Boxhieben. Dann wich er bis zum Fockmast zurück und kletterte mit der Gewandtheit eines Affen in die Wanten. Ein Matrose erwischte ihn am Bein, doch mit dem freien anderen versetzte ihm Surita einen derben Tritt an den Kopf. Der Mann ging betäubt zu Boden. Surita flüchtete in den Mastkorb, wo er erbärmlich über die Niedertracht seiner Matrosen fluchte. Hier konnte er sich einigermaßen in Sicherheit wähnen. Hier hatte er auch endlich beide Hände frei, um seinen Revolver aus dem Futteral zu ziehen. Er schrie: „Dem ersten, der es wagen sollte, in meine Nähe zu kommen, zerschmettere ich den Schädel!“ Unten, an Deck, lärmten die Matrosen. Sie beratschlagten ihr weiteres Vorgehen. „In der Kapitänskajüte sind Gewehre!“ brüllte der Steuermann. „Kommt, wir schlagen die Tür ein!“ Einige Matrosen gingen zur Luke. Jetzt bin ich verloren, dachte Surita. Hilfesuchend schaute er übers Meer. Dann nahm er, seinen Augen kaum trauend, gewahr, daß ein Unterseeboot mit ungewöhnlicher Geschwindigkeit direkt auf die „Meduse“ zusteuerte. Wenn es jetzt nur nicht abtaucht! flehte Surita innerlich. „Hilfe! Hilfe! Schneller! Mord!“ Der Kapitän schrie gotteserbärmlich. Auf dem U-Boot hatte man ihn anscheinend schon bemerkt. Ohne die Motoren zu drosseln, hielt es seinen Kurs, war schon dicht bei der „Meduse“. Aus der Luke des Schoners sprangen bereits bewaffnete Matrosen. Sie zerstreuten sich auf Deck und blieben, als sie des Unterseebootes ansichtig wurden, unschlüssig stehen. Man konnte Surita nicht vor den Augen dieser ungebetenen Gäste umbringen. Surita hoch oben in der Takelage triumphierte schon. Doch er sollte sich zu früh freuen. Als das U-Boot ganz nahe war, entdeckte Surita auf dessen Brücke Balthasar und Christo. Neben ihnen stand ein großer Mann mit kantiger Nase und Adleraugen. Dieser schrie so laut, daß die Luft erzitterte: „Pedro Surita! Lassen Sie sofort den von Ihnen entführten Ichtiander frei! Ich gebe Ihnen fünf Minuten Bedenkzeit. Sollten Sie nicht einwilligen, so versenke ich Ihren Schoner.“ Haßerfüllt sah sich der Kapitän Christo und Balthasar, diesen nichtsnutzigen Verrätern, gegenüber. Doch er mußte in dieser heiklen Situation Ruhe bewahren. Besser Ichtiander verlieren, als den eigenen Kopf, dachte er. „Ich führe den Geforderten gleich her“, rief Surita zurück und kletterte an den Wanten herab. Den Matrosen leuchtete ein, daß es höchste Zeit war, sich zu retten. Schleunigst ließen sie die Beiboote herunter, stürzten sich Hals über Kopf von Bord und ruderten, als säße ihnen der Teufel leibhaftig im Hakken, ans Ufer. Pedro eilte über die Leiter in seine Kajüte, entnahm der Kiste hastig das Säckchen mit den Perlen und verbarg es unter seinem Hemd. Dann ergriff er noch einen Riemen und ein Tuch, öffnete Guttieres Kabine und trug das Mädchen — sie wußte gar nicht, was ihr geschah — an Deck. „Ichtiander ist nicht ganz wohl. Sie finden ihn in der Kabine“, sagte Surita zu dem fremden Mann auf dem U-Boot, ohne Guttiere aus den Augen zu lassen. Er rannte mit ihr zur Reling, setzte sie in eine Schaluppe, ließ diese herab und sprang schließlich selbst hinein. Das Unterseeboot konnte die flüchtende Schaluppe wegen des seichten Wassers nicht verfolgen. Mittlerweile hatte Guttiere aus der Entfernung Balthasar entdeckt. Sie schrie aus Leibeskräften: „Vater, rette Ichtiander! Er befindet sich.!“ Weiter kam sie nicht, denn Surita hatte sie mit dem Tuch geknebelt und schnürte ihre Hände mit dem Riemen zusammen. „Lassen Sie auf der Stelle die Frau los!“ protestierte Salvator, als er diese Gewalttat bemerkte. „Diese Frau ist meine Gattin, und niemand hat das Recht, sich in meine Angelegenheiten einzumischen!“ brüllte Surita zurück und ruderte rascher. Salvator erwiderte gereizt: „Halten Sie an oder ich schieße.“ Doch Surita ruderte weiter. Da gab Salvator einen Schuß ab. Die Kugel traf die Bordwand. Der Kapitän duckte sich hinter Guttiere, die wie eine Zielscheibe dalag, und heuchelte: „Ballern Sie ruhig weiter.“ „Ein seltener Schuft“, murmelte Salvator und senkte seinen Revolver. Balthasar sprang von der Brücke des U-Boots und nahm schwimmend die Verfolgung auf. Surita hatte jedoch das Ufer schneller erreicht und war mit Guttiere hinter den Felsen verschwunden. Balthasar schwamm, zum Schoner. An der Ankerkette kletterte er an Deck. Bis in den Laderaum hinein untersuchte er das Schiff, ohne eine Menschenseele zu entdecken. „Von Ichtiander findet sich auf dem Schiff keine Spur!“ signalisierte Balthasar in Richtung Unterseeboot. „Aber er muß doch am. Leben sein und sich irgendwo hier in der Nähe befinden“, meinte Salvator. „Guttiere sagte: ,Ichtiander befindet sich.‘ Wenn dieser Bandit sie nicht geknebelt hätte, wüßten wir, wo er zu suchen ist.“ Christo, der das Wasser rundherum mit Argusaugen beobachtete, erspähte die Mastspitzen eines versunkenen Schiffes. Er machte Balthasar darauf aufmerksam. „Es wäre doch möglich, daß Surita den Jüngling in das Wrack tauchen ließ, um nach Schätzen zu fahnden.“ Balthasar hatte inzwischen an Bord eine Kette gefunden und untersuchte den Reifen an deren Ende. „Wahrscheinlich ließ Surita den Jüngling nur mittels der Kette tauchen. Ohne sie wäre er ihm längst entkommen. Ich halte es für unmöglich, daß sich Ichtiander im Wrack befindet.“ Und Salvator, in Gedanken versunken, pflichtete ihm bei. Das Wrack Suritas Verfolger konnten von den Vorfällen, die sich morgens auf der „Meduse“ ereignet hatten, nichts ahnen. Die ganze Nacht über berieten die Matrosen und faßten schließlich den Entschluß: Bei der günstigsten Gelegenheit würden sie Surita überfallen und umbringen, um den Schoner und Ichtiander in ihre Gewalt zu bekommen. In aller Herrgottsfrühe stand Surita auf der Kommandobrücke. Der Wind hatte sich gelegt. Die „Meduse“ schwamm langsam, machte nicht mehr als drei Knoten in der Stunde. Der Kapitän war auf einen Punkt im Ozean aufmerksam geworden. Im Fernstecher machte er die Mastspitze eines versunkenen Schiffes aus. In der Nähe des Schoners trieb ein Rettungsring. Surita befahl, ein Boot aufs Wasser zu lassen und den Rettungsring zu bergen. Es stellte sich heraus, daß er von der „Maphaldu“ fortgetrieben war. Dieser große amerikanische Postpassagierdampfer war gesunken? Für Pedro ein gefundenes Fressen, denn an Bord würde es manchen Wertgegenstand geben. Ichtiander müßte die Schätze bergen. Der Kapitän überlegte: Würde die Kette bis zum. Wrack hinunterreichen? Sobald ich dem Jüngling aber die volle Bewegungsfreiheit ließe, käme er nicht wieder. Langsam näherte sich die „Meduse“ den aus dem Wasser ragenden Masten. Die Matrosen drängten sich an der Reling. „Ich fuhr mal auf der,Maphaldum, erzählte einer der Matrosen. „Es war ein riesiges Schiff — eine richtige Stadt auf dem Wasser. Und alles piekfein. Lauter reiche Amerikaner.“ Die „Maphaldu“ muß gesunken sein, bevor sie SOS rufen konnte, überlegte Surita. Vielleicht war die Funkstation beschädigt worden, sonst wimmelte es hier längst von Schnellbooten, Kuttern und Jachten aus den umliegenden Häfen. Und mit ihnen Vertreter der Behörden, Fotografen, Ellenbogenjournalisten, Taucher. Es war keine Zeit zu verlieren. Der Kapitän mußte riskieren, Ichtiander ohne Kette ins tiefe Wasser zu lassen. Wie aber konnte er ihn zur Rückkehr zwingen? Wenn er dann noch an den Perlenberg dachte, von dem der Jüngling gesprochen hatte. Natürlich mußte er beides bekommen, aber zunächst galt es, an die Kostbarkeiten der „Maphaldu“ zu denken. So sann er nach einer List. Sobald die „Meduse“ Anker geworfen hatte, eilte Surita in seine Kajüte, schrieb flugs einige Zeilen und ging mit dem Zettel zu Ichtiander. „Kannst du lesen, mein Lieber? Guttiere hat dir geschrieben.“ Der Jüngling las: „Lieber Ichtiander! Erfülle meine Bitte. Neben der ,Meduse‘ liegt ein gesunkenes Schiff. Tauche zu diesem Wrack und berge alle Kostbarkeiten, die Du entdeckst. Mein Mann wird dich ohne Kette tauchen lassen, Du mußt mir aber versprechen — es ist zu unser beider Vorteil —, auf die ,Meduse‘ zurückzukommen. Erweise mir diesen Dienst, Ichtiander, und Du wirst bald in Freiheit sein. Guttiere.“ Guttiere hatte Ichtiander noch nie geschrieben. Er kannte ihre Handschrift nicht. Zwar freute ihn der Brief, zugleich aber wurde er nachdenklich. Wenn das nun eine Finte von Surita ist? „Warum bittet Guttiere mich nicht selbst?“ fragte der Jüngling und wies auf den Zettel. Pedro erklärte: „Sie fühlt sich nicht ganz wohl. Aber sobald du zurück bist, wirst du sie wiedersehen.“ „Wozu braucht Guttiere all diese Kostbarkeiten?“ Ichtiander war immer noch mißtrauisch. „Wenn du ein Weib hättest, würdest du solche Fragen nicht stellen. Natürlich für Kleider, auserlesenen Schmuck. So etwas kostet eine ziemliche Stange Geld. Und davon steckt viel in der untergegangenen ,Maphaldu‘. Goldmünzen mußt du finden. Achte auf die ledernen Postsäcke. Brich auch die Safes auf mit den Wertsachen der Passagiere.“ „Vielleicht verlangen Sie nun noch, daß ich die Leichen fleddere?“ Ichtiander war über soviel Raffgier entrüstet. „Ich glaube Ihnen nicht, kann mir überhaupt nicht vorstellen, daß es Guttiere um so viel Geld geht.“ Da Surita seinen Plan scheitern sah, schwenkte er süßlich auf eine andere Tour über. Er gab sich gutmütig. „Ich sehe, du läßt dich nicht ins Bockshorn jagen. Also will ich dir gegenüber aufrichtig sein. Nicht Guttiere allein wünscht den Reichtum der ,Maphaldu‘, sondern auch ich.“ Ichtiander nickte. Er mußte unwillkürlich lächeln. „Ich sehe, du beginnst — es ist auch in deinem Interesse — mich zu verstehen“, meinte der Kapitän. „Ich mache dir einen Vorschlag: Wenn du mir von der ,Maphaldu‘ so viel Gold bringst, wie dein Perlenschatz wert ist, lasse ich dich ohne Umschweife ins Meer. Ein solider Handel: Ware gegen Freiheit. Nur muß ich jetzt befürchten, daß du ohne Kette.“ „Gemach, gemach“, unterbrach. Ichtiander. „Wenn ich Ihnen mein Wort gebe, daß ich zurückkomme, so halte ich es auch.“ Surita ließ seine Gedanken schon wieder gaunern: Wenn er mir das Gold der „Maphaldu“ rangeschafft hat, werde ich die Perlen auch noch verlangen, unter dem Vorwand, beides wertmäßig miteinander abwägen zu können. So schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe. Und habe schließlich Ichtiander selbst noch dazu. Der Jüngling, der pro forma eingewilligt hatte, konnte sich so viel Gerissenheit schwerlich vorstellen. Surita drängte ihn: „Komm schneller.“ Er führte Ichtiander empor auf Deck und hieß ihn ins Meer springen. Die Matrosen, die diesen Vorgang verfolgten, begriffen sofort, daß der Amphibienmensch nach den Schätzen der „Maphaldu“ tauchte. Sollten sie zusehen, wie der Kapitän alles allein an sich raffte? Es war keine Zeit mehr zu verlieren. So überfielen sie Surita. Ichtiander indes hatte begonnen, das versunkene Schiff zu untersuchen, war durch die Luke des Oberdecks in einen geräumigen Korridor gelangt. Hier herrschte fast völlige Dunkelheit. Nur ein schwacher Lichtschein stahl sich durch die geöffneten Türen. In der Gesellschaftshalle setzte sich der Jüngling auf einen üppig verzierten Sessel und sah sich um. Ein eigenartiges Schauspiel: Stühle und Tische krabbelten an der Decke herum. Auf der Estrade stand ein offener Flügel. An den mahagonigetäfelten Wänden des Salons fraß schon das Wasser. Sie begannen wellig zu werden. Plötzlich hielt der Amphibienmensch erstaunt inne. Ihm entgegen schwamm irgendein Wesen, das seine Bewegungen genau nachahmte. Ein Spiegel, der die ganze Wand einnahm, hatte die Täuschung hervorgerufen. Hier waren keine Schätze zu erwarten. Ichtiander begab sich ein Deck tiefer ins Restaurant. Auf dem Mobiliar und am Boden lagen Weinflaschen und zerbeulte Konservendosen, garniert mit einem Wirrwarr von Silberbestecken. Weiter zu den Kabinen der Luxusklasse! Auch hier ein Chaos von durcheinandergewirbelten Gegenständen. Doch keine Spur von Menschen. Wahrscheinlich konnten sie sich auf Rettungsbooten rechtzeitig in Sicherheit bringen. Als Ichtiander jedoch die Kabinen der 3. Klasse erreichte, bot sich ihm ein schreckliches Bild: Überall umwimmelten ihn Leichen von Männern, Frauen und Kindern, die zumeist eine andere Hautfarbe trugen. Sie waren in der Panik offensichtlich übereinandergestürzt und hatten den Ausgang unentwirrbar versperrt. Den Jüngling packte das kalte Entsetzen. Er wollte so schnell wie möglich diesen Unterwasserfriedhof hinter sich haben. Guttiere konnte von ihm unmöglich verlangen, daß er die Taschen der Ertrunkenen umdrehte und ihre Koffer aufbrach. Wahrscheinlich war er wieder in eine von Suritas gemeinen Fallen geraten. Er beschloß, an die Oberfläche zu tauchen und zu verlangen, daß Guttiere ihre Bitte persönlich wiederholt. Als sich Ichtiander der „Meduse“ näherte, rief er nach Surita. Aber niemand antwortete ihm. Der Schoner schaukelte verlassen auf den Wellen. Der Amphibienmensch kletterte vorsichtig an Deck. „Guttiere!“ Sein Schrei bebte durch die unheimliche Stille. „Wir sind hier!“ Vom Ufer war Suritas Lebenszeichen schwach vernehmbar. „Guttiere ist erkrankt. Schwimm zu uns!“ Surita formte seine Hände zu einem Sprachrohr und schrie, was seine Lunge hergab. Ichtiander schwamm Hals über Kopf zum Ufer. Als er an Land steigen wollte, warnte ihn Guttieres erstickte Stimme: „Surita lügt! Rette dich, so schnell du kannst!“ Der Amphibienmensch tauchte ins offene Meer. Wie konnte er ahnen, daß in der Nähe das Unterseeboot Salvators die Wogen durchpflügte. Nur weit fort von den Menschen, dachte Ichtiander und verbarg sich im tiefen Wasser.: Der neue Vater Da die Fahrt des Unterseebootes erfolglos verlaufen war, zeigte sich Balthasar in miserabler Stimmung. Ichtiander hatten sie nicht gefunden, und Surita war mit Guttiere auf und davon. Da besuchte ihn sein Bruder Christo und heiterte ihn mit dieser Neuigkeit auf: „Ichtiander ist wieder da!“ „Was?!“ Balthasar, der die Nachricht kaum fassen konnte, sprang auf. „Erzähl, schnell.“ Christo berichtete: „Er war auf dem Wrack, hatte sich in der Tiefe verborgen. Nachdem wir jenen Ort verlassen hatten, tauchte er auf. Als ihn Surita ans Ufer locken wollte, warnte ihn Guttiere. Da schwamm er nach Hause.“ „Wo ist er jetzt?“ „Bei Salvator.“ „Ich gehe zu ihm. und verlange, daß er mir meinen Sohn zurückgibt.“ Balthasar polterte wie ein Bär. „Er gibt Ichtiander nicht her!“ entgegnete Christo. „Er verbot dem Jüngling, ins Meer zu schwimmen. Nur manchmal lasse ich ihn heimlich hinaus.“ „Er muß und wird ihn mir geben! Verweigert er‘s, so ermorde ich ihn. Komm, machen wir uns auf den Weg.“ Erschrocken winkte Christo ab. „Warte wenigstens bis morgen. Ich mußte mich vom Doktor unter dem Vorwand, meine ,Enkelin‘ zu besuchen, regelrecht fortstehlen. Er ist sehr mißtrauisch geworden und könnte mit seinem Argwohn deinen Plan zunichte machen.“ „Gut. Aber morgen komme ich auf jeden Fall. Und jetzt gehe ich zur Bucht. Vielleicht kann ich meinen Sohn wenigstens aus der Ferne sehen.“ Die ganze Sacht über saß Balthasar auf einem Felsen und beobachtete die brodelnden Wogen. Aber sosehr er auch spähte — er entdeckte nichts. Als die Morgendämmerung hereinbrach, saß er immer noch unbeweglich auf seinem Wachposten. Plötzlich aber fuhr der Indianer zusammen. Seine Adleraugen hatten einen in den Wellen schaukelnden Gegenstand wahrgenommen. Vielleicht ein Ertrunkener? Aber dieses Wesen schwamm ruhig auf dem Rükken, verschränkte die Arme unter dem Kopf. Es mußte der Amphibienmensch sein. Balthasar erhob sich, preßte seine Hände aufs Herz und schrie: „Ichtiander! Mein Sohn!“ Dann stürzte sich der Greis mit erhobenen Armen ins Meer. Als er wieder emportauchte, sah er die Wasserfläche tot. Verzweifelt kämpfte er mit der Brandung. Eine Riesenwelle erfaßte ihn, spülte ihn rücklings auf den Strand und rollte dann hohl gurgelnd zurück. Nachdem Wind und Sonne Balthasars Kleider getrocknet hatten, ging er zur Mauer, die Salvators Gelände umschloß, und klopfte an die Tür. „Wer ist da?“ fragte am Guckloch der Neger. „Ich muß den Doktor in einer dringenden Angelegenheit sprechen.“ „Der Doktor empfängt niemanden“, antwortete der Neger abweisend. Das Guckloch schloß sich wieder. Der alte Indianer hämmerte wie wild, heulte wie ein Rudel Wölfe. Aber das Tor blieb versperrt. Nur Hundegebell drohte hinter der Mauer. „Wart nur, du verfluchter Spanier!“ Balthasar kehrte zornig in die Stadt zurück. Hier steuerte er auf das Gasthaus „Zur Palme“ zu, das sich in der Nähe des Gerichtsgebäudes befand und tagsüber mit den vielen Klägern, Beklagten und Zeugen, die sich die Wartezeit mit Wein und Pulque abkürzten, wie eine Abteilung dieser Institution anmutete. Ein behender Junge eilte ununterbrochen zwischen Gericht und Gasthaus hin und her, um die letzten Neuigkeiten zu verbreiten. Winkeladvokaten und falsche Zeugen boten ihre Dienste feil. Balthasar war in Angelegenheiten seines Ladens schon öfter in der „Palme“ gewesen. Er wußte, daß er hier den richtigen Mann finden würde, der eine Bittschrift abfassen konnte. Der Nachrichtenknabe sagte, daß Don Flores de Larja auf seinem gewohnten Platz sitze. Der mit dem hochtrabenden Namen war einst ein kleiner Angestellter bei Gericht gewesen und wegen Bestechlichkeit entlassen worden. Jetzt hatte er viele Klienten: Wer zweifelhafte Geschäfte betrieb, wandte sich vertrauensvoll an diesen Rechtsverdreher. Auch Balthasar hatte schon mit ihm zu tun gehabt. Auf dem Tisch des Advokaten stand ein Krug mit Wein. Daneben eine vollgestopfte Aktentasche. Der Füllfederhalter klemmte arbeitsbereit an Larjas abgeschabter olivfarbener Jacke. Der Mann war dick, glatzköpfig und hochmütig. Beilässig nickte er mit dem. Kopf und wies Balthasar auf den ihm gegenüberstehenden Korbsessel. „Bitte setz dich. Wo drückt der Schuh, womit kann ich dienen?“ „Eine große Sache. Eine wichtige Sache, Larja.“ „Don Flores de Larja“, verbesserte der Advokat und trank einen Schluck aus dem Krug. Balthasar, dem die Titulierungssucht langsam gegen den Strich ging, betonte die Ernsthaftigkeit seines Anliegens. „Dann red‘ schneller“, entgegnete der Advokat in gefälligerem Ton. „Kennst du den Meerteufel?“ fragte der Indianer. „Hatte bis jetzt noch nicht die Ehre, mit ihm persönlich bekannt zu werden, hörte jedoch schon von ihm.“ Larja tat wie immer wichtigtuerisch. „Hör bitte gut zu. Das Wesen, welches Meerteufel genannt wird, ist mein Sohn Ichtiander.“ „Das ist doch ganz und gar unmöglich!“ rief der Advokat. „Mir scheint, du hast einen zuviel getrunken, Balthasar.“ Der Indianer schlug empört mit der Faust auf den Tisch. „Ich bin noch nie in meinem Leben nüchterner gewesen und spreche nichts als die reine Wahrheit.“ Und dann erzählte er Larja die Geschichte von A bis Z. Des Advokaten Augenbrauen hoben sich immer höher. Endlich hielt er es nicht mehr aus, vergaß seine gespielte Würde, hieb mit der fetten Hand auf den Tisch und zwitscherte: „Tausend Teufel! Das nenn ich mir eine Überraschung.“ Ein Kellner mit schmutziger Serviette kam an seinen Tisch gelaufen. „Was wünschen die Herren?“ Larja bestellte ob des in Aussicht stehenden Geschäftes zwei Flaschen des besten Sektes und meinte, als er sich wieder zu Balthasar wandte: „Ehrlich gestanden, die schwächste Stelle in der ganzen Sache ist deine Vaterschaft. Ich spreche zu dir als Jurist. Vom Standpunkt der gerichtlichen Beweiskraft sind die Tatsachen eben sehr schwach. Aber das könnte man alles aufpolieren. Und es wäre dabei vielleicht viel Geld aufpolieren. Und es wäre dabei vielleicht viel Geld zu gewinnen.“ „Ich will keinen Zaster, sondern meinen Sohn.“ Balthasar entrüstete sich. „Geld kann aber sehr beruhigen“, meinte Larja und kniff schlau die Augen zusammen. „Am wichtigsten in der ganzen Angelegenheit scheint mir, daß wir nun wissen, was Salvator so treibt mit seinen seltsamen Operationen. Daraus kann man ihm einen solchen Strick drehen, daß die Peseten rollen werden, als würde der Sturm überreife Apfelsinen vom Baum rütteln.“ Der alte Indianer überlegte und nippte an seinem Weinglas. „Ich will meinen Sohn haben. Setz mir eine Bittschrift auf fürs Gericht.“ „Niemals!“ entgegnete der Advokat erschrocken. „Das wäre unklug, könnte die ganze Sache gleich zu Beginn verderben. Wir sollten uns so etwas nur als letztes Druckmittel offenhalten.“ „Was rätst du dann?“ fragte Balthasar. „Zunächst schicken wir Salvator einen höflichen Brief. Teilen ihm darin mit, daß wir über seine unerlaubten Versuche informiert sind. Wenn er verhindern möchte, daß diese Angelegenheit an die Öffentlichkeit gelangt, so soll er für unser Schweigen ein rundes Sümmchen berappen. Hunderttausend. Und keine Peseta weniger.“ Larja blickte lauernd auf seinen Partner, der mit düsterer Mine schwieg, und fuhr in seinem Ränkespiel fort: „Zweitens: Sobald wir die vereinbarte Summe erhalten haben — und daran zweifle ich nicht —, schreiben wir dem Doktor einen weiteren Brief, den wir noch höflicher halten. Darin teilen wir ihm mit, daß sich der richtige Vater von Ichtiander gemeldet hat und wir dafür einwandfreie Beweise in den Händen haben. Du verlangst als Vater deinen Sohn zurück und betonst, daß du im Weigerungsfalle deine Ansprüche vor Gericht geltend machen würdest. Und könntest ferner protestieren: ,Sie haben Ichtiander, meinen Sohn, durch eine Operation verunstaltet.‘ Falls Salvator einen Prozeß verhindern und das Kind behalten will, so fordern wir, daß er bei einer von uns bestimmten Person zu bezeichneter Zeit eine Million Dollar hinterlegt.“ Balthasar wurde die Sache langsam zu bunt. Er hätte diesem Winkeladvokaten am liebsten mit der Weinflasche über den Schädel geschlagen. Larja hatte den Indianer noch nie so außer sich gesehen. „Beruhige dich, es war doch alles nur Spaß!“ Und vorsichtigerweise schützte er mit der Hand seinen glänzenden Schädel. Balthasar schrie wütend: „Du hast mir geraten, den eigenen Sohn zu verkaufen? Ich soll mich von Ichtiander lossagen? Hast du denn überhaupt kein Herz?“ „Ich verstehe und fühle alles!“ Der Advokat versuchte, seinen Klienten zu beruhigen, und bat, ihn weiter anzuhören. „Ich wette meinen Kopf, daß Salvator die geforderte Million zahlt. Über meinen Anteil — vielleicht fifty-fifty — werden wir unter uns schon handelseinig werden. Und sobald wir alles im Kasten haben …“ „. verklagen wir den Doktor“, ergänzte Balthasar, der hinter Larjas Schliche gestiegen war. „Wart doch! Von Newspapers, dem größten Zeitungskonzern, läßt sich ein weiteres Sümmchen für einen Exklusivbericht über dieses sensationelle Verbrechen herausschinden — ich schätze so an die 50.000 Dollar. Ein hübsches Taschengeld. Vielleicht fällt uns auch noch eine Belohnung der Geheimpolizei zu. Und wenn wir aus unserem Geschäftchen herausgeholt haben, was herauszuholen ist, gehst du zum Gericht und berufst dich auf deine Vatergefühle. Man wird dir schon zu deinem Recht verhelfen.“ Der Advokat leerte sein Glas auf einen Zug, setzte es hart auf den Tisch und sah Balthasar siegessicher an. „Was sagst du jetzt?“ „Ich kann nicht essen und nicht schlafen — und du rätst mir, die Sache in die Länge zu ziehen. Ich möchte meinen Sohn sofort haben.“ Larja fuhr von seinem Sitz hoch. „Hast du denn völlig den Verstand verloren? Zwanzig Jahre lang hast du es ohne Ichtiander ausgehalten. Und nun kann‘s dir gar nicht schnell genug gehn, möchtest du die Million einfach in den Wind blasen. Du bist ein unverbesserlicher Dummkopf. Solch eine Chance erhält man doch nicht alle Tage!“ Aber der Indianer beharrte: „Schreib das Gesuch ans Gericht, oder ich gehe zu einem anderen Anwalt.“ Der Advokat sah ein, daß es ziemlich nutzlos war, noch länger zu feilschen. Er schüttelte den Kopf. Seufzte und begann die Klage gegen Salvator aufzusetzen, der sich gesetzwidrig einen Sohn angeeignet und ihn dann verstümmelt hatte. „Gib her!“ Balthasar griff nach dem Papier. „Reich die Klage am besten beim Gerichtspräsidenten persönlich ein“, rief Larja seinem Klienten nach. Doch vor sich hin brummte er: „Am. allerbesten aber wäre, wenn dieser Blödian die Treppe herunterfiele und sich die Beine bräche.“ Als Balthasar das Gerichtsgebäude verlassen wollte, stieß er fast mit Surita zusammen. „Was hast du hier zu suchen?“ Der Kapitän musterte den alten Indianer, als sei ihm eine Laus über die Leber gelaufen. „Willst du mich vielleicht verklagen?“ „Man sollte euch alle in die Hölle schicken“, antwortete Balthasar gereizt. „Wo hast du meine Tochter versteckt?“ „Du duzt mich. Wir haben noch keine Schweine miteinander gehütet. Wärst du nicht der Vater meiner Frau, so würde ich dich jetzt mit meinem Stock verprügeln.“ Surita schob den Indianer grob beiseite, stieg die breite weiße Treppe hinauf und verschwand hinter einer Eichentür. Der ungewöhnliche juristische Fall Den Gerichtspräsidenten von Buenos Aires besuchte ein seltener Gast — der Dekan der Kathedrale, Bischof Juan de Garsillasso. Der dicke, kleine Mensch — die Jackenknöpfe über seinem Bauch schienen jeden Moment abzuspringen —, mit verschwommenen listigen Augen, bat den kirchlichen Würdenträger, in einem schweren Ledersessel Platz zu nehmen. Das Gesicht des Bischofs Juan de Garsillasso wirkte auffallend blaß und schmal. Seine dünne gebogene Nase, das spitze Kinn und die dünnen, fast blauen Lippen verliehen ihm ein kränkliches Aussehen. Sein Einfluß war außerordentlich groß. Er verließ nicht ungern das religiöse Feld, steuerte maßgeblich auch das politische Spiel seiner Stadt. Ohne Umschweife kam er auf den Grund seines Besuches zu sprechen. „Ich würde gern erfahren, wie es mit der Angelegenheit von Professor Salvator steht.“ „Oh, auch Sie, Euer Hochwürden, interessieren sich für diese Sache?“ Der Gerichtspräsident dienerte. „Ja, das ist schon ein ungewöhnlicher Prozeß!“ Er nahm ein dickes Aktenbündel vom Tisch, blätterte darin herum und fuhr fort: „Auf eine Anzeige von Pedro Surita hin wurde Professor Salvators Haus durchsucht. Die Anschuldigung, daß der Doktor außergewöhnliche Operationen an Tieren ausführe, bewies sich. In den Gärten des Anwesens fand man eine ganze Ansammlung von Mißgeburten. Salvator hat zum Beispiel …“ „Das Resultat der Haussuchung ist mir aus den Presseberichten bekannt“, unterbrach der Bischof. „Welche Schritte unternehmen Sie gegen Salvator? Wurde er verhaftet?“ „Ja, der sitzt hinter Schloß und Riegel. Außerdem wurde als lebender Beweis und Zeuge der Anklage ein junger Mann namens Ichtiander in die Stadt gebracht. Wer hätte sich vorstellen können, daß der berüchtigte Meerteufel, der uns schon so lange beschäftigt, eines der Ungeheuer aus Salvators Zoo ist. Jetzt erforschen Universitätsprofessoren diese seltsame Geschöpf. Er befindet sich im Keller des Gerichts und macht uns eine Menge Scherereien. Stellen Sie sich vor, wir mußten extra ein großes Becken anfertigen lassen, denn der Meerteufel kann nicht ohne Wasser leben. Offenbar hat Salvator seinen Organismus ungewöhnlich verändert, den Jüngling in einen Amphibienmenschen verwandelt. Unsere Wissenschaftler sind dabei, alle Fragen zu klären.“ „Mich interessiert allerdings weitaus mehr das Schicksal Salvators“, unterbrach der Bischof. „Wie lautet die Anklage? Meinen Sie, daß der Doktor verurteilt wird?“ „Das ist ein ungewöhnlicher juristischer Fall“, antwortete der Gerichtspräsident. „Ich muß gestehen, daß ich einigermaßen ratlos bin. Unter welch einen Paragraphen fällt solch ein Verbrechen? Bestenfalls ließe sich Salvator wegen Verletzung medizinischer Vorschriften anklagen. Außerdem erhielt ich eine weitere Anzeige von einem Indianer namens Balthasar. Er gibt vor, daß Ichtiander sein Sohn sei. Seine Beweise sind sehr schwach, aber wir können ihn als Belastungszeugen verwenden. Aber der wundeste Punkt der Sache: Die Sachverständigen können Salvator als einen unzurechnungsfähigen Geisteskranken erklären.“ Der Bischof schwieg, preßte seine dünnen Lippen zusammen und starrte auf die Tischdecke. Dann sagte er leise: „Das hätte ich von Ihnen nicht erwartet.“ „Was, Euer Hochwürden?“ „Sogar Sie, der Hüter der Ordnung, scheinen Salvators Untaten zu entschuldigen. Das Urteil der Kirche, das Urteil des Himmels ist schwerwiegender. Haben Sie, Herr Gerichtspräsident, vergessen, was in der Heiligen Schrift steht: ,Dann sprach Gott: Lasset uns Menschen machen nach unserem Abbild, uns ähnlich.‘ Woher nimmt Salvator die Frechheit, an dieser Gottesforderung etwas zu verbessern, zu verändern, den Menschen zu einem Wasserwesen zu verstümmeln? Ist das nicht Frevel und Lästerung? Wo soll es hinführen, wenn sich herumspricht: Der Mensch ist von Gott schlecht erschaffen worden, man muß ihn bei Dr. Salvator umarbeiten lassen. Liefe das nicht auf eine verbrecherische Zersetzung der Religion hinaus? Verstehen Sie mich bitte richtig: Ichtiander darf nicht existieren! Am besten wäre es, wenn Gott diesen unglücklich verstümmelten Jüngling zu sich rufen würde. Die Kirche jedenfalls wird den Kampf nicht aufgeben, bis beide, Dr. Salvator und der Meerteufel, vernichtet sind.“ Der Staatsanwalt saß gedrückt, ohne die Flut der Drohungen zu unterbrechen. Schließlich sagte er: „Als Christ bitte ich um Vergebung meiner Sünden. Als Staatsmann bringe ich Ihnen Dank für die mir erwiesene Aufklärung. Nun muß der Arm des Gesetzes walten.“ Der geniale Narr Doktor Salvator hatte die Festnahme nicht gebrochen. Auch im Gefängnis blieb er ruhig und selbstbewußt. Mit den Untersuchungsrichtern und Sachverständigen sprach er herablassend, wie ein Erwachsener mit Kindern. Seine Natur erlaubte ihm nicht, untätig herumzusitzen. Er schrieb viel und wurde im Gefängnislazarett zu Operationen gerufen. So zählte auch die Frau des Gefängnisaufsehers zu seinen Patienten. Eine bösartige Geschwulst drohte tödlich zu verlaufen. Salvator rettete sie in dem Augenblick, als ein Ärztekonsortium erklärte, die Medizin sei in diesem Falle machtlos. Der Tag der Gerichtsverhandlung war angebrochen. Der Saal konnte die vielen Zuschauer nicht fassen. Das Publikum drängte sich selbst in den Korridoren, füllte den Platz vor dem Gerichtsgebäude, spähte durch die geöffnetem. Fenster. Salvator nahm völlig gelassen auf der Gerichtsbank Platz. Er verhielt sich so selbstbewußt, daß es einem Fremden scheinen konnte, daß nicht er, sondern der Richter der Angeklagte sei. Auf Verteidiger hatte Salvator verzichtet. Hunderte Augen richteten sich neugierig auf ihn. Nicht weniger Interessen erweckte Ichtiander, aber er wohnte dem Prozeß nicht bei. In den letzten Tagen hatte sich der Amphibienmensch nicht wohlgefühlt. In seinem Wasserbecken verbarg er sich vor lästigen Blicken. Das Gericht beschloß, Ichtianders Verfahren gesondert abzuspulen. Drei wissenschaftliche Sachverständige gaben ihre Gutachten bekannt. Universitätsprofessor Schein, der Hauptsachverständige begann: „Wir haben die von Doktor Salvator operierten Tiere und den Jüngling Ichtiander untersucht, auch seine mit großer Fachkenntnis eingerichteten Laboratorien und die Chirurgie besichtigt. Doktor Salvator benutzte bei seinen Operationen die modernsten Geräte, beispielsweise elektrische Messer, die desinfizierend wirken. Er wandte auch ultraviolette Strahlen an. Und wir entdeckten bei ihm Instrumente, die unsere Chirurgen nicht kennen. Es ist anzunehmen, daß diese eigens nach seinen Angaben angefertigt wurden. Seine Experimente führten zu außerordentlich verwegenen, glänzend ausgeführten Operationen: Verpflanzungen von einzelnen Geweben und ganzen Organen, Zusammenfügen von zwei Tieren, die Umwandlung von Weibchen in Männchen, Verjüngungsmethoden. In Salvators Gärten fanden wir auch Kinder, die den verschiedensten Indianerstämmen angehören.“ „In welchem Zustand fanden Sie diese Wesen?“ fragte der Staatsanwalt. „Alle Kinder sind gesund. Sie tobten vergnügt in den Gärten umher. Viele von ihnen hat der Doktor dem Tode entrissen. Die Indianer glauben an ihn und schleppen ihre erkrankten Zöglinge aus den entlegensten Gegenden herbei — von Alaska bis Feuerland.“ Der Staatsanwalt wurde unruhig. Die Weisungen des Bischofs geboten ihm, diese Verhandlung nicht zu einer Lobpreisung des Doktors ausarten zu lassen. Darum fragte er den Gutachter: „Sind Sie der Meinung, daß Doktor Salvators Operationen nützlich waren?“ Der Gerichtsvorsitzende, befürchtend, daß der Sachverständige eine bejahende Antwort geben könnte, griff rasch ein: „Das Gericht ist nicht daran interessiert, die persönlichen Ansichten des Experten über wissenschaftliche Fragen zu hören. Ich bitte fortzufahren: Was ergab die Untersuchung des Jünglings Ichtiander?“ „Sein Körper ist mit einer künstlichen Schuppenhaut bedeckt“, berichtete der Experte, „aus einem unbekannten elastischen, jedoch äußerst widerstandsfähigen Gewebe. Die Analyse dieses Stoffes ist noch nicht abgeschlossen. Im Wasser benutzte das Wesen manchmal eine Brille, mit Spezialgläsern aus Flintglas, die einen ungewöhnlichen Brechungsindex aufweisen. Das gab ihm die Möglichkeit, unter Wasser sehr gut und sehr weit zu sehen. Als wir dem Jüngling die Schuppenhaut ausgezogen hatten, entdeckten wir unter beiden Schulterblättern runde Öffnungen. Sie haben einen Durchmesser von zehn Zentimetern. Die Öffnungen sind von fünf dünnen Streifen bedeckt und sehen den Kiemen eines Haifisches sehr ähnlich.“ Im Saal wurde Erstaunen laut. „Ja“, bekräftigte der Experte seine Untersuchungen, „das scheint ganz unglaublich zu sein. Aber hören Sie weiter: Ichtiander besitzt gleichzeitig die Lunge eines Menschen und die Kiemen eines Haifisches. Darum kann er sowohl an der Luft als auch unter Wasser leben.“ „Also so etwas wie ein Amphibienmensch?“ fragte der Staatsanwalt scharf. „Ja, ein zweifach atmendes Wasser- und Erdgeschöpf.“ „Auf welche Weise kann Ichtiander zu seinen Haifischkiemen gekommen sein?“ wollte der Gerichtsvorsitzende wissen. Der Experte breitete seine Arme aus. „Das, Hohes Gericht, bleibt mir selbst ein Rätsel. Vielleicht könnte es uns Doktor Salvator lösen. Die biologischen Gesetze jedenfalls besagen, daß jedes Lebewesen sämtliche Entwicklungsstadien durchmachen muß, die seine Art im Laufe von Jahrmillionen in der Entstehung aufweist. Wir können mit Sicherheit behaupten, daß der Mensch von Vorfahren abstammt, die mit Kiemen atmeten.“ Der Staatsanwalt stieg auf einen Stuhl, doch der Gerichtsvorsitzende gebot ihm Einhalt. Der Wissenschaftler holte zu einem weiteren Exkurs aus: „Am zwanzigsten Tag seiner Entwicklung werden beim menschlichen Embryo vier hintereinander angeordnete Kiemen sichtbar. Dieser Apparat bildet sich später um: Der erste Kiemenbogen verwandelt sich in den Gehörgang mit den Gehörknöchelchen und der Eustachischen Röhre; aus dem unteren Teil dieses Kiemenbogens entwickelt sich der Unterkiefer des Menschen; der zweite Bogen geht über in die Fortsätze und den Unterzungenknochen; der dritte Bogen wird zum. Schildknorpel des Kehlkopfes. Wir vermuten nicht, daß es Doktor Salvator gelungen ist, Ichtianders Entwicklung im Embryonalstadium aufzuhalten. Gewiß, der Wissenschaft sind Fälle bekannt, wo es sogar bei erwachsenen Menschen offengebliebene, nicht verwachsene Kiemenöffnungen am Halse unter dem Unterkiefer gibt. Das sind sogenannte Halsfistel. Es ist jedoch gänzlich unmöglich, mit solchen Kiemen unter Wasser zu leben. Bei einem anormalen Prozeß des Embryos entwickeln sich die Kiemen auf Kosten der Gehörorgane, und es entstehen anatomische Veränderungen. In einem solchen Falle aber wäre aus Ichtiander ein Ungeheuer mit dem unentwickelten Kopf eines Fischmenschen geworden. Dieser Jüngling jedoch ist normal entwickelt, mit ausgezeichneten Gehör, mit gut entwickeltem Unterkiefer und normalen Lungen, dennoch: Er besitzt vollentwickelte Kiemen. Wie Kiemen und Lungen funktionieren, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, ob das Wasser durch den Mund in die Lungen und dann in die Kiemen gelangt oder in die Kiemen durch die ziemlich kleinen Öffnungen, die wir an seinem Körper entdeckten, das alles können wir nicht sagen. Dieses Rätsel kann uns nur Doktor Salvator beantworten.“ „Mich hätte interessiert, zu welcher Schlußfolgerung denn nun Sie selbst gekommen sind“, forderte der Gerichtsvorsitzende den Experten eindringlich auf. Universitätsprofessor Schein, der als Wissenschaftler und Chirurg einen klangvollen Namen besaß, bestätigte: „Ich muß gestehen, daß ich von dem allen nichts verstehe, das Unbekannte wie Böhmische Dörfer auf mich zuprallt. Ich kann nur eines sagen: Was Doktor Salvator vollbracht hat, ist die Leistung eines Genies. Er hat als Chirurg eine so große Kunstfertigkeit erreicht, daß er den Organismus eines Tieres oder Menschen nach eigenem Belieben zerlegen und wieder zusammensetzen kann. Eine chirurgische Kühnheit, die für meine Begriffe bereits an Wahnsinn grenzt.“ Salvator lächelte verächtlich. Er konnte nicht wissen, daß die Sachverständigen insgeheim, beschlossen hatten, den Gerichtsakt in eine bestimmte Richtung zu steuern. Sie wollten seine Zurechnungsfähigkeit bezweifeln, damit er statt in den Kerker in eine Heilanstalt gebracht würde. „Ich will nicht behaupten, daß Doktor Salvator von Sinnen ist“, beendete der Experte sein Gutachten, „aber ich möchte unterstreichen, daß der Angeklagte am besten in einem Sanatorium für Geisteskranke unterzubringen wäre, wo er einer längeren Untersuchung und Überwachung durch Psychiater unterzogen werden müßte.“ „Die Frage der Unzurechnungsfähigkeit des Angeklagten stellte sich bis jetzt nicht“, entgegnete der Vorsitzende. „Das Gericht wird diesen neuen Umstand berücksichtigen. Doktor Salvator, möchten Sie sich zu den Fragen des Sachverständigen und des Staatsanwaltes äußern?“ „Ja“, rief der Angeklagte in den Saal. „Ich will einige wichtige Aufklärungen geben. Und das soll gleichzeitig mein Schlußwort sein.“ Das Wort des Angeklagten Salvator erhob sich sehr ruhig und überblickte den Gerichtssaal. Zwischen den Zuschauern bemerkte er Balthasar, Christo und Surita. In der ersten Reihe saß der Bischof. Auf ihm ließ der Doktor seinen Blick etwas länger ruhen. Und ein kaum merkbares Lächeln huschte über sein Gesicht. Dann suchte Salvator weiter, seine Augen durchforschten aufmerksam den ganzen Saal. „Ich kann den Geschädigten in diesem Raum nicht entdecken“, sagte er. „Der Betroffene bin ich!“ schrie plötzlich Balthasar, von seinem Platz aufspringend. Christo zog seinen Bruder rasch auf den Stuhl zurück. „Aber nicht doch“, wandte Salvator ein. „Der Geschädigte kann doch nur Gott sein, und den kann man in dieser Runde keineswegs erblicken.“ Als der Vorsitzende diese Behauptung vernahm, lehnte er sich befremdet in seinem Stirnsessel zurück. War Salvator denn tatsächlich verrückt geworden? Oder schauspielerte er, um der Gefängnisstrafe zu entgehen? „Wie meine Sie das?“ fragte der Vorsitzende lauernd. Salvator wiederholte: „Der einzige Geschädigte in dieser Sache kann doch nur der Herrgott höchstpersönlich sein. Nach Meinung des Gerichtes untergrabe ich seine Autorität, dringe frech in seinen Bereich ein. ER — und nach ihm die Kirche — war mit seiner Schöpfung zufrieden. Auf einmal aber kommt irgendein Doktor und erklärt: ,Das war schlechte Arbeit. Ich muß sie verbessern.‘ Und er beginnt, die Geschöpfe nach seinem Maße umzugestalten.“ „Das ist Gotteslästerung!“ protestierte der Staatsanwalt. „Ich verlange, diese ungeheuerlichen Worte des Angeklagten in das Protokoll aufzunehmen.“ Salvator konterte: „Ich wiederhole nur den Inhalt der Anklage. Anfangs beschuldigte man mich nur, daß ich durch Operationen Körper beschädigt oder verunstaltet hätte. Jetzt werde ich gar der Gotteslästerung bezichtigt. Woher bläst der Wind? Vielleicht von Seiten der Kathedrale?“ Der Doktor hielt inne und blickte unverwandt auf den Bischof. „Ihr, Juan de Garsillasso, habt das Verfahren angestrengt. Und so rufe ich einen gewissen Charles Darwin auf die Anklagebank, denn nichts ist so vollkommen, als das es nicht noch vollkommener sein könnte. Herr Bischof, Sie haben es am eigenen Leibe verspürt.“ Die Zuschauer raunten, waren erstaunt über diese Mitteilung. Salvator eröffnete ihnen weiter: „Im Jahre 1915, kurz bevor ich an die Front kam, hatte ich die Ehre, im Bauche des geehrten Herrn Bischofs eine kleine Verbesserung vorzunehmen, ihm den Blinddarm zu entfernen, jenes überflüssige und schädliche Anhängsel. Als mein geistlicher Patient auf dem Operationstisch lag, weigerte er sich mit keiner Miene gegen die ,Verunstaltung‘ des Abbildes Gottes. Mit meinem Messer schnitt ich ihm Stück für Stück den Appendix heraus.“ Juan de Garsillasso saß unbewegt da. Seine bleichen Wangen hatten sich leicht gerötet, und seine dünnen Finger zitterten. Der Doktor spielte eine weitere Trumpfkarte aus: „Gab es nicht noch einen anderen Fall? Als ich praktizierte und Verjüngungsoperationen ausführte, bimmelte an meiner Praxistür der ehrenwerte Staatsanwalt Augusto de.“ Der Betroffene wollte protestieren, aber seine Worte wurden vom lauten Gelächter des Publikums übertönt. „Bitte nicht abschweifen“, forderte der Gerichtsvorsitzende streng. „Beruhigen Sie sich“, bat der Doktor. „Das Gericht selbst drängt mir die Ihnen so unangenehmen Erläuterungen auf. Ich beabsichtige nicht, vor diesem Gremium Nachhilfestunden über die Evolutionstheorie zu halten, licht die Tatsache ist erschrecklich, daß der Mensch von Tieren abstammt, sondern, daß er immer noch nicht aufgehört hat, sich tierisch zu gebärden: grausam, böse und dumm. Mein gelehrter Kollege hat Sie unnötig beunruhigt. Er hätte zu Ihnen nicht über die Entwicklungsstadien des Embryos sprechen sollen. Ich beschäftige mich nicht damit, keimendes Leben zu beeinflussen, ebensowenig mit Tierkreuzungen. Ich bin Chirurg. Mein einziges Werkzeug war das Messer. Mit ihm half ich den Menschen und heilte sie. Beim Operieren der Kranken mußte ich oft Gewebe transplantieren, Organe, Drüsen. Um mein Verfahren zu vervollständigen, experimentierte ich zunächst an Tieren. Lange Zeit nach dem Eingriff beobachtete ich sie in meinen Laboratorien, um zu ergründen, wie sich die Organe, die ich an neue und ungewöhnliche Stellen verpflanzte, verhalten. Für diese Untersuchungszwecke richtete ich den großen Garten ein. Mich interessierte ganz besonders die Verpflanzung und der Austausch von Geweben zwischen sehr entfernt stehenden Tieren, beispielsweise zwischen Fischen und Säugetieren. Dabei gelang mir, was die Gelehrten, für unvorstellbar halten. Doch was an alledem so außergewöhnlich ist? Was ich heute probierte, wird morgen jeder Durchschnitts Chirurg aus dem Effeff leisten. Professor Schein erinnert sich bestimmt an die letzten Operationen des deutschen Chirurgen Sauerbruch. Er ersetzte einen kranken Oberschenkel durch einen gesunden Unterschenkel.“ „Und Ichtiander?“ fragte voller Neugierde der Experte. „Ja, das ist mein ganzer Stolz.“ Der Doktor begann, sein Geheimnis zu lüften. „Bei dieser Operation war nicht allein die Technik schwierig, ich mußte die Funktion des menschlichen Organismus vollständig umgestalten. Sechs Affen starben an vorhergehenden Experimenten, ehe es mir gelang, mein Ziel zu erreichen. Erst jetzt konnte ich das Kind operieren, ohne sein Leben zu gefährden.“ „Worin bestand dieses Experiment?“ fragte der Vorsitzende. „Ich verpflanzte dem Kind die Kiemen eines jungen Haifisches. So erhielt es die Möglichkeit, auf der Erde und unter Wasser zu leben.“ Im Publikum wurden Rufe des Verwunderns laut. Die Journalisten hetzten zu den Telefonen, um ihren Zeitungen diese sensationelle Nachricht zu drahten. Salvator berichtete weiter: „Später gelang es mir, ein noch besseres Resultat zu erzielen. Mein letztes Experiment, ein Amphibienaffe, den Sie im Garten besichtigten, kann sich ohne Schädigung seiner Gesundheit unbegrenzt lange Zeit über und unter Wasser aufhalten. Ichtiander jedoch kommt nicht länger als drei oder vier Tage ohne Wasser aus. Leider hat er während meiner Abwesenheit die festgesetzten Verhaltensmaßregeln oft nicht befolgt. Er blieb zu lange an der Luft, überanstrengte seine Lungen. Als Folge trat bei ihm eine ernste Krankheit auf. Das Gleichgewicht seines Organismus wurde gestört, so daß er jetzt den größten Teil der Zeit unter Wasser verbringen muß. Der Amphibienmensch verwandelte sich in einen Fischmenschen.“ „Erlauben Sie, an den Angeklagten eine Frage zu richten“, sprach der Staatsanwalt, sich an den Vorsitzenden wendend. „Wie kam Salvator eigentlich auf den Gedanken, einen Amphibienmenschen zu schaffen? Welchen Zweck verfolgte er damit?“ „Der Mensch ist einigermaßen unvollkommen“, sagte Salvator. „Während des Evolutionsprozesses erhielt er im Vergleich zu seinen tierischen Vorfahren zwar große Vorzüge, verlor aber gleichzeitig viel von dem, was er auf der. niedrigsten Stufe seiner Entwicklung besessen hatte. Die Lebensfähigkeit im Wasser würde ihm große Vorteile vermitteln. Es ist uns bekannt, daß einige Landtiere wieder ins Wasser zurückgekehrt sind. Der Delphin war ursprünglich ein Fisch, siedelte dann an Land über, wurde ein Säugetier, kehrte jedoch wieder ins Wasser zurück. Der Wal und der Delphin atmen mit Lungen. Man könnte dem Delphin helfen, eine zweifache Amphibie zu werden. Ichtiander bat mich darum: Dann könnte sein Freund Leading für lange Zeit mit ihm unter Wasser bleiben. Ich hatte die Absicht, diesen Delphin zu operieren. Der erste Fisch zwischen den Menschen und der erste Mensch zwischen den Fischen! Wenn außer Ichtiander sich noch andere Menschen im Meer ausbreiten könnten, so würde sich das Leben ganz anders gestalten. Mehr als sieben Zehntel der Erdoberfläche sind öde Wasserflächen. Mit ihren unerschöpflichen Vorräten an Nahrungsmitteln und Industrierohstoffen könnten sie Millionen, ja sogar Milliarden von Menschen ohne Gedränge beherbergen. Wie in einem Wohnhaus ließen sich etliche Unterwasseretagen einrichten. Und dann erst die Gewalten des Meeres, die Kraft des Wellenganges und der Gezeiten die riesige Kraftwerke antreiben könnten. Oder die gewaltige Energie der Sonnenwärme, die auf den Ozean einwirkt. Würde sie vom Wasser nicht an die Luft abgegeben, so kochte das Weltmeer schon längst. Ein unendlicher, immer noch nicht genutzter Energiespeicher. An Land existiert Leben nur an der Oberfläche und bis zu relativ geringen Höhen, unter der Erde ist kaum etwas anzutreffen. Das Meer hingegen wimmelt von Lebewesen, vom Äquator bis zu den Polen, selbst noch in zehntausend Meter Tiefe. Wie machen wir uns diese unermeßlichen Schätze zunutze? Gewiß, wir fangen Fische, aber wir rahmen bisher nur die oberste Schicht des Wassers ab: außer Fischen noch Schwämme, Korallen, Perlen, Tang — das ist alles. Alle Arbeiten unter Wasser sind mit großen Gefahren verbunden. Etwas anderes wäre es, wenn der Mensch ohne Taucheranzug und Sauerstoffgerät hinabsteigen könnte. Wie viele Schätze ließen sich da entdecken! Ichtiander brachte mir vom Meeresgrund Proben von seltenen Metallen und Gesteinen. Es ist anzunehmen, daß die Ozeane Bodenschätze in ungeheurem Ausmaße bergen. Und all die versunkenen Schätze. Erinnern Sie sich an die ,Lusitiana‘? Im Frühjahr 1916 wurde sie von deutschen U-Booten vor der Küste Irlands versenkt. An Bord befanden sich Goldmünzen und Barrengold im Werte von 200 Millionen Dollar. Außerdem zwei Schatullen mit Brillianten, die nach Amsterdam gebracht werden sollten. Darunter der schönste Stein der Welt — der ,Kalif‘ —, der viele Millionen wert ist. Natürlich könnte sich sogar ein Mensch wie Ichtiander nicht in solch große Tiefe herunterwagen — dazu müßte man einen Menschen ähnlich wie die Tiefseefische erschaffen, der einem hohen Druck widerstehen könnte. Aber auch darin sehe ich nichts Unmögliches.“ „Sie halten sich wohl für allmächtig?“ bemerkte der Staatsanwalt nach Salvators langem Plädoyer. Doch der Doktor tat, als hätte er diesen Einwurf nicht bemerkt, und fuhr fort: „Wenn die Menschen im Wasser leben könnten, würde die Ausbeutung der Meerestiefen rasch fortschreiten. Es wäre für uns nicht mehr das drohende, Opfer verlangende Element.“ Die Zuhörer lauschten gespannt, fühlten sich wie verzaubert von den Tiefseewelten. Der Vorsitzende konnte sich nicht zurückhalten und fragte: „Warum haben Sie dann die Ergebnisse ihrer Experimente nicht schon längst preisgegeben?“ „Es war mir nicht so eilig damit, auf die Anklagebank zu geraten“, antwortete lächelnd Salvator, „dazu befürchtete ich außerdem, daß meine Erkenntnisse unter den Bedingungen dieser Gesellschaftsordnung mehr schaden als nützen könnten. Schon jetzt balgt man sich um Ichtiander. Wer hat mich aus Rache angezeigt? Dort sitzt jener Surita, der mir den Amphibienmenschen raubte. Und bald hätten Militärs sich seiner bemächtigt, damit er Kriegsschiffe versenke. Nein, ich konnte und durfte Ichtiander in einem Lande wo Habgier die höchsten technischen Errungenschaften in Verderben umwandelt, einfach nicht herausgeben. Ich dachte an.“ Salvator unterbrach sich, ließ seinen Ton an Schärfe zunehmen und erklärte: „Es ist besser, wenn ich darüber nicht sprechen werde. Man könnte mich sonst für einen Wahnsinnigen halten. Ich verzichte auf die Ehre, als Geisteskranker gestempelt zu werden. Um klar miteinander zu reden: Ich bin nicht von Sinnen und leide auch nicht an Wahnvorstellungen. Wenn Sie meine Experimente jedoch zu Verbrechen erklären, so richten Sie mich nach der ganzen Strenge des Gesetzes. Ich will keine Nachsicht.“ Im Gefängnis Die Gutachter, die Ichtiander untersuchten, mußten sowohl seine physischen als auch seine geistigen Eigenschaften beurteilen. „Welches Jahr haben wir? Welchen Monat? Datum? Wochentag?“ Der Jüngling aber antwortete immer nur: „Ich weiß nicht.“ Er hatte Schwierigkeiten mit der Beantwortung der einfachsten Fragen. Wegen seiner eigenartigen Existenz und Erziehung waren ihm viele alltägliche Begriffe unbekannt. Er war ein großes Kind. Und so verkündeten die Gutachter: „Ichtiander ist unmündig.“ Das befreite ihn von juristischer Verfolgung. Das Gericht stellte das Verfahren gegen ihn ein und beschloß, ihn unter Vormundschaft zu stellen. Zwei Männer bewarben sich um diese Anwartstelle: Surita und Balthasar. Salvator hatte recht mit seiner Behauptung, Surita habe ihn aus Rache beim Gericht angezeigt. Aber der Kapitän wollte damit nicht den Verlust von Ichtiander vergelten. Er verfolgte noch ein anderes Ziel: sich wieder des Amphibienmenschen zu bemächtigen. Surita sparte nicht mit Kosten und gab ein Dutzend kostbarer Perlen her, um die Mitglieder des Gerichts und des Vormundschaftsgerichts zu bestechen. Er schien seinem Ziel sehr nahe zu sein. Seine Vaterrechte geltend machend, forderte auch Balthasar die Vormundschaft. Er hatte damit aber kein Glück. Trotz aller Bemühungen seines Rechtsanwalts erklärten die Sachverständigen, daß sie die Identität von Ichtiander mit dem vor zwanzig Jahren geborenen Sohn Balthasars nur auf Christos Zeugenaussage nicht anerkennen können. Zudem war Christo der Bruder Balthasars, was der Aussage wenig Gewicht verlieh. Rechtsbeistand Larja konnte nicht ahnen, daß sich der Bischof und der Staatsanwalt in diese Sache eingeschaltet hatten. Balthasar als der betrogene Vater, dem man einen Sohn gestohlen und verstümmelt hatte — solch eine Anklage ließ sich im Prozeß, schon gebrauchen. Jedoch paßte es dem Gericht und der Kirche nicht ins Konzept, Balthasars Vaterrechte anzuerkennen und ihm Ichtiander zu überlassen. Das Ränkespiel lief darauf hinaus, sich des Amphibienmenschen gänzlich zu entledigen. Christo, der zu Balthasar gezogen war, begann sich um seinen Bruder, der stundenlang vor sich hin brütete, Essen und Schlaf vergaß und verstört nach seinem Sohn rief, zu sorgen. Die Spanier schmähte er mit sämtlichen Schimpfworten seines Sprachschatzes. Eines Tages, nach einem erneuten Ausbruch solch höchster Erregung, erklärte Balthasar unerwartet: „Weißt du, Bruder, ich gehe ins Gefängnis. Meine besten Perlen schenke ich den Wärtern, damit sie mir erlauben, Ichtiander zu sehen. Ich muß mit ihm ins Gespräch kommen. Es ist unmöglich, daß ein Sohn seinen Vater nicht erkennt. In ihm wird mein Blut sprechen.“ Alle Bemühungen Christos, seinen Bruder von dieser fixen Idee abzubringen, waren vergebens. Balthasar beharrte auf seinem Vorhaben und ging ins Gefängnis. Inständig bat er die Wärter, weinend warf er sich auf die Knie, flehte sie an. Als er sie mit Perlen überschüttete, wurden sie gesprächiger, erwiesen sich als bestechlich. So gelangte Balthasar schließlich in des Jünglings Zelle. In dem Minigeviert, spärlich erhellt von einem schmalen vergitterten Fenster, war es schwül, roch es abscheulich. Nur selten wurde das Wasser des Behälters gewechselt und die Wärter gaben sich auch keine Mühe, am Fußboden faulende Fische wegzuräumen. Balthasar trat an das Bassin und starrte auf die dunkle Wasseroberfläche. „Ichtiander“, flüsterte er und rief, da sich nichts rührte, den Namen des Amphibienmenschen eindringlicher. Das Wasser erzitterte zwar, aber der Jüngling zeigte sich nicht. Balthasar tauchte seine Hand in den Bottich und streifte Ichtianders Körper. Der Jüngling erhob sich, das Wasser stand ihm bis an die Schultern. „Wer ist da? Was wollen Sie?“ Balthasar ließ sich auf die Knie nieder, streckte beschwörend seine Arme aus und sagte: „Ichtiander! Dein Vater ist zu dir gekommen, dein richtiger Vater. Salvator ist nicht dein Erzeuger. Er ist ein böser Mensch, er hat dich verstümmelt. Ichtiander, mein innig geliebter Sohn. So sieh mich doch bitte gut an. Erkennst du wirklich deinen leibhaftigen Vater nicht?“ Das Wasser rann von den Haaren des Jünglings und verlieh seinem Gesicht ein bleiches Aussehen. Traurig und zugleich verwundert blickte er den alten Indianer an. „Ich kenne Sie nicht“, sagte er kurz und bündig. „Ichtiander!“ Balthasar schrie auf und erfaßte blitzschnell des Jünglings Kopf, zog ihn an sich und bedeckte ihn mit heißen Küssen. Der Amphibienmensch erwehrte sich dieser ungewohnten Zärtlichkeit und schlug im Becken um sich. Das Wasser lief über und ergoß sich über den Steinboden. In diesem Moment wurde Balthasar von einer Hand gepackt, in die Höhe gehoben, und in die Ecke geschleudert. Der Kopf des alten Indianers schlug polternd gegen die Wand. Als der Überfallene wieder zu sich kam, erblickte er über sich Surita. Der Kapitän hatte seine rechte Hand zur Faust gebellte und schwang triumphierend ein Schreiben in seiner Linien. „Hier, schau her. Das ist die Mitteilung, die mich zu Ichtianders Vormund macht. Du mußt dich schon woanders bemühen, einen reichen Sohn zu finden. Diesen Jüngling bringe ich morgen früh zu mir. Du hast doch verstanden?“ Balthasar, immer noch am Boden liegend, stöhnte dumpf und drohend. Im nächsten Augenblick sprang er auf und warf sich mit einem wilden Aufschrei auf seinen Feind, ihn dabei zu Boden stoßend. Der alte Indianer riß Surita flugs das Papier aus der Hand, verbarg es in seinem Mund und schlug wie von Sinnen auf den Spanier ein. Es entbrannte ein heißer Kampf. Der Gefängniswärter, der mit den Schlüsseln in der Tür stand, fühlte sich verpflichtet, strengste Neutralität zu wahren. Schließlich hatte er von beiden Kontrahenten ein erkleckliches Bestechungsgeld empfangen. Aber als Surita den Alten zu würgen begann, wurde er doch besorgt: „Nun ist‘s aber genug! Lassen Sie ihn am Leben!“ Der wütende Surita beachtete die Warnungen des Wärters nicht. Und es wäre Balthasar sehr schlecht ergangen, wenn nicht ein neuer Besucher die Zelle betreten hätte. „Das ist ja ausgezeichnet! Der Herr Surita übt sich bereits in der Erfüllung seiner Vormundsrechte!“ Es war Salvators Stimme. Und er schrie den Wärter mit. einem Ton an, als wäre er der Gefängnisdirektor selber. „Was stehen Sie hier herum und weiden sich an den Brutalitäten? Haben Sie ihre Pflicht ganz und gar vergessen?“ Das tat seine Wirkung. Der Wächter stürzte sich auf die Raufenden, um sie zu trennen. Der Lärm rief weitere Gefängniswärter herbei. Sie stellten sich zwischen Surita und Balthasar wie eine Mauer. Der Kapitän konnte sich in diesem Zweikampf als Sieger fühlen, aber der Doktor als Dritter im Bunde fühlte sich über seine Gegner erhaben. Sogar als Häftling beherrschte er die Situation und die Menschen, „Führen Sie die Raufbolde hinaus“, befahl er den Wächtern. „Ich muß mit Ichtiander allein bleiben.“ Die Uniformierten gehorchten. Ungeachtet ihrer Schimpfproteste wurden Surita und Balthasar abgeführt. Die Tür der Zelle fiel ins Schloß. Als die sich entfernenden Stimmen verhallt waren, trat Salvator an das Becken und bat: „Steh auf, Ichtiander. Steig aus dem Wasser, ich muß dich untersuchen.“ Der Jüngling tat, wie ihm geheißen. „Etwas näher ans Licht. Hol Luft. Tiefer. Noch einmal.“ Der Doktor klopfte den Brustkasten des Amphibienmenschen ab und hörte sich das stoßweise Atmen an. „Du bekommst keine Luft?“ fragte Salvator besorgt. „Nein, Vater“ „Du bist selbst schuld daran, du bist in der letzten Zeit zu lange an der Luft geblieben.“ Ichtiander senkte gedankenverloren seinen Kopf. Dann blickte er Salvator direkt in die Augen und fragte: „Vater, aber warum darf ich nicht? Warum dürfen alle anderen und ich nicht?“ Es war für den Doktor schwer, diesen Vorwürfen standzuhalten. Er erklärte: „Weil du als einziger auf der Welt die Fähigkeit besitzt, unter Wasser zu leben. Wenn du wählen solltest zwischen einem Ichtiander auf der Erde oder einem Ichtiander unter Wasser — wie würdest du dich entscheiden?“ „Ich weiß nicht so recht“, druckste der Jüngling herum. Er liebte die Unterwasserwelt zwar über alles, aber auch die Erde und das Mädchen Guttiere, die für ihn verloren schien. „In der augenblicklichen Situation würde ich den Ozean vorziehen“, meinte der Amphibienmensch. „Du hast deine Wahl schon früher getroffen, Ichtiander. Durch deinen Ungehorsam zerstörtest du das Gleichgewicht deines Organismus. Jetzt kannst du nur noch unter Wasser leben.“ „Aber nicht in dieser entsetzlichen Kloake, Vater“, klagte der Jüngling. „Ich sterbe hier. Ich will in den offenen Ozean.“ Salvator unterdrückte einen Seufzer. „Ich unternehme alles, um dich so schnell wie möglich aus diesem Gefängnis zu befreien. Sei standhaft!“ Der Doktor klopfte Ichtiander ermutigend auf die Schulter und ging zurück in seine Zelle. Hier setzte er sich auf einen Schemel und versank in tiefes Schweigen. Wie jeder Chirurg hatte auch er den Mißerfolg kennengelernt. Manch Menschenleben ging, da seine Experimente auch Fehler einschlossen, unter dem Messer zugrunde, ehe er seine Vollkommenheit erreichte. Es gab zwar Opfer, aber in der Endkonsequenz konnten Tausende gerettet werden. Diese Rechnung befriedigte den Operateur. Für Ichtianders Schicksal aber mußte er sich in besonderer Weise verantwortlich fühlen. Der Amphibienmensch war sein Stolz, seine beste Arbeit. Er liebte den Jüngling. Und ihn beunruhigte dessen Krankheit, dessen weiteres Schicksal. Es klopfte an der Zellentür. „Herein!“ sagte Salvator. „Störe ich auch nicht, Herr Professor?“ Der Gefängnisaufseher zeigte sich rücksichtsvoll. „Keinesfalls“, antwortete Salvator und erhob sich. „Wie geht es Ihrer Frau und dem Kind?“ „Danke, ausgezeichnet. Ich habe sie beide zur Schwiegermutter geschickt, die in den Anden wohnt.“ „Das Gebirgsklima wird der Kranken guttun“, meinte der Doktor. Der Aufseher ging noch nicht. Er beobachtete die Tür, näherte sich Salvator und flüsterte: „Herr Professor, mein Leben würde ich für Sie lassen als Dank für die Rettung meiner Frau. Ich liebe sie wie.“ „Danken Sie nicht, ich tat nur meine Pflicht.“ „Ich kann nicht in Ihrer Schuld bleiben“, sagte der Aufseher. „Ich bin zwar kein sonderlich gebildeter Mensch, lese aber doch Zeitungen und weiß, was sich mit Ihrem Namen verbindet. Man darf nicht zulassen, daß Sie, Herr Professor, weiterhin zusammen mit Räubern und Strolchen hinter Gittern sitzen.“ „Meine gelehrten Freunde“, Salvator mußte lächeln, „haben es anscheinend erreicht, daß man mich in ein Sanatorium für Geisteskranke schleppt.“ „Das wäre noch schlimmer“, entgegnete der Aufseher, „statt der Räuber würden Sie von Wahnsinnigen umgeben sein. Nein, das darf nicht geschehen.“ Seine Stimme senkend, flüsterte der Wärter: „Ich habe mir alles überlegt. Es ist kein Zufall, daß ich meine Frau in die Berge geschickt habe. Ich will Ihnen nur noch zur Flucht verhelfen und verschwinde dann sofort selbst. Finanzielle Not hat mich hierher verschlagen. Im Grunde genommen hasse ich diese Arbeit. Mich wird man nicht aufspüren, und Sie verlassen am besten dieses verfluchte Land, in dem nur korrumpierte Händler und Geistliche die Macht haben.“ „Ja, was ich Ihnen noch mitteilen wollte“, fuhr der Aufseher nach einigem Zögern fort. „Ich verrate Ihnen nun ein Dienstgeheimnis, ein Staatsgeheimnis.“ „Sie brauchen mir nichts zu verraten“, unterbrach Salvator. Doch sein Gegenüber drängte: „Ich kann es selbst nicht. Vor allem bin ich nicht imstande, diesen mir erteilten Befehl zu erfüllen. Mein Gewissen würde mich mein Leben lang plagen. Sie haben so viel für mich getan, aber diese. wollen mich sogar zu einem Verbrechen anstiften.“ „Wie das?“ fragte Salvator knapp. „Ich habe erfahren, daß Ichtiander weder Surita noch Balthasar übergeben wird, obwohl der Kapitän bereits das Vormundspapier hat. Meine Vorgesetzten haben beschlossen, Ichtiander umzubringen.“ Salvator machte eine erstaunte Bewegung. „So? Sprechen Sie nur weiter!“ Der Wärter lüftete das Geheimnis vollends. „Man will Ichtiander töten. Darauf besteht hauptsächlich der Bischof, wenn auch seine Lippen dieses Wort nicht direkt aussprechen. Es wurde mir Gift gegeben, ich glaube Cyankali. Heute nacht soll ich es ins Wasser des Behälters mischen. Der Gefängnisarzt ist schon gekauft. Er soll amtlich bestätigen, daß der Amphibienmensch an den Folgen der von Ihnen ausgeführten Operation starb. Wenn ich den Befehl nicht befolge, wird man mich hart bestrafen. Und ich habe eine Familie. Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß man mich als Mitwisser des Verbrechens später auch um die Ecke bringt. Ich bin ganz in den Händen der Drahtzieher.“ Der Aufseher hielt einen Moment inne und erzählte dann mit stockender Stimme weiter: „Ich habe mich entschlossen, zu fliehen, es ist schon alles vorbereitet. Ich kann und will Ichtiander nicht töten. Aber Sie beide retten, das ist für mich in einer so kurzen Zeit fast unmöglich. Mir tut der Jüngling leid. Ihr Leben aber braucht die Menschheit nötiger. Sie können mit Ihrer Kunst einen neuen Ichtiander erschaffen.“ Salvator drückte dem Wärter bewegt die Hand und sagte: „Ich danke Ihnen. Leider kann ich, was meine Person betrifft, dieses Opfer nicht annehmen. Man könnte mich ertappen und würde Sie vor Gericht schleppen.“ „Ich habe mir aber alles genau überlegt.“ „Ändern Sie Ihren Plan, retten Sie Ichtiander“, bat der Doktor inständigst. „Ich bin gesund und kräftig und finde überall Freunde, die mir helfen werden, in die Freiheit zu gelangen.“ „Ich richte mich ganz nach Ihren Wünschen“, erwiderte der Wärter. Als er die Zelle verlassen hatte, lächelte Salvator, durchdachte die Sache nochmals, indem er im Zimmer auf und ab schritt. Dann setzte er sich an den Tisch, notierte ein paar Zeilen, ging zur Tür und klopfte. Dem Aufseher, der sofort herbeieilte, sagte Salvator: „Ich habe noch eine Bitte an Sie. könnten Sie mir nicht zu einem letzten Zusammentreffen mit Ichtiander verhelfen?“ „Es ist nichts leichter als das. Von den Vorgesetzten ist zur Zeit niemand da.“ „Wenn Sie Ichtiander befreien, helfe ich Ihrer Familie.“ sagte der Doktor. „Nehmen Sie diesen Zettel. Hier ist eine Adresse und der Buchstabe S, der Ihnen bei einem treuen Freund alle Tore öffnen wird. Sollten Sie sich eine Zeitlang verbergen müssen oder Geld brauchen.“ „Aber…“ „Bitte kein ,aber‘. Führen Sie mich auf dem schnellsten Wege zu Ichtiander.“ Der Amphibienmensch hatte Salvator noch nie zuvor so traurig und so zärtlich gesehen. „Ichtiander, mein Sohn“, begrüßte er den Überraschten. „Wir sind gezwungen, uns schneller zu trennen, als ich annehmen konnte. Und möglicherweise wird es ein Abschied für lange Zeit. Dein Schicksal beunruhigt mich. Gefahren lauern hier auf dich. Du mußt schnellstens fort, wenn du nicht zugrunde gehen willst.“ „Und du, Vater?“ fragte der Jüngling. „Das Gericht wird mich natürlich zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilen. In dieser Zeit mußt du an einem sicheren Ort sein, so weit wie möglich von hier. An der anderen Seite von Südamerika, auf einer der Tuamatu-Niederungsinseln, wärst du sicher aufgehoben. Es wird nicht leicht für dich sein, dorthin zu gelangen. Aber alle Gefahren, die dir unterwegs begegnen könnten, sind nicht mit denen zu vergleichen, die dich hier bedrohen. Du kannst Südamerika von Norden oder Süden umgehen. Beide Wege haben ihre Vor- und Nachteile. Der nördliche ist um einiges länger. Ich rate dir, dennoch den längeren Weg zu nehmen und Kap Horn zu umgehen. Das Wasser im Ozean wird zwar kälter, aber ich hoffe, daß du dich allmählich daran gewöhnst und gesund bleibst. Es wird nicht ganz leicht sein, den Weg zu den Tuamatu-Inseln zu finden. Ich gebe dir genau Länge und Breite an. Du wirst sie mit Spezialinstrumenten bestimmen können, die ich für dich anfertigen ließ. Leider werden sie dich einigermaßen belasten, und dich in der Bewegungsfreiheit stören.“ „Ich nehme Leading mit“, schlug Ichtiander vor. „Er wird mir mein Gepäck tragen.“ „Ausgezeichnet“, meinte der Doktor. „Bis zu den Tuamatu-Inseln wirst du dich mit deinem Gefährten schon durchschlagen. Dir bleibt dann nur noch, eine entlegene Koralleninsel zu finden. Beachte dieses Zeichen: Ein Mastbaum erhebt sich über ihr, und diesen ziert eine Art vom Wetterhahn in Fischform. Vielleicht wirst du einen ganzen Monat benötigen, ehe du dieses Korallenriff entdeckst. Aber das wäre kein Unglück: Das Wasser dort ist warm, und es gibt eine Menge Austern.“ Salvator hatte dem Jüngling Geduld und Gehorsam anerzogen. Nun aber konnte Ichtiander nicht länger an sich halten: „Und was finde ich auf der Insel mit dem Wetterfisch?“ „Freunde, richtige Freunde, deren Fürsorge und Liebe“! antwortete Salvator. „Dort lebt der Gelehrte Armand Villebois, ein berühmter Ozeanograph. Ich lernte ihn in Paris kennen. Er ist ein guter Bekannter von mir. Er wird dir jene aufregende Geschichte, die ihn auf diese einsame Koralleninsel mitten im Stillen Ozean verschlagen hat, persönlich erzählen. Er lebt auf Luamatu zusammen mit seiner Frau, seinem Sohn und seiner Tochter, die auf dem Eiland zur Welt gekommen ist und jetzt ungefähr siebzehn Jahre alt sein müßte. Sie kennen dich alle aus meinen Briefen, und ich bin überzeugt: Sie werden dich in ihrer Familie wie einen eigenen Sohn aufnehmen.“ Salvator stockte plötzlich, mußte an Ichtianders Krankheit denken. „Gewiß: Die meiste Zeit wirst du im Wasser verbringen. Du kannst jedoch täglich einige Stunden an Land, um die Freundschaft mit der Familie Villebois zu pflegen. Hoffentlich wird sich in dieser Abgeschiedenheit deine Gesundheit wiederherstellen, damit du wie früher ebensolange an der Luft wie im Wasser bleiben kannst. Deshalb mein Rat: Achte auf dich, strapaziere dich nicht zu sehr, auch wenn die Gespräche noch so interessant sein sollten.“ Der Amphibienmensch lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit den weiteren Ausführungen seines Vaters. „In Armand Villebois wirst du einen zweiten Vater finden, wirst ihm außerdem ein unersetzlicher Helfer bei seinen wissenschaftlichem Arbeiten sein. Was du vom Ozean und seinen Bewohnern weißt, genügt für Dutzend Professoren.“ Salvator schmunzelte. „Komische Kerle, diese Gerichtsgutachter. Sie stellten dir während der Verhandlung nur Schablonenfragen: Was für ein Tag, Monat oder Datum? Darauf konntest du natürlich keine Antwort geben, weil das für dich nicht von Interesse ist. Hätten sie dich aber nach den Unterwasserströmungen gefragt oder nach dem Salzgehalt der Meeresbuchten — deine Ausführungen hätten einen dicken wissenschaftlichen Band ergeben. Und was wirst du jetzt, da deine Unterwasserexkursionen von einem so glänzenden Gelehrten wie Armand Villebois geleitet werden, noch alles erkunden und den Menschen übermitteln können Ihr beide, davon bin ich über zeugt, werdet ein epochemachendes Werk der Ozeanographie herausbringen. Und dein Name wird neben dem von Armand Villebois stehen.“ Der Doktor gab seinem Schützling noch einen väterlichen Rat mit auf den Weg: „Sobald du wieder im Meer bist — und das könnte sogar schon heute nacht geschehen — schwimmst du sofort durch den Unterwassertunnel nach Hause. Dort wird dir der treue Jim die Navigationsinstrumente und das Messer geben. Dann such deinen Delphin Leading. Beginnt eure große Meeresreise, bevor die Sonne aufgeht.“ Salvator umarmte zum erstenmal in seinem Leben Ichtiander, küßte ihn und drückte ihn fest an sich. Dann lächelte er und klopfte dem Jüngling ermunternd auf die Schultern: „Leb‘ wohl. Nein, besser sag ich auf Wiedersehen. Ein solcher Prachtkerl wie du geht nirgends zugrunde!“ Die Flucht Olsen war gerade von der Knopffabrik nach. Hause gekommen und setzte sich zum Mittagessen, als jemand an seine Tür klopfte. „Wer ist da?“ rief er ärgerlich. Die Tür wurde geöffnet, und ins Zimmer trat Guttiere. „Du? Was bringt dich her?“ fragte Olsen verwundert und erhob sich freudig. „Iß nur weiter“, meinte das Mädchen. Guttiere lehnte sich an die Tür und erklärte: „Ich kann nicht länger mit meinem Mann und seiner Mutter zusammenleben. Ich verließ ihn. Für immer.“ Diese Nachricht zwang Olsen wieder zu Stuhle. „Das ist aber eine Überraschung! Setz dich, du hältst dich ja kaum noch auf den Beinen. Ist denn das möglich? Du sagtest vor der Hochzeit doch: ,Was Gott vereint, soll der Mensch nicht scheiden.‘ Bist du wieder bei deinem Vater?“ „Vater weiß nichts davon“, antwortete das Mädchen. „Surita würde mich bei ihm finden und zur Rückkehr zwingen. Ich bin bei meiner Freundin.“ „Und was gedenkst du nun zu tun?“ „Ich gehe in die Fabrik, Olsen. Ich kam, um dich zu bitten, mir zu helfen, eine Arbeit zu finden, egal welche,“ Olsen schüttelte besorgt seinen Kopf: „Augenblicklich ist das ziemlich schwer. Aber ich will es versuchen.“ Und nach einigem Wachdenken fragte Olsen: „Wie wird sich dein Mann dazu stellen?“ „Ich will nichts mehr von ihm wissen.“ „Aber Surita wird sich schon dafür interessieren, wo seine Frau hingekommen ist. Vergiß nicht, daß du in Argentinien lebst. Dein Mann wird dich entdecken, und dann. Du weißt selbst: Er würde dich nicht in Ruhe lassen. Das Gesetz und die öffentliche Meinung sind auf seiner Seite.“ Guttiere überlegte einige Augenblicke und sagte dann selbstbewußt: „Wennschon! Dann gehe ich eben nach Kanada oder nach Alaska.“ „Oder gar nach Grönland, auf den Nordpol!“ Olsen mußte lächeln, zwang sich aber zur Beherrschung. „Wir müssen alles überlegen. Hierzubleiben wäre für dich nicht ohne Gefahr. Ich selbst trage mich auch schon lange mit dem Plan, fortzugehen. Schade, daß es uns damals nicht gelang, von hier zu fliehen. Surita hat dich entführt, unsere Reisepapiere und unser Geld sind hin. Wie sollen wir jetzt zu einer Schiffskarte nach Europa kommen? Aber wir müssen ja nicht unbedingt so weit weg. Wenn es uns gelänge, Paraguay oder noch besser Brasilien zu erreichen, so würde es Surita schon schwerer fallen, dich zu entdecken, und wir hätten Zeit, uns auf einen entfernteren Zufluchtsort vorzubereiten. Wußtest du übrigens, daß Doktor Salvator und Ichtiander im Gefängnis sitzen?“ „Ichtiander wurde gefunden? Warum ist er eingesperrt? Kann ich ihn sehen?“ Guttiere überhäufte Olsen mit Fragen. „Ich befürchte, daß der Jüngling wieder Suritas Sklave wird. Eine unsinnige Beschuldigung wurde gegen Salvator eingerührt, eine Prozeßfarce durchgeführt.“ „Das ist ja schrecklich!“ bangte Guttiere. „Ist es denn gar nicht möglich, Ichtiander zu retten?“ „Ich habe schon die ganze Zeit nach einer Möglichkeit gegrübelt, leider erfolglos. Aber völlig unerwartet bot der Gefängniswärter seine Dienste an. Heute nacht werden wir Ichtiander befreien. Eben habe ich zwei kurze Zettel erhalten: den einen von Salvator, den anderen vom Gefängniswärter.“ „Ich muß Ichtiander unbedingt sehen!“ drängte Guttiere. „Laß mich mit dir gehen!“ Olsen überlegte. „Ich denke, wir lassen das lieber.“ „Aber warum?“ „Weil Ichtiander krank ist. Krank als Mensch, als Fisch jedoch gesund.“ „Ich verstehe dich nicht“, sagte das Mädchen. „Ichtiander kann an der Luft nicht mehr atmen. Was aber, wenn er dich wieder zu Gesicht bekommt? Er liebt dich, würde immer an deiner Seite bleiben wollen, dabei aber elendiglich zugrunde gehen.“ Guttiere senkte den Kopf. Sie konnte das alles nur sehr schwer einsehen, bis sie sich zu einem „Du hast recht“ durchrang. Olsen sagte: „Zwischen Ichtiander und den Menschen hat sich eine unüberbrückbare Schlucht auf getan: der Ozean. Von nun an wird das Wasser wieder sein heimatliches Element sein.“ „Wie wird er dort leben können, so ganz allein im endlosen Ozean unter Fischen und Ungeheuern?“ „Er war doch, bis er den Menschen begegnete, glücklich in seinem Unterwasserreich“, erklärte Olsen. „Er muß jetzt wieder seine Ruhe finden.“ „Nun ist es Zeit für mich“, sagte Olsen und erhob sich. „Aber aus der Ferne darf ich Ichtiander doch noch einmal sehen?“ fragte Guttiere bittend. „Aber nur, wenn du deine Anwesenheit nicht verrätst.“ „Das verspreche ich.“ Es war schon Nacht, als Olsen als Wasserfahrer verkleidet in den Gefängnishof einfuhr. Ein Wächter rief ihn an: „Wohin willst du?“ „Ich bringe Wasser für den Meerteufel“, antwortete Olsen, wie ihn der Gefängniswärter geheißen hatte. Olsen fuhr an das Gefängnisgebäude heran und bog um die Ecke, wo die Küche mit dem Eingang für die Angestellten war. Der Gefängnisaufseher hatte für die Flucht alles gut vorbereitet. „Schnell, spring ins Faß!“ Der Aufseher rief zur Eile. Olsen trieb die Pferde an, und verließ den Gefängnishof. Ohne jegliche verdächtige Eile zu zeigen, ging‘s am Bahnhof mit seiner Güterstation vorbei und aus der Stadt hinaus. Aus einiger Entfernung folgte dem Wagen der Schatten einer Frau. Der Weg führte nun am Meeresufer entlang. Olsen blickte sich um. Weit und breit war niemand. Nur die Scheinwerfer eines schnellen Autos blinkten aus der Ferne. Nun ist es Zeit, dachte Olsen. Er wandte sich um und gab Guttiere ein Zeichen, damit sie sich hinter die Steine zurückziehe. Dann klopfte er ans Faß und rief: „Wir sind da, Ichtiander! Komm heraus!“ „Danke, Olsen!“ sagte Ichtiander aufatmend und drückte mit seiner nassen Hand fest die des Riesen. Dabei atmete er schnell, wie bei einem Asthmaanfall. Olsen wollte von Dank nichts wissen. „Keine Ursache. Leb wohl! Sei aber vorsichtig. Schwimm nicht zu nahe ans Ufer heran. Hüte dich vor den Menschen, sie könnten dich wieder einlochen.“ „Ja, ich sehe mich schon vor“, sagte, dem Ersticken nahe, Ichtiander. „Ich schwimme jetzt weit fort von hier zu den stillen Koralleninseln, die von keinem Schiff erreicht werden. Nochmals meinen Dank für deine aufrichtige Hilfe, Olsen, Bleib ein guter Mensch. Ich wünsche dir Glück!“ Dann lief der Jüngling dem Meere entgegen. Als er schon in die Wellen tauchen wollte, wandte er sich noch einmal um und rief: „Noch etwas, Olsen. Wenn Sie irgendwann einmal Guttiere sehen, so grüßen Sie das Mädchen bitte von mir. Sagen Sie ihr, daß ich sie nie vergessen werde!“ Ichtiander warf sich ins Meer und entschwand den Blicken Olsens und Guttieres. Ein starker Sturm kam auf. Das Meer wogte bedrohlich. Olsen ging zu dem Mädchen, das wie erstarrt in ihrem Versteck kauerte. Die Schwere dieses Abschieds für immer lastete auf ihr. „Komm, Guttiere!“ bat Olsen zärtlich. Er führte das Mädchen auf den Weg, stützte es, und langsam gingen sie der Stadt zu. Salvator kehrte, nachdem er seine Strafe verbüßt hatte, in sein Domizil zurück und setzte seine wissenschaftlichen Arbeiten fort. Er bereitet sich gerade auf eine weite Reise vor. Christo dient ihm immer noch. Surita hat sich einen neuen Schoner angeschafft und fischt in der Kalifornischen Bucht nach Perlen, immer noch verfolgt von seinen habgierigen Träumen. Guttiere hat sich von ihrem Mann scheiden lassen und Olsen geheiratet. Sie siedelten nach New York über und arbeiten beide in einer Konservenfabrik. An den Ufern des Meeres erinnert sich kaum noch jemand an den Amphibienmenschen. Nur manchmal, in schwülen und stillen Nächten, wenn ein unbekannter geheimnisvoller Ton erklingt, sagen die alten Fischer zu den jungen: „So hat der Meerteufel auf seinem Muschelhorn geblasen.“ Und sie beginnen dann Legenden zu erzählen. Aber ein Mensch in Buenos Aires vergißt Ichtiander nie: Balthasar, der Vater des Amphibienmenschen. Der alte Indianer achtet nicht auf die Kinder, die ihn nekken, wenn er bettelnd durch die Straßen irrt. Begegnet Balthasar aber einem Spanier, so wendet er sich ab und spuckt fluchend aus. Ansonsten ist er sehr still geworden. Nur wenn das Meer stürmt, gerät der alte Indianer in eine außerordentliche Unruhe. Dann eilt er an den Strand, mißachtet die Gefahr, von den Wellen fortgespült zu werden und ruft in Tag und Sturm: „Ichtiander!“ Weit schwingt das Echo. Aber das Meer hütet sein Geheimnis. Biographisches über den Autor Der russisch — sowjetische Schriftsteller Alexander Beljajew (1884–1942) gehört zu den Begründern der sowjetischen wissenschaftlichen Literatur. Bis zur Oktoberrevolution lebte er in großer Armut, war u. a. Dekorateur, Bibliothekar. In den Jahren des Bürgerkrieges stellte sich Beljajew in den Dienst der Sowjetregierung. Als ihn eine Krankheit aufgrund eines früheren Unfalls ans Bett fesselte, begann, er zu schreiben. Charakteristisch für solche Werke wie „Der Amphibienmensch“ (1928) sind soziale Schärfe, Humor, Spannung und Unterhaltung.